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Full text of "Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 80.1903"

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Library of 
Princeton Universitu. 


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The (Finhtn Cight Fibrarn 
of 


Économics. 


nr. 


JAHRBÜCHER 


FÜR 
NATIONALÖKONOMIE UND STATISTIK. 


GEGRÜNDET VON 


BRUNO HILDEBRAND. 


HERAUSGEGEBEN VON 


DR J CONRAD, 


PROF. IN HALLE A. 8., 
IN VERBINDUNG MIT 


Dr. EDG. LOENING, uno DR. W. LEXIS, 


PROF. IN HALLE A. 8., PROF. IN GÓTTINGEN. 


I. FOLGE. 25. BAND, 


ERSTE FOLGE, BAND I—XXXIV; ZWEITE FOLGE, BAND XXXV—LV 
ODER NEUE FOLGE, BAND I—XXI; DRITTE FOLGE, BAND LXXX (III. FOLGE, 
BAND XXV). 


JENA, 
VERLAG VON GUSTAV FISCHER. 
1903. 


Uebersetzungsrecht vorbehalten. 


(RECAP) 
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TRA EN 


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Inhalt d. XXV. Bd. Dritte Folge (LXXX). 


I. Abhandlungen. 


Biermann, W. Ed., W. Wundt und die Logik der Sozialwissenschaft. S. 50. 

Bourouill, J. Baron d’Aulnis de, Die Zuckerfrage in den Parlamenten Europas. 
S. 323. 

Brodnitz, Georg, Die Krisis der englischen Arbeiterbewegung. S. 433. 

Hampke, Thilo, Die deutschen Handwerkerorganisationen. Eine statistische Studie. 
S. 577. 

Heyn, Otto, Kritische Erórterung des Projekts der Beseitigung des Goldagios in 
Spanien. S. 721. 

Kulischer, Josef, Zur Entwickelungsgeschichte des Kapitalzinses. S. 145, 289. 

Pabst, F.. Die Besteuerung de: unverdienten Wertzuwachses von Grund und Boden 
(Konjunkturgewinnsteuer). S. 350. 

Pistor, Ernst, Ein Beitrag zur Psychologie des amerikanischen Arbeiters. S. 455. 

Warschauer, Otto, Die Reservefonds der deutschen Aktiengesellschaften. S. 1. 

Wolf, Julius, Studien zur Fleischteuerung 1902. S. 193. 


II. Nationalókonomische Gesetzgebung. 


Wissowa, Felix, Die wirtschaftliche Gesetzgebung des Deutschen Reiches im Jahre 
1902. S. 473. 

Derselbe, Die wirtschaftliche Gesetzgebung Oesterreich-Ungarns im Jahre 1901. 
S. 779. 


III. Miszellen. 


Altmann, S. P., Arbeitsnachweis und Arbeitslosenversicherung auf der Versammlung 
deutscher Arbeitsnachweise vom 9. bis 11. Oktober 1902. S. 514. 

Brodnitz, G., Beiträge zur englischen Betriebsstatistik. S. 393. 

Bunzel, Julius, Das neue ungarische Auswanderungsgesetz. S. 793. 

Davidson, E., Die Bevölkerung Ruflands. S. 671. 

Dix, Arthur, Ledigenheime. S. 489. 

Eulenburg, F., Das Alter der deutschen Universitütsprofessoren. S. 65. 

Grabein, Das Genossenschaftswesen im europäischen Weinbau. S. 661. 

Harms, Bernhard, Die holländische Berufszihlung von 1899. S. 530. 

v. Heckel, Max, Die Hauptergebnisse der Veranlagung der Einkommen- und der 
Ergänzungssteuer in Preußen. S. 799. 

Levy, Hermann, Landwirtschaftlicher Export in England. S. 398. 

Liefmann, Robert, Die kontradiktorischen Verhandlungen über deutsche Kartelle. 
S. 638. 

Lifschitz, F., Die Methodik der Wirtschaftswissenschaft bei Johann Heinrich von 
Thünen. S. 812. 

Pudor, Heinrich, Die landwirtschaftlichen Syndikate Italiens. S. 383. 

Weber, Adolf, Ueber die gegenwärtige Lage der Landwirtschaft und die agrarische 
Bewegung in Italien. S. 232. 

Westergaard, Harald, Ein paar Bemerkungen betreffend die Lehre von der Morta- 
lität. S. 251. 

Wiedenfeld, Kurt, Die deutschen Kleinbahnen im Jahre 1901. 8. 652. 

Zimmermann, F. W. R., Die Bewegung für Bildung eines ständigen statistischen 
Zentralamtes für die Vereinigten Staaten von Nordamerika. S. 372. 


IV Inhalt. 


Literatur. 


Acta Borussia. Denkmäler der preußischen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert, 
herausgegeben von der königlichen Akademie der Wissenschaften. Getreidehandels- 
politik. Zweiter Band: Die Getreidehandelspolitik und Kriegsmagazinverwaltung 
Brandenburg-Preußens bis 1740. Darstellung und statistische Beilagen von W. Naudé. 
Akten bearbeitet von G. Schmoller und W. Naudé. (Theo Sommerlad.) S. 827. 

Arbeitszeit-Verlängerungen (Ueberstunden) im Jahre 1901 in fabrikmäßigen Betrieben. 
Berichte des k. k. arbeitsstatistischen Amtes im Handelsministerium. (Georg 
Brodnitz.) S. 267. 

Bericht über die Verwaltung und den Stand der Gemeindeangelegenheiten der Stadt 
Charlottenburg für das Verwaltungsjahr 1901. (Mendelson.) S. 276. 

Berkholz, Leo, Die Wirkung der Handelsverträge auf Landwirtschaft, Weinbau und 
Gewerbe in Elsaß-Lothringen. Mit einer Vorbemerkung von Prof. Dr. C. J. Fuchs. 
Mit Tabellen. (Dr. Leuckfeld.) S. 544. 

Berndt, Wilhelm, Die Konkurrenzverhältnisse auf dem Weltmarkte. (G. Brodnitz.) 
S. 411. 

Blink, H., Geschiedenis van den Boerenstand en den Landbouw in Nederland. 1. Deel. 
(G. Hesselink.) S. 102. 

Bollettino dell? Emigrazione, herausgegeben vom Ministero degli Affari Esteri (R. Com- 
missariato dell’ Emigrazione). (G. Brodnitz. S. 826. 

Borgius, W., Jahrbuch des Handelsvertragsvereins für das Jahr 1901. (A. Emming- 
haus.) 8. 554. 

Bornhak, Die deutsche Sozialgesetzgebung. 4. Auflage. (A. Hesse.) 8. 705. 

Brandt, Otto, Studien zur Wirtschafts- und Verwaltungsgeschichte der Stadt Düssel- 
dorf im 19. Jahrhundert. (J. Pierstorff.) S. 98. 

Brants, Victor, La petite industrie contemporaine. (F. Eulenburg.) S 404. 

Brodnitz, Georg, Vergleichende Studien über Betriebsstatistik und Betriebsformen 
der englischen Textilindustrie. (F. Eulenburg.) S. 279. 

Buxton, Sydney, Mr. Gladstone as chancellor of the Exchequer. (Alfred Manes.) 
S. 116. 

Byng, G., Protection. The Views of a Manufacturer. (Georg Brodnitz.) S. 104. 

Byng, G., Fiscal Problems of To-Day. An answer to arguments of Free Traders. 
(Georg Brodnitz.) S. 104. 

Ca ’eanny (Nur immer hübsch langsam !). Ein Kapitel aus der modernen Gewerkschafts- 
politik von W. G. H. von Reiswitz. (Georg Brodnitz.) S. 561. 

Calwer, Richard, Handel und Wandel. Jahresberichte über den Wirtschafts- und 
Arbeitsmarkt. Jahrg. 1900. (J. Wernicke.) S. 101. 

Davis, Andrew Me. Farland, Currency and Banking in the Province of the Massa- 
ehusetts-Bay. (Brodnitz.) S. 559. 

Delbrück, Hygiene des Alkoholismus. (Heilbronner). S. 125. 

Die Diskontogesellschaft 1851 bis 1901. (J. C.) 8. 838. 

Dreydorff, Rud., Ein deutsches Reichsarbeitsamt, Geschichte und Organisation der 
Arbeiterstatistik im In- und Ausland. (Dockow.) S. 120. 

Drucksachen des Beirats für Arbeiterstatistik. Verhandlungen Nr. 1: Protokolle über 
Verhandlungen des Beirats für Arbeiterstatistik vom 22. Oktober 1902. (Dochow.) 
S. 843. 

First Report of the Departmental Committee appointed to inquire into the Ventilation 
of Factories and Workshops. (G. Brodnitz.) S. 849. 

Gensel, Julius, Der deutsche Handelstag in seiner Entwickelung und Tätigkeit, 
1861—1901. (A. Emminghaus.) S. 409. 

Grunzel, Josef, Ueber Kartelle. (Robert Liefmann.) S 107. 

Haacke, Heinrich, Handel und Industrie der Provinz Sachsen 1889—1899 unter dem 
Einflusse der deutschen Handelspolitik. 45. Stück der Münchener volkswirtschaftlichen 
Studien. (J. Wernicke.) S. 110. 

Haarmann, A., Das Eisenbahngleis. Kritischer Teil. (R. van der Borght.) S. 269. 

Handbuch der Wirtschaftskunde Deutschlands. Herausgegeben im Auftrage des „Deut- 
schen Verbandes für das kaufmännische Unterriehtswesen“. Bd. 1. (J. Wernicke.) 
S. 93. 

Handwörterbuch der Schweizerischen Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung. 


Inhalt. V 


Herausgegeben von N. Reichesberg, Professor an der Universität Bern. (G. Brodnitz.) 
S. 821. 

Die Herabsetzung der Arbeitszeit für Frauen und Erhóhung des Schutzalters für jugend- 
liche Arbeiter in Fabriken. Schriften der Gesellschaft für soziale Reform.  Heraus- 
gegeben vom Vorstande. Heft 7 u. 8. (Dochow.) S. 122. 

Hoppe, Die Tatsachen über den Alkohol. 2. Aufl. (Heilbronner.) S. 128. 

Huber, F. C., Deutschland als Industriestaat. (J. Wernicke.) S. 91. 

Huber, F. C, Die Kartelle. Ihre Bedeutung für die Sozial-, Zoll- und Wirtschafts- 
politik. (Robert Liefmann.) S. 699. 

Jörgens, Max, Finanzielle Trustgesellschaften. Münchener volkswirtschaftliche 
Studien, hrsg. von Lujo Brentano und Walther Lotz. 54. Stück. (Adolf 
Weber.) S. 702. 

Katalog der Bibliothek der Gehestiftung zu Dresden. 1. Band. 2. Auflage. Unter- 
abteilung II. Land- und Forstwirtschaft, Bergbau und Industrie. (J. C.) S. 712. 

Kleinwächter, Friedrieh, Lehrbuch der Nationalökonomie. (W. Hasbach.) 
S. 685. 

Kohn, Albert, Unsere erste Wohnungs-Enquête. (G. Brodnitz.) S. 563. 

Kollmann, Paul, Statistische Beschreibung der Gemeinden des Fürstentums Lübeck. 
(J. C) S. 848. 

Lehmann, Bodo, Bodenkredit und Hypothekenbanken. (Berthold Breslauer.) 
S. 271. 

Lieven, Fürst Maximilian, Die Arbeiterverhältnisse des Großgrundbesitzes in Kur- 
land. I. Abt., 1. Bd., Lief. 1—4. (Carl Grünberg.) S. 132. _ 

Manes, Alfred, Die Haftpflichtversicherung, ihre Geschichte, wirtschaftliche Be- 
deutung und Technik, insbesondere in Deutschland. (H. Bleicher.) S. 414. 

Menzel, Adolf, Die Kartelle und die Rechtsordnung. (Robert Liefmann.) S. 265. 

Meyer, Hans, Die Eisenbahnen im tropischen Afrika. Eine kolonialwirtschaftliche 
Studie. Mit einer Eisenbahnkarte von Afrika. (G. K. Anton.) S. 552. 

Mitteilungen über den Niederrheinisch-westfälischen Steinkohlenbergbau. (J. C.) S. 694. 

Moltke, O., Graf, Nordamerika. Beiträge zum Verständnis seiner Wirtschaft und 
Politik; (Ernst von Halle.) S. 823. 

Morgenstern, Hugo, Gesindewesen und Gesinderecht in Oesterreich. I. Teil. 
Geschichtlicher Ueberblick. Statistik und wirtschaftliche Lage des Gesindes. (Mit- 
teilungen des k. k. arbeitsstatistischen Amtes im Handelsministerium. 3. Heft.) 
(W. Kühler.) S. 839. 

Neurath, Wilhelm, Gemeinverstündliche nationalökonomische Vortrüge; geschicht- 
liche und letzte eigene Forschungen; herausgegeben von Dr. Edmund O. von Lipp- 
mann. (v. Sehullern.) S. 257. 

Oelsner, Ludwig, Volkswirtschaftskunde. Ein Leitfaden für Schulen und zum 
Selbstunterricht. (Karl Diehl.) 258. 

Oppel, O., Die Baumwolle nach Geschichte, Anbau, Verarbeitung und Handel, sowie 
nach ihrer Stellung im Volksleben und in der Staatswirtschaft. (Ernst Roth.) 
S. 95. 

Oesterreichisches Städtebuch. Statistische Berichte von größeren österreichischen Städten. 
Herausgegeben durch die k. k. statistische Zentralkommission. Jahrgang 9. (J. C.) 
S. 710. 

Report on Railway Labor in the United States. (G. Brodnitz. S. 845. 

Rivista Italiana di Sociologia. 6. Jahrgang, Heft 2/3. (G. Brodnitz. S. 137. 

Salomon, Alice, Soziale Frauenpflichten. (E. C.) S. 563. 

Die Schiffsbauindustrie in Deutschland und im Auslande. Tjard Schwarz und Ernst 
von Halle. Bd. 1 u. 2. (J. C.) S. 834. 

Schriften des deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit. Heft 57 und 58. 
(G. Brodnitz.) S. 562. 

Schriften des deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltütigkeit. 60. Heft: Die 
Erweiterung des Handarbeitsunterrichts für nicht vollsinnige und verkrüppelte 
Personen, von T. Chr. Hansen. (G. Brodnitz.) S. 845. 

v. Schulz, M. und Behrens, Franz, Die Rechtsverhültnisse im Gärtnergewerbe. 
Referate, dem Ausschusse der Gesellschaft für soziale Reform in der Sitzung vom 
6. Mai 1902 erstattet. (A. Elster.) S. 564. 

Seligmann, Edwin R. A., The Economic Interpretation of History. (Georg 
Brodnitz.) S. 94. 


VI Inhalt. 


Silbergleit, Heinrich, Magdeburgs Industrie, Handwerk und Handel und deren 
gewerbliche Steuerkraft. Im Auftrage des Magistrats der Stadt Magdeburg bearbeitet. 
(M. Mendelson.) S. 691. 

Soudek, Richard, Die deutschen Arbeitersekretariate. Volkswirtschaftliche und wirt- 
schaftsgeschichtliche Abhandlungen, herausgegeben von W. Stieda. (Dochow.) 8. 842. 

Soziale Verwaltung in Oesterreich am Ende des 19. Jahrhunderts. Aus Anlaß der Welt- 
ausstellung Paris 1900 mit Unterstützung durch die hohen k. k. Ministerien des 
Innern, des Handels und des Ackerbaues, sowie durch das k. k. Generalkommissariat 
für die Weltausstellung Paris 1900, herausgegeben vom Spezialkomitee für Sozial- 
ökonomie, Hygiene und öffentliches Hilfswesen. 2 Bde. (A. Hesse.) S. 706. 

Speck, E. Handelsgeschichte des Altertums. Zweiter Band: Die Griechen. (Theo 
Sommerlad.) S. 824. 

Stephani, K. G., Der älteste deutsche Wohnbau und seine Einrichtung. Baugeschicht- 
liche Studien auf Grund der Erdfunde, Artefakte, Baureste, Münzbilder, Miniaturen 
und Schriftquellen. 1. Band: Der deutsche Wohnbau und seine Einrichtung von der 
Urzeit bis zum Ende der Merowingerherrschaft. (G. v. Below.) S. 260. 

Stuart, Verryn C. A., Die niederländische Berufszählung von 1899. S. 682. 

Stumpfe, E., Polenfrage mit Ansiedelungekommission. (M. C.) S. 264. 

Tillinghast, Joseph Alexander, The Negro in Africa and America. (G. Brod- 
nitz.) S. 549. 

Troeltsch, Walter, Ueber die neuesten Veränderungen im deutschen Wirtschaftsleben. 
(J. Wernicke.) S. 111. 

Uebersicht der gesamten staats- und rechtswissenschaftlichen Literatur des Jahres 1900. 
Zusammengestellt von Otto Mühlbrecht. 33. Jahrg. (W. Kühler). S. 137. 
Uebersicht der gesamten staats- und rechtswissenschaftlichen Literatur des Jahres 1901, 
zusammengestellt von Otto Mühlbrecht. Jahrgang 34. Dasselbe für 1902. Jahrgang 35. 

(W. Kühler.) 8. 851. 

Untersuchungen über die Heimarbeit der Frauen in Dresden. Heft 1 der Schriften der 
Dresdener Gesellschaft für soziale Reform. (E. C.) S. 696. 

Veröffentlichungen des deutschen Vereins für Versicherungswissenschaft. Herausgegeben 
von Dr. phil. und jur. Alfred Manes, Generalsekretär des Vereins. Heft 1: Be- 
richt über die am 12. Dezember 1902 abgehaltene wissenschaftliche Mitgliederver- 
sammlung des Vereins. (H. Bleicher.) S. 418. 

Die Verwaltung der Stadt Essen im 19. Jahrhundert. (J. C.) S. 693. 

Vigelius, Carl, Handbuch für Sparkassen. (Fritz Schneider.) S. 558. 

Voßberg-Rekow, Die Zolltariffrage und ihre Begründung. Im Auftrage der Zentral- 
stelle für Vorbereitung von Handelsverträgen. (A. Emminghaus.) S. 555. 

Wasserrab, Karl, Sozialwissenschaft und soziale Frage. Eine Untersuchung des 
Begriffs sozial und seiner Hauptanwendungen. (A. Hesse.) S. 684. 

Wiedfeldt, Genossenschaftliche Getreideverwertung im Königreich Sachsen. Eine 
agrarpolitische Untersuchung. (W. Wygodzinski.) S. 410. 

Zur ältesten Wirtschafts- und Sozialgeschichte Böhmens. (Felix Rachfahl) S. 81. 

Wright, Carroll D., L'évolution industrielle des États-Unis. Traduit par F. Lepelletier. 
Avec une préface de E. Levasseur, Membre de l'Institut. (Josef Grunzel) S. 689. 

Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft. Herausgegeben vom Deutschen 
Verein für Versicherungswissenschaft. Schriftleitung: früher Rechtsanwalt Ad. Rüdiger, 
jetzt Dr. phil. et jur. Alfred Manes. Bd. I und II. (Gottfr. Leuckfeld.) S. 117. 

Zimmermann, E., Das Wechselstempelsteuergesetz vom 10. Juni 1869 nebst den Aus- 
führungsbestimmungen des Bundesrates vom 8. März 1901. Mit Erlüuterungen. (A. 
Elster.) S. 557. 

Zoepfl, Gottfried, Nationalökonomie der technischen Betriebskraft. Erstes Buch: 
Grundlegung. (F. Albrecht.) S. 254. 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des 
Auslandes. $S. 91. 254. 401. 544. 684. 821. 

Die periodische Presse des Auslandes. s. 139. 283. 428. 569. 713. 853. 

Die periodische Presse Deutschlands. S. 142, 237. 431. 574. 718. 856. 

Volkswirtschaftliche Chronik. S. 461. 515 (1). 45. 83. 139. 183. 


Otto Warschauer, Die Reservefonds der deutschen Aktiengesellschaften. 1 


Nachdruck verboten, 


I. 


Die Reservefonds der deutschen Aktien- 
gesellschaften. 


Von 
Prof. Dr. Otto Warschauer Berlin. 


Jedes Wirtschaftssubjekt hat nach der jeweiligen Entwickelungs- 
tendenz von Angebot und Nachfrage mit Verhältnissen zu rechnen, 
die dem Wechsel der Einflüsse unterliegen und den Charakter der 
Vergänglichkeit sowie der Unberechenbarkeit in sich tragen. Die 
Rückwirkung dieser Faktoren auf die individuelle Lage des Produ- 
zenten ist vielfach bedeutungsvoll. Die Gleichmäßigkeit des Schaffens 
kann gehemmt, das Sicherheitsgefühl gefährdet und bei sprungweise 
auftretenden Anormalitäten auch der Boden unterwühlt werden, auf 
dem die gesamte Existenz des Wirtschaftssubjektes ruht. Gegen 
derartige Eventualitäten sich vorzeitig zu schützen, ist ein Gebot 
der Selbsterhaltung. So werden namentlich im geschäftlichen Leben 
gegen bestimmte Vorgänge, die durchschnittlich den Charakter der 
Unberechenbarkeit in sich tragen, Kautelen geschaffen, die als eine 
Art Rückversicherung gelten und mit dem Ausdruck „Reserven“ zu 
bezeichnen sind. 

Unter „Reserven“ in wirtschaftlicher Beziehung sind Rücklagen 
kapitalistischer Wertobjekte zu verstehen, deren endgiltige Verwen- 
dung bestimmten Sicherheitszwecken zu dienen hat und der Zukunft 
überlassen bleibt. Wohl ist es möglich, daß sich derartige Kapital- 
ansammlungen aus der Beschränkung des Konsums oder der Ab- 
zweigung von dem eigentlichen Stammvermögen bilden; diese Ent- 
stehungsursachen jedoch wirken ausnahmsweise und nur die schaffende 
Tätigkeit, die Produktion, ist der Nährboden, dem die Reserve 
durchschnittlich zu entspringen pflegt. Je größer sich diese letztere 
gestaltet und je ergiebiger sie in finanzieller Beziehung ist, in desto 
höherem Maße entsteht die Möglichkeit, dem Gewinn bestimmte 
Quoten zu entnehmen, die als Rücklage betrachtet werden, um Ge- 
fahren zu begegnen oder Ausgaben zu ermöglichen, welche die 
Gegenwart nicht kennt, mit denen jedoch eventuell die Zukunft zu 
rechnen hat. 

Dritte Folge Bd, XXV (LXXX). 1 


2 Otto Warschauer, 


Die durch jene Rücklagen zu verfolgenden Sicherheitszwecke 
treten in doppelter Form auf. Mit jeder wirtschaftlichen Unter- 
nehmung ist die Gefahr des Verlustes verknüpft. Selbstverständlich 
wird dieselbe häufig durch individuelle Untüchtigkeit gleichviel 
welcher Art bedingt, aber der Verlust kann auch durch die Ungunst 
der Konjunktur oder durch sonstige widrige Verhältnisse hervor- 
gerufen werden, deren Eintritt schwer vorauszusehen war oder nicht 
auf das direkte Verschulden des Produzenten zurückzuführen ist. 
Derartige Verluste schleunigst zu decken, ist vielfach nötig, um das 
Gleichgewicht der produzierenden Kräfte, sowie das Prinzip der wirt- 
schaftlichen Kontinuität zu wahren. Diesem Zwecke, d. h. der 
Deckung zukünftiger Verluste dient zuvörderst und all- 
gemein die aufzuspeichernde Reserve. 

Sie hat jedoch vielfach noch eine zweite Aufgabe zu verfolgen, 
die von einer anders gearteten Voraussetzung ausgeht. In jeder 
rationell gehandhabten Wirtschaft haben sich selbstverständlich etats- 
mäßig die Ausgaben in einem den Einnahmen stetig proportionalem 
Verhältnis zu bewegen. Diese Regel wird grundsätzlich ungestraft 
nicht umgangen werden können. Es treten jedoch auch Ausgaben 
mit gebieterischer Notwendigkeit auf, die durch die Jahreseinnahmen 
nicht saldiert werden können und deren Ausfall entweder die 
Existenz eines an sich lebensfähigen Betriebes gefährden, oder 
diesen letzteren dauernd auf ein untergeordnetes Niveau der Pro- 
duktion beschränken würde. Der Fabrikant z. B. wird stetig Art 
und Alter der Maschinen berücksichtigen müssen und bei den 
dauernden Fortschritten der Technik mit eventuellen, später unab- 
weisbaren Neuanschaffungen zu rechnen haben, die durch die direkten 
Jahreseinnahmen schwer oder nur mit großen Opfern gedeckt werden 
können. Achnlich liegen die Verhältnisse in der Landwirtschaft be- 
züglich der jeweilig erforderlichen Meliorationen. Für derartige, der 
Zukunft dienende Zwecke ist die Möglichkeit der allmählichen 
Deckung durch jährlich vorzunehmende, in Quoten abzuzweigende 
Rücklagen gegeben, deren Gesamtbetrag die Erreichung des ge- 
steckten Zieles gestattet, ohne das Gleichgewicht des Etats zu ge- 
fährden. Demgemäß dient die Reserve nicht nur zur Deckung für 
eventuell spätere Verluste, sondern auch zur Deckung zu- 
künftiger Ausgaben, die in bestimmter Höhe und für be- 
stimmte Zwecke eintreten und für deren endgültige Befriedigung 
vorzeitige Maßnahmen getroffen werden. 

Jeder Reservefonds wird seiner eigentlichen Bestimmung nur 
unter konsequenter Innehaltung zweier Grundsätze gerecht zu werden 
vermögen. Wenn die für die Sicherheitszwecke reservierten Kapital- 
quoten mit anderen Vermögensbestandteilen verschmolzen werden, 
schwindet einerseits die Klarheit des Ueberblicks, Illusionen werden 
erzeugt, die häufig zum Selbstbetrug führen und andererseits wird 
vielfach die Möglichkeit geraubt sein, im Augenblicke des eigentlichen 
Bedarfes das erforderliche Kapital zur freien Verfügung zu haben. 
Der Reservefonds gleichviel welcher Art und für welche Wirtschaft 


Die Reservefonds der deutschen Aktiengesellschaften. 3 


er bestimmt sein mag, wird daher nur dem Zwecke seiner Errichtung 
genügen, wenn die Vermögensmasse, aus der er sich zusammen- 
setzt, dauernd getrennt ist von den sonstigen Vermögensobjekten, 
die dem Sparenden zu eigen sind. Die von den übrigen Besitzes- 
titeln getrennte Vermögensmasse darf ferner nicht Werte enthalten, 
deren Veräußerung nur bedingungsweise möglich ist, sondern, um 
der leitenden Idee tatsächlich gerecht zu werden, sind die zur 
Deckung zukünftiger Verluste oder Ausgaben bestimmten und zurück- 
„legten Kapitalien derartig anzulegen, daß sie eventuell sofort in 
baar umgesetzt werden können, um dem Bedarf des Augenblicks zu 
entsprechen. 

Eine von derartigen Grundsätzen geleitete Ansammlung von 
Reserven ist von hoher volkswirtschaftlicher Bedeutung. Sie fördert 
nicht nur den Trieb des Sparens, jenes subjektiv berechtigte Streben 
nach dauernder Sicherung der Existenz; sie entspringt auch der 
Vorsicht, die als Teilerscheinung des Gesamthandelns einen Rück- 
schluß auf das Wirtschaftsgebahren des Einzelnen zuläßt. So wird 
der Reservefonds in dem Kausalitätsverhältnis seiner Begründung 
und der Art seiner Entwickelung vielfach ein ungetrübter Spiegel 
sich sonst verschleiernder Vorgänge des Erwerbslebens. Je mehr 
ferner für bestimmte Eventualitäten der Zukunft zurückgelegt ist, 
desto befestigter wird der Unterbau jedes Betriebes. Nicht die 
Möglichkeit vereinzelter hoher Jahresgewinne allein, auch nicht die 
Tatsache eines gesicherten Absatzgebietes erzeugt namentlich für 
kaufmännische Unternehmungen die ungeschwächte Lebenskraft; erst 
die Reserven, die sich jährlich bilden und allmählich verdichten, 
führen zu jener finanziellen Stärke und Widerstandsfähigkeit, die 
der Ungunst der Verhältnisse zu trotzen vermag. So erfolgen 
überall, wo ein volles Verständnis für die möglichen Eigenheiten 
des Verkehrs obwaltet, gleichzeitig Kapitalorganisationen für die 
Zwecke des Reservefonds. Jedes Einzelunternehmen, das eine 
breitere wirtschaftliche Unterlage gewonnen hat, wird sich der Idee 
seiner Verwirklichung nähern. Leichter durchführbar ist er für die 
offene Handelsgesellschaft, in der sich vielfach im Gegensatz 
zu dem Einzelunternehmen größeres Kapital mit höherer Intelligenz 
paart, und für die Aktiengesellschaft!), in der gegenwärtig der 


Sg ft 


1) Bezüglich der Litteratur über die Reservefonds der Aktien- 
gesellschaften vergl. namentlich Veit Simon, Die Bilanz der Aktiengesellschaften 
und der Kommanditgesellschaften auf Aktien, 1899, S. 223ff.; Neukamp, Der Reserve- 
fonds der Kommanditgesellschaft auf Aktien und der Aktiengesellschaften in der „Zeit- 
schrift für das gesamte Handelsrecht“ 38. Bd., S. 10ff.; Staub, Kommentar zum 
Handelsgesetzbuch 1900, S. 804 ff.; Cosack, Lehrbuch des Handelsrechts, 1900, S. 651 ff. ; 
Vossbe rg, Die Katastrophe in unseren Aktienunternehmungen und die Gesetzgebung 
über deren Reservefonds in: „Die Gegenwart‘, 1901, No. 38/39. Anlagen zu den 
Verhandlu ngen des Deutschen Reichstags, 5. Legislaturperiode, 4. Session, 
1884, Aktenstück No. 21, S. 305ff, Aktenstück No. 128, S. 1021 und 1042. „Ab- 
*onderun gen der Reserve der Aktiengesellschaften in: ,Der deutsche 
Oekonomist“, 1901, 19. Jahrg, No. 993; Adolf Weber, Depositenbanken und 
Spekulationsbanken 1902, S. 2221f., 282. 


1* 


4 Otto Warschauer, 


Schwerpunkt der gewerblichen Produktion ruht und deren Ausbau 
sich namentlich in Deutschland immer mehr mit der gesamten 
handelspolitischen Entwicklung der Nation verquickt, ist er als eine 
selbstverständliche, mit der Organisation und Existenz dieser Unter- 
nehmungsform eng verknüpfte Einrichtung zu bezeichnen. Die 
Aktiengesellschaft findet die Möglichkeit ihrer Existenz nur durch 
die Assoziation großer Kapitalien, welche zur Nutzbarmachung 
Dritten überlassen werden. Diese letzteren, die Verwalter fremden 
Gutes, haben demgemäß nicht nur die wirtschaftliche Aufgabe, 
sondern auch die sittliche Verpflichtung, für die anvertrauten 
Kapitalien nach jeder Richtung die Grundsätze bewährter kauf- 
männischer Taktik zu handhaben; so ist für die Aktiengesellschaften 
die Ansammlung von Reserven eine durch Sitte, Gewohnheit und 
Gesetz anerkannte und unabweisbare Notwendigkeit geworden. 

Für die Entwicklung der Reservefonds der deutschen 
Aktiengesellschaften ist in wirtschaftlicher und rechtlicher 
Beziehung eine Reihe von Erscheinungen festzuhalten. Der 
Auf- und Ausbau der leitenden Idee verknüpft sich mit der sich 
stetig steigernden Werbefähigkeit des beweglichen Kapitals, dem 
Umschwung, der sich auf dem deutschen Geldmarkt der letzten 
30 Jahre vollzogen hat, der damit verbundenen Ausbreitung des 
Aktienswesens und dem durch die genannten Faktoren bedingten 
Wechsel kaufmännischer Anschauungen. Aus den Jahresgewinnen 
der Aktiengesellschaften wurden ursprünglich bestimmte Quoten 
zurückgelegt, weniger um eventuellen Gefahren und Ausgaben der 
Zukunft zu begegnen, als um hierdurch eine allmähliche Mehrung 
der Betriebskapitalien ohne direkten Apell an die Aktionäre zu er- 
möglichen. Es wurden ferner Reserven zu dem Zwecke gebildet, 
um im Falle eines dringenden vorübergehend auftretenden Bedarfes 
die erforderlichen Mittel zur Verfügung zu haben, ohne den Rein- 
gewinn eines einzelnen Geschäftsjahres hierfür wesentlich beanspruchen 
zu müssen. Dieser Erkenntnis entsprang allmählich das Bestreben, 
durch Rücklagen allgemein vorzeitige Deckung für außergewöhnliche 
Ausgaben aller Arten zu schaffen, welche der Betrieb eines Unter- 
nehmens vorübergehend etwa erheischen könnte. Bei dem Auf- 
schwung, welchen der Aktienverkehr namentlich in der zweiten 
Hälfte des 19. Jahrhunderts an den deutschen Börsen nahm, machte 
sich auch seitens verschiedener Verwaltungsorgane der Wunsch 
geltend, eine annähernde Gleichmäßigkeit der Rentabilität den 
Aktionären zu sichern. So entstanden Dividendenergänzungsfonds. 
Aus den Gewinnen guter Geschäftsjahre erfolgten vielfach Rücklagen 
um ungenügender Kapitalverzinsung der Zukunft zu entgehen und 
den Kurs der Aktien nicht zu großen, den Kredit des Unternehmens 
gefährdenden Reduktionen auszusetzen. Grundlegend ` aber wurde 
endlich die Auffassung, daß es einerseits nicht durchweg ratsam sei, 
entstandene Einzelverluste von dem Reingewinn des diesbezüglichen 
Geschäftsjahres abzuziehen, sondern sich empfehle, die Möglichkeit 
ihrer Deckung durch vorzeitige Maßnahmen herbeizuführen und daß 


Die Reservefonds der deutschen Aktiengesellschaften. 5 


es andererseits geboten erscheine, dauernd mit der vollen Eventualität 
einer durch die Ungunst besonderer Verhältnisse herbeigeführten 
Minderung des eigentlichen Betriebskapitals zu rechnen. Namentlich 
dieser letzteren Erkenntnis entsprang die Errichtung von Reserve- 
fonds zur lediglichen Beseitigung einer etwa entstehenden Unter- 
bilanz, um bei Eintritt von Kalamitäten die betroffene Unter- 
nehmung vor der Gefahr des völligen Zusammenbruches schützen zu 
können. 

Neben dieser durch den Wechsel und Fortschritt der ökonomi- 
schen Auffassungsweise bedingten Entwicklung ist die rechtliche 
Ausbildung des Reservefonds in Betracht zu ziehen, die sich erst 
in jüngerer Zeit vollzogen hat. Ursprünglich herrschte für die An- 
sammlung derartiger Rücklagen allein das Prinzip der Freiwilligkeit 
vor. Es wurde den einzelnen Aktiengesellschaften überlassen, die 
Eigenart ihres Bedarfes zu erkennen und je hiernach Bestimmungen 
bezüglich der Reserven zu treffen. Eine gesetzliche Intervention zu 
Gunsten der kapitalistischen Kollektivinteressen erschien nicht ge- 
boten und der Einfluß freihändlerischen Wirtschaftsempfindens machte 
sich intellektuell auch auf diesem Gebiete geltend. Solange die 
Meinung vorherrschte, daß die Machtsphäre des Staates in wirt- 
schaftlichen Dingen möglichst zu begrenzen sei, war daher die Er- 
richtung von Reservefonds dem lediglichen Belieben der betreffenden 
Verwaltungsorgane überlassen. Nachdem jedoch die Erkenntnis sich 
wiederum Bahn gebrochen, daß das Gesamtwohl durch individua- 
listische Maßnahmen nicht genügend geschützt sei, äußerte sich die 
Rückwirkung dieser Auffassungsweise auch in Bezug auf die Errich- 
tung von Reservefonds. Das ursprüngliche und alleinige Prinzip 
der Freiwilligkeit wurde daher durch den Zwang und die Intervention 
des Gesetzes ergänzt. So entstand das Aktiengesetz vom Jahre 1884, 
das einerseits vorschrieb, für welche Zwecke Rücklagen unbedingt 
zu erfolgen haben und das andererseits den Exekutivorganen der 
Aktiengesellschaften freistellte, die allgemeinen Bestimmungen für 
Sonderzwecke selbständig oder durch Generalversammlungsbeschluß, 
d. h. statutarisch zu erweitern. 

Die gegenwärtig entscheidenden Bestimmungen), die sich an 
das erwähnte Gesetz anlehnen, berücksichtigen daher nicht die ver- 
schiedenartigen, bereits vorgeführten, die Mehrung des Betriebs- 
kapitals, die Dividendenergünzung und die unvorhergesehenen Aus- 
gaben und Einzelverluste betreffenden ökonomischen Entwickelungs- 
phasen, sondern verfolgen nur das eine Ziel, entstandene Bilanzverluste, 
d.h. diejenigen Verluste, welche das eigentliche Betriebskapital, das 
Kapitalvermögen einer Gesellschaft tatsächlich erlitten hat, eventuell 
zu decken. Der gesetzliche Reservefonds ist daher lediglich zur 
Deckung der Unterbilanz bestimmt und Einzelverluste, wie sie aus dem 
Kontokorrentverkehr, aus Kursrückgängen, Konsortialbeteiligungen, 
der Preisminderung der Lagerbestände, Veruntreuungen u. s. w. hervor- 


1) Vgl. Handelsgesetzbuch vom 10. Mai 1897 $ 262. 


6 Otto Warschauer, 


gehen können, sind zunächst von dem Jahresgewinn in Abzug zu 
bringen. Erst wenn hierfür die Möglichkeit geschwunden und durch 
die erlittenen Verluste eine Minderung des Betriebskapitals tat- 
sächlich erfolgt ist, hat der Reservefonds nach Maßgabe der in ihm 
enthaltenen Kapitalmassen zu funktionieren. 

Der Erreichung dieses Zieles dienen drei qualitativ sich 
scheidende Mittel. Die eventuelle Deckung der Unterbilanz soll 
zuvörderst durch bestimmte Quoten, welche dem Reingewinn guter 
Geschäftsjahre zu entnehmen sind, gedeckt werden. Von den dies- 
bezüglichen Jahreserträgnissen sind hierfür 5 Proz. in Ansatz zu 
bringen. Diese Mindestgrenze kann zwar überschritten werden, der 
durch das Gesetz bedingte Durchschnittssatz jedoch wird allgemein 
festgehalten und Ausnahmen von der Regel treten nur vereinzelt 
auf. Die zur Zeit bestehenden gesetzlichen Bestimmungen gehen 
fernerhin von der Voraussetzung aus, daß ein auf Grundlage dieser 
Einnahme konstruierter Reservefonds sich nicht stetig proportional 
den eventuell günstigen Jahreserträgnissen zu entwickeln habe, 
sondern auf einen festen Höchstbetrag zu begrenzen sei. Demgemäß 
sind die vorgeschriebenen 5 Proz. nur so lange für die Zwecke der 
Reserven abzuzweigen, bis diese letzteren 10 Proz. des Grundkapitals 
oder den im Gesellschaftsvertrage bestimmten höheren Teil desselben 
erreicht haben. Auch dieser Satz wird durchschnittlich nur selten 
überschritten. Sobald daher die vorgeschriebenen 10 Proz. sich 
angesammelt haben, entfällt allgemein jeder weitere gesetzliche 
Zwang einen Teil der Reinerträge für die Zwecke der Rücklagen 
zu verwenden. 

Die zweite für die Bildung von Reserven bestimmte Einnahme- 
quelle entspringt der berechtigten Annahme, daß die vorübergehende 
Gunst der Konjunktur oder die Verwertung von Sachverhältnissen, 
welche in der Entwickelung des Unternehmens wurzeln und mit der 
Tradition desselben verknüpft sind, nicht durchweg und allein einem 
einzelnen Geschäftsjahre zu Gute kommen sollen, sondern möglichst 
gleichmäßig auf die Zukunft zu übertragen seien. Es ist eine be- 
kannte Thatsache, daß die Erhöhung des Grundkapitals einer Aktien- 
gesellschaft, namentlich bei günstiger Lage des Geldmarktes und 
wenn ein Aufschwung des betreffenden Unternehmens oder der all- 
gemeinen Produktionsverhältnisse nachweisbar ist, ohne Schwierigkeit 
durchgeführt werden kann. Je fundierter nun das betreffende Unter- 
nehmen ist, je höher und gleichmäßiger sich seine Dividenden ge- 
staltet und je länger sich die leitenden Verwaltungsorgane ver- 
trauenswürdig erwiesen haben, desto entgegenkommender zeigt sich 
für die Aufnahme neuer Betriebsmittel der Kapitalmarkt. Dieses 
Sachverhältnis äußert sich nicht nur durch eine schnelle Ueberweisung 
der diesbezüglichen Beträge seitens der bisherigen oder neu zu ge- 
winnenden Aktionäre, sondern es wird auch meistenteils seitens der 
Kreditbegehrenden geschäftskundig bei der Festsetzung des Emissions- 
kurses verwertet, zu welchem die jungen Aktien den alten Aktionären 
angeboten oder direkt dem Börsenverkehr zugeführt werden. Gerade 


Die Reservefonds der deutschen Aktiengesellschaften. 7 


die Verhältnisse der jüngeren Vergangenheit zeigen, daß für be- 
stimmte Arten industrieller Unternehmungen bei der Begebung neuer 
Aktien Kursaufschläge erzielt worden sind, die vielfach 100 Proz. 
des geforderten Betriebskapitals erreichten oder überstiegen. Somit 
wurde nicht nur der beabsichtigte Zweck der Kapitalserhöhung leicht 
erreicht, sondern es wurden auch gleichzeitig außergewöhnlich große, 
den hohen Agiosätzen entspringende Gewinne erzielt. Wenn nun 
auch dieselben allgemein nicht durchweg den betreffenden Aktien- 
gesellschaften, sondern in mehr oder minder größeren Prozentsätzen 
den Emissionshäusern oder Konsortien zufließen, so haben doch 
selbstverständlich die Verwaltungsorgane jedes gut geleiteten Unter- 
nehmens das finanzielle Interesse dieses letzteren bei der Bewertung 
des Bezugsrechtes zu wahren verstanden, oder sie wären hierzu ver- 
pfichtet gewesen. Ist nun die Möglichkeit gegeben, derartige Ge- 
winne zu Gunsten eines einzelnen Geschäftsjahres zu verwenden, so 
können leicht Gefahren mannigfacher Art heraufbeschworen werden. 
Eine Ungleichheit der Dividenden würde vorübergehend eintreten, 
welche den Kurs der Aktien zum Spielball der Agiotage machen 
und ernstliche Aktionäre abschrecken würde, derartige Anlagewerte 
zu dauerndem Besitze zu behalten; andererseits würde der im nächst- 
folgenden Geschäftsjähre entstehende unvermeidliche Rückgang der 
Dividende leicht bei oberflächlicher Beurteilung der Sachlage nicht 
auf den entscheidenden Bestimmungsgrund des nunmehr fehlenden 
Agiogewinnes, sondern vielfach auf eine Verschlechterung des eigent- 
lichen Geschäftsverkehrs zurückgeführt werden und diese irrtümliche 
Voraussetzung kann leicht eine Minderung des Kredits und des Ab- 
satzes bedingen. Alle diese eventuellen Verhältnisse und Mißstände 
hat die neuere Aktiengesetzgebung berücksichtigt, indem sie die 
Rechtsnorm aufstellte, daß Agiogewinne, welche bei der Begebung 
junger Aktien erzielt werden, zur Deckung eines aus der Bilanz sich 
ergebenden Verlustes in den Reservefonds einzustellen sind. Die 
erforderlichen Rücklagen werden daher nicht nur durch die 5-proz. 
Jahresquote vom Reingewinn, sondern auch durch die vorerwähnte 
Maßnahme ermöglicht, die geeignet ist, den Accumulationsprozeß der 
Reservefondskapitalien zu beschleunigen. Hierzu gehört auch die Be- 
stimmung bezüglich des Aufgeldes, das nicht nur bei der Begebung 
Junger Aktien, sondern auch bei der erstmaligen kursmäßigen Ver- 
wertung der ursprünglichen Betriebskapitalien nach Errichtung einer 
Gesellschaft erzielt wird. Allerdings treten derartige Stärkungsmittel 
der Reserven nur selten auf, denn entweder wahren sich die Vor- 
besitzer eines Unternehmens bei Umwandlung desselben in eine 
Aktiengesellschaft das Vorrecht, die zu emittierenden Aktien zum 
Parikurse zu beziehen oder Neugründungen entstehen, bei denen die 
Agiosätze wegen der erst aufzuweisenden Rentabilität naturgemäß 
begrenzt sind. Für beide Eventualitäten sichern sich übrigens durch- 
schnittlich die Emissionshäuser und Konsortien als Ersatz für das 
übernommene Risiko den Löwenanteil an dem geforderten Aufgeld. 


8 Otto Warschauer, 


Auch durch eine dritte Möglichkeit soll der Reservefonds finanziell 
gestärkt werden. Zur Deckung von Geschäftsverlusten werden häufig 
von den Aktionären Zuzahlungen gefordert, welche das Grundkapital 
der Gesellschaft nicht erhöhen. Für diese Zwecke werden Vorzugs- 
aktien mit einer festen Dividende geschaffen, für welche eine even- 
tuelle Nachzahlungspflicht aus späteren Jahresgewinnen vorgeschrieben 
ist. Diese Vorzugsaktien nehmen an der Superdividende teil und 
haben Vorrechte bei der Liquidation des Unternehmens. Die hierfür 
empfangenen Barbeträge dienen zuvörderst zur Deckung des Defizits; 
häufig jedoch entstehen durch dieselben auch Ueberschüsse, die für 
die Gewinnverteilung des nächstlaufenden Geschäftsjahres nicht zu 
verwenden, sondern dem gesetzlichen Reservefonds zuzuweisen sind. 
Von entscheidender Bedeutung für die Zwecke des letzteren ist diese 
Bestimmung nicht; sachlich jedoch ist sie berechtigt, weil sie die 
unzweckmäßige Verwendung eines meistenteils zufällig entstehenden 
Geschäftsgewinnes verhindert. 

Das Gesetz versucht endlich den Charakter der Reserve inner- 
halb der gesamten Vermögensmasse einer Aktiengesellschaft zu 
präzisieren. Die Reserve ist ziffermäßig in der Jahresbilanz auf- 
zuführen, sie ist selbstverständlich Eigentum der Gesellschaft und 
bildet ein für dieselbe verwertbares Aktivum; den gesetzlichen Be- 
stimmungen !) gemäß jedoch ist sie Gläubigerin und daher bilanzmäßig 
den Passiven zuzuzählen. 


II. 


Die durch das Aktiengesetz vom Jahre 1884 erstmalig vor- 
geschriebenen Reserven der deutschen Aktiengesellschaften werden 
eine um so größere allgemeine finanzielle Bedeutung erhalten, 
je länger die diesbezüglichen Aufspeicherungen erfolgen. Sie bilden 
jedoch bereits in der Gegenwart eine Kapitalsmasse, die einen nicht 
unwesentlichen Prozentsatz des Nationalvermögens darstellt. 

Die folgenden Zusammenstellungen bezwecken, einen annähern- 
den Ueberblick über die bereits angesammelten Beträge zu geben. 
Hierfür sind bestimmte Typen oder Gruppen gebildet, die zuvörderst 
alle diejenigen Erwerbszweige umfassen, in denen im Gegensatz zu 
den sonstigen Formen der geschäftlichen "Unternehmungen die Aktien- 
gesellschaft vorherrschend ist. 

Es sind demgemäß in Betracht zu ziehen: 

I. Eisenbahnaktien. 
II. Bankaktien. 
III. Versicherungsgesellschaften. 
IV. Berg- und Hüttenwerke. 
V. Brauereien. 
VI. Elektrizitätsgesellschaften. 
VII. Maschinen-, Metallwaren- und Eisenbahn- 
bedarfsfabriken. 


1) Vergl. Handelsgesetzbuch 8 261, 5 


Die Reservefonds der deutschen Aktiengesellschaften. 9 


VIII. Papierfabriken. 
IX. Transportgesellschaften. 
X. Textilfabriken. 
XI. Gummifabriken. 
XII. Chemische Fabriken. 
XIII. Zuckerfabriken. 
. XIV. Cement- und Chamottefabriken, sowie endlich 
XV. Verschiedene Unternehmungen, 
welche in die einzelnen Gruppen, bezw. Produktionszweige nicht 
hineingereiht werden können, die jedoch von nicht zu unterschätzen- 
der industrieller Bedeutung sind. Es sei ferner hervorgehoben, daß 
für die einzelnen Gruppen nicht sämtliche diesbezügliche, zur Zeit 
existierende Aktiengesellschaften aufgeführt worden sind, denn einer- 
seits würde dies den durch die Verhältnisse bedingten Raum weit 
überschreiten, und andererseits wäre es auch zwecklos, denn die 
Tendenz der Ziffern, bezw. die große finanzielle Tragweite, welche 
die Reservefonds sowohl in ihrer Gesamtheit gegenüber dem National- 
vermögen, als auch in ihrem Verhältnis gegenüber dem Einzelunter- 
nehmen haben, kann durch Vorführung der hervorragendsten Er- 
scheinungen der Einzelgruppen genau erkannt werden. Demgemäß 
sind in diesen letzteren nur diejenigen Aktiengesellschaften aufgeführt, 
die innerhalb der betreffenden Produktionssphäre eine wirtschaftlich 
bemerkenswerte Stelle sich errungen haben. Unter Berücksichtigung 
dieser Verhältnisse sind die folgenden Zusammenstellungen, die das 
Geschäftsjahr 1901 bezw. 1900/1901!) betreffen, aufzunehmen. 
(Siehe Tabellen auf S. 10, 11, 12, 13 u. 14.) 


Bei sämtlichen vorgeführten Gruppen ist für die einzelnen 
Unternehmungen zuvörderst das Jahr der Errichtung in Be- 
tracht zu ziehen. Es ist selbstverständlich, daß die Höhe der Reserve- 
fonds durchschnittlich durch die Dauer des Unternehmens bedingt 
ist, denn je älter dasselbe ist, desto leichter wird es, sowohl den ge- 
setzlich vorgeschriebenen Prozentsatz der Reserven zu erreichen, als 
auch gleichgeartete Sonderziele zu verfolgen. 

Zweitens ist die Höhe des Aktienkapitales von ent- 
scheidender Bedeutung, denn je größer dasselbe ist, eine desto höhere 
Wahrscheinlichkeit der Gewinneingänge ist vorhanden. Hier übrigens 
ergiebt sich auch die innere Begründung der gesetzlichen Bestimmung, 
Agiogewinne dem Reservefonds zuzuführen, denn durch die Aus- 
gabe junger Aktien wächst das Betriebskapital und demgemäß die 
Pflicht einer Steigerung der Rücklagen. Es wäre daher ungerecht, im 
geeigneten Augenblick dieser Pflicht nicht zu gedenken und die erzielten 
Gewinne, wie bereits früher hervorgehoben, statt zur Mehrung der Reser- 
ven zur vorübergehenden Erhöhung der Dividenden zu verwenden. 


1) Bei Abschluß der vorliegenden Studie lagen die Berichte derjenigen Aktien- 
gesellschaften, deren Geschäftsjahr sich nicht mit dem Kalenderjahr deckt, für 1901/02 
abgeschlossen noch nicht vor. Für diejenigen Unternehmungen jedoch, die, wie die 
Schuckert-Gesellschaft und die Deutsche Genossenschaftsbank nachweislich in der jüngsten 
Zeit eine wesentliche Verringerung ihrer Reserven haben eintreten lassen müssen, sind 
auch die neueren Ziffern aufgeführt. 


10 Otto Warschauer, 


Sn 


| Kapital- 
Thr Aktien- | bezw. ge- | Spezial- Eesen? 
Errich- kapital | setzliche | reserven | Daer g 
| Reserven S 
tung | 
M. M. | M. | M. 
I. Eisenbahnaktien. 
Dortmund-Enschede 1872 | 30 000 000 300000 | 4 189 837| 4 489 837 
Lübeck-Büchener 1850 | 20790000 | 2079000 | 2874817| 4 953 817 
Ludwigshafen-Bexbach 1838 | 19986857 | 1094 105 756 428! 1 850 534 
Marienburg-Mlawka 1872 | 32881 874 360000 | 2076 890| 2436 890 
Ostpreußische Südbahn 1863 | 27000000 | 3520457 | 5 584 162, 9 104 620 
II. Bankaktien. 

Bayrische Notenbank 1875 | 7500000 | 2800941 | 1464. 700| 4 265 641 
Bergisch Märkische Bank 1871 | 50000000 |11446 209 | 4524 362|15 970 571 
Berliner Bank 1889 | 42000000 | 3135 171 | 3135 171 
Berliner Handelsgesellschaft 1856 | 90000000 |21 300000 | 3 500 000 24 800 ooo 
Berliner Kassenverein 1850 9000000 | 1 350 000 100 000| I 450 000 
Breslauer Diskontobank 1870 | 50000000 985 000 985 ooo 
Breslauer Wechslerbank 1871 | 12000000 | 1200 000 285 000 1 485 000 
Commerz- und Diskontobank 1870 | 50000000 | 6000000 | 1050 258 7 050 258 
Bank für Handel und Industrie | 1853 | 105 000 000 |12 718611 10192 897/22 911 508 
Deutsche Bank 1870 | 150000000 |28 243 535 21 099 110 49 342 646 
Deutsche Reichsbank 1875 | 150000 000 |44 639 256 | 3065 200 47 704 457 
Deutsche Effekten- u. Wechsel- 

bank 1872 | 30000000 | 2 334 582 2 334 582 
Deutsche Genossenschaftsbank 1864 | 36000000 | 4670000!) 4 670 000 
Diskontogesellschaft 1851 | 130000000 |18 974027 |19 500 000 38 474 028 
Dresdner Bank 1872 | 130 000 000 |34 000 000 34 000 000 
Hamburger Hypothekenbank 1871 | 21000000 | 6000000 | 1630497| 7 630 497 
Leipziger Kreditanstalt 1856 | 75 000000 |24 141 990 | 6 302 007/30 443 997 
Mitteldeutsche Kreditbank 1856 | 45000000 | 3415899 | 1250000| 4 665 899 
Nationalbank für Deutschland 1881 | 60000000 | 9500000 ` 9 500 000 
Preußische Bodenkredit-Aktien- | 

bank 1868 | 30000000 | 6000000 | I 500 000! 7 500 000 
Preußische Central-Bodenkredit- 

Aktienbank 1870 | 28799760 | 1879097 | 3 859 298| 5 738 396 
Preußische Pfandbriefbank 1862 | 18000000 | 2 000 000 849 800| 2 849 800 
Rheinische Hypothekenbank 1871 | 16580400 | 4 000 000 600 244 4 600 244 
Sächsische Bank 1865 | 30000000 | 6.060 242 523 224| 6 583 466 
Schaafhausenscher-Bankverein 1848 | 100 000 000 |17 549087 | 2 500 000 20 049 087 
Schlesischer Bankverein 1856 | 27 000000 | 2700000 | 4 300 000, 7 000 000 
Schlesische Bodenkredit-Aktien- 

bank 1871 | 15000000 | 2250000 | 1 825 000) 4075 000 


IH. Versiche 


Aachen-Münchener Feuerversich. | 1825 


Berliner Feuerversicherung 1812 | 
Berliner Hagel-Assekuranz 1832 
Berliner Lebensversicherung 1836 
Colonia-Feuerversicherung 1839 
Coneordia-Lebensversicherung 1853 


rungsgesellschaften. 


9000000?) 900000 
6 000 000), 600 000 
3 000 000?) 27 561 
3000000?) 208 258 


9 000 000?) 4.000 000 
30 000 000 °); 3 000 000 


7 044 110| 7 944 110 
I 005 175| 1665 175 
312 343| 339 904 
2496 152| 2704 410 
5 099 990| 9 099 990 
2078 799| 5 078 799 


1) Durch GeneralversammlungsbesehluB vom 16. September 1902 ist der Reserve- 
fonds wegen der notwendig gewordenen Abschreibungen u. s. w. auf 2 000 000 M. re- 


duziert worden. 
2) 20 Proz. Einzahlung. 


wows oson =- 


Die Reservefonds der deutschen Aktiengesellschaften. 11 
Kapital- 
galz Aktien- bezw. ge- | Spezial- ar 
Errich kapital setzliche | reserven c 
EAE Reserven 1994 
tung 
| M. M. M. M. 
Germania-Lebensversicherung 1857 9 000 000 !) 900 000 | 2 899 893 | 3 799 893 
Leipziger Feuerversicherung 1819 3 000 000 | 3000 000 | 1 419 788 | 4 419 788 
Magdeburger Feuerversicherung | 1844 | 15000 000!)| 1158861 5 107 926 | 6 266 787 
Magdeburger Lebensversiche- 
rung 1855 | 6000000')| 592958 | 238305| 831 263 
Preußische Lebensversicherung | 1865 | 3000000!) 300 000 | 250447| 550447 
Schlesische Feuerversicherung 1848 9 000 000 !) 900 000 | 1 414 266 | 2 314 266 
IV. Berg- und Hüttenwerke. 
Aschersleben, Kaliwerke 1889 | 12 000 000 862 873 799 715 | 1662 589 
Bismarckhütte 1872 | 6 000000 1 500 000 | 1040000 2 540 000 
Bliesenbach 1895 5 500 000 214 076 | 214076 
Bochumer Gußstahl 1854 | 25 200 000 6 200 125 860 000 | 7 060 125 
Concordia-Bergbau 1890 8 000 000 2 278 002 696 066 | 2 974 068 
Consolidation Schalke 1889 | 16 000 000 1 600 000 | 4 249 729 | 5 849 729 
Donnersmarekhütte 1872 | 10.092 600 724 052 402 326 | 1 126 378 
Dortmunder Union 1872 | 42 000 000 I 168932 | 1568 294 | 2 737 226 
Eschweiler Bergwerk 1834 | 15 000 000 3 000 000 562 934 | 3 562 934 
Gelsenkirchner Bergwerk 1873 | 54 000 000 9033 714 |5 400000 14 433 714 
Harpener Bergwerk 1856 | 52000000 | 18293 344 | 3 638 242 |21 931 586 
Hasper Eisenwerk 1894 | 3000000 300 000 57048| 357048 
Hörder Hütten 1843 | 27 028 ooo 1475973 | 1 088 936 | 2 564 909 
Kattowitzer Bergbau 1889 | 22000 000 3 206 224 450 000 | 3 656 224 
Kiher Bergwerksverein 1849 | 6000000 1470000 | 641964 | 2111 964 
Köniz Wilhelm 1872 6 900 000 690 000 | 1 300 666 | 1 990 666 
Königs- und Laurahütte 1871 | 27 000 000 5 400 000 | 823 000 | 6 223 000 
Nordstern 1873 | 16 999 200 1 565 000 | 377 731| 1942 731 
Oberschlesische Eisenindustrie 1887 | 25 200 000 4 091 067 346 859 | 4 437 926 
Phönix-Bergwerke 1853 | 30 000 000 5056701 | 2 200000 | 7 256 701 
Rheinische Stahlwerke 1870 | 27 000 000 4 940 000 | 400000 | 5 340 000 
Riebeck'sche Montanwerke 1883 | 12 000 000 I 857 257 509 978 | 2 367 235 
Sächsische Gußstahlfabrik 1863 | 30 000 000 1490000 | 480000, 1 970 000 
Schalker Gruben 1889 | 3.000 000 I 164 125 I 164 125 
Sehlesische Zinkhütten 1853 | 23 529 000 4819473 |2352900 | 7 172 373 
Westfälische Drahtindustrie 1872 | 7999 800 800 000 | 116625 | 916625 
V. Brauereien. 
Böhmisches Brauhaus 1870 | 3 300 000 660 000 55000| 715 000 
Friedrichshöhe (Patzenhofer) 1871 | 5670000 | 1050000 155 208 | 1 205 208 
ipziger Bierbrauerei (Riebeck 
& Co.) 1887 | 4 000 000 400 000 | 210000 610 000 
Lindener Aktienbrauerei 1871 3 024 000 773 872 280 000 | 1 053 872 
Pfefferberg 1887 | 2800000 226 010 202000, 428010 
Reichelbráu 1895 | 3750000 197 268 | 300000| 497 268 
Schultheiß 1871 | 11 709 000 5 930 475 47 760 5978235 
Vereinsbrauerei Rixdorf 1872 | 4 000 000 653611 8000| 661611 
Weißbier Landré 1872 | 1650000 | 145233 |  11242| 156475 
VI. Elektrizitätsgesellschaften. 
Akkumulatorenfabrik 1890 6 250 000 I 250 000 | 1 520 939 | 2 770 938 
Allgem. Elektrizitätsgesellschaft | 1883 | 60000000 | 22 027 622 | 7 973 378 |30 000 ooo 


1) 20 Proz. Einzahlung. 


12 


Otto Warschauer, 


| Kapital 
Jahr Aktien- bezw. ge- | Spezial- SIR 
der kapital setzliche | reserven | 1901 
Errich- Reserven 
tung Mo © M M. M. 
Berliner Elektrizititswerke 1884 | 25200000 | 1114393 |1133 230 | 2 247 623 
Gesellschaft für elektrische | 
Unternehmungen 1894 | 30 000 000 860 869 750000 | 1610869 
Lahmeyer 1892 | 10000000 | 2414 337 686 728 | 3 101 065 
Schuckert & Co. 1893 | 42000000 |16 711 993!) 5 154 065 21 866 058 
Siemens & Halske 1897 | 54 500000 | 9611 163 618 834 10 229 997 
Union 1892 | 24 000 000 | 2430 244 400 000 | 2 830 244 
VII. Maschinen-, Metallwaren- und Eisenbahnbedarfsfabriken. 
Archimedes 1875 I 500 000 150 000 398 462| 548462 
Berlin-Anhalter Maschinenfabrik | 1872 4 500 000 658 286 803 978, 1 402 264 
ChemnitzerWerkzeugmaschinen- | 
fabrik (Zimmermann) 1871 5 400 000 540 000 244605 784605 
Dürrkopp, Bielefelder Maschinen | 1889 3 000 000 | 1 288 900 I 761 100 3 050 000 
Eckert, landw. Maschinen 1871 3 600 000 216 716 237 245, 453 961 
Federstahlindustrie (Cassel) 1886 1 500 000 300 000 303694 603694 
Freund, Maschinen 1871 1 800 000 360 000 246 767, 606767 
Górlitzer Eisenbahnmaterial 
(Lüders) 1869 2 142 600 350 000 135 000! 485 000 
Görlitzer Maschinen 1872 2 400 000 488 187 164 687| 652874 
Ilallesche Maschinen 1872 1 800 000 837 539 300 000! 1 137 539 
Hannoversche Maschinen 1871 4 643 100 630000 | 1900 000| 2 530 000 
Hartmann-Maschinen 1870 | 12000000 | 2601846 | 1 622 295! 4 224 141 
Linke, Breslauer Wagenbau 1871 6 600 ooo 577 77 500 000! 1077 775 
Loewe & Co. 1869 7 500000 | 6251899 | 1 248 101| 7 500 000 
Orenstein & Koppel 1897 8 000 000 970 795 557 793) 1 528 588 
Sächsische Webestuhlfabrik 
Schönherr 1872 3 000 000 308 652 525000 | 923652 
Sangerhüuser Maschinen 1573 2100000 | 2038 000 540 000, 2 578 000 
Schwartzkopff 1570 | 10800000 | 4 934 396 197 391, 5 131787 
Sentker 1871 1 560 000 368 395 150 177| 518572 
Stettiner Maschinenbau Vulkan | 1857 | 10000000 | 1100000 | 10601510) 2701510 
Zeitzer Maschinen 1871 1 824 000 908 560 109 750| 1018 310 
VIII. Papierfabriken. 
Alfeld-Gronau 1872 1 590 000 167 136 50310! 217 446 
Aschaffenburger 1872 3 000 000 900 000 131 800 1031 800 
Berliner Pappenfabrik 1872 1 800 000 95 975 6000! 101 975 
Cróllwitzer 1871 I 350 000 | 293 791 788 909| 1 082 700 
Varziner 1890 1 000 000 100 000 322000, 422000 
IX. Transportgesellschaften. 
Allgemeine Berliner Omnibus- | 1865 3300000 | 548000 272700| 820700 
gesellschaft | 
Allg. Lokal- und Straßenbahn | 1881 15 000000 | 2589455 | 2254 249) 4 843 704 
Breslauer Straßenbahn 1876 6 500000 | 511902 336055) 847 957 
Große Berliner Straßenbahn 1871 | 85 785 000 | 5 640 977 |19 209 034|24 850 031 
llamburger Straßenbahn 1866 | 21000000 | 2 967 485 916 564| 3 884 049 


1) Bei der Sehuckert-Gesellschaft sind laut Geschäftsbericht für 1901,02 
dem Reservefonds zur Deckung der Unterbilunz M. 15 399 316 entnommen worden, so 
daß sich derselbe am 31. März 1902 nur auf M. 1312 677 bezifferte. 


Die Reservefonds der deutschen Aktiengesellschaften. 13 
Kapital 
Jahr Aktien- bezw. ge- | Special- | Gesamt- 
der kapital setzliche | reserven | reserven 
Errich- Reserven 
de. | M. M. M. M. 
Hamburg-Amerika Paketfahrt 1847 | 80000000 | 8234829 12577 670.20 812 499 
Norddeutscher Lloyd 1857 | 80000000 | 3 665 230 nm 473 914/20 139 144 
X. Textilfabriken. 
Braunschweiger Jute 1868 | 3000000 433 565 491 123| 924 688 
Bremer Wollkämmerei 1883 4 000 000 119 350 750000! 869 350 
Coneordia Spinnerei 1888 3 000 000 300 000 156426, 456426 
Deutsche Jutespinnerei 1872 2 296 800 350 000 242 217| 592217 
Mechanische Weberei Sorau 1886 I 500 000 150000 |  60000| 210000 
Mechanische Weberei Zittau 1871 1 200 000 120 000 181 140| 301 140 
Nordd. Wollkämmerei 1884 9175000 | 1301906 | 356940| 1 658 846 
Schlesische Leinwand Kramsta | 1871 7 500 000 750000 | 150000) 900000 
Stöhr, Kammgarnspinnerei 1580 7900000 | 2525000 | 250000! 2 775 000 
XI Gummifabriken. 
Harburg-Wiener 1872 6000000 | 3101 865 | 375 250| 3477 115 
Norddeutsche Gummifabrik 1871 I 207 000 125 506 | 24000| 149 506 
Schwanitz 1874 830 000 83 000 28403| 111403 
Vereinigte Berlin - Frankfurter | 
Gummiwarenfabriken 1883 1 800 000 211313 43497| 254710 
XII. Chemische Fabriken. 
Akt.-Ges, für Anilinfabrikation | 1873 7 000000 | 1955870 ı 348561) 2 304 431 
Anglo-Kontinentale Guano 1883 | 16 000 000 142000 | 500000 642 000 
Elberfelder Farben 1881 I4000000 | 5415 884 | 3850000, 5 765 884 
Höchster Farbwerke 1579 | 17000000 | 5560000 3072875 8632875 
Leopoldshall 1872 | 11 300 400 455 146 559312) 1014458 
Mileh & Co. 1859 2 850 000 285 000 125 000, 410 000 
Schering 1871 5 000 000 | 1138 398 675 471| 1813 869 
Union 1872 5040000 | 1008 000 474731) 1482731 
XIII. Zuckerfabriken. 
Fraustadt 1880 | 1800000 180 000 90 000! 270.000 
Glauziger 1872 4 500 000 377 325 100 000| 477325 
Köhlmann 1871 1 800 000 360 000 100 000) 460 000 
Körbisdorf 1872 2 700 000 270 000 203 755) 473755 
Kruschwitz 1880 2 484 000 341398 | 1087 360| 1 428 758 
Rositzer 1882 5 500 000 689241 | 1088 523| 1 777 764 
XIV. Cement- und Chamottefabriken. 
Adler 1880 | 4000000 | 2 970 000 60 000! 3 030 000 
Alsen 1854 8000000 | 1186153 619 711) 1 805 864 
Obersehlesische Chamottefabrik | 1858 I 750 000 175 000 131306 306 306 
Oppelner Cement 1872 3 000 000 | 300 000 300 000| 600 000 
Portland-Cement Fabrik 
Hemmoor 1882 5 400 000 | 1509 172 350 225| 1 859 397 
Schlesische Portland-Cement 1872 3 750 000 722 800 237 509| 960 309 
Stettin-Bredower Portland- 1854 1 200 000 120 000 68 782 188 782 
Cement 
Stettiner Chamottefabrik Didier | 1872 9 250000 | 1804029 | 1183 656) 2 987 685 


14 Otto Warschauer, 


| 
Kapital- 
Aktien- | bezw. ge- | Spezial- re 
er k te I géi d reserven 
: apital — ' setzliche | reserven 
Errich- | à 1901 
Reserven 
tung | 
M. | M. M. M. 
XV. Verschiedene Unternehmungen. 
Deutsche Gasglühlicht 1892 2404000 | 240400 240 400 
Deutsche Waffen 1889 | 15000000 | 3729855 1 000 000! 4729855 
Porzellanfabrik Kahla 1888 2 100000 | 737 701 | 10 000 747 701 
Porzellanfabrik Königszelt 1886 1600000 | 160 000 | 164 327 324 327 
Rheinisch-Westfälische Industrie | 1871 1 500 000 240 000 239000, 479000 
Siemens Glasindustrie 1888 9 000 000 865 159 114 602 979 761 
Waldhof. Zellstofffabrik 1884 9 000 000 3051423 |2303919| 5355 342 


. Die Kapital- bezw. gesetzlichen Reserven, die auch 
unter der Bezeichnung Reservefonds I, Bilanzreservefonds, All- 
gemeine Reserve in den Geschäftsberichten aufgeführt werden, dienen, 
wie aus den gegebenen Ausführungen ersichtlich ist, lediglich 
der Deckung einer eventuellen Unterbilanz. Da jedoch hierdurch 
die Idee der Reserven für die wirtschaftlichen Interessen nicht 
voll erfüllt wird, oder bei lingerer Dauer des Unternehmens und 
genügender Rentabilität desselben die gesetzlich vorgeschriebene 
Summe im Laufe einer bestimmten Frist voll erreicht ist, werden 
vorsichtig und umsichtig handelnde Verwaltungsorgane der Aktien- 
gesellschaften veranlaßt, häufig, namentlich bei günstiger Konjunktur 
und demgemäßen Gewinnerträgnissen nicht nur den Formalitäten 
des Gesetzes zu genügen, sondern im Interesse der von ihnen ge- 
leiteten Unternehmung neben der Unterbilanzreserve Spezial- 
reserven zu schaffen. Diese Sonderreserven sind von den Prinzip 
der Freiwilligkeit geleitet. Teilweise entstanden sie, wie dies durch 
den historischen Aufbau des Reservefonds erklärlich ist, vor den 
Unterbilanzreserven und dienen dem vorgeschriebenen Zwecke. Sie 
treten auf und werden bezeichnet z. B. als außerordentliche Reserven, 
Fonds für diverse Risiken, Konto-Korrent-Reserven, Deleredere-Konto, 
Reserven zur Verfügung der Verwaltung, für zweifelhafte Forde- 
rungen, außergewöhnliche Bedürfnisse, Erneuerungsfonds, Dividenden- 
ergänzungsfonds, Baureserven, Sonderrücklagen, zusätzliche Rück- 
stellungen, angreifbare Reserve, fakultative Reserve, Extrareserve, 
Dispositionsfonds, Freiwillige Reserve, Reservefonds II, Reservefonds B, 
C u. s. w. Hierzu gehören auch die eventuell jährlich bilanzmäßig 
vorzunehmenden Gewinnvorträge, die als Spezial-Dividenden-Reserve- 
fonds für das nächste Geschäftsjahr bezeichnet, oder zur Deckung der 
in der gleichen Periode eventuell entstehenden Verluste verwendet 
werden können. Im übrigen ist die Höhe der Spezialreserven vielfach 
aus den Bilanzen nicht erkennbar. Wenn z. B. Banken ihre Immobilien 
oder große industrielle Unternehmungen Patente auf minimale Be- 
träge abschreiben, so tritt auch hier das Prinzip der Reserven, wenn 
auch verschleiert in Kraft. Je umfangreicher nun die gesamten 


Die Reservefonds der deutschen Aktiengesellschaften. 15 


Spezialreserven auftreten, je dezentralisiertere Zwecke sie verfolgen, 
je stärker sie prozentual dem gesamten Aktienkapital gegenüber sind, 
desto gefestigter, lebenskräftiger und widerstandsfähiger wird das be- 
treffende Unternehmen. 

Die Summe der Kapital- und Spezialreserven bildet die Ge- 
samtreserve; sie hat für die allgemeine Bewertung des Gesell- 
schaftvermögens entscheidende Bedeutung und gewährt unter Berück- 
sichtigung der eventuell möglichen, später genau zu erörtenden 
Mißbräuche in vielfacher Beziehung einen für den Aktionär und die 
allgemeine Beurteilung des betreffenden Unternehmens verwendbaren 
und zuverlässigen Maßstab. Wo, wie dies leider bei einzelnen Aktien- 
gesellschaften der Fall ist, Kapital- und Spezialreserven nicht ge- 
trennt aufgeführt werden, ist der diesbezügliche Betrag bei den 
Kapitalreserven aufgeführt; für die allgemeine Beurteilung des be- 
treffenden Unternehmens jedoch ist nur die Ziffer der Gesamtreserven 
in Betracht zu ziehen. 

Es würde leicht zu Trugschlüssen verleiten, wollte man die vor- 
geführten Summen einheitlich auffassen. Um objektiv die Sachlage 
voll zu erkennen, muß daher einerseits die Eigenart der bedingenden 
Verhältnisse, bezw. das Risiko der Unternehmung und die damit 
verbundene Gefahr einer etwa eintretenden Unterbilanz in Betracht 
gezogen werden und andererseits sind namentlich für einzelne Gruppen 
die besonders markanten Erscheinungen bezüglich des Charakters 
der Reserven herauszuschälen. 

Die deutschen Eisenbahnaktien gehören zu den ältesten 
Kategorien des Effektenmarktes, denn mit ihnen begann die eigent- 
liche Entwickelung des Aktienwesens in Deutschland. Nachdem je- 
doch ihr Verstaatlichungsprozeß in den meisten deutschen Bundes- 
staaten durchgeführt ist, haben sie für den Börsenverkehr der Gegen- 
wart keine entscheidende Bedeutung mehr. Die Umsätze in ihnen 
dürften sich auch in der Zukunft dauernd nicht heben, weil entweder 
die gegenwärtig noch bestehenden größeren Privatbahnen, wie z. B. 
die Dortmund-Enscheder und Lübeck-Büchener-Eisenbahn, das 
Schicksal der anderen gleichgearteten großen Unternehmungen teilen 
werden oder die der Verstaatlichung nicht anheimfallenden Bahnen 
mehr oder weniger lokale Tendenzen verfolgen und ein lebhaftes 
Interesse des Kapitalisten nicht zu erregen vermögen. Durch die 
lange Dauer ihrer Existenz sind bei der Mehrzahl der zur Zeit 
noch bestehenden Privatbahnen die gesetzlich vorgeschriebenen 
Rücklagen meistenteils bereits erreicht. Die Gefahr der Unter- 
bilanz hat diese Bahnen nur ganz ausnahmsweise bedroht und die 
vorhandenen Reserven dienen vielfach mehr zur Zierde wie zum 
Schutz. Bei einzelnen der aufgeführten Unternehmungen sind, wie 
aus der Zusammenstellung ersichtlich ist, stattliche Spezialreserven 
angesammelt und sobald die Stunde der Verstaatlichung endgültig 
naht, werden daher die betreffenden Verwaltungsorgane genügenden 
Ersatz hierfür zu fordern berechtigt sein. Aehnlich liegen die Ver- 
hältnisse bei den Transportgesellschaften, von denen einzelne 


16 Otto Warschauer, 


mit der Eventualität der Verstadtlichung rechnen können, und in 
denen sich gleichfalls teilweise sehr große Gesamtreserven angesammelt 
haben. 

In höherem Maße wie bei den Eisenbahnaktien und Transport- 
gesellschaften ist nach Eigenart der geschäftlichen Transaktionen und 
den damit verknüpften Risiken die Gefahr der Unterbilanz für die 
Deutschen Bankaktien gegeben. Die einzelnen Banken scheiden 
sich in Effekten-, Hypotheken- und Zettelbanken und auch hier ist 
durchschnittlich das Jahr der Errichtung von entscheidender Be- 
deutung für die Höhe der Reserven. Bei den Effektenbanken, 
die bekanntlich ursprünglich in der Form der Credits mobiliers auf- 
traten, differiert dasselbe wesentlich und namentlich zwei Phasen der 
Entwickelung sind für sie festzuhalten. Zuvörderst ist diejenige 
Periode in Betracht zu ziehen, in der sich langsam und allmählich 
die Idee der Kapitalassoziation in der Form der Aktiengesellschaften 
Bahn brach. Diese Periode setzt ungefähr in der Mitte des 19. Jahr- 
hunderts ein und reicht bis zum Jahre 1870. Die zweite Phase 
beginnt mit der Gründung des Deutschen Reiches. Einerseits 
werden durch das gewaltige, politische Ereignis die Produktivkräfte 
der Nation in höherem Maße wie bisher entfacht, andererseits ent- 
faltete sich nach Beseitigung des die Entwickelung der Aktiengesell- 
schaften bisher lähmenden Konzessionssystems eine neue, dem 
gesteigerten Bedarf entsprechende Organisation des Kredites, die 
zur wesentlichen Ausbreitung der Effektenbanken beiträgt. Je mehr 
sich nun Deutschland zum Industriestaat entwickelte, in desto 
höherem Maße wächst das Operationsgebiet der letzteren. Durch 
Fusionen und Erhöhungen der Betriebskapitalien steigerte sich ihr 
Einfluß und ihre Leistungsfähigkeit. So werden sie namentlich im 
letzten Jahrzehnt des vertlossenen Jahrhunderts für den gesamten 
Wirtschaftsverkehr Deutschlands von immer entscheidenderer Be- 
deutung und entwickeln sich vielfach nicht nur zu finanziellen, 
sondern auch sozialen Mächten. 

Auf diesem Niveau bewegen sich in der Gegenwart namentlich 
die großen Berliner Effektenbanken, welche die Gunst der Konjunktur 
und Entwickelung jeweilig voll auszunutzen verstanden haben und 
die das allgemeine Vertrauen sieh nicht nur durch Umsicht und 
Intelligenz ihrer Leiter, sondern auch durch stete Wahrung jener 
Soliditätsgrundsätze erworben haben, die auch bei dem Aufbau und 
der Verwertung der Reserven zum Ausdruck zu kommen haben. 
Die von ihnen hierbei gehandhabte Politik, mag sie die Kapital- 
oder Spezialreserven betreffen, hat drei erfreuliche Erzeugnisse ge- 
zeitigt. Sie befähigt die betreffenden Institute teilweise der Ungunst 
der Konjunktur zu trotzen, sie ermöglicht zweitens die annähernd 
gleichmäßige Erfüllung der volkswirtschaftlichen Aufgaben, welche 
sich nach Eigenart der Verhältnisse nunmehr dauernd mit ihrer 
Existenz verknüpft, und sie gewährt endlich vielfach den Aktionären 
das Gefühl einer berechtigten Sicherheit. In diesem Sinne sei 
namentlich auf die Gesamtreserven der Diskontogesellschaft, der 


Die Reservefonds der deutschen Aktiengesellschaften. 17 


Berliner Handelsgesellschaft und der Deutschen Bank hingewiesen 11. 
Namentlich die Reserven dieser letzteren Bank, die fast 20 Jahre 
später wie die Diskontogesellschaft errichtet wurde, bildet eine statt- 
liche Kapitalkraft und liefert den beredten Beweis von dem Geiste 
der Solidität, der dauernd dieses Institut beseelt. 

In dem Banne und der Gefolgschaft der großen Berliner Effekten- 
banken stehen durch Fusion oder Verwaltungsunion vielfach Provinzial- 
institute, die von gleichen Grundsätzen wie die Mutterinstitute auch 
in Bezug auf die Reserven geleitet werden. Die übrigen aufgeführten 
Effektenbanken, die zu den hervorragendsten Deutschlands gehören, 
haben in ihrer Reservefondspolitik zu Klagen nie Veranlassung ge- 
geben. In welcher Form sich jedoch die Verwaltung der Reserven 
auf dem Verwaltungswege abspielt, entzieht sich bei ihnen, wie bei 
den großen Berliner Effektenbanken der Beurteilung. 

Von den Hypothekenbanken sind nur diejenigen aufgeführt, 
die sich seit einer Reihe von Jahren bewährt haben ?). Der bei der 
Anhäufung der Reservekapitalien hierbei bekundete Ordnungssinn 
dürfte vielfach wohl auch auf die anderen Gebiete der Geschäftsthätigkeit 
übertragen worden und die treibende Ursache gewesen sein, jene 
gefahrvollen Transaktionen zu meiden, die, wie die jüngste Ver- 
gangenheit leider lehrt, bei vielen gleichgearteten Unternehmungen 
zu Zahlungsverlegenheiten, Zusammenbrüchen und Sanierungs- 
prozessen geführt haben. Auch von den zur Zeit in Deutschland 
bestehenden Zettelbanken sind nur die Deutsche Reichsbank, die 
Bayrische Notenbank und die Sächsische Bank aufgeführt, da die übrigen 
Institute einen mehr oder minder begrenzten Wirkungskreis haben und 
für die Dauer sich schwerlich halten dürften. Im allgemeinen ist bei 
den Zettelbanken im Gegensatz zu den Hypotheken- und Effektenbanken 
das Risiko ein begrenztes, da die Gesetzgebung die Art der mög- 
lichen Geschäfte vorgeschrieben hat, spekulative Transaktionen fast 
ausgeschlossen sind und demgemäß die Gefahr der Unterbilanz sich 
wesentlich mindert. Interessant dürfte übrigens auch an dieser Stelle 
der Hinweis sein, daß die Gesamtreserven der Deutschen Reichsbank 
diejenigen der Deutschen Bank nicht völlig erreicht haben. 

Aelter wie die Bank- und Eisenbahnaktien sind die Ver- 
sicherungsaktien, doch haben sie für die direkten Interessen 
des Geldmarktes und den Börsenverkehr nur eine untergeordnete 
Bedeutung. Der Umstand, daß die Aktien als Namenspapiere cir- 
kulieren, ihre Uebertragung von der Genehmigung der Verwaltungs- 


1) Es bezifferte sich das Verhältnis der Gesamtreserven zum Betriebskapital für 
das Geschäftsjahr 1900 nach Adolf Weber, a. a. O. 8. 223 z. B. 


bei der Deutschen Bank auf 32  Proz. 
»  » Diskontogesellschaft 5 28556 
»  » Berliner Handelsgesellschaft „ 27,6 ,, 


2) Die Reserven betrugen bei allen deutschen Hypothekenbanken nach dem 
„Deutschen Oekonomist*, 1902, No. 1026: 
1893 93,18 Mill. M. 
1901 242260. iw- m 
Dritte Folge Bd. XXV (LXXX). 2 


18 Otto Warschauer, 


organe abhängig gemacht wird, der individuelle Besitz meistens im 
Höchstmaße nicht überschritten werden kann und die Aktionäre für 
die Erfüllung ihrer Verpflichtungen Solawechsel zu geben haben, 
begrenzt naturgemäß die Umsätze in derartigen Wertpapieren. Die 
für sie angelegten Reserven haben einen eigenartigen Charakter. 
Als eigentliches Betriebskapital dienen die einlaufenden Jahres- 
prämien, demgemäß ist das Aktienkapital, das meistenteils nur mit 
20 Proz. eingezahlt ist, bereits ein Sicherheitsfonds, der als Reserve 
dient und der eigentliche Reservefonds kann nur als gesteigertes 
Garantiemittel bezeichnet werden, das die Aktionäre vor der Er- 
höhung ihrer Verpflichtungen schützt. 

Die Berg- und Hüttenwerke sind großen Schwankungen 
der Konjunktur ausgesetzt. Die älteren Unternehmungen haben 
durchschnittlich mit der Gefahr der Unterbilanz nur ausnahmsweise 
zu rechnen gehabt, vielfach den gesetzlich vorgeschriebenen Satz der 
Kapitalreserven bereits erreicht und durch Errichtung kapitalkräftiger 
Specialreserven möglichen Gefahren der Zukunft vorgebeugt. Die 
jüngeren Unternehmungen sind von gleichen Grundsätzen nicht 
durchweg beseelt gewesen. Die sie leitenden Verwaltungsorgane 
hätten daher besser gethan, bei der Hochflut der Konjunktur nicht 
allzu hohe Dividenden auszuschütten, sondern einen Teil der Ueber- 
schüsse zur Sicherung des Unternehmens für die Errichtung von 
Specialreserven der verschiedenartigsten Zwecke zu bestimmen. 

Einem gleichen Wechsel der Konjunktur wie die Berg- und 
Hüttenwerke sind die Brauereien nicht ausgesetzt. Die einmal 
erworbene Kundschaft der großen diesbezüglichen Aktiengesellschaften 
ist vielfach konservativ, der Absatz berechenbar, spekulative Momente 
entfallen durchschnittlich oder sind nicht von entscheidender Be- 
deutung und die Gefahr der Unterbilanz ist daher bei ihnen selten 
auf das Risiko des Unternehmens zurückzuführen. 

Alle diejenigen großindustriellen Unternehmungen, die sich durch 
die Technik und mit derselben entwickelt haben, sehen nach Lage 
der Verhältnisse in Deutschland auf eine relativ kurze Vergangenheit 
zurück. Die Voraussetzung wäre daher begründet, daß Kapital- und 
Spezialreserven bei ihnen sich noch im Anfang der Entwickelung 
befinden. Die großen Elektrizitätsgesellschaften jedoch 
haben vielfach die Gunst der Konjunktur zur inneren Festigung der 
Unternehmungen benutzt und somit eine gleiche Reservefondspolitik 
wie die großen Berliner Effektenbanken getrieben !). Viele der kleinen 
Unternehmungen jedoch versuchten durch hohe Dividenden zu blenden, 
sich den Anschein eines großen gesicherten Wirkungskreises zu geben 
und haben in diesem nicht berechtigten Bestreben leider den Spezial- 
reserven eine nicht genügende Aufmerksamkeit gewidmet. Die 
Maschinen-, Metallwaren- und Eisenbahnbedarfs- 


1) Namentlich sei hierbei auf die Verhältnisse der Allgemeinen Elektrizitäts- 
gesellschaft hingewiesen, deren Reserven bereits am 30. Juni 1901 die volle Hälfte des 
Grundkapitals erreicht hatten. 


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Die Reservefonds der deutschen Aktiengesellschaften. 19 


Fabriken mögen die mannigfachen Phasen ihrer häufig stürmischen 
Entwickelung nur durch frühzeitig angesammelte Spezialreserven 
überwunden haben‘), und ein Gleiches gilt für viele der übrigen in 
den einzelnen Gruppen aufgeführten Unternehmungen. 

Lehrreich und interessant ist es nun, zu sehen, welche Reserve- 
Ziffern diejenigen hervorragenden Aktiengesellschaften aufweisen, die 
in der jüngsten Zeit ihre Zahlungen einstellten oder ernstlich ge- 
fährdet waren. 


Reservefonds der hervorragendsten falliten oder 
geführdeten Unternehmungen: 


Jahr der f R Gesamtreserven 
Errichtung) Aruienkapital| 000 bezw. 1899 
Allgemeine Deutsche Kleinbahngesellschaft 1893 7 500 000 1 467 632 
Aktiengesellschaft für Grundbesitz 1883 4 000 000 891 099 
Deutsche Grundschuldbank 1886 10 000 000 1334505 
Dresdener Kreditanstalt 1856 20 000 000 3 950 000 
Elektrizitätswerke Kummer 1894 | 10 000 000 3 162 514 
Immobilienverkehrsbank 1890 | 500 000 100 000 
Heilbronner Gewerbebank 1890 3 000 000 430 000 
Kasseler Trebertrocknungsgesellschaft 1889 12 000 000 16 671 007 
Leipziger Bank 1839 48 ooo ooo 16 473 200 
Mecklenburg-Strelitzsche Hypothekenbank 1896 12 000 000 1 800 000 
Nauheimer säurefeste Produkte 1891 6 000 000 3 343 425 
Pommersche Hypothekenaktienbank 1866 | 15 000 000 6 152 000 
Preußische Hypothekenaktienbank 1864 | 21 000 000 3 934 228 
Rhederei vereinigter Schiffer 1888 2 000 000 214 022 
Rheinische Bank 1897 10 000 000 I 000 000 
Spar- und Vorschußbank in Dresden. 1897 | 1000000 300 000 
Wagenbauanstalt Busch, Hamburg 1896 | 3500000 194 104 


Die aufgeführten Ziffern betreffen das letzte, vor der Krisis zu 
verzeichnende Geschäftsjahr und berücksichtigen nur die Gesamt- 
reserven, da für den genannten Zweck die Scheidung zwischen Kapital- 
und Spezialreserven praktisch bedeutungslos ist. Im allgemeinen 
kann man sich hierbei der Erkenntnis nicht verschließen, daß die 
vorgeschriebene Kapitalreserve zur Deckung der Unterbilanz nicht 
genügte und daß auch die etwaigen Spezialreserven nicht vermochten, 
der Gefahr des Augenblicks vorzubeugen, den Zusammenbruch des 
Unternehmens zu verhüten und Aktionäre sowie Gläubiger vor 
Schaden zu schützen. Die betreffenden Gesellschaften würden sicher- 
lich dasselbe Geschick gehabt haben, auch wenn sie keine Reserve 
besessen hätten und die leitende Idee, welche zur Errichtung von 
Reserven geführt, hat sich in den gegebenen Fällen als völlig wirkungs- 
los erwiesen. Allerdings hätten nun niemals genug Reserven ange- 
sammelt werden können, um dem durch den Leichtsinn der Ver- 
waltungsorgane verursachten Untergange eines Unternehmens vorzu- 


1) Bei der Aktiengesellschaft Ludwig Loewe & Co. betrug 1901 der gesamte 
Reservefonds 100 Proz. des Betriebskapitals und die Sangerhäuser Maschinenfabrik über- 
holte sogar diesen Prozentsatz. 


2* 


20 Otto Warschauer, 


beugen, bei den genannten Aktiengesellschaften jedoch sind Ver- 
hältnisse grell zu Tage getreten, die als höchst bedenkliche zu be- 
zeichnen sind und auf deren Gefährlichkeit später noch allgemein 
hingewiesen werden wird. Die bei den Elektrizitätswerken Kummer, 
der Preußischen Hypothekenaktienbank, der Pommerschen Hypotheken- 
aktienbank, der Leipziger Bank, der Kasseler Trebertrocknung- 
gesellschaft, der Nauheimer säurefeste Produkte A.-G. u. s. w. als 
Reserven aufgeführten großen Beträge waren nicht eine flüssige, leicht 
realisierbare Masse, sondern immobil und weisen fast durchweg den 
Charakter von Buchoperationen auf. Hier ist ersichtlich, was sich 
anderweitig sehr häufig hinter den Kulissen abspielt und diese Er- 
kenntnis sollte zu der nicht durch eine vorübergehende Ungunst der 
Konjunktur, sondern durch die Eigenart dauernder Tatsachen be- 
dingten Ueberzeugung führen, daß der Reservefonds einer Aktien- 
gesellschaft keine Buchoperation sein darf, sondern daß seine Lebens- 
fähigkeit in der Sicherheit, sowie Beweglichkeit seiner Anlagewerte 
zu bestehen hat. 


III. 

Die gegenwärtige Organisation der Reservefonds der deutschen 
Aktiengesellschaften weist Mißstände auf, die sich zuvörderst 
mit der durch das Gesetz vorgeschriebenen Kapitalreserve ver- 
knüpfen und vielfach bedenklicher Natur sind. Hier wirkt die 
Ueberlieferung der Vergangenheit und ein zähes Festhalten an dem 
Gedanken nach, der ursprünglich zur Aufnahme der Reserven führte. 
Auch in der Gegenwart wird vielfach noch mit dem Begriff des Re- 
servefonds nicht die Idee einer Deckung der Unterbilanz verbunden, 
sondern die betreffenden Rücklagen werden hauptsächlich als ein ge- 
eignetes Mittel zur Mehrung des werbenden Betriebskapitals be- 
trachtet und dem Scharmützel des Erwerbes zugeführt. In diesem 
Sinne erfolgte vielfach ihre Anlage und Verwertung. Gewiß ergeben 
sich hierdurch Vorteile. Die Reserven als Produktionsmittel erhöhen 
das Betriebskapital, ohne es zu belasten; sie beanspruchen keinen 
äußerlich erkennbaren Lohn, ermöglichen eine Steigerung des Unter- 
nehmergewinnes, partizipieren nicht an der Dividende und tragen 
vielfach, namentlich bei gut geleiteten Unternehmungen, zu einer 
gleichartigen, durch die Ungunst der Konjunktur nicht beeinflußten 
Rentabilität bei. Diese allgemeinen Vorteile sind nun zwar, obwohl 
sie teilweise ein nicht zuverlässiges Bild von der Rentabilität des 
eigentlichen Betriebskapitals geben, von nicht zu unterschätzender 
Bedeutung, andererseits verblasst durch eine derartige Manipulation 
die leitende Idee des Gesetzes, das vermittelst des Reservefonds 
nicht Gewinne zu erzielen, sondern etwaige Unterbilanzen zu decken 
bezweckt. 

Auch nach anderer Richtung wird das leitende Prinzip vielfach 
durchlöchert. Die Reservefonds werden nicht nur zu Gunsten der 
Betriebskapitalien ausgenutzt, sondern sie dienen auch häufig zur 
direkten Organisation und Erleichterung des Kredits. Der Anreiz 


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Die Reservefonds der deutschen Aktiengesellschaften. 21 


hierzu ist leicht erklärlich. Jede Kreditgewähr, die durch die Mittel 

Dritter ermöglicht wird, ist mit Kosten verknüpft und der Wunsch, 

diese zu vermeiden, kann namentlich in Anbetracht des Umstandes, 
daß vielfach, wie später nachgewiesen werden wird, für die Zwecke 
der Reservefonds Kapitalmassen sich anstauen, die ihrer eigentlichen 
Bestimmung bezüglich einer zu deckenden Unterbilanz nie zugeführt 
werden, durchaus berechtigt erscheinen. Braucht eine Aktiengesell- 
schaft vorübergehend Kredit und besitzt sie eine mehr oder minder 
starke Reserve, so liegt daher die Versuchung sehr nahe, Kredite 
nicht bei Dritten zu suchen, sondern die für die Reserve disponible 
Kapitalmasse dem genannten Zwecke zuzuführen. So wird der Re- 
servefonds vielfach nicht nur Produktionsmittel, sondern auch Kredit- 
werkzeug und funktioniert als solcher in Zeiten vorübergehenden 
Kapitalbedarfes. Durch eine derartige Verwendung jedoch oder durch 
jede anderweitige Vermischung der Reserven mit dem Betriebskapital, 
werden diese letzteren nicht nur ihrer eigentlichen Bestimmungs- 
sphäre entrückt, sondern auch die bedenkliche Eventualität kann ein- 
treten, daß die Deckung einer tatsächlich entstandenen Unterbilanz 
vereitelt wird, weil die hierfür bestimmten Kapitalien bereits ander- 
weitigen Zwecken gedient haben und im Augenblicke der Gefahr 
nicht vorhanden sind oder mobil gemacht werden können. 

Doch nicht nur für die direkte Organisation des Kredits werden 
die Reserven vielfach beansprucht und verwendet; sie dienen auch 
deichgearteten Zwecken in indirekter Beziehung. Dies erfolgt z. B. 
häufig bezüglich der auszuzahlenden Dividenden. Die von den Ver- 
waltungsorganen festgesetzte Dividende ist vielfach Bilanzdividende; 
sie ist zwar verdient und entspricht auch dem tatsächlichen Jahres- 
reinertrage des betreffenden Unternehmens, aber ihre Auszahlung 
kann sich nicht immer glatt vollziehen, da die Barmittel hierfür 
fehlen. Zur Deckung derselben wird daher nicht nur Kredit bean- 
sprucht, sondern auch die in den Reservefonds ruhenden Kapitalien 
werden, zumal wenn die Gefahr der Unterbilanz nicht vorliegt, 
vorübergehend für den genannten Zweck verwertet und die spätere 
Rückzahlung erfolgt bei geeigneter Gelegenheit. Eine derartige 
Transaktion kann nicht als eine ungesetzliche oder strafbare bezeichnet 
werden, aber im Falle der Gefahr haben zwar die Aktionäre positive 
oder fiktive Dividenden erhalten, die Möglichkeit einer Deckung der 
Unterbilanz jedoch wird auch hierdurch wesentlich gemindert. 

Achnlich liegen die Verhältnisse, wenn bei dem häufig ein- 
tretenden Mangel an Spezialreserven der gesetzliche Reservefonds für 
die Zwecke von Neuanschaffungen, die kostspielig sind und aus den 
Jahreserträgnissen nicht bestritten werden können, vorübergehend 
Verwendung findet. Der Betrag für den Ankauf einer Maschine z. B. 
kann den vorhandenen Rücklagen entnommen werden und durch 
jährliche Abschreibungen denselben wieder zufließen. Häufig erfolgt 

dies auch ohne jedes Risiko für den Reservefonds und das betreffende 
Unternehmen sichert sich ökonomische Vorteile. Ein diesbezügliches 
Verfahren könnte daher als empfehlenswert bezeichnet werden. Dies 


22 Otto Warschauer, 


ist jedoch nicht immer der Fall, denn treten durch unvorhergesehene 
Verhältnisse Krisen ein, so ist selbstverständlich z. B. eine Maschine 
nicht geeignet, die entstandene Unterbilanz zu decken. 

Ist sonach die Verwendung der für den Reservefonds bestimmten 
Kapitalien vielfach eine dem Zwecke seiner eigentlichen Bestimmung 
widersprechende und ergibt sich somit die Schlußfolgerung, daß der 
Reservefonds als solcher häufig ganz andere Ziele verfolgt, als er zu 
verfolgen verpflichtet ist, so herrschen auch in Bezug auf die Ver- 
anlagung der Rücklagen vielfach ungesunde Verhältnisse vor. 
Als vor Erlaß des Aktiengesetzes vom Jahre 1884 und der neueren 
handelsgesetzlichen Bestimmungen die Organisation des Reservefonds 
zum Gegenstand eingehender Untersuchungen seitens der gesetz- 
gebenden Faktoren gemacht wurde, ist auch die Frage angeregt worden, 
ob es nicht im allgemeinen Interesse läge, fest verzinsliche, der 
Spekulation und den Fluktuationen der Kurse nur in geringem Maße 
unterworfene Anlagewerte für die Zwecke der Reserven zu bestimmen. 
Damals jedoch siegte die Anschauung, daß es dem Geiste und Be- 
darf der Zeit entsprechender sei, volle Freiheit der Bewegung zu 
gewähren, und daß demgemäß jede Aktiengesellschaft dem gesetz- 
lichen Reservefonds diejenigen Werte zuführen dürfe, die nach der 
Ansicht der Verwaltungsorgane hierfür geeignet seien. 

Es wäre nun ganz selbstverständlich und entspräche den Voraus- 
setzungen der Logik und der kaufmännischen Vorsicht, wenn für die 
Reservefonds der Aktiengesellschaften, die zur Deckung der Unter- 
bilanz bestimmt sind, nur diejenigen Werte gewählt würden, welche 
den unbedingten Charakter der Sicherheit aufweisen. Leider jedoch 
ist dies nicht durchweg der Fall, denn häufig setzen sich die Reserven 
aus Werten fragwürdiger Natur zusammen. Es werden in den dies- 
bezüglichen Fonds z. B. dubiose Forderungen hineingestopft, die zwar 
nicht unter allen Umständen dem Friedhof des Gewinn- und Verlust- 
kontos zugeführt zu werden brauchen, deren Eingang jedoch späteren 
Zeiten vorbehalten bleiben muß. Vielfach hat der Reservefonds auch, 
namentlich bei den Effektenbanken, unplazierte Emissionen solange 
zu verdauen, bis ein Wechsel der Konjunktur die Begebung der 
Effekten möglich macht. Teilweise werden ihm auch unausgetragene 
Konsortialbeteiligungen überwiesen, die zwar Anlagezwecken dienen 
und Verzinsung gewähren, deren Realisierung jedoch ausgeschlossen 
oder mit großen Schwierigkeiten verknüpft ist. Auch Hypotheken 
werden den Reservefonds einverleibt. Grundsätzlich ist die Idee 
nicht anfechtbar; sind aber die Hypotheken nicht erststellig, sondern 
z. B. aus Sicherheitseintragungen für sonst entfallende Forderungen 
des Warenverkehrs entstanden, oder sind sie zu langfristig und 
demgemäß für längere Zeit unkündbar, so fehlt dem Reservefonds 
jene Schwungkraft der Bewegung, deren er zu seiner Entwickelung 
bedarf. 

Somit treten in der inneren Organisation der Reservefonds zwei 
markante Mißstände auf. Einerseits dienen die für die Rücklagen 
bestimmten Kapitalien vielfach nicht dem eigentlichen Zwecke ihrer 


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Die Reservefonds der deutschen Aktiengesellschaften. 23 


Bestimmung; der Reservefonds figuriert zwar äußerlich auf der 
Passivseite der Bilanz, tatsächlich jedoch bildet er einen aktiven, der 
Kontrolle entzogenen Bestandteil des Produktivkapitals. Andererseits 
gleichen die Reserven häufig Schatten, die nicht aufgefangen werden 
können, sie sind von rechts nach links schiebbare Buchoperationen, 
deren Funktion für den vorgeschriebenen Zweck im Augenblick der 
Gefahr fast vollständig versagt. 

Mit diesen inneren organischen Mißständen verknüpfen sich 
Mängel, die direkt den gesetzlichen Bestimmungen entspringen. 
Das Gesetz rechnet in einer fast übertrieben vorsichtigen Weise 
lediglich mit der Eventualität einer Unterbilanz, die, wie die Ver- 
hältnisse lehren, glücklicherweise nur zu den Ausnahmen zählt. 
Gewiß wirkten bei der alleinigen Berücksichtigung der Unterbilanz 
berechtigte Entscheidungsgründe mit. Der Einzelverlust eines Unter- 
nehmens wird zuvörderst in eine feste Proportion zu den gesamten 
Einnahmequellen und erst in zweiter Linie zu dem Betriebskapital 
gesetzt. Hierdurch ist eine vorzeitige Schwächung der bereits ange- 
sammelten Reserven verhindert, die Möglichkeit einer Ausschüttung 
wberechtigt hoher Dividenden gemindert, das Pflichtbewußtsein ge- 
stärkt und die Solidität gehoben. Andererseits aber führt diese 
Bestimmung zu einer unnatürlichen Begrenzung; sie hemmt die 
Leichtigkeit der Entschlüsse und sie führt, da sie die Ausnahme zur 
Regel stempelt, zu einer Verkrümmung der die Entwickelung des 
Reservefonds leitenden Idee. 

Ein anderer Mißstand besteht in der Begrenzung des Höchst- 
satzes der für die Zwecke der etwaigen Unterbilanz zu reservierenden 
Summe. Es ist erwiesen, daß, wenn einzelne Aktiengesellschaften 
durch die Ungunst der Verhältnisse oder durch schlechte Geschäfts- 
führung einen Teil des Betriebskapitals verloren hatten, die von dem 
Gesetz hiergegen vorgeschriebene Kapitalansammlung sich durch- 
schnittlich als ungenügend herausstellte. Der erlittene Verlust war 
meistenteils bei weitem größer, als die vorhandene Reserve und die 
vorgeschriebenen 10 Proz. vermochten nur selten das betreffende 
Unternehmen vor verhängnisvollen Katastrophen zu schützen. Der 
Kapitalreservefonds hat daher, selbst wenn er kraft seiner inneren 
Organisation funktionsfähig war, in einer wirklich erfolgreichen, von 
dern Gesetz beabsichtigten Weise nur selten zu funktionieren vermocht. 

Bei dem Mangel von Spezialreserven muß ferner ein Mißstand 
auftreten, welcher die Einseitigkeit der gesetzlichen Bestimmungen 
kennzeichnet. Die genaue Beobachtung dieser letzteren verhindert 
namentlich die Deckung außergewöhnlicher Verluste, soweit nicht 

das Betriebskapital in Frage kommt. Die Möglichkeit ist daher vor- 
handen, daß eine Aktiengesellschaft zwar einen dem Gesetz ent- 
sprechenden Reservefonds besitzt, andererseits jedoch, weil derselbe 
nur für die Deckung der Unterbilanz verwendet werden darf, zur 
Deckung anderweitiger Verluste Opfer bringen muß, die schließlich 
unter Umständen eine eigentliche Unterbilanz erzeugen können. 
Ferner hat jede Aktiengesellschaft zur Deckung des aus der 


24 Otto Warschauer. 


Bilanz sich ergebenden Verlustes von dem jährlichen Reingewinn 
mindestens den zwanzigsten Teil dem Reservefonds solange zuzu- 
führen, bis dieser letztere den zehnten oder den im Gesellschafts- 
vertrage bestimmten höheren Teil des Grundkapitals nicht über- 
schreitet. Die finanzielle Bedeutung dieser Quoten steigert sich 
demgemäß proportional der Höhe des Betriebskapitals. Beziffert sich 
dasselbe z. B. bei einer Bank auf 150 Mill. M., so werden allmäh- 
lich 15 Mill. M. für den vorgeschriebenen Zweck absorbiert. Die 
Gefahr der Unterbilanz jedoch ist, wie bereits früher hervorgehoben 
und wie aus der Statistik des Aktienwesens nachweisbar, eine relativ 
begrenzte und mindert sich durchschnittlich um so mehr, je breiter 
die finanzielle Unterlage ist, auf der das betreffende Unternehmen 
ruht. Den gesetzlichen Vorschriften gemäß stauen sich demgemäß 
in relativ kurzer Zeit für die Zwecke der Kapitalreserven häufig be- 
deutende Beträge an, die eine endgültige, dem Gesetz entsprechende 
Verwendung nicht finden. Entweder werden daher zur Vermeidung der 
Kapitalvergeudung die Reserven, wie bereits hervorgehoben, dem 
Betriebe zugeführt, oder vorzeitige Kapitalkristallisationen erfolgen, 
welche die Güterproduktion schädigen. Beide Eventualitäten sind 
bedenklich. 

Der Anlauf endlich, der zur gesetzlichen Präzision der Gesamt- 
reserven genommen ist, erzeugt keine befriedigenden Resultate. 
Einerseits hat zwar jede Aktiengesellschaft, wie bereits hervorgehoben, 
die Pflicht, die Summe ihrer Reserven stets in der Jahresbilanz auf- 
zuführen, es entfällt jedoch der Spezifikationszwang für die Anlagen 
und Verschleierungen sind daher leicht möglich, die vielfach den 
Wert der aufgeführten Ziffern vollständig illusorisch gestalten. 
Andererseits sollen die sich allmählich aufspeichernden Rücklagen 
zwar ein einheitliches Ganzes bilden, das mit den übrigen Besitztiteln 
der Gesellschaft nicht zu verquicken ist, mit Recht wird, um der 
Reserve die im (reschäftsinteresse gebotene Isolierung zu sichern, 
eine Scheidung der Vermögensobjekte der Gesellschaft als nötig be- 
‚trachtet, aber die greifbaren Mittel für die konkrete Durchführung 
dieser sehr berechtigten Idee unterläßt das Gesetz aufzuführen. 


IV. 

Ueberschaut man die Vergangenheit von 1884 an, die wirt- 
schaftlichen Krisen, die seither aufgetreten sind, die Sanierungs- 
prozesse von Aktiengesellschaften, welche namentlich in der jüngeren 
Zeit vielfach eingeleitet werden mußten, so kann man sich der Er- 
kenntnis schwer verschließen, daß die gegenwärtigen Gesetzes- 
bestimmungen bezüglich der Reservefonds der Eigenart des deutschen 
Wirtschaftslebens nicht mehr genügen und daß Reformen geboten 
erscheinen. 

Zuvörderst ist der Wortlaut des Gesetzes!) unklar gehalten. 
Einerseits sind Zweifel aufgetaucht, ob, wenn die vorgeschriebenen 


1) Vgl. Handelsgesetzbuch $ 261, namentlich Passus 1 und 2. 


Die Reservefonds der deutschen Aktiengesellschaften. 25 


10 Proz. des Grundkapitals durch die 5-proz. Jahresquote bereits 
erreicht sind, auch fernerhin noch die durch die Begebung junger 
Aktien erzielten Agiogewinne in den Reservefonds zu fließen haben. 
Andererseits bedarf es juristischer Interpretation, ob, wenn durch Agio- 
gewinne die 10 Proz. des Grundkapitals für die Kapitalreserve bereits 
gedeckt sind, auch fernerhin noch 5 Proz. vom Jahresgewinn für 
den genannten Zweck dauernd zurückgelegt werden müssen. Eine 
Textänderung der diesbezüglichen Bestimmungen, bezw. eine klare, 
Zweifel und Bedenken ausschließende Fassungsweise der diesbezüg- 
lichen Bestimmungen ist daher geboten. 
Neben dieser formellen Neuerung erscheint es auch im Interesse 
der deutschen Industrie und der derselben zugeführten Kapital- 
massen, welche einen so wesentlichen Bestandteil des National- 
vermögens bilden, nötig, daß die Reservefonds in der Zukunft die 
erentuell verschiedenen Geschäftsrisiken mehr wie bisher berück- 
sichtigen, handlicher sich gestalten, dem Mißbrauch entzogen werden 
und sicherer funktionieren. Hierfür ist zuvörderst eine Erweite- 
rung und Scheidung der Zwecke erforderlich, welche die 
Reserven allgemein zu verfolgen haben. Auch in der Zukunft muß 
selbstverständlich die Gefahr, sowie die Möglichkeit einer Deckung der 
Unterbilanz in Betracht gezogen werden. Diese Gefahr ist jedoch, 
wie bereits hervorgehoben, durchschnittlich bei den hervorragenden 
Kreditinstituten und den kapitalkrüftigen, grofien industriellen Unter- 
nehmungen, die seit längerer Zeit bestehen, relativ gering, denn 
außerordentliche Geschäftsverluste werden bei ihnen leichter durch 
Spezialreserven gedeckt oder mit den Gewinnerträgnissen, die auch 
schlechte Geschäftsjahre aufzuweisen pflegen, beglichen. Anders 
jedoch liegen die Verhältnisse bei denjenigen Aktiengesellschaften, 
die ein kleines Betriebskapital haben, durchschnittlich geringere Ge- 
winne erzielen, auf ein kurzes Alter der Errichtung zurückblicken, 
keine Gelegenheit finden, genügende Spezialreserven zu bilden, 
Kapitalverluste daher schwerer zu ertragen vermögen und bei ent- 
stehender Unterbilanz in ihrer Existenz tatsächlich gefährdet sind. 
Für alle derartigen Unternehmungen ist die Kapitalreserve unent- 
behrlich. Die allgemeine Tendenz des Gesetzes hat sich daher 
durchweg bewährt und ist grundsätzlich beizubehalten. Neben der 
Unterbilanzreserve jedoch, die nach Lage der Verhältnisse nur 
einseitig zu funktionieren vermag, ist auch die Eventualität aller 
jener Gefahren und Verluste in Betracht zu ziehen, deren Deckung 
nur durch Spezialreserven ermöglicht werden kann. Was 
demgemäß bisher dem freien Belieben der Verwaltungsorgane zu- 
stand und deswegen vielfach unterblieb, sollte zukünftig zu einer 
allgemeinen Bestimmung umgestaltet werden. Bei einem dies- 
bezüglichen Ausbau des Gesetzes wären jedoch nur diejenigen 
Spezialreserven in Betracht zu ziehen, deren Existenz im Sicherheits- 
Interesse einer jeden Aktiengesellschaft liegt. Hierzu gehört zu- 
vörderst die Kontokorrentreserve. Die Mehrzahl der ent- 
Standenen Verluste sind, da alle Schuldner selbstverständlich im 


26 Otto Warschauer, 


Kontokorrent aufgeführt werden, Kontokorrentverluste und wird dies- 
bezüglichen widrigen Eventualitäten durch unumgängliche Sicherheits- 
maßregeln begegnet, so dürfte jedes Unternehmen innerlich gefestigt 
und in der Lage sein, Gefahren zu trotzen. Ein gleiches gilt von 
der Bestandreserve. Bei den verschiedenartigen industriellen 
Unternehmungen handelt es sich hierbei um Rohmaterialien, Halb- 
und Ganzfabrikate, die der schwankenden Konjunktur unterworfen 
sind und deren An- und Verkauf daher leicht unverschuldete Ver- 
luste erzeugen kann. Bei den Geld- und Kreditinstituten sind die 
unvermeidlichen Kursverluste des Effektenbestandes häufig gefahr- 
drohend und ihre Wirkungen auf die Gesamtlage des Unternehmens 
dürften durch vorzeitige Rücklagen begrenzt werden können. 

Neben den Kontokorrent- und Bestandreserven kommen selbst- 
verständlich nach Eigenart der Verhältnisse bei allen Aktiengesell- 
schaften die verschiedenartigsten anderweitigen Reserven in Betracht, 
die z. B. zur Deckung der Wert- und Preisdifferenz eines Gegen- 
standes, für Neuanschaffungen, Dividendenergänzung, Bauten, Wohl- 
fahrtseinrichtungen u. s. w. bestimmt sind. Hier jedoch ist eine 
gesetzlich vorgeschriebene Intervention nicht ratsam und den Ver- 
waltungsorganen muß es freistehen, den Bedarf rechtzeitig zu er- 
kennen und entscheidende Maßnahmen hierfür zu treffen. 

Die durch die Verhältnisse gebotene Scheidung und Ergänzung 
der Reserven sollte die Gesetzgebung fördern. Die einmal erlassene 
Bestimmung, vom jährlichen Reingewinn 5 Proz. für Rücklagen zu 
verwenden, ist festzuhalten. Daß aber diese 5 Proz. lediglich und 
allein zur Deckung einer eventuellen Unterbilanz verwendet werden 
sollen, führt, wie erwiesen, vielfach zu Kapitalbildungen über Bedarf. 
Es dürfte daher empfehlenswert sein, den einmal normierten Satz 
derartig zu spalten, daß 2 Proz. für die Zwecke der Unterbilanz und 
3 Proz. für Errichtung der Kontokorrent- und Bestandreserve ver- 
wendet werden. 

Auch für die Kapitalfixierung der Reserven kann der früher 
vorgeführten Gründe wegen eine Aenderung geboten erscheinen. 
Wie hervorgehoben, fließen vom jährlichen Reingewinn 5 Proz. dem 
Reservefonds solange zu, bis derselbe durchschnittlich 10 Proz. des 
Betriebskapitals erreicht hat. Es liegt jedoch kein stichhaltiger 
Grund vor, gerade diesen Prozentsatz als zweckentsprechend zu be- 
trachten. Tritt die Gefahr der Unterbilanz ein, so genügen, wie 
bereits erwähnt, die vorgeschriebenen 10 Proz. nur ausnahmsweise 
zur Deckung der Verluste; andererseits aber halten viele Aktien- 
gesellschaften an dem gesetzlich normierten und als zulässig erach- 
teten Prozentsatz fest, Spezialreserven entfallen oder werden nicht 
in genügendem Maße geschaffen und übergroße Dividenden kommen, 
ohne Innehaltung der die Zukunft sichernden Kautelen, eventuell zur 
Verteilung. Dieser Höchstbetrag von nur 10 Proz. für die Zwecke 
der Reserven ist daher anfechtbar. Da, wo die Gesetzgebung das 
direkte Recht der Intervention bisher hatte, ist er teilweise auch 


Die Reservefonds der deutschen Aktiengesellschaften. 27 


überschritten worden’), und es dürfte allgemein für alle Aktien- 
gesellschaften empfehlenswert sein, für die Zwecke der eventuellen 
Unterbilanz von dem jährlichen Reinertrag unter gleichzeitiger Zu- 
wendung der durch die Begebung junger Aktien erzielten Agio- 
gewinne dem Kapitalreservefonds solange jährlich und dauernd 
2 Proz. zuzuführen, bis derselbe die volle Höhe des Betriebskapitals 
erreicht hat. Wenn ferner das gleiche Verfahren auch bei den für 
die Zwecke der gesetzlichen Spezialreserve abzuzweigenden drei- 
prozentigen Jahresquoten gehandhabt wird, dürfte für die Mehrzahl 
aller Aktiengesellschaften — und um diese kann es sich hier nur han- 
den — eine Unterlage geschaffen sein, die geeignet ist, Krisen er- 
flgreich zu überwinden. 

Um dieses sehr erstrebenswerte Ziel zu erreichen, ist jedoch 
ncht nur eine Aenderung des bisherigen Maximalsatzes, sondern 
ach die Liquidität, bezw. die Mobilisierbarkeit der 
Reserven geboten. Zwei Gesichtspunkte sollten hierbei dauernd 
festgehalten werden. Einerseits sind die für die Rücklagen be- 
stimmten Kapitalien in Werten anzulegen, die schnell und möglichst 
ohne Verluste realisierbar, greifbar vorhanden sind, nicht buch- 
operativen Manipulationen dienen und demgemäß die Möglichkeit der 
Liquidität in sich bergen; zweitens sollten prinzipiell die für die 
Reserven angesammelten Kapitalien in sicheren Werten Anlage 
finden. Gewiß wäre es unberechtigt, die Verzinsung der Rücklagen 
vollständig zu vernachlässigen, denn der Vorwurf unkaufmännischen 
Handelns würde mit Recht hiergegen erhoben werden können. Vor 
alem aber muß das Sicherheitsprinzip gewahrt und demgemäß der 
Grundgedanke festgehalten werden, daß Reserven zu schaffen sind, 
nicht um den Unternehmergewinn zu steigern und hohe Zinserträg- 
nisse zu erzielen, sondern lediglich um Ausgaben zu bestreiten und 
tatsächliche Verluste zu decken. Leider ist in der Gegenwart viel- 
fach dieser Gesichtspunkt konsequent nicht festgehalten. Der Be- 
stimmungsgrund der Reserven wird mit der Möglichkeit ihrer all- 
gemeinen Nutzbarmachung verwechselt und demgemäß der Reserve- 
fonds als ein Amboß betrachtet, der volle Kapitalfunken erzeugen soll. 

Realisierbarkeit und möglichste Sicherheit der Anlagewerte sind 
die Prinzipien, die in Bezug auf die erforderliche Liquidität der 
Reserven zu befolgen sind. Für diese Zwecke müssen dem Geld- 
markt diejenigen Werte entnommen werden, die ihrer inneren Sub- 
stanz nach am meisten den gegebenen Voraussetzungen entsprechen. 

Drei allgemeine Kategorien sind hierfür zuvörderst in Betracht 
zu ziehen. Möglichst ein Dritteil der sich ansammelnden Kapitalien 
sollte in Staatspapieren oder gleichgearteten Effekten angelegt 
werden. Selbstverständlich sind für diese Zwecke die Schuldver- 
schreibungen aller Staaten ohne Unterschied nicht in Betracht zu 


1) Für die Deutsche Reichsbank z. B. besteht nach $ 24 Abs. 2 des Bankgesetzes 


vom 14. März 1875 die Bestimmung, von dem Mehrbetrage der zuvörderst den Aktionären 
zu zahlenden 3'/, Proz. Dividende 20 Proz. dem Reservefonds zu überweisen, solange 
derselbe nicht 25 Proz. des Grundkapitals beträgt. Achnlichen Bestimmungen unterliegen 


nach $ 44 Abs. 2 des genannten Gesetzes die deutschen Privatnotenbanken. 


28 Otto Warschauer, 


ziehen. Die Nationen, deren Wirtschaftsinteressen denjenigen Deutsch- 
lands zu fern liegen oder welche durch die Eigenart ihrer politischen 
Verhältnisse keine genügende Gewähr der Sicherheit geben, eignen 
sich für die Spar- und Reservezwecke der Aktiengesellschaften nicht. 
Demgemäß sind die Staaten, je nach der Art ihrer bisherigen Lei- 
Stungsfähigkeit und Pflichterfüllung, nach der Wirtschaftssphäre, die 


ihrer zukünftigen finanz-politischen Entwickelung zu scheiden. Ar- 
gentinien, Bulgarien, Chile, China, Griechenland, Mexiko, Serbien, 
Türkei sind nicht Staaten, welche die Möglichkeit unbedingter Sicher- 
heit für Kapitalanlagen gewähren. Ihre Entwickelung war eine un- 
gleichmäßige und vielfach stürmische, die von ihnen emittierten An- 
leihen sind durchschnittlich großen Kursfluktuationen ausgesetzt und 


daher, obwohl sie die stete Möglichkeit der Realisierung in sich 


werden, denen die deutsche Reichsbank den Stempel der unbedingten 
Sicherheit für die Zwecke des Lombardverkehrs verleiht. Es gehören 
hierzu zuvörderst die vom Reiche oder den deutschen Bundesstaaten 
emittierten Anleihen, gleichgeartete Effekten, wie die Landrentenbriefe, 
die Obligationen bestimmter Pfandbriefämter, die Pfandbriefe der 
Hypothekenbanken auf Aktien, welche unbedingte Sicherheit gewühren !), 
ferner die dem inneren Werte nach ühnelnden deutschen Eisenbahn- 
stammaktien, Stammprioritütsaktien und Prioritütsobligationen, welche 
den gleichen Voraussetzungen, wie die aufgeführten Rentenpapiere 
entsprechen?) und daher von der Reichsbank gleich jenen mit drei 
Viertel des Kurswertes beliehen werden. Aber auch da, wo die 
Beleihungsgrenze der Reichsbank mit nur 50 Proz. des Kurswertes 
gezogen ist, sollten die betreffenden Fonds für die Anlagezwecke der 
Reserven nicht ausgeschlossen sein. Die Bonds der Vereinigten 
Staaten von Amerika, die Obligationen der schweizerischen Eid- 
genossenschaft, österreichische und russische Staatsrentenanleihen. 
die Schuldverschreibungen Norwegens, Schwedens und Ungarns, die 


xS 


Prioritütsobligationen italienischer und russischer Eisenbahnen, welche 
eine direkte staatliche Zinsgarantie genießen, entsprechen den ge- 
nannten V oraussetzungen. 

Ganz auszuschalten hierfür sollten jedoch diejenigen Effekten 
sein, die in ihrer Rentabilitit von der Gunst oder Ungunst der Kon- 
junktur in entscheidendem Maße getragen werden, demgemäß heftigen 
Kursschwankungen unterliegen und einen ausgesprochen spekulativen 
Charakter haben. Ganz im Gegensatz zu dem in der Praxis vielfach 
gehandhabten Verfahren dürften daher Industriepapiere, gleichviel 
welcher Art, grundsätzlich für die Reservefondskapitalien der deut- 
schen Aktiengesellschaften nicht in Betracht gezogen werden, 


1) Vgl. Allgemeine Bestimmungen über den Geschäftsverkehr mit der Reichsbank, 
1896, S. 36, 
2) a. a. O. S. 38/39. 


Die Reservefonds der deutschen Aktiengesellschaften. 


Es bezifferte sich der Jahresultimokurs z. B.: 


———————————————————————— —— 


29 


1893 | 1894 | 1895 | 1896 | 1897 | 1898 | 1899 | 1900 | 1901 | 1902 

Proz. | Proz. | Proz. | Proz. | Proz. | Proz. | Proz. | Proz. | Proz. | Proz. 

fir Bochumer Gußstahlaktien 128,10|140,60|149,40|166,50| 204,75 229,— 260,30 175,30] 174,—|179,10 

, Consolidation Schalkeaktien |163,10|173,80|204,—|248,75|290,—|306,80/402,90 339,751302,50|353,— 
„Gelsenkirchener Bergwerks- 

aktien 145,50|167,—|171,— \170,90|192,10|191,—|198,25/180,75/170,40| 179,90 

„ Hapener Bergwerksaktien — [136,50 146,30|167,80/176,30/194,30|178,60/202,30|168,40/157,40|169,30 

, Hörder Hüttenaktien 73,15| 99,60 132,— 133,25 174,90 225,— 126,—| 96,25|110,— 

„ König Wilhelmaktien 158,—1184,75|211,—|248,—|318,— 291,50 355,—|245,—|245,—|262,50 

„ Laurshütteaktien 112,—|121,75|142,— | 163,80|184,40 217,— |253,50|194,30 185,80|211,75 

„ Phinixaktien 117,—|146,10|166,25|178,— 188,60 176,—183,10/147,75|129,60|123,90 

, &hdker Grubenaktien 113,60) 140,80|146,75|228,90|286,90 353,— 588, —|3 15,— 286, —|345,— 

„ ShultheiBaktien 227,—|249,—|267,25|279,40/278,50 269,25|252,40|219,80|]212,10 223, — 
„Allgmeine Elektrizitäts-Ge- 

selschaftsaktien 139,75|205,25|226,75,253,—1278,25 284,25 255,90 195,75/178,80/180,75 

, Schuckert & Co.-Aktien 173,—|213,—|259,—]259,90/240,—|227,60|167,75|100,60| 79,50 
„Berlin-Anhalter Maschinen- 

aktien 121,— 131,50|130,—|153,25|194,— 223,50 225,50] 195,— 182,25|198,75 

„ Freund Maschinenaktien 220,25 228,—|233,— 261,—|219,— 385,10 425,—1362,—|295,—|285,— 

„ Gürlizer Maschinenaktien 115,25|162,75|189,50|226,60|192,75|198,— 213,50|184,50|148,90|152,60 

» Hannoversche Maschinenaktien|123,25|132,50|123,80|220,10|267,—|322,—380,—|316,—|316,—]|281,50 

| s De & Co.-Aktien 260,—|366,—|328,75|421,—|465,— 47 1,50|411,—|345,—258,—|246,— 
„ Schwartzkopff Maschinen - 

aktien 222,50]237,— 240,50 |241,— 262,50 232,75 228,— 198,—/178,—|198,75 

| „ Stettiner Vulkanaktien 134,25|140,75|147,50|169,70|187,25|225,50 258,50|211,—|195,—]|216,— 
| € Grobe Berliner StraBenbahn- 

| aktien 240,30|279,80/325,—|352,50|474,— 344, — |229, — |215,—|190,50/200,50 

» llanburg-Amerikanische Pa- | 

ketfahrtaktien 101,10| 82,40/107,20|135,— 113,40 124,75|129, — [131,75 108,40| 98,90 

„ Norddeutsche Lloydaktien 112,90| 87,90! 99,75|112,10)112,—|115,40|123,60 119,75/105,— | 96,— 

„ Anilinfabrikationaktien 180,50|210,— 216,25|229,50|255,— 275,50/276,— |224,— 229,10 242,— 

» Elberfelder Farbenaktien 248,25/303,25/319,50|349,60|354,15/325,25|316,—|310,— |300,80|345,50 

! o» Höchster Farbwerkeaktien ` [360,50|443,— 443,—\450,— 431,50|406,—|353,—|338,—|360,— 

EE Alsen Cementaktien 180,—|239,— 263,25 316,—|309,75|221,—|177,75|201,50 

+ (himottefabrik Didieraktien |207,—|253,— 221,50 |298,—389,50/437,— 412,— 323,25 259,25|263,50 

» Deutsche Gasglühliehtaktien [363,— |457,— 736,—|753,—|691,— 420,—|320,—|495,— 342,— 230,— 

» wn — Waïfenfabrikaktien 221,—/337,—|345,—357,15]370,—|293,—]180,— 165, — |193,— 

» Siemens Glasindustrieaktien |164,50|188,— | 195,— |209,75|224,50/247,50|251,60 254,— 239,75|253,50 

D | 


Diese Kursstatistik, welche die hervorragendsten, in den letzten 
10 Jahren oder seit ihrer Einführung an der Berliner Börse ge- 
handelten Industrieaktien aufführt, gibt ein untrügliches Bild von 
dem Schwanken des Besitzes, dem die Inhaber derartiger Werte 
durchschnittlich ausgesetzt sind. Neben den scharfen Kursfluktuationen 
ist aber auch der Mißstand in Betracht zu ziehen, daß Industrie- 
aktien häufig und namentlich bei Krisen schwer, nur mit großen 
Verlusten oder gar nicht zu begeben sind. Ist der Reservefonds in 
kotierten oder was z. B. bei Banken häufig der Fall sein dürfte, in 
unkotierten und noch nicht begebenen Industriepapieren angelegt, 
so dürfte im Augenblicke der Gefahr die Möglichkeit der Deckung 
einer Unterbilanz fast vollständig ausgeschlossen oder mit großen 
Verlusten verknüpft sein. Die Ausscheidung von Industriepapieren 


30 Otto Warschauer, 


erscheint daher für die Zwecke der Reservefonds unter allen Um- 
ständen geboten, und bei solider Handhabung des Geschäftsverkehrs 
können hierfür nur bestimmte, oben charakterisierte Effektenkategorien 
zulässig erscheinen. 

Neben den Staatspapieren und gleichgearteten Fonds sind die 
zum Privatdiskont gehandelten Wechsel zu den sichersten 
Kapitalsanlagen zu zählen. Bei der Qualität derartiger Wechsel 
sind Verluste fast gänzlich ausgeschlossen und die Verzinsung ist 
durchaus nicht als eine niedrige zu bezeichnen. Es betrug der 
Privatdiskont an der Berliner Börse durchschnittlich im Jahre 


1882 3,89 Proz. 1887 2,30 Proz. 1892 1,80 Proz. 1897 3,08 Proz. 
1883 3,08 „ 1888 211 „ 1893: . 34T y 1898 3,56 , 
1884 2,90 ,, 1889 2,68 „ 1894 1,74 ,, 1899 4,45 „ 
1885 2,85 ,, 1890 3,78 ,„ 1895 2:01 ` 1900 4,41 „ 
1886 2,16 ,, 1891 3,02 „ 1896 53,04 , 1901 3,06 ,„ 


Demgemäß ist in den letzten 20 Jahren eine durchschnittliche 
Verzinsung dieser Anlagewerte von fast 3 Proz. erzielt worden, und 
es ist sehr fraglich, ob für den genannten Zeitraum die Mehrzahl 
der deutschen Aktiengesellschaften in der vielfach minderwertigen 
Art ihrer Reserven durchschnittlich eine gleich hohe Rentabilität auf- 
weisen. Hierzu kommt, daß die zum Privatdiskont gehandelten 
Wechsel täglich begeben werden können und daß somit die stete 
Möglichkeit vorhanden ist, die Reserven zu realisieren, wenn die 
Notwendigkeit des Augenblicks hierzu drängt. 

Vielfach den Privatdiskonten ähneln die von den Staaten 
emittierten Schatzanweisungen, welche die wirtschaftlichen 
Funktionen teils von Wechseln, teils von Anleihen haben und bei 
dieser Doppelqualifikation für die Zwecke des Reservefonds sehr ge- 
eignet erscheinen. Schatzanweisungen sind entweder, wenn der staat- 
liche Schuldner durch Vermögensbesitz und Zahlungsfähigkeit eine 
direkte und genügende Gewähr für die übernommene Verpflichtung 
zu geben vermag, unfundiert oder sie werden fundiert, d. h. später 
fällige Zölle, Steuern u. s. w., deren Eingang mit Sicherheit voraus- 
zusehen ist, dienen als Unterlage der kontrahierten Schuld. Schatz- 
anweisungen eignen sich aber auch deswegen besonders zur Anlage 
für die Reservefondskapitalien, weil sie dem gegebenen Zweck ihrer 
Existenz gemäß vielfach mit einer mehr oder weniger kurz bemessenen 
Zirkulationsdauer ausgestattet werden. In der jüngeren Zeit belief 
sich die diesbezügliche Maximalfrist auf 4—5 Jahre!) und früher war 
der Fälligkeitstermin durchschnittlich kürzer bemessen. Preußen 
z. B. hat häufig bei vorübergehendem Bedarf Schatzanweisungen für 
3, 6 und 12 Monate emittiert und es ist leicht möglich, daß dieser 
ehemals vielfach beliebte Modus der Rückzahlung auch in der Zu- 
kunft wieder aufgenommen werden wird. 


1) Die auf Grund der Gesetze vom 30. März und 1. Juni 1900 emittierten deutschen 
Schatzanweisungen sind z. B. für die Zeit vom 1. April 1904 bis 1. Juli 1905 rück- 
zahlbar, die 1899 emittierten rumänischen Schatzanweisungen spätestens Ende des Jahres 
1904 in bar einzulósen. 


Die Reservefonds der deutschen Aktiengesellschaften. 31 


Diese Schatzanweisungen, die börsenmäßig entweder fest ver- 
zinslich und mit Coupons ausgestattet zum Kurse oder zum jeweiligen 
Privatdiskont gehandelt werden, ermöglichen eine Nutzbarmachung 
des öffentlichen Kredits, die für den Schuldner sehr vorteilhaft ist. 
Sie gewähren ihm die Möglichkeit, vorübergehenden Bedarf relativ 
billig zu decken, bei niedrigem Privatdiskont die Abundanz des 
Geldmarktes zu verwerten und die Emission langlaufender Anleihen 
in demjenigen Augenblicke vorzunehmen, der nach Lage der Börsen- 
verhältnisse hierfür am geeignetsten erscheint. Geschickt geleitete 
Finanzverwaltungen der Staaten werden sich diese Vorteile selten 
entgehen lassen und es wird daher immer eine genügende Anzahl 
von Schatzanweisungen zirkulieren. Auch ein tatsächlicher Mangel 
an Privatdiskonten dürfte sich kaum jemals einstellen, denn die In- 
dustrie in dem naturgemäßen Bestreben nach Verbilligung des Kre- 
dits oder der Geldhandel in dem Verlangen nach bequemer Be- 
schaffung der Betriebskapitalien werden im eigensten Interesse stets 
bemüht sein, die Nachfrage in dem diesbezüglichen Wechselverkehr 
zu befriedigen. Anlagematerial wird daher in den seltensten Fällen 
fehlen und die Reservefonds der deutschen Aktiengesellschaften dürften 
der Voraussetzung der Liquidität und Sicherheit entsprechen, wenn 
die für die genannten Zwecke disponiblen Kapitalien nicht nur in 
Staatspapieren, sondern zu einem ferneren Dritteil in Privatdiskonten 
und Schatzanweisungen plaziert werden würden. 

Eine je größere Dezentralisation der Veranlagung gegeben ist, 
desto geringer wird ihr Risiko und die Gefahr des Kapitalverlustes. 
Es ist nun zwar schwerlich anzunehmen, daß Staatspapiere, Privat- 
diskonten und Schatzanweisungen bei fachkundiger und sorgfältiger 
Auswahl den gegebenen Voraussetzungen der Reserven namentlich 
in Bezug auf die zu wahrende Sicherheit nicht entsprechen, aber 
mit dieser, wenn auch äußerst selten auftretenden Eventualität ist 
doch zu rechnen und hierfür die Vielfältigkeit der Erscheinungen 
auszunutzen, welche der Geldmarkt aufweist. Diesem Zwecke ent- 
spricht in letzter Linie die objektive Nutzbarmachung des Hypotkekar- 
kredits. Ländlicher und städtischer Grund und Boden wird stets zu 
denjenigen Elementen des Nationalvermögens zu zählen sein, die sich 
durch Stetigkeit und substanzielle Zähigkeit auszeichnen. Deswegen 
geben sie, wenn auch ihre Mobilisierung vielfach erschwert ist, die 
Gewähr einer verschärften Sicherheit des Besitzes. Grundrenten und 
Mietsskalen ferner können nach Lage der Verhältnisse zwar sinken, 
aber für die Dauer und im Durchschnitt werden sie nur ausnahms- 
weise vollständig verschwinden. Die auf den Immobiliarbesitz aus- 
gestellten Schulddokumente sind daher für die allgemeinen Zwecke 
der Kapitalsanlage sehr geeignet. Allerdings ist auch hierfür Scharf- 
blick, Einsicht in die Markt- und Sachverhältnisse, sowie dauernde 
Vorsicht geboten. Denn einerseits treten, namentlich in den größeren 
Städten in bestimmten, durch die jeweilige Ueberproduktion be- 
dingten Perioden, Baukrisen auf, welche eine Gefährdung oder Wert- 
minderung des Hypotkekarbesitzes vielfach hervorrufen ; andererseits 


32> U Otto Warschauer, 


differieren auch in normalen Zeiten bekanntermaßen die verschiedenen 
Hypothekenkategorien wesentlich voneinander. Für die gegebenen 
Zwecke der Reservefondskapitalien können daher nur mündelsichere, 
erststellige Hypotheken und auch diese nur unter bestimmten Voraus- 
setzungen in Betracht kommen. Der eingeräumte Hypothekar- 
kredit darf sich nicht auf zu lange Fristen erstrecken, sondern hat 
sich auf einen nicht zu hoch zu bemessenden Mindestzeitraum zu be- 
schränken. Demgemäß sollte die Rückzahlung der Hypothekenvaluta 
auf einen höchstens 3-jührigen Fälligkeitstermin begrenzt sein, denn 
in diesem Falle ist stets die Möglichkeit gegeben, die erforderliche 
Liquidität der Rücklagen durch Veräußerung oder vorübergehende 
Verpfändung der diesbezüglichen Wertobjekte zu wahren. 

Die Anlage der Reserven in Hypothekenpfandbriefen ist nicht 
empfehlenswert. Das Vorgehen der preußischen Regierung, die all- 
gemeine Mündelsicherheit der Hypothekenpfandbriefe zu beanstanden, 
hat sich leider durch die Ereignisse der jüngsten Zeit als berechtigt 
erwiesen. Es ist sehr schwierig, die Unterlagen der ausgegebenen 
Pfandbriefe auf ihren Feingehalt zu prüfen und, wie die Erfahrung 
lehrt, unmöglich, die Hypothekenaktienbanken vor leichtsinniger Ge- 
schäftsgebahrung der Direktionen zu schützen. Hierzu kommt noch 
der von keinem Fachkenner zu leugnende Mißstand, daß Hypotheken- 
fandbriefe zwar sehr schnell erworben, aber vielfach nur, namentlich 
in größeren Beträgen, mit sehr großen Schwierigkeiten wieder ab- 
gestoßen werden können. Die Gesamtheit dieser Bestimmungsgründe 
muß zu der Erkenntnis führen, daß die diesbezüglichen Schuldver- 
schreibungen weder die Möglichkeit des Kapitalverlustes auf ein ge- 
ringes Mindestmaß beschränken noch als Sicherheitswerte ersten 
Ranges durchschnittlich bezeichnet werden können. Es dürfte daher 
empfehlenswert sein, die Rücklagen der Aktiengesellschaften tunlichst 
zwar zu einem Dritteil in erststelligen, relativ kurzfristigen, mündel- 
sicheren Hypotheken anzulegen, die Pfandbriefe der Hypotheken- 
aktienbanken jedoch, insofern sie nicht zu den von der Reichsbank als 
erstklassig beliehenen Wertpapieren gehören, für den genannten 
Zweck auszuschließen. 

Die Liquidität der Reserven wird durch die direkte Art ihrer 
Veranlagung und Bewertung bedingt. Hierbei treten jedoch nicht 
nur Verhältnisse und Mißstände ein, auf die bereits früher hingewiesen 
ist, sondern die aufgespeicherten und sich ablagernden Werte dienen 
vielfach auch vorübergehenden Lombardtransaktionen, welche zwar 
im Interesse des allgemeinen Geschäftsbetriebes liegen mögen, aber 
mit dem genannten Zwecke der Reserven, namentlich soweit es sich 
um eventuelle Tilgung und Minderung der Unterbilanz handelt, in 
gar keiner Beziehung stehen. Wer lombardiert, wird Schuldner una 
hat nicht mehr die freie Verfügung über seinen Besitz. Wenn die 
diesbezügliche Dispositionsbefugnis fällt und damit die Möglichkeit 
schwindet, bestimmte Kapitalien für fest bestimmte Zwecke zu ver- 
wenden, verflüchtigt sich die Idee des Reservefonds. Demgemäß 
sollten Lombardierungen der Rücklagen nur für den gesetzlich 


Die Reservefonds der deutschen Aktiengesellschaften. 33 


vorgeschriebenen Zweck dieser letzteren, nicht aber für alle beliebigen 
Geschäftsbedürfnisse statthaft sein. 

Unterbilanz- und Spezialreserven dürften im großen und ganzen 
bezüglich der Veranlagung und Liquidität gleiche Ziele zu verfolgen 
haben, doch ist es zweifelsohne auch geboten, die Eigenart der 
Spezialreserven gesondert zu berücksichtigen. Zuvörderst ist die 
Vermôgensanlage jeder Spezialreserve, sofern dieselbe nicht Konto- 
korrent- oder Bestandreserve ist, dem freien Belieben der Ver- 
waltungsorgane zu überlassen. Andererseits ist aber auch der Ge- 
danke festzuhalten, daß namentlich für die oben präzisierten 
Spezialreserven und zuvörderst, wenn es sich um die Zwecke der 
Kontokorrentreserve handelt, die sofortige Deckung der entstandenen 
Verluste wünschenswert ist. Hierfür müssen bis zu einer gewissen, 
selbst eng gesteckten, doch tatsächlich gezogenen Grenze Barmittel 
bereit gehalten und, um der Gefahr der Versuchung zu entgehen, 
möglichst an gesicherter dritter Stelle, gegen tägliche Kündigung 
z. B. bei der Reichsbank deponiert werden. Es dürften zwar im 
letzteren Falle Zinsverluste entstehen, aber das Sicherheitsbewußtsein 
aller Beteiligten wird wesentlich hierdurch gesteigert werden und 
namentlich kleinere Aktiengesellschaften dürften bei derartigen 
Kautelen in kritischen Augenblicken vor Verlegenheiten geschützt sein. 

Die gebotene Liquidität oder die mit nur geringem Risiko ver- 
bundene Umsatzfähigkeit der Reserven ist ferner, abgesehen von der 
Art ihrer Veranlagung, nur unter Innehaltung einer bestimmten 
Voraussetzung und Regel möglich. Die durch Gesetz oder Statut 
sich ansammelnden Rücklagen werden durchschnittlich den Zweck 
ihrer Bestimmung nur dann zu erfüllen vermögen, wenn sie eine 
zesonderte Verwaltung haben und ein einheitliches, für sich 
abgeschlossenes Ganze bilden. Sowie die diesbezüglichen Beträge 
mit anderen, für die geschäftlichen Zwecke eines Unternehmens 
zirkulierenden Kapitalien, gleichviel in welcher Form, verschmolzen 
werden, verblaßt die sie leitende Idee und an Stelle der gebotenen 
Solidität und Sicherheit tritt vielfach eine bedenkliche Desorganisation, 
die häufig nicht nur Verwirrung, sondern auch Selbstbetrug der 
Sparenden erzeugt. Bei objektiver Betrachtungsweise erscheint dies 
ganz selbstverständlich. In den primitivsten Formen der Hauswirt- 
schaft ergibt sich die Notwendigkeit einer strengen Scheidung von 
Spar- und Betriebskapital. Wenn ein Privatmann die für die Re- 
serven bestimmten Kapitalien mit denjenigen Summen verschmilzt, 
welche geschäftlichen Zwecken dienen sollen oder in Gegenständen 
angelegt, die nur einen Affektionswert, sowie eine nicht genügende 
Realisationsfähigkeit besitzen, wird die Rücklage selten im gegebenen 
Augenblick den Zweck ihrer Bestimmung zu erfüllen vermögen. 
Aehnliche Verhältnisse rufen bei jeder Aktiengesellschaft eine dies- 
bezügliche Wirkung hervor, und es sollte daher bei dieser und jeder 
anderen Form der geschäftlichen Unternehmung grundsätzlich der 
Gedanke festgehalten werden, daß die gleichviel für welche Zwecke 
sich ansammelnden Reserven streng und namentlich vom Betriebs- 

Dritte Folge Bd. XXV (LXXX). 3 


34 Otto Warschauer, 


kapital des betreffenden Unternehmens zu sondern sind. Ist dies 
nicht der Fall, fließen die Reserven in die Kanäle des Betriebs- 
kapitals, so teilen sie alle Gefahren, denen das letztere ausgesetzt 
ist und verlieren dadurch vollständig den sie bestimmenden Charakter. 
Betriebskapital und Reservefonds sind zwei Faktoren, die miteinander 
eigentlich gar nichts zu tun und zu teilen haben. Wenn die Be- 
hauptung aufgestellt wird. daß die für die Rücklagen bestimmten 
Kapitalien allgemein eine im finanziellen Interesse des Unternehmens 
liegende Verwendung finden müssen und daß es unpraktisch und 
unkaufmännisch gedacht und gehandelt sei, derartige Beträge als 
stille Reserven ruhen zu lassen, so sollte doch hierbei nicht über- 
sehen werden, daß, wenn die z. B. nach den gegenwärtigen Gesetzes- 
bestimmungen für die eventuelle Unterbilanz vom Reingewinn jährlich 
abzuzweigenden 5 Proz. nicht abgezweigt zu werden brauchten, 
höchst wahrscheinlich die diesbezüglichen Beträge vielfach zur Er- 
höhung der Dividenden bestimmt werden und den Aktionären zu- 
ließen würden. Für die Zukunft des betreffenden Unternehmens 
kämen sie daher durchschnittlich gar nicht mehr in Betracht, und 
die Möglichkeit, sie zur Förderung des Betriebes zu verwenden, 
wäre vielfach vollständig ausgeschlossen. Die Kapitalien, welche 
Reservezwecken (dienen, sind für die eigentlichen Geschäftszwecke 
des Unternehmens abgestorben ; es sind bis einer gewissen Grenze 
tote Kapitalsquoten, welche die Möglichkeit der Auferstehung nur 
dann finden sollen, sobald der Augenblick bestimmter, im voraus 
gekennzeichneter Gefahren und Ausgaben naht. 

Wenn die Notwendigkeit einer gesonderten Verwaltung der 
Reserven anerkannt ist, so sind auch alle Konsequenzen zu ziehen, 
die sich mit dieser Forderung verknüpfen. Reservefonds und Unter- 
nehmergewiun bewegen sich vielfach in einer falsch konstruierten 
Proportion. Der letztere soll zwar die Kapitalhöhe des ersteren 
bedingen, aber es liegt kein überzeugender (Grund vor, die Höhe 
der Dividende in ein Reziprozitätsverhältnis zu der Ergiebig- 
keit der Reserven zu stellen. Wenn dieser Fall eintritt, entsteht 
ein Mißverhältnis doppelter Art. Die Aktionäre erhalten vielfach ein 
falsches Bild von der wirklichen Rentabilität des betreffenden Unter- 
nehmens, weil sie die den Reserven entspringenden Zins- und Ge- 
winnquoten nicht zu erkennen vermögen und die Dividendenziffer 
auf den Umsatz und den damit verbundenen Nutzen zurückführen. 
Andererseits schwindet unter der gegebenen Voraussetzung die gewiß 
berechtigte Möglichkeit, eine Steigerung der Rücklagen durch sich 
selbst und in sich selbst herbeizuführen. Die durch die besondere 
Verwaltung des Reservefonds erzielten Zinsen sollten daher nicht 
auf Gewinn- und Verlustkonto des betreffenden Unternehmens über- 
tragen und mit dem jährlichen, dem eigentlichen Geschäftsverkehr 
entspringenden Reinertrag verschmolzen, sondern separat gebucht, 
und zur Stärkung eines als nötig und erweiterungsfähig anerkannten 
ökonomischen Prinzips direkt demjenigen Fonds übertragen werden, 
auf die sie ihr Ursprung hinweist. 


Die Rerservefonds der deutschen Aktiengesellschaften. 35 


Gleichartig liegen die Verhältnisse bei den eventuellen Kurs- 
vewinnen, welche bei guter und geschickter Verwaltung der Reserven, 
namentlich sofern dieselben in sicheren Staatspapieren angelegt sind, 
eintreten können, Kursverluste der Reserven, die gleichfalls häufig 
durch die Fluktuationen des Geldmarktes entstehen, belasten selbst- 
verständlich das Kapitalkonto der Reserven. Kursgewinne jedoch, 
wie sie z. B. beim Umtausch, durch Auslosung der betreffenden 
Wertpapiere u. s. w. möglich sind, werden vielfach dem allgemeinen 
Gewinnkonto der betreffenden Unternehmungen zugeführt. Hierdurch 
entsteht eine, das leitende Prinzip schädigende Ungerechtigkeit. Ist 
ler Reservefonds ein für sich abgeschlossenes Ganze, ein Apparat, 
der nur für bestimmte Zwecke zu funktionieren hat und der mit den 
ibrigen Geschäftszweigen in keiner direkten Beziehung steht, so 
sollten ihm auch die durch die gesonderte Verwaltung erzielten Kurs- 
gewinne nicht entzogen werden. 

Gegen die gebotene Scheidung des Betriebs- vom Reservekapital 
und die gesonderte Verwaltung dieses letzteren, werden zweifelsohne 
Bedenken erhoben werden, die teils allgemeiner Natur sind, teils in 
der berechtigten Interessensphäre der Industriegesellschaften oder 
Banken zu liegen scheinen. Zuvörderst wird das zähe Festhalten 
an der Vergangenheit, jenes konservative Empfinden, das sich nicht 
nur im politischen Leben, sondern häufig auch für viele Wirtschafts- 
erscheinungen äußert, das Mißvergnügen, an dem anscheinend be- 
währten Alten zu rütteln, zum Widerspruch gegen die gemachten 
Vorschläge treiben. Aus Bequemlichkeitsrücksichten, subjektiven 
Opportunitätsgründen oder in tatsächlicher Unkenntnis der gegebenen 
Verhältnisse wird sicherlich darauf hingewiesen werden, daß sich die 
Mehrzahl der Aktiengesellschaften an die bestehenden Bestimmungen 
gewöhnt, von der Tradition sich nicht zu trennen vermöge, daß das 
Alte sich durchweg bewährt habe und Neuerungen irgend welcher 
Art bezüglich der Organisation der Reserven weder nötig noch durch- 
führbar seien. Derartige Einwürfe jedoch sind nach Lage der Ver- 
hältnisse abzuwehren. Dem Prinzip der Trägheit darf namentlich in 
wirtschaftlicher Beziehnng nicht Folge geleistet werden. In jedem 
Flus der Erscheinungen treten stetig neue Wellen auf, die eigene 
Kreise bilden und soziale sowie finanzpolitische Reformen werden 
stets nur durch Abstoßung der welken Gebilde durchgeführt werden 
können. Wer in den Schacht der Reserven hineinschaut, wird 
vielfach düstere und verschleierte Positionen erblicken und das 
Bessere sollte nie abgelehnt werden, weil es, wenn auch nur äußerlich, 
als Feind des Guten erscheint. 

Es dürfte auch die Behauptung aufgestellt werden, daß die ge- 
forderten Reformen, namentlich wenn die Reserven nur für die 
Zwecke ihrer eigentlichen Bestimmung und nicht für den vorübergehen- 
den allgemeinen Geschäftsbedarf lombardiert werden dürfen, zu einer 
wesentlichen Verteuerung des Kredits führen würden. Aber auch 
dieser Einwand, so überzeugend er äußerlich erscheinen mag, ent- 
behrt der inneren Begründung oder kann nur zu Gunsten kleiner 

Ek 


36 Otto Warschauer, 


Aktiengesellschaften, deren Operationsgebiet, Geschäftsrenommée und 
Kredit beschränkt ist, geltend gemacht werden. Die Mehrzahl aller 
Aktiengesellschaften, die leistungsfähig sind, gut und kaufmännisch 
geleitet werden, dürfte sich vorübergehend den erforderlichen Kredit 
durch eine direkte Bankierverbindung, durch erhöhte Wechsel- 
diskontierung bei der Reichsbank, durch Nutzbarmachung des Privat- 
diskonts u. s. w. bei weitem schneller, reichlicher und billiger ver- 
schaffen, als wenn sie das zu verfolgende Ziel durch Lombardierung 
der Reserven zu erreichen sucht. 

Mit Recht wird ferner den empfohlenen Vorschlägen entgegen- 
gehalten werden können, daß die gesonderte Verwaltung der Reserven 
eine Erweiterung der Geschäftsbeziehungen und den diesbezüglichen 
inneren Ausbau des Unternehmens erschwert. Diese Eventualität 
wäre jedoch tatsächlich nicht bedauerlich, denn wenn eine Erweiterung 
des wirtschaftlichen Wirkungskreises einer Aktiengesellschaft und 
eine Steigerung und Ausnutzung der geschäftlichen Beziehungen der- 
selben geboten erscheint, so kann lediglich hierfür die Erhöhung 
des Betriebskapitals als geeignetes Mittel bezeichnet werden. Den 
Reservefonds für diese, ihm so vollständig fernliegenden Zwecke zu 
beanspruchen und zu verwerten, ist sachlich durchweg unbegründet. 
Auch liefern die Tatsachen den Beweis, daß dieser Einwand eine 
praktische Bedeutung nicht beanspruchen kann. Die großen Berliner 
Effektenbanken z. B. besaßen stets relativ starke Kapital- und Spezial- 
reserven, sowie sich jedoch der Betrieb ausdehnte, mußte natur- 
gemäß schon deswegen zu einer Erhöhung des Grundkapitals ge- 
schritten werden, weil die vorhandenen Reserven den gegebenen 
Zwecken nicht genügten.  Gleichartig liegen die Verhältnisse bei 
allen größeren Aktiengesellschaften, welche gewerbliche Ziele ver- 
folgen, und die Befürchtung, daß durch die gesonderte Verwaltung 
der Reserven der eigentliche Geschäftsbetrieb der Unternehmungen 
leiden oder die Möglichkeit ihrer Ausdehnung hierdurch unter- 
bunden werden könnte, beruht auf einer sachlich durchaus nicht 
genügend motivierten Voraussetzung. Jene Finanzpolitik, welche 
das Reich bezüglich des Kriegsschatzes bisher verfolgt hat, sollte 
auch für die Aktiengesellschaften als die grundsätzlich richtige an- 
gesehen werden. Auch der deutsche Kriegsschatz ist nichts anderes 
wie ein Reservefonds. Hätte man ihn nicht von den übrigen Eigen- 
tumstiteln des Reiches geschieden und sich von dem Gedanken leiten 
lassen, dem Reiche Zinsertrügnisse zu sichern oder vorübergehende 
Etatsschwierigkeiten zu mindern, so würden zweifelsohne diese Ziele 
erreicht worden sein. Die im Reichsschatze ruhenden Kapitalien 
sind jedoch lediglich zur Bereitschaft derjenigen Beträge bestimmt, 
die beim Ausbruch eines Krieges sofort gedeckt werden müssen und 
wäre statt der 30-jährigen Friedenszeit, welche das Reich glücklicher- 
weise nach seiner Errichtung zu verzeichnen hat, eine Periode 
dauernder oder vorübergehender Kriege eingetreten, so würden bei 
unsachgemäßer Verwaltung des Kriegsschatzes finanzielle Widrig- 
keiten eingetreten sein, die in nationaler Beziehung hätten verhängnis- 


Die Reservefonds der deutschen Aktiengesellschaften. 37 


voll werden müssen. Auch der Reservefonds der Aktiengesellschaften 
ist in vielfacher Beziehung nichts anderes als ein Kriegsschatz. Un- 
erwartete Ereignisse können eine Unterbilanz schaffen, sämtliche 
Kontokorrentbeziehungen auf ihren Feingehalt und die Dauer ihrer 
Zuverlässigkeit zu prüfen, ist selbst bei großer Vorsicht äußerst 
schwierig und die Eigenart der Konjunktur kann unvorhergesehene 
Verluste zeitigen, deren sofortige Deckung für die weitere Ent- 
wickelung des Unternehmens eine Existenznotwendigkeit ist. In 
richtiger Erkenntnis dieser Sachlage sind daher auch die Reserve- 
a Da möglichst mobil und in gesonderter Verwaltung zu 
alten. 

Mit der gebotenen Liquidität und gesonderten Verwaltung ver- 
bindet sich endlich eine dritte Forderung, deren Notwendigkeit 
schwer geleugnet werden kann und die in der Vermeidung jeder 
Anonymität der Anlagewerte des Reservefonds, bezw. in dem zu 
wahrenden Prinzip der Publizität ruht. Aktionären und 
Gläubigern eines jeden Unternehmens sollte die Gelegenheit gegeben 
sein, sich volle Klarheit zu verschaffen, welche tatsächlichen Werte 
die Reservefonds enthalten und ob diese letzteren demgemäß die 
Fähigkeit besitzen, dem Zwecke ihrer Bestimmung im gegebenen 
Augenblick zu genügen. Gegen diese Forderung kann nur in sub- 
jektiver oder tendenziöser Absicht und im Bewußtsein der schlechten 
Sache Widerspruch erhoben werden. Der gleiche Grund, welcher 
Banken und großindustrielle Aktienunternehmungen veranlaßt, in 
ihren jährlichen Geschäftsberichten einen Ueberblick über die in ihrem 
Besitz befindlichen Effekten zu geben, sollte entscheidend auch für 
die Publikationen der Reservefondsbestände sein. Denn ebenso, wie 
es zur Beruhigung des Aktionärs beiträgt, zu erfahren, wie geartet 
der jeweilige Effektenbestand ist, ebenso wird sein Sicherheits- 
bewußtsein gestärkt werden, wenn er sich zu überzeugen vermag, 
daß der Reservefonds in Werten angelegt ist, die keinen spekulativen 
Charakter haben, schnell realisierbar und demgemäß geeignet sind, 
in kritischer Zeit das Unternehmen über Wasser zu halten oder 
schlechte Perioden erfolgreich zu überwinden. Diejenigen Aktien- 
gesellschaften, welche ihre Reserven zweckentsprechend und solide 
veranlagen und verwerten, können keine zwingende Veranlassung 
haben, das Visier der Oeffentlichkeit gegenüber nicht zu lüften. 
Leider jedoch verhüllt sich die Mehrzahl von ihnen mit dem Schleier 
der Anonymität und das Prinzip der Publizität wird nur ganz aus- 
nahmsweise gewahrt. Das Ausland zeichnet sich hierbei gegenüber 
dem Inland vorteilhaft aus. Die Oesterreichisch-Ungarische Bank 
z. B. giebt in ihren Geschäftsberichten !) genau an, in welcher Weise 
die Reserven verwaltet werden. Die deutschen Zettelbanken jedoch 
sind leider diesem Beispiele nicht gefolgt?), und ein gleiches Ver- 


1) Vergl. z. B. Geschäftsbericht 1902, S. 19. 

2) Die Frankfurter Bank führte bis zum Jahre 1891 genau die Effekten des 
Reservefonds auf; seit jener Zeit jedoch bis zu ihrer jüngst erfolgten Umwandlung in 
eine Depositenbank hat sie von dem früher bewährten Verfahren Abstand genommen. 


38 Otto Warschauer, 


fahren belieben durchschnittlich alle Effektenbanken und sonstigen 
Aktiengesellschaften. Es werden in den Jahresberichten lediglich die 
Kapitalbeträge aufgeführt, die Gesamtwerte ihrer Zusammensetzung 
jedoch verschwiegen. Welchen tatsächlichen Zwecken der Reserve- 
fonds - dient, ist für die Außenstehenden unersichtlich und bezüglich 
der Veranlagung der betreffenden Kapitalien tappen demgemäß Aktio- 
näre und Gläubiger vollständig im Dunkeln. Daß dieser Prozeß der 
Verschleierung vielfach bedenklich ist, bedarf keiner weiteren Er- 
örterung. Im allgemeinen Interesse erscheint es daher unbedingt 
nötig, daß in jedem Jahresbericht einer deutschen Aktiengesellschaft 
nicht nur die nackte Kapitalziffer der Rücklagen aufgeführt, sondern 
daß ganz genau angegeben wird, welche tatsächlichen Werte der 
Reservefonds aufweist und wie die diesbezüglichen Einkaufskurse 
oder sonstigen Gestehungspreise derselben sind. 

Die sämtlichen bezüglich der Umgestaltung der Reserven ge- 
machten Vorschlüge, welche die Kapitalfixierung, die Notwendigkeit 
einer Doppelreserve, deren Veranlagung und gesonderte Verwaltung, 
sowie die erforderliche Publizitätspflicht umfassen, dürfte eine wesent- 
liche, die Solidität fördernde Aenderung in der inneren Organisation 
der Aktiengesellschaften herbeiführen. Die Gebilde jedoch, die vor- 
banden sind, und welche die Vergangenheit geschaffen hat, lassen 
sich sofort und gewaltsam nicht umformen. Bei einem diesbezüg- 
lichen Versuch würde mit Recht der Vorwurf erhoben werden kónnen, 
daß das Gute, welches die Neuerungen bezwecken, geringfügiger 
anzuschlagen sei, wie die Mißstände, welche eine zu schnelle Be- 
seitigung der bestehenden Verhältnisse hervorrufen müßte. Das 
Wirtschaftsleben einer jeden Nation, in seiner Gesamtheit und für 
alle Einzelheiten muß möglichst vor jeder sprunghaften Entwickelung 
geschützt sein. Aus dem, was die Vergangenheit geschatfen, haben 
sich langsam und allmählich die Formationen der Zukunft heraus- 
zuschülen. Im Interesse der zu wahrenden Kontinuitit und um 
unnütze Katastrophen für einzelne Aktiengesellschaften zu vermeiden, 
erscheint es daher unbedingt nótig, den vorgeschriebenen Reformen 
die Móglichkeit der zeitlichen Reife zu teil werden zu lassen und 
für ihre endgültige Durchführung Uebergangsbestimmungen 
zu erlassen. 

Wie sich nun einmal die diesbezüglichen Verhältnisse entwickelt 
haben, ist bei der Mehrzahl der deutschen Aktiengesellschaften die 
leitende Idee, namentlich in Bezug auf die Deckung der Unterbilanz 
vielfach verwischt. Die sich ansammelnden Reserven dienen zu- 
vörderst der indirekten Mehrung des Betriebskapitals oder enthalten 
Werte, deren verlustlose Realisierung nur unter strikter Innehaltung 
äußerst vorsichtiger und kaufmännisch-diplomatischer Maßnahmen 
möglich ist. Hat eine Aktiengesellschaft für den ersteren Zweck den 
größeren Teil ihrer Reserven verwendet, so dürfte nicht anderes übrig 
bleiben, als im gegebenen Augenblick bei einer günstigen Lage des 
Geldmarktes durch Ausgabe junger Aktien die Reservefondskapitalien 
von ihrer bisherigen falschen Bestimmung abzulösen und die auf 


Die Reservefonds der deutschen Aktiengesellschaften. 39 


diesem Wege erhaltenen Mittel zur sachgemäßen Veranlagung der 
Rücklagen zu verwerten. Setzt sich der Reservefonds aus Werten 
spekulativer und zweifelhafter Natur zusammen, enthält er z.- B. 
Industriepapiere, deren Kursfluktuationen häufig nicht allein durch 
die Lage des diesbezüglichen Unternehmens, sondern auch durch die 
Art, bezw. Ungunst der Börsenverhältnisse bedingt sind, so ist es 
unbedingt geboten, eine allmähliche, dem Bedarf des Unternehmens 
entsprechende, nach der Art der Konjunktur sich richtende Ab- 
stoßung der Bestände vorzunehmen und Zwangsverkäufe möglichst 
zu vermeiden. Wer der Dauer ungünstiger Konjunkturen zu trotzen 
vermag, bleibt von Verlusten verschont. Auch die Möglichkeit des 
Umtausches fragwürdig erscheinender Effekten in Wertpapiere, die 
minder gefährdet oder für die Zukunft chancenreicher gelten können, 
ist in Betracht zu ziehen, denn durch derartig vorsichtig und fach- 
kundig geleitete Transaktionen ist häufig die Möglichkeit gegeben, 
Verluste schneller, wie durch beharrliches Festhalten an dem ur- 
sprünglichen Besitz einzuholen. 

Bereits in früheren Zeiten hatte für eine bestimmte Art von 
Aktiengesellschaften eine veränderte Veranlagung der Reserven zu 
erfolgen. Nach Erlaß des Reichsbankgesetzes wurden einzelne der 
deutschen Privatnotenbanken darauf hingewiesen, daß ein Teil ihres 
Effektenbesitzes zur ferneren Veranlagung der Reserven nicht ge- 
eignet erscheinen könne und daß demgemäß Aenderungen zu erfolgen 
hätten. Dieselben vollzogen sich ohne Schwierigkeiten!) und die 
Möglichkeit, Reformen in größerem Stile durchzuführen, erscheint 
daher durchaus nicht ausgeschlossen. Wegen der aufgeführten 
Gründe und Verhältnisse jedoch ist es erforderlich, daß die zu 
treffenden Bestimmungen, denen zufolge namentlich die Veranlagung 
der Reserven und ihre gesonderte Verwaltung in der empfohlenen 
Weise zu handhaben ist, erst von einem bestimmten Termine 
an in Kraft treten. Demgemäß hätten sämtliche bisherigen Kapital- 
reserven Spezialreserven zu werden, die solange als Pfand für die 
neu zu schaffenden Rücklagen zu haften haben, bis diese letzteren 
den bisher vorhandenen, bezw. gesetzlich vorgeschriebenen Satz von 
10 Prozent des Betriebskapitals erreicht haben. Solange die von 
einem bestimmten Zeitpunkt an für die Zwecke der Unterbilanz sich 
neu bildenden Rücklagen diesen Satz nicht erreicht haben, würden 
in der Jahresbilanz bis auf weiteres zwei Posten aufzuführen sein, 
von denen der eine als „Aeltere Reserve“, der andere als „Ge- 
setzliche Reserve* zu bezeichnen ist. Sowie die Haftpflicht er- 
lischt, kónnen je nach Ermessen der diesbezüglichen Verwaltungs- 
organe die älteren Reserven zur Abstofung etwa emittierter Obli- 
gationen oder aufgenommener Hypotheken verwendet, in Dividenden- 
ergänzungsfonds umgestaltet oder ausgebaut werden, als erweitertes 
Betriebskapital dienen, bei Fusionen und sonstigen Angliederungs- 
prozessen zur Vermeidung der Ausgabe junger Aktien u. s. w. ver- 


1) Vergl. z. B. Geschäftsbericht der Badischen Bank 1875, S. 2. 


40 Otto Warschauer, 


wertet werden. Jeder gewaltsame Uebergang ist somit vermieden 
und die Möglichkeit, die Reserven zu dem zu gestalten, was sie tat- 
sächlich sein sollten, gegeben. 

Können demgemäß diese letzteren nach Ablauf eines bestimmten 
Termins in allen Einzelheiten so umgebildet werden, wie es dem 
Grundsatz der Solidität entspricht, so erscheint es auch erwägens- 
wert, ob die Kontrolle der Reserven fernerhin nicht Organen 
oder Persönlichkeiten zu übertragen sei, welche kein direktes Ge- 
schäftsinteresse mit dem betreffenden Unternehmen verbindet und 
für welche daher die Unbefangenheit des Urteils ermöglicht ist. Der 
Gedanke liegt sehr nahe, hierfür besondere Staatskommissare zu er- 
nennen, die Organisation des Staatskommissariats jedoch hat sich, wie 
bekannt, nicht allseitig bewährt. Die Börsenkommissare können in 
den seltensten Fällen diejenigen Fachkenntnisse besitzen, die zur Aus- 
übung ihrer Funktionen erforderlich sind und hängen in ihren Ent- 
scheidungen vielfach von der Sachkenntnis und intellektuell von dem 
Urteil derjenigen ab, die sie zu kontrollieren berufen werden. Der 
Hypothekenkommissar hat sich, wie leider die Erfahrung lehrt, gleich- 
falls nicht durchweg bewährt und ob er dies überhaupt in der 
Zukunft, selbst bei Ergänzung der bisherigen reichsgesetzlichen 
Bestimmungen, zu tun in der Lage sein dürfte, ist bei dem kom- 
plizierten Geschäftsgange, welchen das Hypothekenwesen hat und 
bei der Schwierigkeit, ein treffendes Urteil über die so mannigfach 
auftretenden und von so vielen Einzelheiten bestimmten, der Generali- 
sierung schwer zugänglichen Wertverhältnissen des Grundbesitzes sich 
zu bilden, sehr fraglich. Anders geartet jedoch ist diejenige Kontrolle. 
welche sich auf die Reservefonds zu erstrecken hätte. Hier ist die 
Sachkenntnis nach Lage der Verhältnisse eine begrenzte, die Ueber- 
sicht leichter und die Mühe geringer, weil es sich grundsätzlich nur 
darum handeln kann, genau zu prüfen und zu erkennen, ob die 
Veranlagung der Rücklagen vorschriftsmäßig erfolgt ist und die 
sonstigen Bestimmungen streng innegehalten sind. Staatliche Bank- 
inspektoren, die eine derartige Tätigkeit nicht nebenamtlich, sondern 
im Hauptberuf auszuüben hätten und denen z. B. die Aktiengesell- 
schaften je einer oder mehrerer Provinzen lediglich für diesen einen 
Zweck zu unterstellen wären, könnten die betreffende Tätigkeit leicht 
und zuverlässig aufnehmen. Noch näher aber liegt der Gedanke, 
die Kontrolle der Reserven «demjenigen Reichsbankdirektorium zu 
übertragen, in dessen Distrikt die betreffende Aktiengesellschaft 
domiziliert ist. Jeder Reichsbankdirektor ist nach Lage der Ver- 
hältnisse kommissarisch veranlagt; er hat den Vorzug der Objek- 
tivität, zeichnet sich durchschnittlich durch Sachkenntnis aus, steht 
den zu kontrollierenden Aktiengesellschaften geschäftlich nicht fremd 
gegenüber, kennt ihre Entwickelung und wird beruflich dazu gedrängt, 
die Fluktuationen des Geldmarktes zu verfolgen, sowie Arten und 
Qualitätsdifferenzen der Wertpapiere genau zu scheiden. 

Wenn somit durch Verwertung der diesbezüglichen Persönlich - 
keiten für die aufgeführten Kontrollzwecke eine positive Sicherheit 


Die Reservefonds der deutschen Aktiengesellschaften. 41 


geschaffen wird, die nicht durchweg vorhanden ist, sobald die be- 
treffende Tätigkeit lediglich den Verwaltungsorganen einer Aktien- 
gesellschaft überlassen bleibt, so besteht auch eine sehr hohe Wahr- 
scheinlichkeit, daß Kontraventionsfälle der gegebenen Bestimmungen 
nur ausnahmsweise vorkommen und sich auf ein Mindestmaß be- 
schränken würden. Der Eventualität ihres Eintrittes jedoch sollte 
auch strafrechtlich derartig vorgebeugt werden, daß auch auf sie 
der Paragraph 312!) des allgemeinen Handelsgesetzbuches Anwen- 
dung findet. 


V. 


Wieist die Durchführung der empfohlenen Vorschläge 
zu ermöglichen ? 

Die Scheidung der Unterbilanz- und Spezialreserven, d. h. die 
Bestimmung, daß für den ersteren Zweck 2 Proz., für den letzteren 
3 Proz. jährlich vom Reingewinn abgeführt werden sollen und daß 
demgemäß eine gegen die bisherige Organisation der 5-proz. Quote 
differierende Dispositionsbefugnis geschaffen wird, läßt sich unschwer 
durch eine Erweiterung der zur Zeit bestehenden Gesetzesbestim- 
mungen herbeiführen. Anders geartet jedoch ist die Beantwortung 
der Frage, in welcher Art die Durchführung der gedachten Vor- 
schläge, soweit sie sich auf die Liquidität der Rücklagen, deren ge- 
sonderte Verwaltung und Publizität beziehen, in einer für das Rechts- 
bewußtsein und den wirtschaftlichen Bedarf der Nation geeigneten 
Form zu erfolgen habe. Zwei Fälle sind hierbei in Betracht zu 
ziehen. Zuvörderst handeit es sich um das Prinzip der Freiwillig- 
keit, d. h. um die Möglichkeit, die Initiative für die gebotenen 
Reformen denjenigen zu überlassen, die als Verwaltungsorgane oder 
Aktionäre einer Aktiengesellschaft in erster Linie zur Wahrung all- 
gemeiner und eigener Geschäftsinteressen berufen sind. Dieser Ge- 
danke wird grundsätzlich stets sympathisch erscheinen müssen. Je 
mehr das Individuum intellektuell in der Lage ist, des Schutzes, 
der Unterstützung und der Intervention Dritter, sei es des Staates 
oder Privater, zu entbehren, ein desto markanteres Zeichen seiner 
Reife, Leistungsfähigkeit, des berechtigten Selbstbewußtseins und 
seines selbständigen Denkens und Handelns ist gegeben. Der Zwang, 
in die Bahn des Rechten gewiesen zn werden, wird für eine große 
Anzahl werktätiger Menschen stets bedenklich sein, und für die 
wirtschaftliche Entwickelung einer jeden Nation ist es in hohem 
Maße wünschenswert, daß das intellektuelle Empfinden die Richt- 
schnur des Handelns bildet, oder aber daß durch die direkte Initia- 
tive der Beteiligten diejenigen Maßnahmen getroffen werden, welche 
das Wohl der Gesamtheit zu fördern geeignet erscheinen können. 
Diese Gewähr der Freiwilligkeit, so erstrebenswert sie allgemein 


1) „Mitglieder des Vorstandes oder Aufsichtsrats oder Liquidatoren werden, wenn 
sie absichtlich zum Nachteil der Gesellschaft handeln, mit Gefängnis und zugleich mit 
Geldstrafe bis zu 20 000 M. bestraft.‘ 


42 Otto Warschauer, 


auch ist, darf jedoch nicht zum wirtschaftlichen Absolutismus oder 
zum ökonomischen Anarchismus führen und es fragt sich, ob für 
eine solide Organisation und Handhabung der Reserven einer Aktien- 
gesellschaft dieser Weg zu dem gewünschten Ziele führt. 

Die Durchführung der vorgeschlagenen Reformen wäre auf 
statutarischem Wege den Aktiengesellschaften wohl möglich. Ihre 
Verwaltungsorgane jedoch werden sich hierzu durchschnittlich schwer 
entschließen, weil hierdurch ihre Dispositionsbefugnis begrenzt 
wird und sie werden dieselben vielfach als unpraktisch und undurch- 
führbar bezeichnen, weil sie ihnen unbequem sind. Nun ist es auch 
denkbar, die diesbezügliche Initiative direkt der Generalversammlung 
zu überlasseu, d. h. dem Aktionär nahe zu legen, diejenigen Maß- 
nahmen einzuleiten, welche zur Wahrung seiner eigenen Sicherheit 
dienen kónnen. 

In der jüngeren Zeit hat man sich nicht nur mit der Reorgani- 
sation des Aufsichtsratswesens, dessen Mißstände unleugbar sind, 
beschäftigt, oder versucht, auf die gebotene Minderung der Direktorial- 
gewalten hinzuweisen, sondern es ist auch nach anderer Richtung ein 
neues Schlagwort gefallen. Man spricht nicht nur von den Rechten, 
sondern vielfach auch von den Pflichten des Aktionärs. Der 
Aktionür wird mehr wie bisher in den Vordergrund der Begeben- 
heiten gestellt und es wird behauptet, daß, wenn er durchschnittlich 
mit mehr Pflichtbewußtsein gegen sich selbst erfüllt wäre und mehr 
auf die Wahrung seiner eignen Rechte sehen würde, der Eintritt 
so trauriger Ereignisse, wie sie leider der Aktienmarkt Deutschlands 
in der jüngeren Zeit zu verzeichnen hat, zukünftig erschwert werden 
dürfte. Nun läßt es sich freilich nicht leugnen, daß namentlich bei 
der Anlage von Kapitalien in Industriepapieren vielfach Naivitüt, 
Leichtsinn und Gutgläubigkeit herrscht; wer jedoch das Verhältnis 
des Aktionürs zu der Gesamtheit seiner Interessensphüre oder 
gegenüber den Verwaltungsorganen eines Aktienunternehmens objektiv 
und doch kritisch betrachtet, wird sich der Erkenntnis kaum ver- 
schließen können, daß eine Erweiterung seiner sogenannten Pflichten 
wohl verlangt, aber schwer oder nicht allgemein durchgeführt werden 
kann. So wird z. B. die Anwesenheit des Aktionürs in der General- 
versammlung zur persönlichen Geltendmachung seiner Rechte und 
zur Verhinderung seiner Vergewaltigung als unbedingt nótig hingestellt. 
Anscheinend wird auch diese Forderung als vollständig berechtigt 
gelten müssen, sie grundsützlich zu realisieren, ist jedoch ausge- 
schlossen. Nicht jeder Aktionär kann jeder Generalversammlung 
beiwohnen. Wer z. B. in Konstanz wohnt und 3000 Mark Königs- 
berger Vereinsbank-Aktien besitzt, Berufspflichten nachzugehen hat 
oder wenig begütert ist und im Interesse seiner Selbsterhaltun g 
Sparsamkeitsrücksichten ausüben muß, kann unmöglich für die 
Zwecke der Generalversammlung Deutschland durchqueren. Der 
reiche Kapitalist andererseits, der, wie dies häufig der Fall ist, für 
die Zwecke seiner Vermögensverwaltung die verschiedensten Aktien- 
gesellschaften zu verwerten sucht, hätte, wenn er der vorgeschrie- 


Die Reservefonds der deutschen Aktiengesellschaften. 43 


benen Pflicht nachkommen und allen diesbezüglichen ordentlichen 
und außerordentlichen Generalversammlungen beiwohnen wollte, 
wahrscheinlich den größten Teil seines Lebens im Eisenbahnwagen 
zuzubringen. Nun könnte behauptet werden, daß der Aktionär im 
Falle der persönlichen Verhinderung zur Wahrung seiner Rechte für 
die Zwecke der Generalversammlung seine Aktien an dritter Stelle 
zu deponieren habe und daß dadurch wenigstens der Cliquenwirt- 
schaft mit Erfolg entgegengearbeitet werden könnte. Doch auch 
dieser Einwand ist prinzipiell nicht haltbar, denn derjenige, der das 
diesbezügliche Aktiendepot erhält, vertritt meistenteils gleichfalls 
Sonderinteressen und kann als objektiver Interpret der Interessen 
anderer nur ausnahmsweise betrachtet werden. 

Bei allen diesbezüglichen und gleichgearteten Forderungen wird 
übrigens ein wirtschaftliches Moment von großer Bedeutung unter- 
schätzt. Der Aufschwung, der in jüngerer Zeit zu Gunsten des 
Aktienverkehrs zu verzeichnen ist, ist auf die große Beteiligung aller 
besitzenden Elemente der Nation zurückzuführen. Es giebt in 
Deutschland gegenwärtig wenig Kreise der bürgerlichen Gesellschaft, 
welche nicht Aktienbesitz aufzuweisen haben. Ein großer Prozent- 
satz des Nationalvermögens wird vielleicht weniger für die Zwecke der 
Spekulation, als wegen der gebotenen höheren Verzinsung in Industrie- 
papieren angelegt und dieser Faktor bedingt sehr entscheidend die 
großen Umsätze, die sich zeitweise an den Börsen vollziehen. Wird 
nun der Aktionär gedrängt, persönlich zur Generalversammlung zu 
erscheinen, oder für die Zwecke der letzteren an dritter Stelle seine 
Aktien zu deponieren, so schwindet die vielfach gebotene Anonymität 
seines Besitzes, die bei der Anlage in Rententiteln durchweg gewahrt 
ist. Die Person des Aktionärs würde in den Vordergrund gedrängt 
und jene individuelle Reserve, die bei vielen Kapitalanlagen aus 
sozialen oder merkantilen Gründen geboten ist, dürfte hierdurch er- 
schwert werden. Ein gleiches Verhältnis müßte auch eintreten, 
wenn statt der bisher üblichen Inhaberpapiere Namenpapiere zirku- 
lierten. Die Eintragung in das Schuldbuch der Aktiengesellschaften 
würde den Namen des Besitzers der Oeffentlichkeit zuführen und 
viele Kapitalisten veranlassen, ihre mobilen Vermögenswerte dem 
Rentenmarkte zu überweisen und der direkten wirtschaftlichen Pro- 
duktion, wie sie durch die Aktiengesellschaften ermöglicht wird, zu 
entziehen. Dies wäre nicht nur im Interesse der betreffenden Er- 
werbsgesellschaften, sondern auch, da die großkapitalistische Produk- 
tionsweise für den Inlandsbedarf und gegenüber der Konkurrenz, 
sowie der Leistungsfähigkeit des Auslandes gegenwärtig als die 
allein bedingende hingestellt. werden muß, im Interesse der deut- 
schen Volkswirtschaft sehr bedauerlich. Die Pflichten des Aktionärs 
kónnen daher unmóglich schematisiert werden und die konkreten 
Verhültnisse, wie sie zur Zeit bestehen, dürften sich dauernd halten, 
d. h. der Aktionür wird den Generalversammlungen der Aktien- 
gesellschaften nur insoweit beiwohnen, als dies seine eigentlichen 
Berufspflichten gestatten und für seine sonstige Lebenslage nicht 


44 Otto Warschaner. 


mit Umständen und Unbequemlichkeiten irgend welcher Art ver- 
knüpft ist. 

Nun nehme man aber den Fall an, daß der Aktionär in die 
Generalversammlung kommt und den Vorschlag macht, der Reserve- 
fonds solle in Zukunft möglichst liquide gehalten, gesondert ver- 
waltet und beim Abschluß der Jahresbilanz nicht nur ziffernmäßig. 
sondern auch in seinen effektiven Bestandswerten aufgeführt werden. 
Es ist höchst wahrscheinlich, daß die Verwaltungsorgane vieler 
Aktiengesellschaften diesen Vorschlägen gegenüber sich oppositionell 
verhalten und ihre Durchführung zu vereiteln suchen würden, um 
auch fernerweit in ihrer Dispositionsbefugnis nicht gehindert zu 
sein. Ebenso wie jede Aenderung des Aufsichtsratswesens, sobald 
sie sich gegen die subjektiven Interessen der Verwaltungsorgane 
richtet, die Möglichkeit der Durchführung durch Generalversammlungs- 
beschluß kaum finden dürfte, ebenso kann jeder andere Vorschlag, 
der auf die Initiative der Aktionäre zurückzuführen ist und auf 
gleichen Voraussetzungen beruht, leicht abgelehnt werden. Die 
Verwaltungsorgane in ihrer Gesamtheit oder die individuellen Ele- 
mente ihrer Zusammensetzung, die meistenteils recht begütert sind, 
dürften stets in der Lage sein, durch vorübergehenden Ankauf der 
Aktien, sowie durch die direkte Unterstützung der ihnen nahe- 
stehenden, gleiche Tendenzen verfolgenden und eine systematische 
Defensivpolitik fördernden Finanzgruppen sich die für die Zwecke 
der Generalversammlung erforderliche Stimmenmehrheit zu ver- 
schaffen und nur denjenigen Anträgen Beschlußfähigkeit zu verleihen, 
die ihrer Interessensphäre oder den von ihnen als richtig hinge- 
stellten Zielen entsprechend erscheinen. So kann unschwer in jeder 
Generalversammlung jeder Aktionär vergewaltigt werden, und es 
dürfte daher mit positiver Sicherheit angenommen werden können, 
daß die vorgeschlagenen, die Reserven der Aktiengesellschaften be- 
treffenden Reformen, insofern sie lediglich in das freiwillige Belieben 
der direkt Beteiligten gestellt sind, die Möglichkeit der Ausführung 
nie finden werden. So erstrebenswert es auch erscheinen mag, jeden 
zum Schöpfer seines eigenen Glückes zu machen und die individuellen 
Produktionskräfte auf das Maß der eigenen Leistungsfähigkeit zu 
stellen, oder aber den Eingriff äußerer Gewalten in die Wirtschafts- 
sphäre des Einzelnen möglichst zu vermeiden, so wird doch stets 
die Durchführung bestimmter Forderungen nur durch die Inter- 
vention des Staates ermöglicht werden können, welcher die Aufgabe 
und Verpflichtung hat, nicht das individuelle Interesse einzelner 
zum Gegenstande seiner Fürsorge zu machen, sondern das Gemein- 
wohl zu fördern. Es bleibt daher, wenn die Reserven der deutschen 
Aktiengesellschaften in diejenigen Bahnen hineingebracht werden 
sollen, die nach Lage der Verhältnisse als die normalen zu be- 
zeichnen sind, nichts anderes übrig, als die vorhandenen Mißstände 
durch Umbildung des $ 262 des Handelsgesetzbuches zu beseitigen. 

Die hierbei zu überwindenden Schwierigkeiten dürften nicht 
unterschätzt werden. Die öffentliche Meinung in Deutschland 


Die Reservefonds der deutschen Aktiengesellschaften. 45 


erscheint zur Zeit wenig disponiert, auf dem Gebiete des Aktien- 
wesens Reformen zu begünstigen, welche durch die entscheidende 
Macht des Gesetzes Lebenskraft erhalten können. Die traurigen 
Erfahrungen der Vergangenheit, die vielfachen Fehler, die auf mannig- 
fachen Gebieten der Wirtschaftsgesetzgebung begangen worden sind, 
haben leider Zweifel an der Notwendigkeit oder günstigen Wirkung 
einer diesbezüglichen Intervention des Staates hervorgerufen. Es 
ist ferner nicht allein die Unsicherheit der wirtschaftlichen Zustände, 
in welcher sich zur Zeit das deutsche Erwerbsleben befindet, auch 
nicht die Erkenntnis, daß jede volkswirtschaftliche Neubildung oder 
Umbildung die Schwierigkeit der Gütererzeugung erhöht, es ist 
namentlich das Börsengesetz, welches durch die Ungefügigkeit 
seiner Konstruktion, durch die ihm anhaftende Unfähigkeit, die Re- 
gungen des Geldverkehrs genau zu erkennen, oder aber weil es 
Bestimmungen getroffen und Zustände geschaffen hat, welche für 
Handel und Verkehr vielfach eine entsittlichende Wirkung ausüben, 
es ist dieses Börsengesetz mit allen seinen Vorläufern, mit den 
Folgen, die es gezeitigt. mit der Schwierigkeit seiner Beseitigung 
oder Verbesserung, mit der störenden Zähigkeit seiner Existenz, das 
wesentlich dazu beiträgt und beigetragen hat, jenes tiefe Mißtrauen 
zu erzeugen. Es wirkt in der Gegenwart so abschreckend, daß jeder 
Versuch, auch andere Gebiete der Volkswirtschaft gesetzgeberisch zu 
beackern oder umzupflügen, vielfach grundsätzlich abgelehnt wird. 
Hierzu kommt das Verhalten der Reichsregierung; auch 
sie dürfte sich vollkommen klar darüber geworden sein, welche un- 
vorhergesehenen und verhängnisvollen Folgen das Börsengesetz ge- 
zeitigt hat. Noch einmal die Geister zu entfachen, noch einmal der 
großen Gefahr ausgesetzt zu sein, das Gute zu wollen, aber nicht 
erreichen zu können und das Schlechte zu verdammen, aber indirekt 
doch zu fördern, dieses sehr bedenkliche Risiko zwingt die Regierung, 
das äußerste Maß von Vorsicht bei Erlaß neuer Wirtschaftsgesetze 
zu bekunden und lieber auf Neuerungen zu verzichten, als die so 
zart besaiteten Gebilde der Industrie oder die leicht erregbaren 
Wellen des Geldmarktes wiederum stürmischen Fluktuationen aus- 
zusetzen. Auch die Regierung dürfte daher im gegenwärtigen Augen- 
blick kein Verlangen haben, durch ein Gesetz den Aufbau der 
nötigen Reformen vorzunehmen, sondern sie wird sicherlich den be- 
telligten Organen überlassen, dasjenige freiwillig zu tun, was im 
Interesse ihrer Selbsterhaltung geboten erscheint. Hierzu kommt 
das Verhalten der Presse; sie verschließt sich nicht der Erkenntnis, 
daß die gegenwärtige Organisation der Reserven große Mißstände 
aufweist, und daß die höhere Wahrung der Soliditätsprinzipien zwei- 
felsohne große allgemeine Vorteile bieten würde, aber auch sie scheut 
sich vielfach, eine diesbezügliche Initiative zu fördern, die nicht den 
Kreisen der direkt beteiligten Individuen entspringt. Es ist nicht 
nur der Unmut über das Börsengesetz, der hierzu treibt. Auch die 
von verschiedenen Parteiorganen stetig vertretene Ansicht, daß die 
Gewähr der individuellen Freiheit die Möglichkeit des größten per- 


46 Otto Warschauer, 


sönlichen Wohlbefindens bietet, führt vielfach zu der grundsätzlichen 
Forderung, einer möglichsten Begrenzung jeder staatlichen Intervention 
in Wirtschaftsangelegenheiten. Aus diesem Grunde dürften gesetz- 
liche Neuerungen, welche die Reservefonds der Aktiengesellschaften 
betreffen, seitens eines sehr hervorragenden und einflußreichen Teiles 
der Presse, ganz abgesehen von dem finanziellen Abhängigkeits- 
verhältnis, in welchem sich viele Zeitungen gegenüber den Aktien- 
gesellschaften befinden, nur ausnahmsweise unterstützt und gefördert 
werden. Auch eine anders geartete Schwierigkeit ist in Betracht zu 
ziehen. Es ist leider häufig der Mißstand aufgetreten, daß bei Ge- 
bieten des Erwerbslebens, für welche Reformen geboten erschienen, 
die eigentlichen Fachkundigen nicht diejenige aktive Stellung- 
nahme bekundet haben, die für das Gesamtwohl nötig gewesen wäre. 
Sie haben vielfach geschwiegen, in der Opposition gegen die Neuerung, 
die sie vermeintlich schädigen könnte, unterlassen, der Regierung 
oder dem Parlamente die nötigen Aufschlüsse im geeigneten Augen- 
blick zu geben und gehofft, durch Ignorierung der Tatsachen oder 
Leugnen der Mißstände die Durchführung von Reformen unterbinden 
zu können. Diese eigenartige Opportunitätspolitik hat sich jedoch 
vielfach gerächt. Parteien und Individuen, die der Haß gegen das 
mobile Kapital leitet oder die kein genügendes Verständnis für die 
Regungen und den Bedarf von Handel und Industrie besitzen, haben 
sich der diesbezüglichen Materie bemächtigt und Vorschläge gemacht 
und durchzuführen verstanden, die volkswirtschaftlich bedenklich 
waren. Auf diese treibende Ursache müssen vielfach gesetzgeberische 
Bestimmungen zurückgeführt werden, die zum Gegenteil ihres eigent- 
lichen Zweckes führten. Mit der Börsensteuer z. B. sollte das mobile 
Großkapital getroffen werden, der eigentliche Leidtragende jedoch ist 
der Minderbegüterte, den die Steuer tatsächlich belästigt und der 
durch ihre Existenz im Besitzwechsel und in der Ausnutzung der 
Konjunktur auf dem Geldmarkt gehemmt wird. Der diesbezügliche 
Versuch der Gesetzgebung gegenüber dem Großkapital, das die Steuer 
vielfach mit Leichtigkeit abwälzt, ist mißglückt; man wollte Löwen 
töten und fängt Fliegen. Aehnlich liegt das Verhältnis bei den 
Kartellen und Syndikaten. Auch hier wirkt das Schweigen der be- 
teiligten Kreise in hohem Maße schädigend und auch hier liegt die 
große Gefahr vor, daß in dem einzuleitenden Versuch wiederum 
nicht das Richtige getroffen werden wird, weil die diesbezüglichen 
Interessenten nicht mit derjenigen Offenheit vorgehen, die nach Lage 
der Verhältnisse geboten wäre. 

Dieser allgemeine Mißstand führt zu einer Forderung für den 
vorliegenden Fall. Die Initiative zu den nötigen Neuerungen auf 
dem Gebiete des Aktienwesens sollte im Interesse der gesamten 
deutschen Industrie nicht, wie dies häufig bei ähnlichen Veranlassungen 
der Fall gewesen, von Elementen ausgehen, die, gleichviel aus welchem 
Grunde, dem mobilen Kapital feindlich oder unfreundlich gegenüber- 
stehen, sondern von denjenigen Körperschaften ergriffen werden, 
die wie die Handelskammern und Börsenkollegien genügende Sach- 


Die Reservefonds der deutschen Aktiengesellschaften. 47 


kenntnis besitzen und als kompetente Vertreter von Handel und In- 
dustrie berufen sind, die Lösung wirtschaftlicher Probleme anzu- 
bahnen. Für die Erledigung der erörterten Frage bezüglich der 
Reserven der Aktiengesellschaften wäre dies von sehr großer Be- 
deutung. Der von den Fachkundigen erhobene Einwand, daß das 
Bestehende gut und daher jede weitere Erörterung unnütz sei, sollte 
fallen gelassen oder das hierbei vielfach beobachtete Stillschweigen, 
diese negative Behandlung einer aktuellen Frage, fernerhin ver- 
schwinden. 

Aber auch dem allgemeinen Mißbehagen bezüglich des Erlasses 
neuer Wirtschaftsgesetze darf im Interesse des Verkehrs und des 
öffentlichen Wohles nicht zu weit nachgegangen werden, denn die 
neuere Wirtschaftsgesetzgebung des Deutschen Reiches hat doch auch 
Tatsachen zu verzeichnen, welche den gehegten Erwartungen voll 
entsprochen und zu dem gewünschten Ziele geführt haben. Hierzu 
gehört z. D. das Depotgesetz. Es hat wesentlich dazu beigetragen, 
Klarheit über bisher getrübte Verhältnisse zu schaffen; es hat die 
Grundsätze der Solidität geschärft, die Möglichkeit der Unterschla- 
sungen gemindert und das Sicherheitsbewußtsein der Deponenten 
gehoben. Derartige Vorteile wären auf dem Wege der freien privaten 
Vereinbarung nie erzielt worden und gerade dieses Depotgesetz kann 
als Beweis für die Behauptung gelten, daß eine geeignete Staats- 
intervention sehr wohl wirtschaftliche Mißstände zu beseitigen oder 
Maßnahmen zu treffen vermag, welche das Gesamtwohl fördern. So 
erscheint es nötig. auch dem Reservefonds jene gesetzliche Festigung 
zu geben, die er bisher entbehrt hat und welche für die fernere Ent- 
wickelung des Aktienwesens, sowie für die vielfachen nationalen Wirt- 
schaftsinteressen, welche sich mit demselben verknüpfen, geboten ist. 

Für diese Zwecke wäre demgemäß eine Umgestaltung des 
x262 des Handelsgesetzbuches vom 10. Mai 1897 nötig 
und vielleicht dürfte es sich unter Innehaltung der früher erwähnten 
UebergangsLestimmungen empfehlen, dem diesbezüglichen Para- 
graphen folgende neue Fassung zu geben: 

„Jede Aktiengesellschaft ist verpflichtet, Rücklagen zu machen, 
die zur Deckung einer etwa entstandenen Unterbilanz (Kapital- 
reserve), sowie zur Deckung derjenigen Verluste bestimmt sind, 
welche durch den Kontokorrentverkehr oder die Realisierung von 
Beständen (Spezialreserven) entstehen können. 

In diesen Reservefonds sind, solange derselbe nicht die volle 
Höhe des Betriebskapitals erreicht hat, einzustellen: 

1) 5 Proz. von dem jährlichen Reingewinn; 2 Proz. hiervon 
haben der Deckung der Unterbilanz, 3 Proz. den Spezialreserven zu 
dienen; 

2) Agiogewinne, welche sich bei der erstmaligen Begebung der 
Aktien oder durch die Erhöhung des Betriebskapitals nach Abzug 
der hiermit verbundenen Kosten zu Gunsten der Gesellschaft ergeben: 

3) der Betrag von Zuzahlungen. die ohne Erhöhung des Grund- 


48 Otto Warschauer, 


kapitals von Aktionären gegen Gewährung von Vorzugsrechten für 
ihre Aktien geleistet werden, soweit nicht eine Verwendung dieser 
Zahlungen zu außerordentlichen Abschreibungen oder zur Deckung 
außerordentlicher Verluste beschlossen wird. 

Die ad 2 und 3 bezeichneten Beträge sind zuvörderst für die 
Kapitalreserve und erst in zweiter Linie für die Spezialreserve zu 
verwenden. Wenn der Reservefonds die volle Höhe des Betriebs- 
kapitals erreicht hat, ist die Verwendung der Agiogewinne dem Er- 
ınessen der Verwaltungsorgane zu überlassen. 

Die den Reservefonds zuzuführenden Kapitalien müssen in 

a) Staatspapieren, welche bei der Reichsbank lombardfähig sind, 

b) börsenmäßig gehandelten Qualitätswechseln, 

c) erststelligen, mündelsicheren, einen dreijährigen Fälligkeits- 
termin durchschnittlich nicht überschreitenden Hypotheken angelegt 
werden, oder aber mindestens 

d) die Möglichkeit einer leichten Realisierbarkeit bei Sicherung 
des Kapitals und der Zinsen besitzen. 

Die angesammelten Rücklagen sollen lediglich dem vorgeschrie- 
benen Zwecke dienen. Sie haben eine gesonderte, von den sonstigen 
Erwerbs- und Kreditzwecken des Unternehmens sich scheidende Ver- 
waltung zu erhalten und sind in dem Jahresbericht nominell nach Art 
ihrer Veranlagung und unter Angabe des Einkaufs- bezw. Gestehungs- 
preises aufzuführen. 

Die Kontrolle der Bestände steht dem Leiter der an dem Domizil 
der Aktiengesellschaft fungierenden oder derselben nächst benach- 
barten Reichsbankstelle zu. 

Für Kontraventionsfälle der gegebenen Bestimmungen gilt $ 312 
des Allgemeinen Handelsgesetzbuches.* 

Gewiß wird eine derartige Umgestaltung der bisherigen gesetz- 
lichen Bestimmungen die Dispositionsbefugnis der Verwaltungsorgane 
für die Zwecke der Reservefonds mindern und gewiß soll nochmals 
nicht in Abrede gestellt werden, daß jeder Eingriff in die privat- 
wirtschaftliche Macht- und Betriebssphäre seitens Dritter und nament- 
lich des Staates störend wirkt und von Mißständen begleitet sein 
kann. Andererseits aber muß doch stets im objektiven Interesse der 
Volkswirtschaft der Gedanke festgehalten werden, daß für das Wirt- 
schaftsleben der gesamten Nation die Aktiengesellschaften von immer 
entscheidenderer Bedeutung werden, dali mit ihnen sich das finanzielle 
Wohl und Wehe vieler verknüpft und daß demgemäß für alle Zweige 
ihrer Geschäftsführung die Grundsätze der äußersten Soliditüt dauernd 
zu wahren sind. 

Das Aktiengesetz vom Jahre 1354, sowie die diesbezüglichen 
neueren Bestimmungen des Handelsgesetzbuches haben zweifelsohne 
den Verkehr gefördert und die Moral gehoben. Das Gesetz jedoch 
deckte nur die Erfahrungen der Vergangenheit, denn was die Zu- 
kunft bringen konnte, war mit Sicherheit nieht vorauszusehen. In 
der jüngeren Zeit haben sich nun Wandlungen in der deutschen 
Industrie vollzogen, wie sie in den früheren Phasen ihrer Entwicke- 


Die Reservefonds der deutschen Aktiengesellschaften. 49 


lung nie zu konstatieren waren. Die individuellen Bedürfnisse stiegen 
und erheischten erhóhte Befriedigung, der nationale Wohlstand hob 
sich und trieb zur Beschleunigung des Gütererzeugungsprozesses, 
durch die Potenzierung der Produktivkrüfte nüherte sich Deutschland 
immer mehr der Peripherie des Industriestaates, und die hohe 
Stellung, welche nach einem siegreichen Kampfe das neu errichtete 
Reich im Kreise der Völker errungen hatte, mußte allmählich im 
Selbsterhaltungstriebe der Nation zur Ausbildung einer Weltmachts- 
politik auch in wirtschaftlicher Beziehung führen. Die Durchführung 
dieser neuen Aufgaben war vielfach nur durch jene bedeutungsvolle 
Assoziation des Grofikapitals móglich, wie sie sich zuvórderst in den 
Aktiengesellschaften abspiegelt. Für alle diese Verhältnisse ergab sich 
nun zwar bereits seit längerer Zeit die Möglichkeit der Erscheinung, 
die endgültige Tatsache jedoch hat sich erst nach Erlafi des Aktien- 
gesetzes vom Jahre 1884 vollzogen. 

In der Werdeperiode des neuen Handelsgesetzbuches, sowie in 
jener Zeit, welche dem definitiven Gesetze folgte, haben sich fernerhin 
erst in markanter Weise die Wirkungen der Handelsvertrüge ge- 
äußert, die vielfach zu einem erneuten Aufschwung der Industrie 
führten. Wenn nun auch in der Gegenwart leider ein Niedergang 
der Produktion zu verzeichnen ist und Unklarheit über die zukünftigeu 
Handelsbeziehungen Deutschlands zum Ausland herrscht, so kann 
doch mit Sicherheit die Hoffnung festgehalten werden, daß dasjenige, 
was in der Vergangenheit mit Mühe errungen, erfolgreich auch in 
der Zukunft festgehalten werden wird. 

Ein Wirtschaftsgesetz darf nicht dem rocher de bronce gleichen, 
es muß die Fähigkeit der Umgestaltung besitzen und von dem Geiste 
der Zeit beseelt sein, deren Bedarf es zu decken bestimmt ist. Und 
wenn die industrielle Entwickelung der deutschen Nation und der 
wirtschaftliche Aus- und Aufbau, der sich dauernd in ihr vollzieht, 
die Notwendigkeit einer Revision des Aktiengesetzes ergeben 
haben wird, dann dürfte eine Umgestaltung nicht nur des Aufsichts- 
ratswesens, sondern auch der Reserven angebahnt werden, damit 
beide Institutionen in höherem Maße wie bisher dem eigentlichen 
Zwecke ihrer Bestimmung entsprechen. 


Dritte Folge Bd. XXV (LXXX.. 4 


50 W. Ed. Biermann, 


Nachdruck verboten. 


II. 


W. Wundt und die Logik der Sozial- 
wissensehaft. 


Dr. W. Ed. Biermann (Bonn). 


Motto: „Die soziale Geschichte ist eine 
Geschichte von Zwecken.“ R. Stammler, 
Die Lehre von dem richtigen Rechte. 1902, 
S. 610. 
Inhaltsübersicht. 

Wundts Bedeutung im allgemeinen: S. 50. Die Klassifikation der Einzelwissen- 
schaften: S. 51. Der Begriff der Geisteswissenschaften: 8. 53. Die psychische Kausalität 
und ihre Gesetze: 8. 53. Das Wesen geisteswissenschaftlicher Gesetze: S. 54. Unter- 
schied der historischen und sozialen Gesetze von den Naturgesetzen: S. 55. Bedenken: 
S. 56. Dilthey: S. 56. Bedenken: S. 57. Stammler als grundlegender Erkenntnis- 
theoretiker für die Sozialwissenschaft: S. 58. Kritik der historischen und sozialen Ge- 
setze Wundts: 8. 58. Das ökonomische Prinzip: S. 62. Die soziale Geschichte, eine 
Geschichte von Zwecken: S. 61. Das Telos als ordnendes Prinzip für die Sozialwissen- 
schaft: S. 63. 


Am 16. August vorigen Jahres hat Wilhelm Wundt seinen 
10. Geburtstag gefeiert, von einer zahlreichen Schar treuer Schüler 
umgeben, und auch von seinen wissenschaftlichen Gegnern als ein 
gewaltiger, immens vielseitiger Denker anerkannt, der fast alle Ge- 
biete der Philosophie neu bearbeitet und reich mit fruchtbaren Ge- 
danken ausgestattet hat. Wundts große. Verdienste sind von be- 
rufener Seite auf das eingehendste gewürdigt worden. Wir besitzen 
nicht nur zahlreiche Aufsátze über seine philosophischen Anschauungen, 
sondern seit kurzer Zeit auch zwei treffliche, ausführlichere Mono- 
graphien !), von denen die eine bereits in zweiter Auflage erschienen 
ist und davon zeugt, daß eine „Einführung“ in die gewaltigen Werke 
des Meisters einem dringenden Bedürfnisse entsprach. Wenn man 
nun in den meisten Würdigungen, die dem großen Gelehrten zu 


1) Kónig, Wundt, Seine Philosophie u. Psychologie. Stuttgart 1901, 2. Aufl. 
1902. Eisler, Wundts Philosophie und Psychologie. Leipzig 1902. 


W. Wundt und die Logik der Sozialwissenschaft. 51 


seinem Ehrentage dargebracht wurden, lesen kann, er sei vor allem 
als Altmeister der experimentellen Psychologie anzusehen, so ist das 
gewiß begründet, aber es will mir scheinen, als ob man den tief- 
sinnigen, voluntaristischen Metaphysiker und scharfsinnigen Erkenntnis- 
theoretiker Wundt zu sehr in den Hintergrund treten lasse. Wenn 
ich Wundts überragende Bedeutung mit wenigen Worten andeuten 
darf, so meine ich, man müsse ihn nicht nur als grofien Psychologen 
(als solcher ist er der berufene Fortsetzer Fechners und Webers, 
aber nicht nur „Ordner“, sondern auch „Erfinder“, um die Gobineau- 
sche Einteilung der Genies anzuwenden), sondern auch als Metho- 
dologen der Wissenschaften feiern. Für diese methodologischen 
Untersuchungen sind ihm alle Wissenschaften zu Danke verpflichtet. 

Das große Verdienst, das sich nun Wundt speziell um die Logik 
der Geisteswissenschaften erworben hat, ist meines Erachtens das, daß 
er in scharfsinniger Weise die Verschiedenheit der geisteswissenschaft- 
lichen Methode von der naturwissenschaftlichen dargetan hat. Man 
hat ja oft darüber geklagt, daß „Natur“ und „Geist“ nicht als Ein- 
heit angesehen würden, aber wie die neuere Entwickelung gelehrt 
hat, mit Unrecht. Wie der naturwissenschaftliche Dogmatismus in 
der Philosophie als erkenntnistheoretisch unmöglich erwiesen ist (be- 
sonders charakteristisch ist die Zurückweisung Haeckels durch Erich 
Adickes, Kant contra Haeckel, Berlin 1901) und sein letztes Wieder- 
aufblühen in Haeckels „Welträtseln“ trotz seines großen änßeren Er- 
folges philosophisch eine Null bedeutet, so ist man in den letzten 
Jahrzehnten nach dem Ansturm derjenigen soziologischen Litteratur, 
die sich einer biologischen Methode bediente und gewiß in ihrer Art 
bedeutende Werke, wie Schäffles „Bau und Leben des sozialen 
Körpers“ hervorgebracht hat, wieder zu einer scharfen Unterschei- 
dung der geisteswissenschaftlichen von der naturwissenschaftlichen 
Methode gelangt. Drei Männer sind hier vor allem zu nennen, die 
als Methodologen der Geisteswissenschaften grundlegende Werke ge- 
schaffen haben, Wundt, Dilthey und Stammler. Diese 
Gruppierung mag auf den ersten Blick willkürlich erscheinen, es 
wird jedoch aus der folgenden Betrachtung hervorgehen, daß sie 
sich speziell für die Wissenschaft, die uns hier angeht, die National- 
ökonomie, wohl rechtfertigen lassen dürfte. Denn um die „Logik 
der Nationalökonomie“, um mit Wundt zu sprechen, soll es sich 
hier handeln. Ich möchte aber vorausschicken, daß diese kurze 
Abhandlung nur als Versuch oder gleichsam als Skizze aufgefaßt 
werden will. 

Es bleibt Wundts großes Verdienst, in seiner „Logik“ (2. Aufl. 
1893—95) den Unterschied zwischen Geistes- und Naturwissen- 
schaften fest begründet zu haben. Bevor wir uns aber seinen für 
die Geisteswissenschaften und speziell für die historischen und sozialen 
Wissenschaften maßgebenden Prinzipien zuwenden können, wird es nötig 
sein, einen Blick auf die Klassifikation der Einzelwissen- 


schaften überhaupt zu werfen, wie sie Wundt vorgenommen hat. 
4* 


52 W. Ed. Biermann, 


(Ueber die Einteilung der Wissenschaften, Philos. Studien V, 1889. 
Einleitung in die Philosophie, Leipzig 1901.) 

Wundt scheidet zunächt die Wissenschaften in formale und 
reale. Zu den ersteren gehören die reine Mathematik, zu den 
letzteren die Erfahrungswissenschaften. Man hat sich oft darüber 
gewundert, daß Wundt die Mathematik von den Naturwissenschaften 
abgesondert hat, aber er hat es meines Erachtens mit gutem Grunde 
getan. Es besteht nämlich zwischen der Mathematik und allen 
übrigen Wissenschaften der tiefgreifende Unterschied, daß diese an die 
„Erfahrung, an wirkliche, in der Erfahrung gegebene oder mindestens 
in ihr mögliche und daher vermutete oder vorauszusehende Tat- 
sachen gebunden sind* (Einleitung, S. 63), während das bei der 
Mathematik keineswegs der Fall ist. Sie ist an eine empirische 
Wirklichkeit nicht gebunden, sondern „jede Begriffsbildung, die einer 
mathematischen Behandlung zugänglich ist, bleibt für sie ein wissen- 
schaftliches Problem, gleichgültig ob eine solche Begriffsbildung 
unmittelbar auf Grund bestimmter Gegenstünde und ihrer Eigen- 
schaften ausgeführt wurde oder ob sie keiner irgendwie móglichen 
empirischen Tatsache entspricht (a. a. O., S. 64). Der Unterschied 
ergibt sich aus dem Charakter der mathematischen Begriffsbildung, 
die lediglich gewisse „formale Eigenschaften der Objekte heraus- 
greift und von dem gesamten realen Inhalt der so gewonnenen 
Formen abstrahiert* (a. a. O., S. 64). Die Erfahrungswissenschaften 
zerfallen ihrerseits in die Natur- und Geisteswissenschaften. 
Beide lassen sich wieder in je drei Gruppen teilen nach überein- 
stimmenden Gesichtspunkten: Erstens bilden gewisse, nach ihren 
übereinstimmenden Merkmalen verbundene Vorgünge und zweitens 
bestimmte Degriffe von Gegenstünden oder von Erzeugnissen, 
die einen gegenstündlichen Charakter haben, das „Substrat der 
Forschung“, und drittens beschäftigen sich einige Wissenschaften 
mitder Entstehung und Entwickelung der Natur- und Geistes- 
produkte. Nach diesen verschiedenen Aufgaben bezeichnet Wundt 
die Wissenschaften der ersten Gruppe alsdie phänomenologischen, 
die der zweiten als die systematischen und die der dritten als 
die genetischen. 

Wie nun die einzelnen Wissenschaften nach diesem principium 
divisionis sich gruppieren, erhellt aus dem folgenden Schema: 


Formale Reale 


Wissenschaften Wissenschaften 


re, Naturwissenschaften Geisteswissenschaften 
pentes, RE DER EEE LEE E eg, 
Phünome- Genetische Systema- Phänome- Genetische Systema- 
nologische (Kosmolo- tische nologische (Geschich- tische 
(Physik, gie, Geo- (Minera- (Psycho- te) (System, 
Chemie, logie, Ent- logie, logie) Rechts- 
Physiolo-  wicklungs- system. wissen- 
gie) geschichte Botanik u. schaft, Na- 
der Orga- Zoologie tionalöko- 
nismen) u. s. w.) nomie) 


(Cf. Einleitung, S. 76.) 


W. Wundt und die Logik der Sozialwissenschaft. 53 


Heftige Angriffe sind gegen den Begriff der „Geistes wissenschaften“ 
gemacht worden, der nicht ohne weiteres dem der Naturwissen- 
schaften gegenübergestellt werden dürfe. So schreibt — um einen 
der schärfsten Gegner jenes Begriffes herauszugreifen — Windel- 
band (Geschichte und Naturwissenschaft 2. Aufl, 1900, 8. 3ff., 
auch zitiert bei Wundt, Einleitung, S. 74): „Natur und Geist, das 
ist ein sachlicher Gegensatz, der jetzt nicht mehr als so sicher ünd 
selbstverständlich anerkannt werden kann.“ Die Psychologie ist 
„ihrem Gegenstande nach nur als Geisteswissenschaft und in ge- 
wissem Sinne als die Grundlage aller übrigen zu charakterisieren ; 
ihr ganzes Verfahren aber, ihr methodisches Gebahren ist vom An- 
fang bis zum Ende dasjenige der Naturwissenschaften.“ Ich meine, 
auch hier zeigt sich wieder der allgemeine Unwille gegen die Trennung 
von „Geist“ und „Körper“. Man vergißt dabei jedoch, daß eine 
Gegenüberstellung von Geistes- und Naturwissenschaften etwas 
fundamental anderes bedeuten will, als eine Befürwortung jener 
Trennung von „Geist“ und „Körper“. Jene will die Natur- 
erscheinungen von den geistigen Erscheinungen unter- 
scheiden und „schließt dennoch“ — wie Wundt treffend bemerkt 
(a. a. O., S. 71) — „keineswegs aus, daß uns beiderlei Erscheinungen 
an einem und demselben sinnlichen Substrate gegeben sind“. Sie 
erinnert nur daran, „daß sie, mögen sie auch noch so sehr in- 
einander eingreifen und sich wechselseitig beeinflussen, doch zu- 
reichend verschiedene Merkmale darbieten, um zu einer Scheidung 
der Gebiete Anlaß zu geben“. So läßt sich der Begriff der „Geistes- 
wissenschaften“ wohl rechtfertigen. 

Besonders charakteristisch für Wundts Auffassung von dem Wesen 
der Geisteswissenschaften ist seine Wertung der Psychologie. 
Als „Wissenschaft von den allgemeingültigen Formen unmittelbarer 
menschlicher Erfahrung und ihrer gesetzmäßigen Verknüpfung“ ist 
sie die Grundlage der Geisteswissenschaften und nicht 
nur ein Teil der Naturwissenschaften, wie viele Gegner Wundts 
annehmen !). In den Geisteswissenschaften gibt es ebenso Gesetze, 
wie in den Naturwissenschaften, nur mit dem Unterschiede, daß jene 
rein psychologischer Natur sind. Diese Anerkennung von 
geisteswissenschaftlichen und — wie wir später sehen werden — 
speziell historischen und sozialen „Gesetzen“ läßt sich nur aus 
der „psychischen Kausalität“, die bei Wundt eine große Rolle 
spielt, und ihren „Gesetzen“ erklären. Wundt fordert eine psychische 
Kausalität, weil er ein entschiedener Vertreter des psychologischen 
Parallelismus ist und somit eine kausale Ableitung der seelischen 
Vorgänge aus körperlichen für unrichtig erachtet?) Während die 
materialistische Psychologie alle im Bewußtsein vorkommenden Ver- 
bindungen dem Schema der „Assoziation“ unterzuordnen vermag, 


1) Cf. Eisler, a. a. O., S. 38. 
2) Cf. zu dem folgenden: Wundts Grundriß der Psychologie, 5. Aufl. 1902, 
8. 393ff. Eisler, a. a. O., S. 51ff. und König, a. a. O., S. 120ff. 


54 W. Ed. Biermann, 


geht Wundt von psychologischen Beziehungsgesetzen aus, 
die ich hier nur insoweit. darstellen kann, als es zum Verständnis 
der historisch-sozialen Gesetze, die aus jenen abgeleitet werden, 
erforderlich erscheint. Das erste Beziehungsgesetz entsteht aus dem 
Prinzip der „chöpferischen Synthese“ (Gesetz der psychischen 
Resultanten). Dies Gesetz findet seinen Ausdruck in der Tatsache, 
daß „jedes psychische Gebilde Eigenschaften zeigt, die zwar, nach- 
dem sie gegeben sind, aus den Eigenschaften seiner Elemente be- 
griffen werden können, die aber gleichwohl keineswegs als die bloße 
Summe der Eigenschaften der Elemente anzusehen sind" (Grundriß, 
S. 593). Die schüpferische Synthese läßt sich durch alle Erschei- 
nungen des Seelenlebens hindurch verfolgen und zeigt vor allem 
deutlich, daß für Wundt die psychische Kausalität absolut ver- 
schieden von der Naturkausalität ist. In dieser muß stets das 
Zusammengesetzte mit der Summe seiner Teile identisch sein, 
während durch die psychische Kausalität stets ganz neue Schöpfungen 
entstehen. Das zweite Gesetz stimmt überein mit dem „Prinzip der 
beziehenden Analyse‘ (Gesetz der psychischen Relationen). Jeder 
einzelne psychische Inhalt „empfängt seine Bedeutung durch die 
Beziehungen, in denen er zu anderen psychischen Inhalten steht“. 
Das wichtigste psychische Relationsgesetz ist das bekannte Weber- 
sche Gesetz, das „psychische Größen nach ihrem relativen Werte 
vergleicht“ (a. a. O., S. 308). Das dritte Gesetz entspringt dem 
„Pr inzip der K ontrastver stärkung“ (Gesetz der psychischen 
Kontraste). Auch dieses Gesetz zeigt durch die Einräumung der 
Möglichkeit, daß sich entgegengesetzte Kräfte verstärken können, 
deutlich, daß es keine Analogie in der physischen Welt zu dieser 
rein psychischen Kausalität gibt. 

Welches sind nun die Merkmale eines geisteswissenschaft- 
lichen Gesetzes? Wundt führt drei Merkmale an: (Logik, 
2. Aufl. II, 2, S. 133 ff.). 

1) Das (resetz bezeichnet überall „einen regelmäßigen Zusammen- 
hang logisch selbständiger Tatsachen“. 

2) Dieser Zusammenhang muß „entweder direkt oder indirekt 
auf ein kausales oder auf ein logisches Verhältnis hinweisen“. 

3) Es muß „jedem Gesetz ein heuristischer Wert für die Sub- 
sumtion neuer Tatsachen zukommen“. „Das Gesetz soll nicht bloß 
zusammenfassen, was tatsächlich gegeben ist, sondern es soll auch 
„die entsprechende Zusammenfassung künftig zu beobachtender Tat- 
sachen ermöglichen.“ 

Aus diesen drei Kriterien eines „Gesetzes“ geht deutlich hervor, 
daß viele sog. „Gesetze“ diesen Namen gar nicht verdienen. Ich 
erinnere nur an die zahlreichen „statistischen (Gesetzer, die nach 
Wundt nur den Wert von Beschreibungen haben, da es sich bei 
ihnen „nicht um einen Zusammenhang zwischen logisch selb- 
ständigen, unterscheidbaren Tatsachen handelt!) Alle geistes- 


1) Cf. König, a. a. O., S. 157. 


W. Wundt und die Logik der Sozialwissenschaft. 55 


wissenschaftlichen Gesetze, also auch die historischen-sozialen 
Gesetze, denen jetzt allein unsere Aufmerksamkeit gilt, unterscheiden 
sich nun von den Naturgesetzen im wesentlichen. Der Unterschied 
besteht nämlich für Wundt in zweifacher Hinsicht (Logik, II, 2, 
S. 382ff.; König, a. a. O., S. 158ff.): 

1) Kein historisches oder soziales Gesetz besitzt eine aus- 
nahmslose Gültigkeit. 

2) Die geschichtlichen und sozialen Gesetze sind durchgehend 
rein empirischer Natur. Solche Gesetze „können nur Anwen- 
dungen der allgemeinen psychologischen Prinzipien auf die besonderen 
Bedingungen der geschichtlichen und sozialen Entwickelung sein“ 
(Logik, II, 2, S. 385). Da es sich demnach für Wundt nur um 
solche historische und soziale ,Gesetze* handeln kann, in denen es 
auf eine psychologische Motivation ankommt, stellt er drei seinen 
psychologischen Beziehungsgesetzen, der „schöpferischen Synthese*, 
„beziehenden Analyse“ und ,Kontrastverstürkung^ entsprechende 
historisch-soziale Beziehungsgesetze auf und bezeichnet 
sie als die Gesetze der ,Resultanten*, „Relationen“ und 
„Kontraste“. Nach dem Gesetze der Resultanten ist „jeder 
einzelne in einem engeren oder umfassenderen Begriff zu ver- 
bindende Inhalt der Geschichte, besteht er nun in einem konkreten 
geschichtlichen Ereignis, in einer historischen Persönlichkeit oder in 
einem historisch gewordenen Kulturzustand, die resultierende Wirkung 
aus einer Mehrheit geschichtlicher Bedingungen“ (Logik, II, 2, S. 408). 
Das Gesetz der Relationen bedeutet, daß „jeder geschichtliche Inhalt, 
der den Charakter eines zusammengesetzten, aber vermöge irgend 
welcher geistiger Beziehungen einheitlichen Ganzen hat, aus Faktoren 
von verwandtem, geistigem Charakter besteht; und zwar ist diese 
Verwandtschaft namentlich auch zwischen solchen Faktoren vorhanden, 
die ganz und gar verschiedenen Richtungen des geistigen Lebens 
angehören“ (a. a. O., S. 410). Durch das Gesetz der Resultante 
entdeckte — wie Wundt als Beispiele anführt — Jakob Burkhardt 
den Individualismus als Grundprinzip der Renaissancezeit, durch das 
der Relationen entstanden Rankes „leitende Tendenzen": und Taines 
Theorie des „Milieu“. — Die große Bedeutung des dritten Gesetzes, 
desjenigen der Kontraste, „besteht darin, daß es alle die geschicht- 
lichen Veränderungen beherrscht, die nicht in der Weiterentwickelung 
und fortschreitenden Differenzierung in gegebener Richtung, sondern 
in der Erzeugung qualitativ neuer Erscheinungen bestehen“ (a. a. O., 
S. 414). : 

Für Wundt unterscheiden sich die sozialen „Gesetze“ im 
wesentlichen nur dadurch von den historischen, daß jene sich 
zunächst auf das Gleichzeitige, also auf die Faktoren eines 
gegebenen Zustandes beziehen (a. a. O., S. 616) und daß sie sich 
ferner, namentlich die Relationen und Kontraste, im Gegensatz zu 
der streng kausalen Verknüpfung der historischen Gesetze, sehr 
hàufig zu Wechselwirkungen gestalten (a. a. O., S. 617). In 
geistvoller Weise erläutert Wundt gleichsam als Schulbeispiele für 


56 W. Ed. Biermann, 


seine drei sozialen Gesetze das Malthusische Bevölkerungsgesetz 
(S. 617ff.), das Marxsche Gesetz des Mehrwertes (S. 620ff.) und 
das Gesetz der ökonomischen Krisen (S. 624 ff.). 

So geistreich nun die Klassifikation Wundts auch sein mag, so 
imponierend die durch analoge Verknüpfung der historischen, sozialen 
Gesetze mit den psychologischen Beziehungsgesetzen gewahrte Har- 
monie des ganzen Lehrgebäudes auch erscheint '), und so sehr auch 
Wundt einerseits durch das Prinzip der Wechselwirkung, anderer- 
seits durch die scharfe Scheidung sozialer-historischer Gesetze von 
den Naturgesetzen das Kriterium einer strengen Kausalität für ein 
„Gesetz“ der ersteren Art abzuschwächen sucht, so bedenklich er- 
scheint mir doch die Annäherung an die naturwissenschaftlichen 
Methoden zu sein, die sich mit der Anerkennung von „Gesetzen“ 
für das historische und soziale Geschehen vollzogen hat?) Es will 
mir scheinen, als ob diejenige Eigenart der philosophischen Denk- 
weise Wundts, die uns auf anderen Gebieten als ein besonderer Vor- 
zug entgegentritt, nämlich die ruhige und leidenschaftslose Ver- 
mittelung zwischen scheinbar heterogenen und unversöhnlichen 
Prinzipien 21. den scharfsinnigen Denker hier zu allzu großen Kon- 
zessionen gegen das kausale Prinzip der Naturwissenschaften ge- 
führt hat. Es wäre nach unserem Dafürhalten richtiger gewesen, 
wenn er eine schärfere und reinlichere Scheidung zwischen Natur- 
und Geisteswissenschaften vorgenommen und das „Gesetz“ jeden- 
falls aus dem historischen und sozialen Geschehen eliminiert hätte. 
Naturwissenschaft und Sozialwissenschaft sind eben, wie wir im Lauf 
der Darstellung noch sehen werden, methodologisch unversöhn- 
liche Gegensätze! Wir werden unsere Bedenken gegen Wundts 
historische und soziale Gesetze im folgenden noch näher zu be- 
gründen haben, wollen aber zunächst untersuchen, ob uns mit den 
Prinzipien Diltheys und Stammlers besser gedient ist und ob sie 
uns nicht die Waffen für eine Kritik jener Gesetze liefern können. 

Folgerichtiger als Wundt geht meines Erachtens Wilhelm Dilthey 
vor mit seiner strengen Scheidung zwischen naturwissenschaftlichen und 
geisteswissenschaftlichen Methoden und der konsequenten Ablehnung 
einer gegenseitigen Verquickung (Einleitung in die Geisteswissen- 


1) Eine ähnliche Harmonie des Systems findet sich bei Herbart, dessen fünf 
„soziale Ideen“ der beseelten Gesellschaft, des Kultursystems, der Verwaltungssystems, 
der Rechtsgesellschaft und des Lohnsystems aus seinen fünf ethischen Ideen der inneren 
Freiheit, Vollkommenheit, des Wohlwollens, des Rechts, der Sittlichkeit abgeleitet 
werden. 

2) Von Wundt stark beeinflußt sind Karl Lamprecht und Paul Barth, 
die in ihrer Annäherung an naturwissenschaftliche Methoden noch weiter gehen. Ebenso 
zum Kompromiß geneigt ist Lu. Stein, der freilich keine sozialen „Gesetze“, sondern 
nur „Rhythmen“ des sozialen Geschehens gelten läßt (Wesen u. Aufgabe der Sozio- 
logie, Berlin 1898, S. 12), aber mit seiner „immanenten Teleologie“ des sozialen Ge- 
schehens keineswegs Finalität anerkennt (a. a. O., S. 28). Es fehlt ihm die reinliche, 
klare Scheidung zwischen causa und telos, wie wir sie bei Stammler finden. 

3) Ich erinnere an den „Ideal- Realismus“ Wundts in erkenntnistheoretischen 
und metaphysischen Fragen und seine Behandlung des Zweckbegriffes in der 
Naturwissenschaft. 


mmm 


W. Wundt und die Logik der Sozialwissenschaft. 57 


schaften, Bd. 1, 1883). Diese Ablehnung gründet sich bei ihm vor 
allem darauf, daß die Natur für uns nicht von innen heraus ver- 
ständlich ist. und nicht innerlich mitempfunden werden kann, wie 
die Tatsachen der Gesellschaft‘). In Diltheys Grundlegung wird 
eben der große Reichtum des Singulären anerkannt, der sich in den 
Geisteswissenschaften findet, im Gegensatze zu dem mehr Generellen 
der Naturwissenschaften. Jedoch geht er nicht so weit wie Rickert 
(Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, Bd. 1, 1896), 
kurzweg das Individuelle für den Gegenstand der Geschichte zu er- 
klären ?). Mag nun Dilthey in seiner scharfen Ablehnung einer zu- 
sammenfassenden Gesellschaftswissenschaft auch zu weit gegangen 
sein?) — was ich übrigens nicht glaube, da auch ich eine Erkenntnis 
des Ganzen der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit für un- 
möglich erachte — so bleibt ihm doch das Verdienst, die Unver- 
sóhnlichkeit naturwissenschaftlicher Methoden mit denen der Geistes- 
wissenschaften, also auch der Sozialwissenschaft, auf das schürfste 
begründet zu haben. Aber auch er hat uns noch nicht die feste 
Grundlage für unsere Wissenschaft geliefert, und zwar aus zwei 
Gründen nicht: 

1) Wenn Dilthey die Gesellschaftswissenschaften im allgemeinen 
als die Lehre von den natürlichen Massen- und Wechselwirkungen 
des menschlichen Trieblebens unter dem Einflusse des Zusammen- 
lebens vieler bezeichnet‘) (die beste bis jetzt gegebene Definition, 
meint Gothein, a. a. O., S. 207!), vergißt er, daß eine konkrete 
Rechtsordnung die Grundbasis überhaupt für eine soziale Gemein- 
schaft bildet und die ,Massen- und Wechselwirkungen des mensch- 
lichen Trieblebens* uns nationalókonomisch nur insoweit interessieren 
können, als sie sich in einer äußerlich geregelten, sozialen Ge- 
meinschaft zeigen 5). Ein;bloBes „Zusammenleben vieler“ ist keine 


1) Vergl. auch E. Gothein, Gesellschaft und Gesellschaftsbegrifi, Handwörter- 
buch der Staatswissenschaften, 2. Aufl., IV, Jena 1900, S. 2101. und die treffenden Worte 
von G. Tarde über ,Analogien' (Les lois sociales. Paris 1897, S. 48), ferner Lu. 
Stein, a. a. O., S. 13 und Vierkandt, G. Tarde und die Bestrebungen der Sozio- 
logie. Zeitschrift für Sozialwissenschaft, II, 1899, S. 560 ff. 

2) Aehnlich aueh Windelband, a. a. O. und Max Lehmann, Geschichte und 
Naturwissenschaft. Zeitschr. für Kulturgesch., I, 1893, S. 245 ff. 

Absolut falsch ist es, wenn Gumplowiez (Grundriß der Soziologie 1855), die 
Darstel'ung des Individuellen lediglich als die Aufgabe der Kunst erachtet. Ebenso un- 
richtig und einseitig K. Lamprecht (Die Kernpunkte der geschichtswissenschaftlichen 
Erörterungen der Gegenwart. Zeitschr. f. Sozialw., II, 1899, S. 11.) 

3) Cf. P. Barth, Die Philosophie der Geschichte als Soziologie, I, 1897, 
S. 364 ff. 

Eine ungeheure Uebertreibung ist es jedenfalls, wenn Th. Achelis die Sozio- 
logie für berufen erachtet, die Philosophie zu ,regenieren*. (Zeitschr. für Sozialw., II, 
3, 1899.) Simmel (Ueber soziale Differenzierung. Leipzig 1890, S. 17) hält die 
Einheit des Gesellschaftswesens für mystisch und lehnt darum soziale Gesetzmäßig- 
keiten ab. 

4j Ebenso Rümelin (Ueber den Begriff der Gesellschaft und einer Gesellschafts- 
lehre, 1888 ; Reden und Aufsätze, 3. Folge 1894) für den die „Triebe die einzigen 
bewegenden Kräfte in der empfindenden Welt“ sind (a. a. O., S. 267.) 

5) Darum ist meines Erachtens auch die Definition Simmels unzureichend, 
„die Gesellschaft ist eine Gruppe sich gegenseitig psychisch beeinflussender Wesen.‘ 
(Ueber soziale Differenzierung, Leipzig 1890, S. 14.) 


DS W. Ed. Biermann, 


volkswirtschaftliche Erscheinung, sondern, um mit Stammler zu 
sprechen, lediglich eine ,natürlich-technische* Wirtschaft, es 
sei denn, daß die „vielen“ durch bloße „Konvention“ mit ein- 
ander verbunden wären). Eine Volkswirtschaft in diesem letzteren 
Sinne gibt es aber überhaupt nicht. 

2) Dilthey hat in seiner „Einleitung“ wohl eine beschreibende 
und analytische Psychologie geliefert, aber nicht eine — Er- 
kenntnistlieorie ?). 

Eine solche und zwar eine für die Sozialwissenschaft ge- 
radezu grundlegende Erkenntnistheorie hat uns erst Rudolf 
Stammiler in seinen beiden großen Werken „Wirtschaft und Recht 
nach der materialistischen Geschichtsauffassung* (1896) und der 
„Lehre von dem richtigen Rechte: (1902) geliefert?). Er hat uns 
mit unerbittlicher Logik gezeigt, daß „die äußere Regel die logische 
Verbindung der sozialen Einsicht ist und in diesem Sinne die 
Form der Gesellschaft.“ Es ist falsch, soziale Regel und zusammen- 
stimmendes Verhalten einander gegenüberzustellen. Das richtige 
Verhältnis ist vielmehr das von Bedingung und von Bestimm- 
barem. Beide sind unzertrennlich als Gegenstand sozialer Be- 
griffe, die ja für unsere Wissenschaft allein in Betracht kommen. 
Der eigentümliche Charakter des sozialen Geschehens besteht 
darin, daß Zwecke aufgestellt werden. „Die soziale Geschichte ist 
eine Geschichte von Zwecken!" Gesetze natürlichen Geschehens 
kann es hier nicht geben, da das menschliche Zusammenwirken stets 
Mittel zu einem bestimmten Zwecke ist. Da ein soziales Ein- 
greifen des Staates auch stets auf Erreichung von Zielen gerichtet 
ist, so kann man ihn nicht als bloßen „Geburtshelfer“ auffassen, wie 
es die materialistische Geschichtsauffassung falscherweise tut, denn 
es handelt sich bei einer sozialen Betrachtung nicht um kausales 
Werden! 

Wir sind jetzt endlich zu der für eine Betrachtung der Logik 
unserer Wissenschaft unentbehrlichen, erkenntnistheoretischen 
Grundlage gelangt, um nun eine kritische Sonde an die historischen- 
sozialen Gesetze Wundts legen zu können, zu denen wir nun- 
mehr zurückkehren. Die Waffen zu dieser Kritik liefern uns die Er- 


gebnisse Stammlers, der sich selbst übrigens — soweit ich sehen 
kann — mit Wundt nicht gründlich auseinandergesetzt hat: 


1) Ein „Gesetz“ kann keine Ausnahmen haben. Wo ein „Gesetz“ 
vorhanden ist, muß mit absoluter Bestimmtheit aus dem Vorhanden- 


1) Die Konventionsregel gilt nach ihrem eigenen Sinne lediglich zufolge 
der Einwilligung des Unterstellten“ (Wirtschaft und Recht, S. 129). 
Eine solche durch Konventionalregel gestützte Organisation ist nach Sohm die kirch- 
liche (Handbuch des Kirchenrechtes, Bd. I, 15902). Die ,natürlich-technische Wirt- 
schaft“ Stammlers läßt sich etwa vergleichen mit der Stufe der „Gemeinschaft“ bei 
Toennies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Leipzig 1887. 

2) So auch Gothein, a. a. O., S. 210. 

3) Eine kurze Darstellung seiner Lehre findet sich in seinem in der Gehe- 
Stiftung zu Dresden gehaltenen Vortrage, Die GesetzmüDigkeit in Recht und Volks- 
wirtschaft‘, 1902, 


W. Wundt und die Logik der Sozialwissenschaft. 59 


sein gewisser Ursachen auf gewisse Wirkungen geschlossen werden 
können !). Darum haben die Wundtschen „Gesetze“, die Ausnahmen 
zulassen und deren Kausalität oft von einer Wechselwirkung abge- 
löst wird, höchstens den Wert von „Tendenzen“, die aber in ihrer 
„gesetzmäßigen“ Erscheinung keinen Wert haben, da sie ganz ab- 
hingig von der Rechtsordnung sind, von der die soziale Gemein- 
schaft beherrscht wird. Eine solche Bedeutung von „Tendenzen“ 
haben auch die vielen nationalökonomischen „Gesetze lediglich. 
Sie sind in keiner Weise streng kausal bedingt. Wir wollen das an 
einigen Beispielen näher nachzuweisen suchen. Hinsichtlich des 
Malthusischen Gesetzes ist es mir stets unfaßbar gewesen, 
wie man von ihm als von einem ökonomischen Gesetze hat 
reden können. Es liegen meines Erachtens doch nur physiologische 
und natürlich-technische Tendenzen vor, die mit der Sozialwissen- 
schaft an sich gar nichts zu schaffen haben. Das „Gesetz vom ab- 
nehmenden Bodenertrage“ ist gewiß richtig, und die Einwände von 
Oppenheimer, Oncken u. a. sind in keiner Weise stichhaltig. 
Aber dieses Gesetz ist ein Naturgesetz, das mit sozialer Ge- 
setzmäßigkeit nicht das Geringste zu schaffen hat. Und die rein 
physiologische Fortpflanzungsmöglichkeit interessiert uns ganz 
allein, wenn wir sie an einer sozialen durch eine ganz bestimmte 
konkrete Rechtsordnung geleiteten Gemeinschaft prüfen. Es zeigt 
sich alsdann deutlich, daß alle Bevölkerungstendenzen lediglich von 
der Rechtsordnung abhängen. Diehl (a. a. O. S. 99) hat mit 
Recht darauf hingewiesen, daß jene Tendenzen ganz verschiedene 
sein können, je nach der Regelung der Privateigentumsordnung, 
nach der Gesetzgebung über großes und kleines Grundeigentum und 
nach anderem mehr. Welchen günstigen Einfluß dürfte z. B. die 
Arbeiterschutzgesetzgebung in dieser Hinsicht gehabt haben! Je 
mehr eine soziale Klasse oder Berufsschicht volkswirtschaftlich durch 
Selbst- oder Staatshilfe gehoben wird, je mehr sich ihr standard of 
life erhöht, um so stärker wird sie auch in ihrer populationistischen 
Tendenz durch rein psychische Faktoren bestimmt. Und daß 
dıese Faktoren gar nicht berücksichtigt werden, die natürlich wieder 
ganz von einer bestimmten, formalen Gestaltung des Wirtschafts- 
lebens abhängig sind, das ist meines Erachtens der Hauptmangel 
des Malthusischen Gesetzes! In der Wertung dieser psychischen 
Faktoren möchte ich mich der von Wolf, Pohle u. a. vorgenommenen 
Rektifikation der Oppenheimerschen Thesen anschließen, in der Rich- 
tung, daß in Kulturstaaten?) jedenfalls nur von einem Zurück- 


1) Ganz ähnlich Diehl, Ueber die nationalökonomischen Lehrbücher von 
Wagner, Schmoller, Dietzel und Philippovich, mit besonderer Rücksicht auf die Me- 
thedenfrage in der Sozialwissenschaft. Conrads Jahrb., 3. Folge, Bd. 24, Juli 1902, 
der einzige Nationalökonom, der sieh bisher entschieden auf Stammler’schen Boden ge- 
stellt hat! So scharfsinnig A. Wagners Betrachtung über „Volkswirtschaft und 
Recht“ auch ist, es fehlt ihr die feste erkenntnistheoretische Grundlage. Cf. auch Max 
Lehmann, a. a. O. der historische Gesetze leugnet, weil ihnen die empirische Aus- 
nahmslosigkeit fehle. 

2) Die Nichtgeltung des Malthus, Gesetzes auch für Naturvölker behauptet Rich. 
Lasch, Zeitschr. f. Sozialwissenschaft, V, 2—4, 1902, 


60 W. Ed. Biermann, 


bleiben der „Tendenz“ hinter der „Potenz“ gesprochen werden 
kann. Das zeigt sich deutlich an der Abnahme der Geburts- 
ziffer in den wichtigsten Kulturlündern! !) 

Somit kann nicht genug vor voreiliger Formulierung von volks- 
wirtschaftlichen „Gesetzen“ und dergleichen gewarnt werden. Es 
sei mir gestattet, dies noch an einem erst jüngst wieder viel venti- 
lierten Beispiele zeigen zu dürfen. Thünen, Dietzel und in 
jüngster Zeit Arthur Schulz haben hinsichtlich der Bewegung von 
Kornpreis und Arbeitslohn eine sogenannte Konträrtheorie for- 
muliert. Es ist ja gleich, ob sie nur als Kausalfaktor angesehen 
werden will — wie Schulz?) meint — oder als ein „Gesetz“. 
Jedenfalls handelt es sich darum, von gewissen Ursachen auf ge- 
wisse Wirkungen schließen zu wollen. Diehls Verdienst bleibt es, 
in richtiger, erkenntnistheoretischer Selbstbescheidung nachgewiesen 
zu haben, daß man irgend eine gesetzmäßige Tendenz hier nicht 
nachweisen kann, daß ebensogut die Paralleltheorie richtig 
sein könne und tatsächlich auch schon richtig gewesen ist. Es 
hängt ja auch das Verhältnis von Arbeitslohn und Kornpreis zweifel- 
los von dem formalen Rahmen des konkreten Wirtschaftslebens ab 
— wenn ich mich so ausdrücken darf. Wenn sich zeigen würde, 
daß tatsächlich das Verhältnis von Kornpreis und Arbeitslohn sich 
in einer für den letzteren ungünstigen Weise gestalten könne, nun, 
so kann ja durch ein „Streben nach dem richtigen Rechte“, d. h. 
hier durch eine zweckmäßige Gestaltung der Sozialreform, vor allem 
durch Förderung der Arbeiterkoalitionen, das Verhältnis wieder rek- 
tifiziert werden. Das bedeutet eben ein teleologisches Beherrschen 
des sozialen Geschehens! Wenn die Konträrtheorie Recht behalten 
sollte, so wären gewiß die Grundsätze des „Achtens“ und der 
„Teilnahme“, um mit Stammler (Lehre vom richtigen Rechte, 
S. 208 ff.) zu sprechen, die das richtige Recht beherrschen sollen, 
verletzt. Und ein Streben nach dem richtigen Rechte müßte irgend- 
wie dieses falsche Verhältnis aufheben. Jene Konträrtheorie ist nun 
überhaupt untrennbar von der sogenannten Arbeitsproduktivi- 
täts-Lohntheorie, die in Deutschland ebenfalls besonders 
Thünen, Dietzel und jüngst Arthur Schulz verfochten haben. 
Daß auch diese eine falsche Anwendung des Kausalprinzips auf 
das soziale Geschehen ist, liegt auf der Hand. Denn das Wirt- 
schaftsleben wird nicht automatisch-schematisch geregelt durch 
zwingende Kausalfaktoren, sondern es wird von dem Streben nach 
Verwirklichung gewisser Zwecke, von dem Streben nach einem so- 
zialen Ideal beherrscht). Das Verhältnis zwischen Unternehmer 
und Arbeiter ist in jeder Beziehung durch Kampf und Macht charakte- 


1) €f. von Fircks, Bevölkerungslehre und Bevölkerungspolitik, 1898, S. 151. 

2) Kornzoll, Kornpreis und Arbeitslohn. Ein Beitrag zur Handelspolitik und zur 
Lehre vom Arbeitslohn. Leipzig 1902, S. 125. 

3) In diesem Sinne ist es richtig, wenn Zitelmann (Der Materialismus und die 
Gesehiehtssehreibung. Preuß. Jahrb., Bd. 37, 1876) die Geschichte als eine „Verwirk- 
lichung von Ideen‘ bezeichnet. 


W. Wundt und die Logik der Sozialwissenschaft. 61 


risiert, aber nicht durch eine naturgesetzliche Regelung ihres Ver- 
hältuisses. Beide streben nach dem richtigen Recht, freilich in oft 
ganz verschiedener Richtung. Es ist die Aufgabe des Staates, be- 
sorgt zu sein, daß die Grundsätze der Teilnahme und des Achtens, 
um mich wieder der rechtsphilosophischen Ausdrücke Stammlers zu 
bedienen, zu ihrem Rechte gelangen. 

Ich glaube, genügend an diesen drei Beispielen — dem Mal- 
thusischen Bevólkerungsgesetz, der Konträrtheorie und der Produk- 
tivitätslohntheorie — gezeigt zu haben, daß das Wirtschaftsleben 
nimmermehr von „Gesetzen“, seien sie auch in ihrer strengen Kausali- 
tät modifiziert, beherrscht werden kann, sondern daß lediglich gewisse 
Tendenzen sich aufweisen lassen, die aber von der formalen Ge- 
staltung des Wirtschaftslebens abhängig sind und somit unter dem 
Zeichen des Zweckes stehen. 

2) Trotzdem die „Gesetze“ Wundts den Namen streng kausal 
bedingter Gesetze nicht verdienen, sind sie bei sozialen Erschei- 
nungen nicht anwendbar. Denn für diese gibt es kein kausales 
Werden irgendwelcher Art, sondern nur ein zweckmäßiges Ge- 
schehen. Die sozialen Gemeinschaften sind Zweckgemeinschaften. 
Sie erscheinen unter der Bedingung äußerer Regelung, einer be- 
stimmten Rechtsordnung, nach deren „warum“ nicht gefragt werden 
kann, wohl aber nach deren „wozu“. Hier rächt es sich eben, daß 
Wundt nicht scharf genug erkenntnistheoretisch geschieden hat. 
Denn erkenntnistheoretisch ist für uns das Recht, die Form, in der 
die sozialen Zustände uns erscheinen und für uns erkennbar sind. 
Wie kann es eine Kausalität des Werdens bei sozialem Geschehen 
geben, das.nur in einer bestimmten, rechtlichen Regelung möglich 
ist und sich mit dieser verändert! Wenn das Recht sich verändert, 
so geschieht es doch nicht kausal, sondern es geschieht als Ausfluß 
des Strebens nach dem richtigen Rechte, kurzum es geschieht stets 
teleologisch! Das Telos ist der Herrscher im sozialen Ge- 
schehen, nicht die Kausa! 

3) Auch noch durch eine andere Betrachtung läßt sich meines Er- 
achtens nachweisen, warum es keine sozialen „Gesetze“ geben kann, 
auch nicht die Wundts, so gemildert ihre Kausalität auch erscheint. 
Ich meine, man kann es an dem Problem der Willensfreiheit 
zeigen. Fast alle bedeutenden Philosophen der Neuzeit vertreten 
den Determinismus, wenn auch in verschiedenen Gestaltungen !). 
Wenn eine soziale Gemeinschaft eine Gemeinschaft von äußerlich 
geregelten, frei wollenden Menschen ist (cf. das Schema Stammlers, 
Lehre von dem richtigen Rechte, S. 200), so bedeutet das in deter- 
ministischer Fassung, die mir als die allein richtige erscheint: die 


1) Ich rechne auch den „intelligiblen Indeterminismus“ Kants, Schopenhauers, 
Kuno Fischers und Euckens für den Zweck, den ich hier verfolge, zum Determinismus, 
desgleichen den „indeterministischen Determinismus'* Sigwarts und Wundts, ef. Müffel- 
mann, Das Problem der Willensfreiheit in der neuesten Philosophie. Leipzig 1902, 
S, s5ff. Diese Schrift stellt in übersichtlicher Weise die Gedanken der verschiedenen 
Forscher über unser Problem zusammen und kritisiert sie nicht ohne Scharfsinn. 


62 W. Ed. Biermann, 


Menschen handeln durch ihr Wesen determiniert, sie handeln mit 
einer Freiheit, die „innere Notwendigkeit“ ist (Schleiermacher) oder, 
um die scharfe Formulierung Theodor Lipps (Die ethischen Grund- 
fragen, 1899, S. 245) anzuwenden: ihre Freiheit ist „Bedingtheit 
durch die wollende Persönlichkeit“. Wenn nun jeder in seinem 
Handeln kausal bedingt ist, wie kann es da eine allgemeine 
Kausalität des sozialen Geschehens geben! Das ist doch logisch 
undenkbar! Es müßte ja die Kausalität des Einzelnen durch die 
Kausalitit der Gesamtheit aufgehoben werden können!). Das ist 
nicht möglich ?). Nicht durch eine ihrer singulären Kausalität gleich- 
sam hypostasierte allgemeine Kausalität vollzieht sich das scziale 
Geschehen der Menschen), sondern es vollzieht sich teleologisch 
und wird von Zielen beherrscht, deren ideales Endziel das mit 
dem sozialen Ideal übereinstimmende „richtige Recht“ ist*). Und 
doch scheint es hier einen Ausweg zu geben, der eine allgemeine 
Kausalität des sozialen Geschehens zuließe, ich meine die Lehre vom 
„ökonomischen Prinzip“, die besonders Adolf Wagner aus- 
gebaut hat. Wenn tatsächlich alle Menschen von dem ökonomischen 
Prinzip kausal beherrscht wären, dann wäre eine allgewaltige Not- 
wendigkeit des sozialen (reschehens denkbar. Das ist aber nicht 
der Fall. Das ökonomische Prinzip ist kein allgemein menschliches 
Prinzip), sondern hängt ganz von der bestimmten, konkreten Rechts- 
ordnung ab, die ihm in seiner strikten Verwirklichung sogar hinder- 
lich sein kann. Ferner ist das ökonomische Prinzip kein kausales 
Prinzip, da es ja nach Wagner darin besteht, „freiwillig“ lohnende 
Arbeit etc. zu verrichten (Wirtschaft und Recht, S. 154)°). Wenn’ 


1) Darum erscheint es mir auch nicht richtig, wenn Lamprecht behauptet, 
daß der Mensch als soziales Wesen unter der Herrschaft des Kausalprinzips steht, 
ef. z. B. seinen Aufsatz: Eine Wendung im geschichtswissenschaftlichen Streit, Zu- 
kunft, Bd. 18, 1897, I, S. 23 ff. 

2) Daß ein strenger Determinismus dennoch die Kausalität für historisches 
oder soziales Geschehen ablehnen muß, zeigt auch G. von Below, die neue hist. 
Methode. (Histor. Z., 81, S. 193ff.) cf. auch Lu. Stein, a. a. O. S. 35, der mit Recht 
einen „fatalistischen soz. Determinismus“ ablehnt und: Rachfahl, Preuß. Jahrb., 84, 
S. 547 ff.) 

3) Wenn Hinneberg (Die philosophischen Grundlagen der Geschichtswissen- 
schaften. Histor. Zeitschr., 63, N. F., 27, 1889) meint, daß eine Wissenschaft ohne 
Gesetzmäßigkeit nicht möglich sei (ähnlich übrigens Schulz, a. a. O., S. 112), so ist 
das durchaus falsch. Es ist im Gegenteil meines Erachtens bedeutend wissenschaft- 
licher, in kritischer Selbstbescheidung Gesetze zu leugnen, wo sie ihrer Natur nach 
unverkennbar sind, als sie anzunehmen. Darum ist für uns der Begriff der Gesetz- 
mäßigkeit auch nicht „das Kriterium der Wissenschaft im eminenten Sinne wie für 
Goldfriedrieh, Die histor. Ideenlehre in Deutschland. Berlin 1902, S. 540. 

4) Wenn M. Lehmann, a. a. O. sagt, daß in der Natur Notwendigkeit und in 
der Geschichte Freiheit herrsche, so ist das keine richtige und klare Gegenüberstellung. 
Nicht Freiheit, sondern das Telos herrscht in der Geschichte! 

5) So auch Diehl, a. a. O., S. 92. 

6) Bedeutend vorsichtiger geht Dietzel (Theoretische Sozialökonomie, I, 1895, 
S. 78 ff, ef. auch Beiträge zur Methodik, Conrads Jahrb. IX) vor, der an die Stelle 
der Abstraktionen aus dem Egoismus die Prämisse des „Wirtschaftsmenschen 
(des „economical man“ nach J. St. Mill!) setzt. Mit diesem abstrakten Wirtschafts- 
menschen ist uns aber auch nicht gedient. Viele Erscheinungen des sozialen Geschehens 


W. Wundt und die Logik der Sozialwissenschaft. 63 


Paul Barth (a. a. O., S. 314ff.) nun Stammler entgegenhält, daß 
das ökonomische Prinzip eine sehr reale Kraft ist, so ist daran zu 
erinnern, daß diese „reale Kraft" ganz abhängig von der äußerlichen 
Regelung ist, in deren Form das soziale Geschehen sich vollzieht. 
Wenn Barth ausführt, daß „im Kolonat der späteren römischen Kaiser- 
zeit das wesentliche Merkmal, die glebae adscriptio, durch Gewohn- 
heit, jedenfalls infolge der allgemeinen wirtschaftlichen Lage ent- 
standen, und erst ein Jahrhundert später rechtlich festgelegt sei“, 
so hat er damit keinen Gegenbeweis gegen Stammler vorgebracht. 
Denn was Barth „Gewohnheit“ nennt, das ist für Stammler eben 
„Recht“, hat es doch auch ohne die gesetzliche Festlegung zwangs- 
weise Geltung gehabt (Wirtschaft und Recht, S. 129). Jene Ent- 
stehung des unfreien Kolonats war auch ein „Zwangsversuch zum 
Richtigen“ (Lehre vom richtigen Rechte, S. 29), um die damalige 
Landarbeiterfrage zu lösen. 

So ergibt sich als Resultat unserer Betrachtung, daß die soziale 
Geschichte eine „Geschichte von Zwecken" ist (Lehre von dem 
richtigen Rechte, S. 610) und darum nicht von einer Kausalität 
beherrscht werden kann. Sombart hat unrecht, wenn er glaubt, 
die freie Wahl zwischen causa und telos bei der Entscheidung für 
ein ordnendes Prinzip zu haben. Es handelt sich nicht um eine 
freie Wahl!!) Denn „letzte Ursachen“, auf die Sombart (Der 
moderne Kapitalismus, I, 1902, S. XIII) die Einzelphünomene 
sozialen Geschehens zurückführen will, gibt es gar nicht. Stammler 
(Lehre vom richtigen Rechte, S. 611) führt mit Recht aus, daß solches 
gerade dem Kausalitütsgesetze widersprechen würde, nach welchem 
jede Ursache selbst wieder Wirkung einer anderen Ursache sein 
muß. Darum ist das gewaltige und gewiß imponierende Werk 
Sombarts eine Konstruktion, aber keine Geschichte sozialen Ge- 
schehens, ebenso wie Marx’ „Kapital“. Denn in der Geschichte des 
sozialen Lebens, die eine solche des menschlichen Zusammen wirkens 
ist, handelt es sich stets um die Frage von Mitteln, die zu gewissen 
Zwecken ergriffen werden (Lehre vom richtigen Rechte, S. 612). 
Das ordnende Prinzip für die Sozialwissenschaft ist darum das des 
Telos, da das soziale Geschehen auf eine richtige Gestaltung des 
Wollens gerichtet ist (a. a. O., S. 617). Somit ist auch eine 
Uebertragung der naturwissenschaftlichen Methode auf die der Sozial- 
wissenschaft unzulässig ! ?) 


lassen sich überhaupt nur dadurch erklären, daß keine „Wirtschaftsmenschen‘“, sondern 
im Gegenteil von ganz anderen Motiven als dem der Wirtschaftlichkeit beherrschte 
Menschen gehandelt haben, cf. auch Diehl, a. a. O., S. 124 ff.) 

1) Darum ist es auch nicht zutreffend, wenn Vierkandt (Naturvölker und 
Kulturvölker, Leipzig 1896, S. 465) behauptet, daß die kausale und die teleologische 
Denkweise „nicht im Verhältnis der prinzipiellen Ausschließung, sondern viel- 
mehr im Verhältnis der Ergänzungsbedürftigkeit“ ständen. Das trifft jeden- 
falls für die sozialen und historischen Wissenschaften nicht zu. Ebenso fehlt eine rein- 
liche Scheidung der beiden Prinzipien bei Gumplowiez (a. a. O9) der unter seinen 
zehn, für physische, geistige und soziale Erscheinungen geltenden Gesetzen sowohl 
das der Kausalität als auch das der allgemeinen Zweckmäßigkeit anführt. 

2) Cf. auch die vorzügliche Abhandlung von Albert Hesse, Der Begriff der 


64 W. Ed. Biermann, W. Wundt und die Logik der Sozialwissenschaft. 


Wenn wir zum Schlusse resumieren, so ergibt sich, daß die er- 
kenntnistheoretische Grundlage für unsere , Wissenschaft des sozialen 
Geschehens“ in dem Verhältnis von „Wirtschaft und Recht* zu finden 
ist, wie sie uns Stammler mit dem „ganzen bestrickenden Zauber 
seines quellklaren Denkens“ (Sombart) entwickelt hat. So wertvoll 
auch Wundts „Logik der Volkswirtschaftslehre* durch die Fülle 
anregender Gesichtspunkte ist, so wichtig die scharfe Scheidung 
zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, die Dilthey vorgenommen 
hat — es fehlt ihnen die erkenntnistheoretische Schärfe und damit 
die Ablehnung jeder Kausalität für die soziale Wissenschaft, der mit 
kausaler Erwägung, wenn sie auch noch so sehr verbrämt erscheint, 
wie es bei Wundt der Fall ist, nicht gedient ist. 

Ludwig Stein hat es mit Recht ausgesprochen, daß uns noch 
immer eine grundlegende, sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung 
mit dem Sozialismus fehlt!) Daß eine solche nur unter Zugrunde- 
legung des finalen Prinzips?) fruchtbar sein kann, hat uns 
Stammler erwiesen. Denn: „Soziale Geschichte ist eine Ge- 
schichte von Zwecken!“ 


Abgeschlossen: Anfang Oktober 1902. 


Gesellschaft in Herbert Spencers Soziologie (Conrads Jahrb. III. F., XXI, 1901, 
S. 737 ff.) Zweckgedanke und Bewultseinslosigkeit stehen miteinander im unlöslichen 
Widerspruch. Denn Zweck und Bewußtsein beherrschen die Gesellschaft. Darum ist 
die Gesellschaft kein Organismus, weil zwischen den nieht mit Bewußtsein begabten 
Bestandteilen eines solchen ausschließlich kausale Beziehungen stattfinden können (s. be- 
sonders a. a. O., S. 776). 

1) Die soziale Frage im Lichte der Philosophie. Stuttgart 1897, S. 434. 

2) Es ist übrigens interessant zu sehen, daß immer mehr auch für die Natur- 
forschung eine Ergänzung des rein mechanischen kausalen Prinzips durch das teleo- 
logische von bedeutenden Naturforschern gefordert wird. Charakteristisch für dieses Be- 
streben sind die Dominantentheorie Reinckes („Die Welt als Tat“, 1899, 2. Aufl. 1901, 
und „Einleitung in die theoretische Biologie“, Berlin 1901), sowie die energetische Lehre 
Ostwalds (Vorlesungen über Naturphilosophie. Leipzig 1902). Falsch ist es übrigens. 
wenn Reincke Wundt die Annahme einer objektiven Zweckmäßigkeit zuschreibt. 
Wundts „Heterogenie der Zwecke“ leugnet ja gerade eine objektive Teleo- 
logie, die Reincke dagegen für absolut nötig hält, ef. auch den Aufsatz über Reincke 
von Arthur Drews, Preuß. Jahrb., 110, 1. Okt. 1902. 


Miszellen. 65 


Nachdruck verboten. 


Miszellen. 


I. 


Das Alter der deutschen Universitätsprofessoren. 
Von Privatdozent Dr. F. Eulenburg (Leipzig). 


Vorbemerkung. Der akademische Unterricht in der Statistik muß seiner 
Natur nach in mehrfacher Hinsicht von dem anderer Fächer abweichen. Die rein 
theoretischen Vorlesungen haben darum ihr Mißliches, weil letzthin von der Vor- 
führung eines Zahlenmateriales nicht Abstand genommen werden kann, das auf die 
Dauer ermüdet und seine Einprägbarkeit für Laien bald verliert. Die Gefahr 
der Langweiligkeit ist nun einmal hierbei sehr stark vorhanden, die von dem 
Studium mehr abschreckt als anzieht. Und doch ist eine Unterweisung bei der 
zunehmenden Bedeutung der Statistik für Wissenschaft und Verwaltung unent- 
bebrlich. Aber auch die seminaristischen Uebungen müssen ein anderes Gepräge 
erhalten als in anderen staatswissenschaftlichen Fächern. Es liegt das daran, daß 
die Statistik vor allem auch eine technisch-methodische Disziplin ist, die gelernt sein 
will und ohne deren Beherrschung der statistische Unterricht zwecklos erscheint. 
Die Form, die sonst wohl in Seminaren üblich ist, daß Referate über andere Bücher 
erstattet werden, reicht in diesem Falle allein kaum aus: einmal weil es hierbei gar 
nicht so sehr auf das eine oder andere fertige Resultat ankommt; sodann aber weil 
zur Voraussetzung ebenfalls die Kenntnis des Materiales und der Methoden dient, 
wenn anders nicht das Referieren ohne statistische Erfahrung unfruchtbar bleiben 
soll. Zu selbständigen Arbeiten bietet sich aber im Anfange noch weniger Ge- 
legenheit. Es scheint daher hier weit mehr die Aufgabe zu sein, die Studierenden 
mit den Methoden selbst vertraut zu machen, um dadurch die Möglichkeit späterer 
Anwendung zu gewährleisten und die Lektüre statistischer Werke und Darstellungen 
vorzubereiten. ie Unterweisung wird also im ganzen mehr derjenigen in den 
mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern sich nähern müssen. 

, Es kann indes die Frage sein, ob die Verbindung des statistischen Seminars 
Mit einem amtlichen Bureau oder die völlige Eingliederung in den Universitäts- 
interricht empfehlenswerter sei. Jene erstere Verbindung, die bekanntlich Ernst 

ngel in seinem berühmten Seminar befolste, ist ja überhaupt nur an den wenigen 

"Dversititen möglich, wo ein staatliches oder städtisches statistisches Amt existiert 
(Berlin, Breslau, Kiel, Königsberg, Leipzig, München, Straßburg, Prag, Wien, 
Ucht, Der Vorzug besteht in dem Vorhandensein großer Materialien, der ge- 
ägneten Formulare, Fragebogen, Zühlpapiere — kurz des ganzen statistischen 
Apparate, Andererseits aber scheint die Angliederung des Unterrichtes an die 

Mversitit darum empfehlenswert, weil gerade diese Personalunion des Staats- 
Wissenschaftlers und des Statistikers von besonderer Bedeutung ist und für die Aus- 

ildun der Lernenden bessere Anregung bieten kann als die des statistischen 

Verwaltungsbeamten, Man wird es im Gegenteil für wünschenswert halten, daß 

jeder Nationalókonom sich im allgemeinen mit den statistischen Methoden vertraut 

Dritte Folge Bd. XXV (LXXX). 5 


-—— 


66 Miszellen. 


macht, damit er den Veröffentlichungen und deren Benutzung kritisch gegenüber- 
treten kann. Ein kleiner statistischer Apparat, wie er für die Universitätszwecke 
erforderlich ist, läßt sich zudem unschwer beschaffen und regelmäßig ergänzen. 
Es ist daher auch, soweit ich sehe, der statistische Unterricht jetzt meistens ein 
rein akademischer geblieben. 

An der Leipziger Universität ist die Einrichtung getroffen, daß außer den 
theoretischen Vorlesungen mit Zustimmung der Direktion der Vereinigten Staats- 
wissenschaftlichen Seminare der Verfasser etwa alle 2 Semester selbständig einen 
praktisch-statistischen Kursus abhält. Eine größere Teilnehmerzahl ist dabei gar 
nicht erwünscht; etwa 8—12 möchte als das Normale anzusehen sein. Es wird dabei 
das Hauptgewicht darauf gelegt, die Studierenden mit den Methoden und der 
Technik selbst vertraut zu machen, sowie ihr kritisches Verständnis der Zahlen 
auszubilden und zu schärfen. Zu Grunde gelegt wird in einem bestimmten 
Turnus die Bevölkerungs-, Moral-, Wirtschafts- und Sozialstatistik. Der methodo- 
logische Gang ist der, daß zunächst das Urmaterial, aus dem die statistischen Angaben 
rewonnen werden, vorgeführt und besprochen wird; dann folgt die Gewinnun 
er Tabellen und die Kombination der überhaupt möglichen Fragen, endlich 
werden Relativberechnungen und Bearbeitungen, sowie graphische Darstellungen 
behandelt. Es wird auf diese Weise der logische Gang der ganzen statistischen 
Arbeit wiederholt bis zur Anwendung der Wahrkehainichkeitsrachnung: Es hat 
sich dabei als sehr praktisch herausgestellt, daneben gleichzeitig auch eine wirk- 
liche statistische Arbeit vorzunehmen: in der Form, daß jedem Mitglied ein 
bestimmter Teil der Gesamtaufgabe zufällt. Dadurch erhalten die Teilnehmer 
zugleich einen Einblick in die technische Handhabung der Methoden und lernen 
so selbst Resultate gewinnen und verwerten. Es hat sich gezeigt, daß auf diese 
Weise das Interesse der Teilnehmer dauernd gefesselt wird, indem jeder an dem 
Gelingen des Resultates unmittelbar interessiert ist. — Auf diese Weise ist im 
Sommersemester 1902 unter Leitung des Verfassers das Material für die vorliegende 
Abhandlung gewonnen und zu Tabellen aufbereitet worden. 


I. Das Alter der deutschen Universitätsprofessoren 
ist zum ersten Male von Et. Laspeyres im Jahre 1876 behandelt worden !). 
Seitdem ist meines Wissens eine neuere Untersuchung darüber nicht 
mehr erschienen; eine Wiederholung des nun 25 Jahre zurückliegenden 
Versuches ist also erwünscht. Wie bei meinem Vorgänger, sind auch 
diesmal außer den reichsdeutschen Universitäten diejenigen Oesterreichs 
und der Schweiz, soweit die Sprache deutsch ist, mit herangezogen 
worden: es rechtfertigt sich das schon aus dem Grunde, weil zwischen 
diesen Universitäten ja ein vollkommener Austausch der Lehrkräfte 
stattfindet. Die Gesamtzahl der Universitäten belief sich danach auf 29, 
da Dorpat, das Laspeyres noch mit herangezogen hatte, inzwischen fast 
ganz russifiziert ist. — Es sind 2 Jahre behandelt worden, wobei aus 
mehr äußeren Gründen das Wintersemester 1890/91 und das 1901/02 
gewählt wurde: dadurch ist es möglich, die eingetretenen Veränderungen 
zu beobachten und auf ihre Ursachen zurückzuführen; Laspeyres hatte 
die Wintersemester 1870/71 und 1875/76 benutzt. Die Untersuchung 
konnte nur auf die ordentlichen Professoren ausgedehnt werden, da für 
den übrigen Lehrkörper das Material nicht hinreichend vorlag. Es ist 
das darum zu bedauern: einmal weil ein großer Teil der außerordent- 
lichen Professoren einen Lehrauftrag hat und von Rechts wegen 


1) Etienne Laspeyres, Das Alter der deutschen Professoren. Ein Beitrag zur 
Universitätsstatistik und Universitätspolitik (Deutsche Zeit- und Streitfragen, Heft 24). 
Berlin 1876. 


Miszellen. 61 


dazugehórt, sodann weil gerade auch das Alter der übrigen meist 
jüngeren Dozenten interessiert hätte. Aber einstweilen mußten wir uns 
mit den Ordinarien begnügen. 

Die Angaben sind sämtlich F. Aschersons Deutschem Universitäts- 
kalender entnommen. Wo dieser versagte, wurde Kürschners Litteratur- 
kalender herangezogen, um die fehlenden Daten zu vervollständigen. 
Für Bern, Czernowitz, Innsbruck und Prag, wo die Lücken besonders 
groß waren, verdanke ich die Ergänzung der Freundlichkeit dortiger 
Kollegen, die mir die betr. Nachrichten verschafften. Es ist dadurch 
möglich geworden, die Lücken sehr zu beschränken: es fehlen im ganzen 
nur 2—3 Proz. aller Angaben, während bei Laspeyres die Fehlenden 
doch fast ein volles Fünftel ausmachten. Unsere Ermittelungen sind 
also ungleich genauer und vollständiger: das Gesamtresultat wird durch 
diese geringen Ausfälle kaum beeinflußt. (Höchstens in Erlangen und 
Würzburg, wo je 5 Angaben fehlen, könnte vielleicht eine kleine Ver- 
schiebung eintreten, die aber jedenfalls auch nur unbedeutend ist.) Noch 
in einem anderen Punkte ist Laspeyres wesentlich ungenauer gewesen: 
es sind nämlich im. folgenden von vornherein die lesenden von den 
nichtlesenden Professoren geschieden, was früher nicht geschehen war. 
Nur die ersteren haben aber für unsere Untersuchung Wert; bei den 
letzteren handelt es sich um Universitätslehrer, die entweder schon eremi- 
tiert sind oder aus anderen Gründen ihre Vorlesungstätigkeit eingestellt 
haben, für uns also gar nicht in Betracht kommen. Sie machen beide 
Male gegen 4 Proz. aller Ordinarien aus. Es belief sich sonach die 
Gesamtzahl der ordentlichen Professoren zu Beginn des Wintersemesters 


1890/91 1901/02 
Lesende mit Alters- 1288 1429 
Niehtlesende angaben 57 | 61 


Lesende | ohne Alters- 50 (= 3,7 Proz.) 33 (= 2,3 Proz.) 

Nichtlesende | angaben 2 5 

Ueberhaupt 1397 1528 

(1875/76 waren es, einschließlich Dorpats mit 40 Ordinarien, 1299, von 
denen aber nur 1056 untersucht werden konnten.) 
. Die Bearbeitung geschah in der Weise, daß für jeden Professor 
ein besonderes Zählblättchen angefertigt wurde, auf dem Name, Fakultät, 
Geburtstag und -jahr, sowie ev. „nichtlesend“ notiert wurden. Dadurch 
lien sich die notwendigen Kombinationen durch Legen der Zähl- 
blättchen mit Leichtigkeit erreichen; auch wurde dafür Sorge getragen, 
daß eine hinreichende Kontrolle des Verfahrens stattfand. Die Alters- 
angaben sind genau berechnet und jedesmal auf den 1. Oktober 1901 
bez. 1890 bezogen, während Laspeyres nur das Geburtsjahr im ganzen 
genommen hatte. ; 


IL Das Durchschnittsalter. a) Betrachten wir zunächst die 
Gesamtheit der Universitäten, d. h. natürlich nur die lesenden Professoren, 
80 betrug ihr Durchschnittsalter 53,4 Jahre. Es hat sich in dem letzten 
Jahrzehnt um fast ganze 2 Jahre erhöht, da es 1891 sich nur auf 
9l'|, Jahre belief. Ein genauer Vergleich mit den Ziffern für 1870 

p* 


68 Miszellen. 


und 1875 ist nicht gut möglich, da damals die nichtlesenden Professoren 
mitgerechnet sind; dabei kamen 52,8 Jahre heraus. Tun wir dasselbe 
für unsere beiden Ermittelungen, wofür uns ja das Material zur Ver- 
fügung stand, so kommen 54,1 bezw. für 1890 52,5 Jahre heraus. Es 
geht so viel daraus hervor, daß das Durchschnittsalter in dem ganzen 
Zeitraum gestiegen ist. Wir werden nachher zu entscheiden haben, ob 
die jüngeren Altersklassen so viel verloren oder die hóheren so viel ge- 
wonnen haben. | 

Einen bemerkenswerten Unterschied wird man außerdem noch nach 
der Staatsangehörigkeit der Universitäten wahrnehmen können. Es 
zeigt sich nämlich, daß die 10 preußischen Universitäten das höchste, die 
3 schweizerischen das niedrigste Durchschnittsalter haben: jene zu 54,5, 
diese zu 51,8 Jahren; die 11 übrigen deutschen Universitäten weisen 
53,2, die 5 österreichischen 52,3 Jahre auf. In dem früheren Zeitpunkt 
(1890) ist zwar auch hier überall der Durchschnitt niedriger, aber im 
übrigen zeigt sich dieselbe Reihenfolge der Länder. Die absoluten 
Zahlen, um die es sich dabei handelt, sind doch zu groß, als daß es 
bloßer Zufall sein könnte, zumal auch schon für die 70er Jahre sich ein 
ähnliches Resultat herausgestellt hatte. 


b) Fassen wir die einzelnen Universitäten ins Auge, so sind 
allerdings die Abweichungen von jenem Gesamtmittel sehr beträcht- 
lich. Die durchschnittliche Altersdifferenz betrug nämlich zwischen der 
„ältesten“ und der „jüngsten“ Universität, um diesen kurzen Ausdruck 
zu gebrauchen, beide Male etwa 10 Jahre, und zwar war sie 1890 noch 
größer als 1901 (11,6 bezw. 10,7 Jahre). Die Reihenfolge der Uni- 
versitäten, nach dem Durchschnittsalter der ordentlichen Professoren ge- 
ordnet (S. 74) hat dabei eine Aenderung erfahren. Im allgemeinen haben 
die größeren Universitäten ein höheres Durchschnittsalter als die kleineren, 
wenn auch diese Gesetzmäßigkeit nicht durchweg gilt Zu einem ähn- 
lichen Ergebnis war auch Laspeyres (S. 27) gelangt. Aber der Grund 
dafür ist sicher nicht, wie er es angiebt, darin zu suchen, daß die 
Studenten die Universitäten aufsuchen, wo die berühmtesten Namen 
sind — das ist doch höchstens bei einem kleinen Bruchteil der Stu- 
dierenden das ausschlaggehende Moment. Sondern umgekehrt werden 
an die größeren Universitäten vorwiegend solche Lehrer berufen, die 
bereits anderwärts sich bewährt haben: sei es weil dort die Ehre und 
der Erfolg größer, oder weil die Gehälter und Einnahmen höhere sind. 
Die große Universität ist ja der Abschluß in der akademischen 
Hierarchie. Wenn Wien eine scheinbare Ausnahme bez. des Durch- 
schnittsalters macht, so liegt das daran, daß hier die Professoren mit 
70 Jahren pensioniert werden, mithin höhere Altersklassen gar nicht 
existieren können. — Zu unterst stehen dem Alter nach die kleineren 
Universitäten: beide Male Gießen, Czernowitz und Erlangen. Es ist er- 
klärlich, daß jüngere Professoren meist hier beginnen und dann allmählich 
an größere Universitäten kommen; ist es doch die einzige Beförderung, 
die ihnen offen steht. Während aber 1890 noch bei 13 Universi- 
täten das Durchschnittsalter unter 50 Jahre lag, ist es gegenwärtig nur 
noch bei 4 der Fall. Für die Einzelheiten sei auf Tabelle I verwiesen. 


Miszellen. 


Tabelle I. 


69 


Alter der ordentlichen Professoren an den Universitäten 


Zahl der Studierenden 


deutscher Zunge Wintersemester 1901/02 
Durchschnittsalter 1890 | Durchschnittsalter 1901 
e | = 5 a E £ E 
5 SIS E 5 |£ SEE | 
Universitäten & | 8 E E % | 8 E ul LS ES KE SN 2 = 
=|213!:/312|%2|/3|2!/5|2|2:2|3|3|2 
= | © 3 d "Bi: $ d = ei = 
213 d rg £23 | E 2b mt 
E | z = ge 
Berlin 56,8! 56,5) 58,5! 57,71 57,5| 56,7 57,5 62,1 58,2) 58,:| 366 2393| 1254| 2844| 6857 
Bonn 534, 53,3| 54,4| 52,7, 53,2| 52,9, 55,8 61,5| 56,3| 50,8] 354 | 579| 233| 905| 2071 
Breslau 60,3! 49,7: 53,71 53,6 54,6] 53,1| 54,5 53,1 50,6| 51,9] 332| 585| 229| 607| 1753 
Erlangen 44,3 50,1| 51,8| 45,5| 47,2] 50,0| 40,8 52,2 48,6| 48,7] 155 303 344, 202| 1004 
Freiburg 56,9) 49,2 46,7! 45,4| 48,3] 54,4| 43,6, 50,8 50,5| 51,4| 211 351 409| 350| 1321 
| | 
Gießen 41,7 37,7| 49,5 48,3| 46,2] 46,2| 39,0 50,4 40,3, 48,0] 63| 249| 328| 307| 947 
Göttingen 54.5. 54,3 51,8) 50,8 51,8] 54,9) 54,6, 50,9 51,1) 51,9| 116| 424 162! 636| 1338 
Greifswald 43,8! 46,8 54,3 49,2| 49,1] 56,4| 48,7 48,2, 52,7| 51,6] 111 182 210 214 72 
Halle 52,9) 44,2 56,3 49,7) 50,91 50,2! 48,9 54,1| 55,9) 54,7] 360! 425 192| 748| 1731 
Heidelberg 49,9 53,6] 51,31 51,9) 51,8[ 50,8, 59,1 57,2 53,2] 54,9] 45| 350| 248, 628| 1271 
| neu | 
Jena 58,1 50,1 47,2 47,8| 49,1| 64,9| 55,9 58,2 52,9 56,0] 39| 195| 141| 323| 698 
Kiel 48,1 39,3| 52,0 50,6! 49,2] 47,8) 50,7 55,» 52,2 52,1] 44 190| 347| 237| $18 
Kinissberg 53,5, 52,5, 49,9 49,8 50,5 55,1, 51,6 55,1, 61,0 58,5] 89 299° 207| 316 911 
Leipzig 56,4, 59.3) 53,6| 56,5 56,4[ 60,1) 58,0 58,5 53,51 55,5| 262 | 1210, 587| 1689| 3748 
Marburg 44,0 48,3, 49,7 47,2 47,6| 49,0| 48,3 54,5, 51,7 51,4] 91| 318| 203| 473| 1085 
| | | 
München 54,7 58,2 61,7 56,6! 57,8] 60,6! 56,0 58,3 56,7 57,5] 175 1483 1301, 1244| 4 203 
Munster $21 — | — 155,254) 52,8) | — 593 57,4] 342 — | — | 447| 789 
Bh 54,8 36,7| 51,8) 47,4 47,0] 63,3 43,2! 51,9 50,6 51,6| 36! 97j 139| 280| 552 
Straßburg 45,6! Sie 54,6, 50,4) 51,21 50,2| 52,8 56,2 54,1 53,7| 69 317 292 455| 1133 
Tübingen 53,3 58,1/45,8 51,6) 52,2] 51,9) 48,91 53,2 52,3 52,4] 405, 400! 242| 258| 1371 
Wurzburg 55,3 45,3 51,2 53,5| 51,8[53,8 40,3 55,9 47,4 50,8] 117, 321| KS 267| 1194 
| | 
| I 
Czernowitz 45,7 PP — PR 46,2|53,1] 46,0 — ‘48,6 48,5| 37 364 8 61 470 
Dru 50,1, 52,6! 49,8| 47,2/ 49,4] 55,5) 57,6, 50,5 53,1 53,2] 91| 774| 312, 176| 1353 
Innshruck 55,6 54,6) 40,6 49,7) 50,3| 51,8| 49,2! 47,2 50,1 40,6270)! (300)| (180) (200)| (950) 
Prag 54,3. 40,0 41,6 51,1 47,9] 58,3 48,1 54,1 50,6 51,7] (40) (590)| (230) (200)| (1060) 
Wien 51,9' 51,1] 53,1, 54,1] 53,1] 53,6| 51,6 56,4' 54,6 54,1] 316 3024| 1142 1284| 5766 
| PAN, | | 
Bel 547 43,3) 53,2| 45,2] 48,9] 52,5| 544) 53,4 40,9 51,1] 42 44| 147 296 529 
Bern 506,0, 50,9 53,3! 57,2) 54,0] 55.4| 50,»| 57,5 409,0 52,4| 31 209| 509 415| 1164 
Zürich 59,1 57,0 43,3 45,11 48,51 56,5| 52.4 50,6 48,9 51,0] 13 112| 291 254 670 
Urberhaupt 52,7 50,7, 51,7 51,2| 51,5 54,2 51,6 54,8 53,1) 53,4/4628 |16 154 |10 382 |16 316 | 47 480 
10 preußische Univ. | 53,0! 50,8! 53,7 51,8 52,1] 53,4 53,0! 55,4 54,9 5452211 | 5 305 | 3043| 742718076 
11 übrige deutsche „[51,8 52,21 51,8 51,4| 51,7] 5458 51,0 55,6 50,2! 53,2|1577. 5342| 4520| 6003 17 442 
` Serréichische „| 52,0] 50,3, 48,0 50,8 50.1| 54,0 50,8 53,1 52,2] 52,3] 754 5052, 1872, 1921| 9599 
3 schweizerische — 56,4, 50,8, 50,0 48,4, 50,51 55,0 52,2 53,9 49,0) 51,8 86 365| 947| 905] 2303 
ihr 


Teilen wir die Universitäten in 2 Gruppen (S. 7H), je nachdem 


Alter über oder unter dem Gesamtdurchschnitt liegt, so sind die Frequenz- 
ziffern der beiden Gruppen 30 891 und 17109, verhalten sich also wie 


70 Miszellen. 


178:100, obwohl die untere Reihe 17, die obere aber nur 12 Uni- 
versitäten enthält; die größeren geben hier eben den Ausschlag 1). 

Die Wechselwirkung zwischen Alter der ordentlichen 
Professoren und Frequenz der Universitäten gelangt also 
zu einem deutlichen Ausdruck. Und ebenso gehören gerade zu den 
nichtpreußischen deutschen Universitäten viele kleinere, so daß sich 
daraus schon die vorhin erwähnte Abweichung nach der Staatsangehörig- 
keit erklären dürfte. Die kleinen schweizerischen Universitäten, deren 
Gesamtheit am niedrigsten stand, rangieren etwa auf einer Stufe mit den 
gleichgroßen deutschen Universitäten, bilden also keine besondere Aus- 
nahme. 

c) Aber wichtiger noch als die Gesamtheit ist das Alter der ein- 
zelnen Fakultäten, das hierin ebenfalls erhebliche Unterschiede 
aufweist. Es stellte sich nämlich für sämtliche Fakultäten der Durch- 
schnitt am 1. Oktober 1901 /bexw. 1. Oktober 1890) 


in der theologischen Fakultät bei 201 (184) Professoren auf 54,2 (52,7) Jahre, 


» » juristischen P „ 226 (211) e a Ste UT) p 
» » medizinischen " » 295 (274) ki s 94, GOLD a 
» » philosophischen „m 707 (644) „ LS in 


Die Juristen sind danach am jüngsten, die Mediziner am 
ältesten, während vor 10 Jahren, ebenso wie 1875, dies noch die 
Theologen waren. Sodann zeigt sich auch hier, daß die Professoren in 
allen 4 Fakultäten durchgängig jetzt ein höheres Alter haben als noch 
vor 10 Jahren. Da die Zahl der Philosophieprofessoren allein fast schon 
so groß ist, wie die der 3 anderen Fakultäten zusammen, so erklärt es 
sich, daß sie ausschlaggebend sind für die Altersverhältnisse der Gesamt- 
heit wie auch der einzelnen Universitäten. 

Am auffallendsten ist die Zunahme im Alter der Mediziner. Es 
kann dies an etwas Doppeltem liegen: einmal sind gerade hier eine 
Reihe berühmter Namen, die auf ein hohes Alter sehen und dabei noch 
aktiv sind. Sodann ist bei ihnen die Ernennung zum Ordinarius 
darum hinausgeschoben, weil die Konkurrenz in der medizinischen 
Fakultät eine außerordentlich starke ist. Denn nirgends ist die Zahl 
der Extraordinarien und Privatdozenten im Verhältnis zu der der 
Ordinarien größer wie bei den Medizinern. Es liegt das daran, daß 
die Assistenzärzte aus den Kliniken, sowie viele private Spezialisten 
für besondere Fächer sich gern habilitieren und dadurch die Zahl 
der Anwärter vermehren; das zeigt sich besonders in den größeren 
Städten mit vielen Krankenhäusern, aber auch an kleineren Universi- 
täten ist der Nachwuchs sehr stark. Ich glaube, daß dieser letztere 
Umstand allein schon ausreicht, um die Hinausschiebung des Alters 
bei den medizinischen Professoren zu erklären. Gerade umgekehrt liegt 


1) Die Zahlen in Klammern bedeuten die Rangordnung nach dem Alter von 1890, 
Wie man sieht, hat sieh bei einigen bezüglich ihrer Stellung ein Wechsel vollzogen: 
Breslau ist aus der oberen in die untere. Reihe gerückt ; ebenso Tübingen, Göttingen, 
Würzburg — ihr Durchschnittsalter hat sich also verjüngt. Umgekehrt sind Königsberg, 
Halle, Jena, Graz in die obere Reihe gelangt — ihr Durchschnitt hat sich also erhöht. 


Miszellen. 71 


die Sache bei den Juristen: hier ist der Nachwuchs an Extraordinarien 
und Privatdozenten sehr gering, so daß es sich einfach erklärt, wenn 
ihr Ernennungsalter heute am niedrigsten ist und ihre Gesamtheit den 
Durchschnitt weit hinter sich läßt 1). 


1) Die absoluten Zahlen für die Fakultäten der einzelnen Universi- 
täten (Tabelle I) werden allerdings etwas klein, so daß hier bereits ein 
einzelner Professor zuweilen das Durchschnittsalter wesentlich verändern, 
ein abnorm alter es herauf-, ein sehr junger es herabsetzen kann. 
Darum begnügen wir uns mit wenigen Bemerkungen. Zunächst die 
theologische Fakultät.  Laspeyres hatte ihr Durchschnittsalter 
am höchsten gefunden, nämlich zu 55 Jahren; dasselbe war auch noch 
1890 der Fall, während sie gegenwärtig von den Medizinern übertroffen 
werden. Immerhin muß ein Durchschnittsalter von 54 Jahren recht 
hoch erscheinen. 

Verfolgt man die einzelnen Universitäten, so finden wir hier 
— anders wie bei der Gesamtheit — die stärkeren theologischen 
Fakultäten öfter unter den „jüngeren“, so daß sogar die Gesamt- 
frequenz der letzteren größer ist als die der „älteren“. Nur bei 3 Uni- 
versitáten blieb das Durchschnittsalter unter 50 Jahre (Marburg, Kiel, 
Gießen), während 4mal der Durchschnitt sogar über 60 Jahre hinaus- 
geht (Jena, Rostock, München, Leipzig) Der Unterschied zwischen dem 
Maximum und Minimum der ersten und letzten Universität beträgt 
18,7 Jahre, ebensoviel wie vor 10 Jahren zwischen den damaligen 
Extremen Breslau und Gießen. 


2) Es war bereits gesagt, daß die juristische Fakultät im 
Durchschnitt die jüngste ist: allerdings war das nicht überall der Fall, 
sondern zur Hälfte haben andere Fakultäten ein jüngeres Durchschnitts- 
alter. Aber immerhin zeigt keine andere so oft ein relativ so niedriges 
Alter als die Juristen. (Die Theologen und Philosophen sind nur je 
ömal, die Philosophen nur 3mal die jüngsten.) Als Ursache für diese 
Erscheinung glaubten wir den verhältnismäßig geringen Nachwuchs unter 
den Juristen angeben zu sollen, der es ermöglicht, ein Ordinariat schon 
in jüngeren Jahren zu erreichen. 

Ueber 60 Jahre war im Durchschnitt überhaupt keine Fakultät 
mehr alt, die älteste zählte nur 59 Jahre. Unter 50 Jahre hatten da- 
gegen 12 Fakultäten; darunter sogar eine (Gießen) mit durchschnittlich 
nur 39 Jahren! Der Unterschied zwischen den beiden Extremen betrug 
danach 20 Jahre, gegenüber 22 Jahren im.Wintersemester 1890. Auch 
bei den Juristen war übrigens die Mehrzahl der Fakultäten im Durch- 
schnitt älter geworden, nur 7 hatten sich verjüngt (Erlangen, Freiburg, 


1) Bezüglich der. Staatsangehórigkeit treten allerdings noch einige bemerkenswerte 
Unterschiede auf. Preußen hat nur in der juristischen und philosophischen Fakultät die 
ältesten Lehrkörper; in der Theologie zeigt vielmehr die Schweiz, unter den Medizinern 
das übrige Deutschland das höchste Durchschnittsalter. Die theologischen Professoren 


sind sogar durchschnittlich in Preußen am jüngsten, die juristischen und medizinischen 
in Oesterreich und nur die philosophischen in der Schweiz, wo doch der Gesamtdurch- 
schnitt sich am niedrigsten herausstellte. 


72 Miszellen. 


Königsberg, Leipzig, München, Tübingen, Innsbruck und Zürich). Aber 
auch hier zeigt sich wiederum, daß die größeren Fakultäten dieälteren 
Professoren haben. In Berlin und Wien allein studieren zusammen schon 
über ein Drittel und mit München und Leipzig weit über die Hälfte 
aller Jurabeflissenen. Es verdient übrigens hervorgehoben zu werden, 
daß die schweizerischen Universitäten verhältnismäßig alte juristische 
Professoren aufweisen, 


3) Wir hatten bereits gesagt, warum bei der medizinischen 
Fakultät sich heute das höchste Alter zeigt und warum der Durch- 
schnitt im ganzen sich so erheblich gegen früher hinausgeschoben hat: 
vor allem hat die Konkurrenz unter den Auszulesenden stark zuge- 
nommen und darum die Wartezeit verlängert. Nur an 5 Universitäten 
sind die medizinischen Professoren im Durchschnitt jünger geworden 
(Breslau, Göttingen, Greifswald, Halle und München), während sonst 
zum Teil eine beträchtliche Erhöhung des Alters stattgefunden hat. 

Bei den Medizinern tritt der Zusammenhang zwischen Professoren- 
alter und Fakultätsfrequenz ebenfalls deutlich zutage: Es hätten näm- 
lich die „oberen“ Universitäten im Verhältnis zu den „unteren“ 219 : 100 
Studenten. Ueber 60 Jahre ist das Professorenalter im Durchschnitt 
an 2 Universitäten (Berlin und Bonn), unter 50 Jahre ebenfalls an 2 
(Greifswald und Innsbruck). Uebrigens gehören auch gerade bei den 
Medizinern noch einige „Außerordentliche“ zu dem vollkommenen Lehr- 
körper, so daß hier die offizielle Trenuung im Grunde am wenigsten 
stichhaltig ist. Daher kommt es wohl, daß die Zahl der Ordinarien 
sich nur ganz unerheblich vermehrt hat, nämlich nur um 7,4 Proz. 
trotz der großen Spezialisierung der Fächer, die gerade hier ein- 
getreten ist. 


4) Dagegen hat in der philosophischen Fakultät die Zahl 
der Ordinarien ziemlich beträchtlich zugenommen, nämlich um 11,4 Proz. 
Sie fallen numerisch am bedeutendsten ins Gewicht und bestimmen 
letzthin das Gesamtmittel. Ihnen ist es vor alleın zu verdanken, daß 
das Durchschnittsalter sich um 2 Jahre hinausgeschoben hat. Denn 
nur bei 4 Universitäten (Breslau, Leipzig, Würzburg und Prag) ist eine 
Verringerung zu bemerken: dagegen ist anderwärts die Zunahme eine 
sehr erhebliche gewesen. Wenn davon aber die größten Universitäten 
nur wenig betrotten sind (Berlin, München, Wien) oder sogar einen 
Rückgang auiweisen (Leipzig), so liegt das wohl daran, daß gerade in 
der philosophischen Fakultät eine größere Anzahl von neuen Profes- 
suren eingerichtet sind, die mit jüngeren Kräften besetzt sind. 

Leider hat sich bisher eine Scheidung in mathematisch-natur- 
wissenschaftliche und philosophisch-historische Fächer nicht vornehmen 
lassen, obwohl sie für unsere Frage von Bedeutung gewesen wäre, 
Auch so ist bemerkenswert, daß nur 11 Fakultäten über, dagegen 18 
unter dem Gesamtmittel bleiben. Trotzdem ist das Verhältnis der 
Frequenz in den beiden Reihen wie 194: 100, so daß also gerade die 
größeren philosophischen Fakultäten auch den älteren Lehrkörper haben. 
Ueber 60 Jahre sind im Durchschnitt die Professoren nur in Königsberg 


Miszellen. 173 


gewesen; unter 50 Jahren immerhin in 8 (die drei schweizerischen: 
Basel, Bern, Zürich; die beiden österreichischen: Innsbruck und Czerno- 
witz; und die drei deutschen: Gießen, Erlangen und Würzburg). Es 
ist jedenfalls nicht zufällig, daß darunter 5 nichtreichsdeutsche Univer- 
sitäten sich befinden. Die schweizerischen Hochschulen vor allem 
werden vielfach von deutschen Professoren als Zwischenstaffel betrachtet; 
sie nehmen in jungen Jahren die Professur an und kehren dann später oft 
nach Deutschland zurück. In der Schweiz selbst wird dieser Umstand, 
der ja zum guten Teil mit den geringeren dortigen Besoldungsverhält- 
nissen zusammenhängt, unliebsam empfunden. Die schweizerischen philo- 
sophischen Fakultäten teilen aber hierin nur das Schicksal der anderen 
kleinen Universitäten überhaupt. 


5) Es ist bereits hervorgehoben, daß die Trennung der Professoren 
in ordentliche und außerordentliche im Grunde vielfach eine willkürliche 
und zufällige ist. Namentlich die „Extraordinarien mit Lehrauftrag“ 
unterscheiden sich nur formal von den Ordinarien, indem ihr Grund- 
gehalt geringer und ihre akademischen Rechte kleiner sind. Aber es 
gibt Fächer, die hinreichend wichtig und doch an einigen Universitäten 
nur durch einen Extraordinarius besetzt sind, wie z. B. Geographie, 
neuere Literaturgeschichte, aber auch theoretische Physik, Kinder- 
krankheiten u. s. f. Es hängt das zum Teil von der Neuheit des Faches, 
der örtlichen Wichtigkeit des Gegenstandes, der Tradition der betr. 
Hochschule, den verfügbaren Mitteln für Einrichtung eines Institutes und 
ähnlichen mehr zufälligen Momenten ab und wechselt an den verschiedenen 
Universitäten. Auch verwischt die Einrichtung von persönlichen Pro- 
fessuren den inneren Unterschied fast völlig. Es würde sich also 
rechtfertigen, wenigstens einen Teil der Extraordinarien, soweit sie 
nämlich einen Lehrauftrag haben, mit in den Kreis unserer Be- 
trachtungen zu ziehen, um ein Bild des ganzen amtlichen akademischen 
Lehrkörpers zu gewinnen. Es mußte aber aus äußeren Schwierigkeiten 
davon Abstand genommen werden. Betrachten wir daher endlich die 
Universitäten daraufhin, welche von ihnen in den einzelnen Fakultäten 
ein über- (+) und welche ein unter- (—) durchschnittliches Alter auf- 
weisen, so zeigt sich die folgende Gruppierung: 

(Siche Tabelle auf S. 74.) 


Danach haben an 4 Universitäten alle Fakultäten ein überdurch- 
schnittliches Alter der Ordinarien: Berlin, Königsberg, München, 
Leipzig. Es sind zunächst die drei größten deutschen Hochschulen, die als 
ein tatsächlicher Abschluß der akademischen Beförderung gelten können, 
und dann die eine östliche, bei der ein Wechsel und eine Ersetzung 
der Ordinariate offenbar nur langsam vor sich geht. Das sind mithin 
die wirklich „alten“ Universitäten. 1875/76 fand Laspeyres (S. 20) 
dasselbe Resultat für Göttingen, Berlin und Leipzig. An sechs weiteren 
Hochschulen sind jetzt immerhin bei 3 Fakultäten die Professoren von 
überdurehschnittlichem Alter; und zwar bleibt in Bonn, Heidelberg, 
Wien und Strafburg nur die theologische, in Jena die philosophische und 
in Graz die medizinische Fakultät zurück. — Bei 5 Universitäten stehen 


74 Miszellen. 


Obere Reihe Untere Reihe 
bac , 8 Si n z 
sel.5l4528 88:8 8542 
EIERE  EIEFIEEIER: 
1. Berlin (2) ++ | + + 13. Tübingen (9) pts, le = 
2. Königsberg (15) | + + + + 14. Bern (4) + — | + 
3. Münster (6) + 0 0 + 15. Kiel (15) -— — + — 
4. München (4) + + + + 16. Breslau (3) = | #4 |= | — 
5. Bonn (7) — |+ | + ' 17. Göttingen (20) | + | + | — | — 
6. Jena (20) + + + — 18. Basel (21) — + = | — 
7. Leipzig (3) + + + | + 119. Prag (22) + qe 
8. Heidelberg (11) | — | + | + | + [29% Greifswald (2) | + | — | — | — 
9. Halle (44) + 1— | — | + |21. Rostock (24) L Zn 
10. Wien (9) — + + + 122. Marburg (26) — | — = 
11. Straßburg (13) | — | + + + |23. Freiburg (23) + — + — 
12. Graz (17) + | + | — | + [24 Zürich (22 + pa p | 2e 
25. Würzburg (12) I — | — | + | — 
26. Innsbruck (16) | — | — | — | — 
27. Erlangen (27) | | = | — 
98. Czernowitz (25) | — | — 0 ke 
29. Gießen (29) sl le 


dagegen sämtliche Mittel unter ihrem Durchschnitt: Tübingen, Marburg, 
Innsbruck, Erlangen und Gießen. Es sind zum Teil die kleinsten Hoch- 
schulen, zum Teil auch solche, bei denen ein Wechsel besonders häufig 
eintritt: wir dürfen sie als die eigentlich „jungen“ bezeichnen }). 
Die Wichtigkeit der einzelnen Fakultäten ist eben verschieden und es 
scheint sich eine gewisse leichtere Arbeitsteilung auch innerhalb der 
Universitäten vollzogen zu haben. 


III. Die einzelnen Altersklassen. Das Durchschnittsalter 
besagt über die wirkliche Alterszusammensetzung nur sehr wenig: es 
kann namentlich, soweit die einzelnen Fakultäten in Betracht kommen, aus 
ganz heterogenen Elementen sich zusammensetzen. Es ist darum not- 
wendig, auch den Altersaufbau der Professoren überhaupt kennen zu 
lernen. Diese Arbeit ließ sich mit Hilfe der Methode der Zählblättchen 
an unserem Materiale unschwer vornehmen und ist von den Seminar- 
mitgliedern ebenfalls ausgeführt worden: das ist in Tabelle II für den 
1. Oktober 1901 und teilweise auch für den gleichen Termin 1890 ge- 
schehen. Es wird allerdings kaum angängig sein, hier sehr weit teilen 
zu wollen, da sonst die Zahlen zu klein werden. Wir werden uns damit 
begnügen, einmal die Fakultäten in ihrer Gesamtheit und sodann die 
einzelnen Universitäten als Einheiten zu behandeln, lassen aber die 
weiteren Einzelheiten hier unberücksichtigt. Folgende Uebersicht ergibt 
sich dabei: 


1) 1875 gehörte zu den letzteren außer Czernowitz noch Prag, Innsbruck und 
Straßburg, das damals erst neu gegründet war.  Uebrigens liegen in Czernowitz die 
Dinge darum besonders, weil hier überhaupt die Lehrbefugnis nur 35 Jahre be- 
tragen kann. 


Miszellen. 75 


Von je 100 Professoren standen in einem Alter von 


am 1. Oktober 1890 | am 1. Oktober 1901 

Jahren | Theo- | Ju- | Medi- | Philo-| Ge | Theo- | Ju- |Medi- | Philo-| Ge 

logen | risten | ziner |sophen| fus logen | risten | ziner |sophen jou 
unter 30 — 1,9 — 0,2 0,4 — 0,9 — — 0,1 
31—35 3,3 6,6 0,7 3,9 3,6 0,5 4,9 1,0 1,1 1,6 
36—40 12,0 | 13,3 | 10,6 | 12,8 | 12,2 9,0 | 11,9 5,4 9,0 8,7 
41—45 16,3 11,4 18,2 16,9 16,2 13,4 14,6 10,8 16,1 14,4 
46—50 12,5 | 13,3 | 21,5 | 19,5 | 18,0 | 17,9 17,8 | 19,3 | 17,4 | 17,9 
51—55 20,1 18,5 14,9 17,1 17,3 20,4 12,8 | 22,1 I7j1 18,3 
56—60 12,5 | 14,2 | 16,8 9,5 | 12,2 9,9 12,8 | 12,9 | 15,6 | 13,8 
61—65 8,2 ,5 8,8 8,9 87 | 15,9 | 13,7 | 12,3 | 13,4 | 13,6 
66—70 9 | 4,7 | 4,1 5,2 | 5,5 | 80 | 6,6 | 11,2 | 6,2 | 7,6 
11—75 2,7 7,6 2,9 3,9 4,1 3,0 3,6 2,4 2,1 2,5 
16—80 2,7 — 1,1 1,5 1,3 2,0 | — 1,4 1,4 1,3 
81—85 0,5 — 0,4 Ou 0,5 — 0,4 0,6 —- 0,2 


Es zeigt sich, daß am 1. Oktober 1901 unter 30 Jahren überhaupt 
nu noch 2 ordentliche Professoren (je 1 Jurist in Tübingen und Bern) 
waren, während es 1890 doch immerhin noch 5 gewesen. Rechnet man 
die jüngeren Altersklassen bis 45, die mittleren zu 46—60, die höheren 
zu 60—70 Jahren: so entfallen im ganzen 1/, (25 Proz.) auf die 
jüngeren, die Hälfte (50 Proz.) auf die mittleren und !/, (21 Proz.) 
auf die höheren Altersklassen. Ueber 70 Jahre waren im ganzen nur 
57 lesende Professoren, d. s. 4 Proz., wobei allerdings zu berücksichtigen 
bleibt, daß in Oesterreich mit 70 Jahren zwangsweise die Pensionierung 
erfolgt. — Unter 40 Jahre befanden sich der zehnte Teil (10,4 Proz.), 
über 60 der vierte (25,2 Proz.), während Laspeyres für 1875/76 (S. 29) 
beide Gruppen wesentlich stärker besetzt gefunden hatte (nämlich zu 
19 bez. 30 Proz.). 

Von der obigen Alterszusammensetzung zeigen allerdings die ein- 
zelnen Fakultäten manche charakteristische Abweichungen, auf die bereits 
vorher bei der Untersuchung des Durchschnittsalters geschlossen werden 
konnte In der theologischen Fakultät sind die höheren Alters- 
klassen stärker besetzt; bei den Medizinern die jüngeren ganz erheblich 
schwächer (nur 17 Proz. unter 45 Jahren), hingegen bei den Juristen 
gerade wiederum die jüngeren sehr stark (32 Proz.) und die mittleren 
sehr schwach (44 Proz. gegen 55 Proz. der Mediziner): die Juristen 
und Mediziner bilden auch hier die Extreme. Und es bestätigt sich 
also, daß die Juristen gegenwärtig früh in ein Ordinariat gelangen, 
die Mediziner dagegen verhältnismäßig sehr spät. Entsprechend ist 
auch bei den Juristen das Jahrfünft von 46—50 relativ am stärksten 
besetzt; bei den 3 anderen Fakultäten und der Gesamtheit fällt das 
Maximum erst zwischen 51—55 Jahre. Es ist ja auch verständlich, 
dal um den „Zentralwert“ sich die stürkste Besetzung der Altersklassen 
gruppieren muß. Das höhere Durchschnittsalter der Mediziner kommt 
also wesentlich durch die schwache Besetzung der jüngeren und dem- 
entsprechend starke Besetzung der mittleren Altersklassen zu stande, 


76 Miszellen. 


aber nicht etwa durch einen besonders großen Anteil, den die Ueber- 
70-jährigen ausmachen! Diese letzteren sind in der theologischen Fa- 
kultät am zahlreichsten (5 Proz.) und in der philosophischen am ge- 
ringsten (3,5 Proz.) vertreten. Und es ist zu beachten, daß durchaus 
ein Parallelismus zwischen den Ueber-7O-jährigen und denen zwischen 
60—70 besteht: 
Theologen Juristen Mediziner Philosophen Gesamtheit 

60 — 70-jährige 23,9 20,3 23,5 19,6 21,2 

Ueber-70 „n 5,0 4,0 4,4 3,5 4,0 
Es bleibt zu untersuchen, ob tatsächlich verschiedene Lebens- 
verhältnisse vorliegen oder ob etwa die höheren bezw. geringeren Ein- 
nahmen von Einfluß darauf sind, in welchem Alter die Pensionierung 
nachgesucht wird; auffällig bleibt die unterdurchschnittliche Besetzung 
der oberen Altersklassen‘ bei den Philosophen. 


b) Ein Vergleich mit anderen Bernfen scheint wenig ertragreich 
und würde nur die ganz abweichenden Verhältnisse der ordentlichen 
Universitätsprofessoren, die sich mit anderen akademischen Beamten 
wegen der Besonderheit des Zuganges und der Rekrutierung gar nicht 
vergleichen lassen, von neuem ergeben. Ihre Alterspyramide zeigt eine 
ganz abnorme Form, die sich eben aus der besonderen Art ihrer Aus- 
lese erklärt. 

Gegenüber dem Jahre 1890 sind freilich beträchtliche Verschiebungen 
in der Alterszusammensetzung eingetreten. Wir hatten ja schon vor- 
dem gefunden, daß das Durchschnittsalter sich gegen früher um 2 Jahre 
hinausgeschoben hat. Jetzt sehen wir auch, woher das kommt. Die 
jungen Altersklassen waren damals ganz ungleich stärker besetzt als 
heute (32,4 Proz. gegen 24,5 Proz. unter 45 Jahren) und dementsprechend 
die Mitte und das hohe Alter schwächer: besonders die alten Jahres- 
klassen zwischen 60—70 waren wesentlich geringer vertreten (14,2 Proz. 
gegen 21,2 Proz.) Das Maximum entfiel daher auch entsprechend schon 
auf das Jahrfünft 46—50, während es sich jetzt auf das nächste ver- 
schoben hat. Aber andererseits ist es sehr zu beachten, daß die Ueber- 
70-jährigen damals einen weit größeren Anteil ausge- 
macht als heute: also kann nicht etwa deren stärkere Vertretung 
die Erhöhung des Gesamtdurchschnittes erklären (76 Personen bezw. 
6 Proz. gegen 57 Personen bezw. 4 Proz.! Wir kennen einstweilen 
die Sterblichkeitsverhältnisse nicht, um die Sache ganz einwandsfrei zu 
erklären. Da aber kaum anzunehmen ist, daß die Professoren jetzt ın 
diesem Punkte ungünstiger dastehen werden, so scheint nur die Er- 
klärung möglich, daß die Neigung, sich pensionieren zu lassen oder die 
Vorlesungstätigkeit früher einzustellen, entsprechend größer geworden 
ist. Man kann vermuten, daß dies mit der Verbesserung der Gehalts- 
verhältnisse zusammenhängt. Denn eine durchgängige Verjüngung des 
Lehrkörpers hat sonst eben nicht Platz gegriffen, sondern ganz das 
Gegenteil. Von den einzelnen Fakultäten zeigt besonders die medizinische 
einen wesentlich veränderten Altersaufbau, indem die jüngeren Alters- 
klassen 1890 ganz ungleich stärker besetzt waren (29,5 Proz. gegen 


Miszellen, 77 


172 Proz.!) Wir haben ja oben die Gründe auseinandergesetzt, die 
dies bewirkt haben können und die vor allem in der größeren Kon- 
kurrenz der Anwärter zu suchen sind. 

Das Gesamtergebnis ist demnach: wesentliche Hinausschiebung 
des Ernennungsalters, dadurch Verlegung des Maximums vom Ende der 
40er auf den Anfang der bOer Jahre; entsprechend jetzt stärkere Be- 
setzung der mittleren und höheren Altersklassen auf Kosten der jüngeren 
und der Ueber-70-jührigen. Die Zusammensetzung der medizinischen 
Fakultät hat sich am meisten geändert. Aber auch die übrigen Fakul- 
täten haben doch in diesen 11 Jahren schon ein wesentlich anderes 
Aussehen erhalten, wie vordem gezeigt ist. 

c) Es lohnt sich aber, noch einen Blick auf die älteren Jahrgänge 
über 60 Jahre zu werfen. Ihre Gesamtzahl beträgt 359, die sich so 
verteilen, daß 194 zwischen 61—65, 108 zwischen 66—70 und 57 über 
70 Jahre alt sind. Am zahlreichsten sind diese hohen Altersklassen 
vertreten in München (27 von 67), Bonn (24 von 63), Berlin (35 von 87) 
und Heidelberg (16 von 42); am geringsten in Gießen (4 von 41), 
Innsbruck (4 von 50) und Erlangen (3 von 31). Die Ueber-70-jährigen 
fehlen gänzlich in Oesterreich wegen der dortigen Pensionierungs- 
bestimmungen; an den reichsdeutschen Universitäten nur in Erlangen, 
Göttingen, Marburg, Straßburg, außerdem in Basel. In Berlin lehren 
noch 8, in München 7, in Bonn 5 Professoren über 70 Jahre. Aber es 
kann gar kein Zweifel sein, daß gerade diese höchsten Altersklassen 
gegen früher auch absolut erheblich abgenommen haben. Denn 1890 
betrug die Zahl dieser lesenden Greise noch 78 (Berlin 11, Breslau 8, 
Leipzig 7, Zürich 7, München 6, Göttingen 5). Die Angaben bei 
Laspeyres sind nicht ganz vergleichbar. Er fand (S. 30) für 1875/76 
in ganzen 117 Ordinarii über 70 Jahre, von denen aber 22 nicht mehr 
lasen oder pensioniert waren: der Anteil nach deren Abzug würde dem- 
nach 9 Proz. ausmachen gegen nur 4 Proz. in der Gegenwart. 

Betrachten wir endlich noch die nichtlesenden Professoren, so 
betrug deren Zahl an den 24 deutschen und schweizerischen Universitäten 
zusammen 61, das sind 5 Proz. aller Ordinarien überhaupt. Es sind 
natürlich vor allem solche Professoren, die sich wegen ihres Alters haben 
pensionieren lassen; nur wenige waren aus anderen Gründen vorzeitig 
beurlaubt oder konnten sonst nicht lesen. Das Durchschnittsalter dieser 
„Nichtlesenden“ war natürlich ungleich höher, nämlich zu 72 Jahren. 
Wesentliche Unterschiede mit 1890 sind nicht zu bemerken gewesen. 

Mit dem letzten Punkte hängt die strittige Frage der Pensionierung 
der Universitätsprofessoren überhaupt zusammen. Sie unterscheiden 
sich ja darin von allen anderen Beamten, daß es bei ihnen keine eigent- 
liche Pensionierung, sondern nur „Entbindung von der Vorlesungspflicht“ 
gibt. Nur in Oesterreich ist eine Altersgrenze von 70 Jahren für die 
Verwaltung der Professur vorgesehen. Diese gesetzliche Festlegung 
der Altersgrenze wird von Paulsen (Die deutschen Universitäten 
und das Universitätsstudium. S. 97) ebenfalls „als die angemessenste 

Auskunft“ befürwortet, da im ganzen angenommen werden dürfe, daß 
bei diesem Alter Kraft und Trieb zur Ausübung der akademischen 


18 Miszellen. 


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Tabelle II. Die ordentlichen Professoren nach Altersklassen am 1. Oktober 1901 (bezw. 1890). 


19 


Miszellen. 


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80 Miszellen. j 


Lehrtätigkeit erschöpft oder nicht mehr weit von der Grenze der Er- 
schöpfung seien. Und es sei besser diese Grenze allgemein zu regeln, 
als dem Einzelnen das Urteil über den Zeitpunkt zu überlassen. Man 
wird aber hier unterscheiden müssen: einmal das Recht des Professors 
eventuell die Vorlesungstätigkeit einstellen zu dürfen und andererseits die 
Pflicht das Lehramt aufzugeben. Es möchte an sich zweckmäßig sein, 
den Professor hier mit anderen Beamten gleichzustellen, d. h. mit 
65 Jahren ihm das Recht zu geben, in den Ruhestand zu treten; damit 
würde dem Staate die Nötigung auferlegt, eventuell von diesem Zeitpunkt 
an für einen Ersatz zu sorgen. Das Ruhegehalt würde sich dann eben- 
falls nach den Bestimmungen der Beamtenbesoldung richten müssen. 
Andererseits wird es aber die Pflicht des Universitätslehrers sein 
müssen, mit 70 Jahren das Lehramt aufzugeben: damit würde für den 
Staat die Nötigung eintreten, unter allen Umständen die Professur neu 
zu besetzen. Dafür wäre dem Professor das volle Gehalt zu gewähren, 
Daneben muß es ihm gestattet werden, wenn Kraft und Neigung es zu- 
lassen, die Vorlesungstätigkeit weiter fortzusetzen und nach Belieben zu 
lesen. Nur ist er dann nicht mehr der amtlich Beauftragte, sondern liest 
mehr Kraft seines Namens und seines Rufes. Damit ist sowohl den 
Interessen der Studierenden als auch des Lehrkörpers wie der Pro- 
fessoren gedient. Dieser Vorschlag war bereits von Laspeyres gemacht 
worden und deckt sich wohl auch mit der Anschauung von Paulsen. 
Er möchte darum auch jetzt noch der zweckmäligste sein. 


Literatur. 81 


Nachdruck verboten. 


Literatur. 


I. 


Zur ältesten Wirtschafts- und Sozialgeschichte Bóhmens. 
Von Felix Rachfahl, 


Die älteste Wirtschafts- und Sozialgeschichte Böhmens ist in der 
jüngsten Zeit in Böhmen selbst mehrfach der Gegenstand eingehender 
Untersuchung gewesen. In seiner Geschichte Böhmens hat ihr Bach- 
mann, ein gründlicher Kenner dieser Materie, mehrere ausführliche 
Kapitel gewidmet!); im Anschlusse daran hat Werunsky einen sehr 
lesenswerten Essai publiziert?) Schon vorher hatte über dasselbe Thema 
Lippert in einem besonderen zweibändigen Werke gehandelt, das freilich 
in wichtigen Punkten zu kritischem Widerspruche herausforderte 3). 
Nunmehr ist diese Litteratur durch eine aus der Feder des Prager 
Juristen Schreuer stammende gróflere Abhandlung über die Verfassungs- 
geschichte der böhmischen Urzeit bereichert worden 4). 

Es ist der Zweck der Schrift Schreuers, die in der Chronik des 
Prager Domkapitulars Kosmas wiedergegebene böhmische Stammessage 
daraufhin zu untersuchen, ob sich aus ihr eine positive Kenntnis be- 
treffend die ältesten Verfassungseinrichtungen des tschechischen Volkes 
gewinnen läßt. Auf die Erforschung der Zustände hat somit der Autor 
seinen Blick in erster Reihe gerichtet, und wir können diesem Stand- 
punkte unsere Billigung nicht versagen; denn wenn sich aus der Sagen- 
überlieferung ein gewisser historischer Kern herausschälen läßt, dann 
noch immer eher hinsichtlich der Zustände wie der Personen. Selbst 
in dieser Beschränkung ist die Aufgabe freilich noch schwierig genug. 
Um methodisch vorzugehen, darf man zunächst offenbar nur solche Züge 
der Sage gelten lassen, für deren dereinstige Existenz noch andere 
Momente sprechen: beglaubigte Nachrichten aus schriftlichen Quellen; 
Reste jener alten Verhältnisse, die sich bis in spätere Zeiten erhalten 


1) Adolf Bachmann, Gesch. Böhmens. Erster Band. Gotha 1899. 

2) Emil Werunsky, Böhmens sozialpolitische Entwickelung in vorhussitischer 
Zeit. Neue Jahrb. f. d. klass. Altertum, Gesch. u.s. w., 1901, I, S. 433 ff. 

3) Julius Lippert, Sozialgeschichte Bóhmens. Bd. I: Die slavische Zeit, 1896 
(vergl. meine Rezension in der Historischen Zeitschrift, Bd. 78, S. 141 ff.); Bd. II: Der 
soziale Einfluß der christlich-kirchlichen Organisationen und der deutschen Kolonisation, 
1898 (vergl. ebenda, Bd. 83, S. 510 ff.). 

4) Untersuchungen zur Verfassungsgeschichte der böhmischen Sagenzeit. Von 
Hans Schreuer, Professor an der deutschen Universität Prag. Leipzig, Verlag von 
Duncker und Humblot, 1902. 8°. XXII + 108. A. u. d. T.: Staats- und sozialwissen- 
schaftliche Forschungen, herausgegeben von Gustav Schmoller, Bd. 22, Heft 4. 

Dritte Folge Bd, XXV (LXXX). 6 


82 Literatur. 


haben; Analogien, die sich bei Völkern auf gleicher Entwickelungs- 
stufe, insbesondere bei solchen von naher Verwandtschaft, finden lassen. 
Allen anderen Bestandteilen der Sage wird man mit der größten 
Vorsicht und Kritik begegnen müssen und sie zum mindesten nur 
insofern annehmen dürfen, als sie nicht dem widersprechen, was wir 
als tatsächliche und gesicherte Kenntnis der Urzustände betrachten 
dürfen. Dazu kommt noch ein anderer Uebelstand: das in der Sage 
enthaltene Material ist seiner Natur nach unbestimmt und vieldeutig; 
man muß, um überhaupt zu Ergebnissen zu gelangen, viel hinein inter- 
pretieren, und dabei ist die Gefahr nicht ausgeschlossen, daß man des 
Guten zu viel tue. 

Die Schrift Schreuers ist ein dankenswerter Beitrag zum Verständ- 
nisse der böhmischen Ursage und zur Kenntnis der altböhmischen Ver- 
fassungsgeschichte. Es finden sich in ihr viele lehrreiche und treffende 
Bemerkungen und Ausführungen, und das Ganze ist sorgfältig durch- 
dacht und ausgearbeitet. Die Natur des Stoffes bringt es freilich mit 
sich, daß der Autor nicht in allen Punkten auf Zustimmung wird rechnen 
dürfen. Man kann sich des Eindruckes nicht erwehren, daß er in der 
Verwertung der Sage an einigen Stellen zu weit gegangen ist; wir 
werden eben darauf im folgenden noch mehrfach zurückkommen. Um 
auf Grund der Sage zu bestimmten Resultaten zu gelangen, preßt er 
mitunter die Erzählungen und Ausdrücke der Sage allzusehr, so daß 
das Bild, das er gewinnt, wenngleich es im großen und ganzen richtig 
sein mag, doch im einzelnen mit manchen Zügen ausgestattet ist, an 
deren historischer Realität man begründete Zweifel erheben darf. 

Mit einer Kritik und Datierung der Sage beginnt Schreuer seine 
Untersuchungen. Seine Kritik scheint mir, um es von vornherein zu 
bemerken, nicht radikal genug; wir können uns freilich in diesem 
Zusammenhange auf eine nähere Begründung dieses Urteils nicht ein- 
lassen und müssen uns auf die Bemerkung beschränken, daß wir den 
Standpunkt, den Bachmann!) in der Beurteilung der böhmischen Volks- 
sage eingenommen hat, für den richtigen halten. Schreuer protestiert 
dagegen, daß man die Schilderung des Kosmas vom goldenen Zeitalter 
einfach deshalb ad acta lege, weil sie zum großen Teile aus anderen 
Schriftstellern, Regino, Boëtius und Justinus, entlehnt sei. Demgegen- 
über hält Schreuer es nicht für ausgeschlossen, daß trotz seiner Be- 
nutzung dieser Autoren Kosmas „doch wirklich auch eine entsprechende 
Tradition gehabt hat, auf die er sich ja wiederholt beruft“. Indessen 
muß er zugeben: „Im ungünstigsten Falle erscheint aber die Dar- 
stellung vom goldenen Zeitalter als eine Hypothese des Chronisten, die 

. ihre gute Berechtigung bat.“ Nun ist zuzugeben, daß in der in 
Frage stehenden Schilderung des Kosmas sich Züge finden, die er nicht 
aus der Literatur entlehnt hat, sondern die ohne Zweifel aus der Volks- 
überlieferung geschöpft sind. Es handelt sich dabei natürlich um 
Reminiszenzen an die Geschichte der Urzeit; ob aber dazu die Vor- 
stellung vom „goldenen Zeitalter“ selbst gehört, oder ob Kosmas diese 


1) Bachmann, a. a, O. S. 112 ff, 


Literatur. 83 


aus seinen Vorlagen entnommen und damit die Stammessage verflochten 
hat, ist eine Frage, für deren Beantwortung uns jeglicher sicherer 
Anhaltspunkt fehlt. Auf S. 20 spricht Schreuer davon, daß „das goldene 
Zeitalter noch rein slavische Verhältnisse unter awarischem Drucke“ 
gezeigt habe; mir scheint es, als ob der von den Awaren ausgeübte 
Druck die Qualität dieses „goldenen Zeitalters“ mindestens sehr be- 
einträchtigt haben müßte, und relative Friedfertigkeit und „Eigentums- 
loigkeit^ genügen noch nicht, um einer derartigen „Hypothese“ des 
Kosmas, wie die „Existenz“ eines „goldenen Zeitalters“ ist, „ihre gute 
Berechtigung“ zu verleihen. 

Sehr ansprechend ist der Versuch Schreuers (S. 11 ff), mit Hilfe 
der von Kosmas gegebenen Stammtafel, die Boriwoj mit Przemysl ver- 
knüpft, den Inhalt der bóhmischen Stammessage zu datieren. Er kommt 
auf diesem Wege zum Ergebnisse, daß Przemysl, der sagenhafte Gemahl 
der sagenhaften Lubossa und Ahnherr des nach ihm benannten alten 
böhmischen Kónigsgeschlechts, mit dem unter dem Namen Samo be- 
kannten fränkischen Kaufmanne, der ein großes Reich bei den Slaven 
dieser Gegenden gründete, identisch sei. Es ist das eine Vermutung, 
die sehr bestechend erscheint, und zu deren Gunsten eben der Umstand 
spricht, daß Samo der Stifter der ersten umfassenden staatlichen Organi- 
sation in jenen Gebieten ist: denn in der böhmischen Stammessage tritt 
Przemysl als der eigentliche Organisator des staatlichen Lebens und 
der fürstlichen Gewalt (Schreuer, S. 74 und besonders S. 84 f) auf. 
Immerhin glaube ich, und das liegt ja eben an der Eigenart des Stoffes, 
daß der Beweis nicht so zwingend ist, daß das Ergebnis (Samo — 
Przemysl) keinerlei Anfechtungen mehr ausgesetzt wäre. Schreuer führt 
uter anderen (S. 16 f) als Stütze für seine Hypothese an, daß man 
sogar den Namen des Samo aus der Erzählung des Kosmas herauslesen 
köme: denn das slavische Samo bedeute solus, und gerade diese Qualität 
liebe Kosmas bei seinem Przemysl besonders hervorzuheben (I, 6: ,te 
solum nobis in dominum eligimus“; I, 8: jure . . . solus cum sola 
Lobussa dictavit^). Hier preßt Schreuer unzweifelhaft den Wortlaut der 
Quelle, um aus ihr das herauszulesen, was er in ihr finden will. Schon die 
Wendung „solus cum sola Lobussa“ spricht keineswegs dafür, daß Kosmas 
mit dem Worte solus hier den Sinn verbunden hat, den Schreuer ihm zu- 
schreibt. Zu erwägen ist auch, daß Samo ein fränkischer Kaufmann war, 
während der Przemysl der Sage als ein slavischer Bauer geschildert wird; 
dieser Unterschied scheint denn doch nicht gerade für die Identität beider 
Männer zu sprechen. Wir finden bei einer anderen westslavischen 
Völkerschaft, bei den Polen, eine Sage, die, was gerade das in ihr ent- 
haltene spezifisch-bäuerliche Element betrifft, mit der Przemyslsage 
weitgehende Analogien aufweist, nämlich die vom Bauern Piast, der 
gleichfalls als der Stammvater der regierenden Dynastie genannt wird. 
Das erwähnte agrarisch-bäuerliche Element spielt in den Sagen über 
die Entstehung der Dynastien und in dem alten Zeremoniell beim 
Regierungsantritte der Herrscher bei den West- und Südslaven eine so 
wichtige Rolle, daß mir die Przemyslsage doch noch einer anderen 
Deutung bedürftig erscheint, als einer einfachen Reduktion auf die 


6* 


84 Literatur. 


Persönlichkeit Samos, dessen Herrschaftsbereich übrigens auch weit 
umfassender war, als der des Przemysl. Wie die böhmische Stammes- 
sage dazu kommen konnte, aus einem deutschen Kaufmanne einen 
slavischen Bauern zu machen, müßte zum mindesten erklärt werden. 
Wie sehr Schreuer die Angaben der Chronisten in seinem Sinne dreht 
und preßt, dafür noch ein Beispiel aus der Geschichte Samos. Es wird 
(bei Fredegar) erzählt, Samo habe eine Menge slavischer Frauen gehabt; 
darauf begründet Schreuer (S. 47) die Hypothese, daß Samo sein Reich 
durch Heiraten à la Przemysl-Lobussa erweitert habe! 

Ueberhaupt geht Schreuer, anstatt lediglich das rein Zuständliche 
aus dem Sageuinhalte herauszuheben, allzusehr darauf aus, das in ihr 
enthaltene persönliche Element zu retten. Nicht nur bezüglich der 
späteren Gestalten der Sage, wie betreffend Przemysl, Krak, Lubossa, 
vermutet er einen historischen Kern, sondern sogar hinsichtlich der 
Persönlichkeit des mythischen Stammvaters, des Bohemus oder Czech, 
unter dem die Einwanderung erfolgt sein soll. Er meint nämlich, soviel 
gehe aus der Sage mindestens hervor, daß die Einwanderung unter 
einem Führer erfolgt sei; denn das Volk, so führt er aus, würde für 
einen Vorgang dieser Art einen „Hauptakteur“ zu erdichten schwerlich 


die Neigung gehabt haben, wenn diese Neigung „nicht — wenigstens 
ideell — einen historischen Grund hätte, wenn sie nicht auf wirklichen 


Erfahrungen beruhen würde“. Mit solchen Argumenten kann man jede 
sagenhafte Ueberlieferung in die Sphäre beglaubigter historischer Tradition 
rücken: wohl oder übel werden wir uns hier mit einem non ignoramus 
begnügen müssen. 

Die Ansichten Schreuers über die älteste Organisation des böhmischen 
Volkes stimmen im wesentlichen mit denen überein, die ich früher über 
die Urzustände bei den Westslaven im allgemeinen entwickelt habe 1). 
Auch Schreuer nimmt an, daß über der Familie die Sippe, darüber 
wieder der Gau oder Stamm (plewe) und endlich die Völkerschaft 
(civitas) gestanden habe. Er hebt selbst (S. 70, Anm. 6) die hierin 
zwischen ihm und mir herrschende Uebereinstimmung hervor, bemerkt 
jedoch, ich hätte bei der Sippe „unrichtig von einem matriachalen 
Gentilverbande“ gesprochen. In Wahrheit habe ich an der zitierten 
Stelle unter Hinweis auf Leist, Schrader und Delbrück selbst betont, 
daß von einer Existenz matriachaler Organisationsformen schon bei dem 
indogermanischen Urvolk zur Zeit seiner Trennung nicht mehr die Rede 
sein könne. Allerdings habe ich dabei der Meinung Ausdruck gegeben, 
nicht ohne weiteres sei die Möglichkeit von der Hand zu weisen, daß 
die Sippverbände ursprünglich in noch weiter zurückliegender Zeit 
einen derartigen Charakter gehabt haben könnten; weit entfernt jedoch 
bin ich, wie aus dem ganzen Zusammenhange hervorgeht, davon ge- 
wesen, dies etwa gar für die slavischen Sippschaften für die Zeit des 
Eintretens der Slaven in die Geschichte zu behaupten. 

Wenn ich auch, wie bereits erwähnt, mit diesem Kapitel Schreuers 
in den Grundzügen einer und derselben Ansicht bin, so doch nicht 


1) Rachfahl, Die Organisation der Gesamtstaatsverwaltuug Schlesiens vor dem 
30-jährigen Kriege. Leipzig 1894, S. 8. 


es - - 


Literatur. 85 


immer in den Einzelheiten. Bereits in dem Abschnitte über die Familie 
erscheint mir manches problematisch. Der Raub der BoZena durch den 
Herzog Udalrich (S. 37) kann z. B. schwerlich als eine ,Raubehe* in 
des Wortes technischer Bedeutung bezeichnet werden. Es handelt sich 
doch hier nur um einen vereinzelten Fall des Raubes einer Ehefrau, 
nicht aber um Frauenraub im Sinne einer universellen Form der Ehe- 
schließung nach Recht und Sitte. Die relative Selbständigkeit der Frau 
und eine ihr gebührende Unabhängigkeit der Rechtsstellung aus dem 
Umstande zu schließen, daß Lubossa selbst den Gatten wählt und nach 
geschlossener Ehe nicht hinter ihm verschwindet, ist sehr gewagt. Denn 
selbst angenommen, daß gerade diese Momente der Sage historisch be- 
gründet seien, so ist doch noch immer die Frage, ob und inwieweit man 
solche Einzelvorgänge innerhalb der fürstlichen Familie ohne weiteres 
zum Range allgemein beim Volke herrschender Zustände erheben darf. 
Als einen ferneren Beweis für die Selbständigkeit der Frau in der Ur- 
zeit führt Schreuer (S. 41 ff.) die bei Kosmas enthaltene Amazonensage 
an. Ich halte seinen Versuch, „eine Lanze für sie zu brechen“, für 
milglückt. Selbst wenn die Nachrichten über die „Amazonenzustände“ 
bei den Finnen richtig wären, so wäre damit noch kein Analogieschluß 
auf die Existenz gleicher Verhältnisse in Böhmen gegeben, und auch 
hier wieder ist der Umstand, daß Lobussa ihren Gemahl sich selbst 
aussucht, in nicht höherem Grade beweiskräftig, als die vollends in der 
Luft schwebenden Ausführungen Schreuers darüber, daß „erst der 
deutschrechtliche Zug des Przemysl-samonischen Zeitalters ein strammeres 
Männerrecht begründete“. Das sind Phantasien, die jeglicher realen 
Basis ermangeln. 

Sehr gering schätzt Schreuer die sogenannte , Hauskommunion* für 
die alte böhmische Verfassung ein, und zwar mit Recht; eher hat er 
dieser Hypothese, der insbesondere Meitzen zum Opfer gefallen ist, 
noch zu große Zugeständnisse gemacht, so z. B. (S. 77) in der Be- 
merkung über den Fürsten Tyro, der „in friedlichem Anschlusse, viel- 
leicht sogar in Hauskommunion mit dem Tschechenfürsten gelebt habe“. 
Schärferen Widerspruch muß ich gegen Schreuers Auslassungen über 
die Sippe erheben. Gerade hier geht er in der Verwertung der Sage 
viel zu weit. Mit Recht spricht er sich aus für die Identität der 
böhmischen Sippe mit dem südslavischen brastvo; dagegen schließt er 
sich dem Widerspruche gegen die Gleichsetzung des brastvo mit der 
polnischen opole an, indem er dagegen anführt, daß diese, wie schon 
der Name besage, ein lokaler Verband gewesen sei. Nun sind aber 
Lokalverband und Sippverband keinesweg so sehr Gegensätze, wie 
Schreuer annimmt. Die ursprünglich auf dem genealogischen Zusammen- 
hang beruhende deutsche Sippe geht ja auch schließlich, wie man weiß, 
in den räumlichen Verband der vieini über. Wir haben Nachrichten 
über die opole erst aus der Zeit der endgiltigen festen Niederlassung; 
die Sippe ist eben damals bereits zur opole, d. h. zum Verbande der 
eircumsedentes oder vicini, geworden; wird doch in den Urkunden opole 
lateinisch direkt durch das Wort vicinia wiedergegeben. Schon Roepell !) 


1) Roeppell. Geschichte Polens. 1840, I, S. 86. 


86 Literatur. 


hat vermutet, daß die opole ein in die Urzeit hinaufreichender Verband 
sei; wir wüßten auch in der Tat nicht, wo wir in späterer Zeit die 
westslavische Sippe zu suchen hätten, wenn nicht in der opole der 
Polen und in der osada der Böhmen. Die gemeinsame Erlegung des 
Wergeldes ist die Funktion der opole, und dadurch wird ihr Charakter 
als Sippverband außer allen Zweifel gestellt. Erklärt doch Schreuer 
(S. 69) selbst: „Die Gesamtbürgschaft erscheint als verdinglichte Sippen- 
haftung.“ Er ist also im Grunde durchaus unserer Auffassung, oder 
zum mindesten weisen die Konsequenzen seiner eigenen Ausführungen 
darauf hin. 

Aus der bei Kosmas niedergelegten Stammessage läßt sich aller- 
dings die Existenz der Sippe in Böhmen kaum beweisen. Das fühlt 
auch Schreuer. Der Umstand, „daß Kosmas dieses Gebilde für sein 
goldenes Zeitalter überhaupt nicht erwähnt“, verleitet ihn (S. 54) sogar 
zum Urteile, daß für die Sagenzeit die Funktionen der Sippe „bedeutend 
abzuschwächen seien“, und daß „besonders im goldenen Zeitalter die 
Sippenorganisation sehr bröcklig gewesen sein müsse“. Er fügt hinzu: 
„Solche Verhältnisse entsprechen aber auch nach neueren Forschungen 
vollständig dem Zuschnitt des Hirtenlebens, wie es das goldene Zeitalter 
aufweist“, indem er sich dabei auf eine Stelle des Buches von Große 
über die Formen der Familie und der Wirtschaft (S. 132) beruft. Nun 
müssen wir zunächst in Abrede stellen, daß die Böhmen jemals als 
„Hirten“ in dem Sinne zu bezeichnen waren, wie ihn Große bei der 
von Schreuer zitierten Stelle im Auge hat; nach der Großeschen Klassi- 
fikation müßte man sie vielmehr für jene Zeit ais niedere Ackerbauer 
ansehen. Im übrigen beweist das argumentum ex silentio, d. h. das 
Schweigen des Kosmas über diesen Punkt, nicht das Geringste. Wenn 
Kosmas und die Stammessage auch nichts von Sippschaftsverbänden be- 
richten, so geht daraus doch noch nicht hervor, daß solche nicht 
existierten oder nur eine sehr geringe Bedeutung hatten. Auch Schreuer 
nimmt ja z. B. S. 27 an, daß freie Sippschaften gemeinsam Land okku- 
pierten und den Wald ausbrannten, wodurch eine Art genossenschaft- 
licher Feldmark geschatfen worden sei. Also schreibt doch auch er 
schon für die Urzeit, oder um mich seines Ausdruckes zu bedienen, für 
das „goldene Zeitalter“ den Sippen ursprünglich einen markgenossen- 
schaftlichen Charakter zu; da davon in späterer Zeit nichts mehr zu 
merken ist, müßte sich somit den Sippschaftsverband in der folgenden Ent- 
wickelung eher abgeschwächt als verstärkt baben. Und noch andere 
Gründe, die wir hier nicht näher erörtern können, machen diesen Entwicke- 
lungsgang in der Tat wahrscheinlicher, als den umgekehrten. l 

Alle die Stellen, sowohl aus Kosmas als auch anderen Quellen, die 
Schreuer (S. 52 ff.) für die Existenz von Sippschaften in der alt- 
tschechischen Zeit anführt, sind von problematischer Beweiskraft. Es ist 
wohl in den bei Schreuer zitierten Stellen aus Kosmas, Canaparius, 
Monach. Sazaw., sowie aus dem jus Conradi die Rede von parentes, 
generatio, genus, gens, cognatio, proximi heredes; ob diese Ausdrücke 
aber auf die Sippen der eigentlich volksmäligen Organisation zu be- 
ziehen sind, ist mehr als die Fraxe. Es handelt sich, insoweit ich es 
beurteilen kann, in diesen Fällen um Adelsgeschlechter, vorzugsweise 


Literatur. 87 


Geschlechter der alten Gaufürsten, und die haben mit den Sippen, in 
denen das Gros der Bevölkerung zusammengefaßt war, nichts in der 
Weise zu tun, daß sie einfach als Belege für deren Funktionen in der 
historischen Zeit herangezogen werden könnten. Um solche große Adels- 
geschlechter handelt es sich bei den Rivalen der Przemysliden, den 
Slawniks und den Wrschowetzen, ebenso bei der gens Muncia und der 
gons Tepca bei Kosmas I, 42. Von diesen letzten beiden wird gesagt: 
„His urbes et populum ad regendum committas“; man sieht daraus, daß 
diese gentes über den populus hervorragten. Die Witwe Pribizlawa, 
auf deren cognatio Schreuer (S. 54, Anm. 15) hinweist, ist eine adlige 
Grundherrin, und im jus Conradi ist lediglich davon die Rede, daß in 
Ermangelung von Söhnen und Töchtern die hereditas auf die proximi 
heredes übergehen soll, wobei durchaus nicht gesagt ist, daß als solche 
die Sippe zu betrachten ist. Noch unzulässiger ist es, Vorgänge in der 
regierenden Familie als Belege für die Funktionen und Geschichte der 
volksmäligen Sippe heranzuziehen. Das tut Schreuer (S. 55), indem er 
in Hinblicke darauf, daß im 11. Jahrhundert Wladowej von Polen, der 
Sohn der böhmischen Prinzessin Doubrawka, die Herrschaft erlangte, 
davon spricht, daß bei den Böhmen „der prinzipielle agnatische Cha- 
rakter der Sippe mehrfach zurückgetreten sei“. Es bedarf keiner 
uäheren Erörterung, daß derartige Thronfolgestreitigkeiten für das an- 
gebliche Ringen des agnatischen und cognatischen Prinzips in der volks- 
mäligen Sippenordnung nichts beweisen. Wie willkürlich Schreuer in 
dieser Hinsicht vorgeht, erhellt daraus, daß er aus der Sage von der 
Beratung Lobussas mit ihren Schwestern, ehe sie Przemysl zum Gemahle 
erkieste, die Folgerung zieht, daß „auch schon in der Sagenzeit die Sippe 
eine gewichtige Rolle spielte“ ! ! 

Das Kapitel, das sich mit den Wirtschaftsverhältnissen der Urzeit 
beschäftigt, enthält eine Reihe richtiger und beachtenswerter Bemerkungen, 
die das Problem der altböhmischen Wirtschaftsgeschichte zu fördern ge- 
eignet sind. Sehr richtig ist (S. 23) die Negation des Körnerbaues, 
wodurch die Peiskerschen Phantasien einer intensiven Pflugwirtschaft 
in der altböhmischen Zeit in das gebührende Licht gesetzt werden, 
ebenso die Erklärung des tributum pacis (S. 30 ff). Schreuer kommt 
ebenda) zum Ergebnisse (wir halten es allerdings für verfehlt, diesen 
Zustand als eine aus der angeblichen „Viehzüchterzeit“ herstammende 
Entwiekelungsphase zu bezeichnen), es scheine, daß die Gaufürsten und 
an ihrer Spitze das Herrscherhaus „den Grund und Boden... in seiner 
Gesamtheit als ihr Eigentum zu betrachten geneigt waren und daran 
mindestens eine Art Obereigentum zu behaupten wußten“. Es nähert 
sich diese Ansicht dem, was sich über die Verhältnisse des Grund- 
besitzes bei dem zweiten westslavischen Hauptvolke, bei den Polen, 
konstatieren läßt. Hier besaßen die bäuerlichen Volksgenossen ihre 
Grundstücke so, daß als der Eigentümer der Herrscher angesehen werden 
mul, während den Bauern nur eine in dessen Belieben gestellte Nutzung 
gebührte. Sogar die Tendenz zu einer Beschränkung des Besitzes der 
Adligen durch den Herrscher ist (S. 33 ff.) bemerkbar. Das Problem 
der Existenz von Gremeindewäldern, das Schreuer (S. 34 fi.) streift, be- 
darf noch näherer Untersuchung. Ob die Dörfer, deren Namen die 


88 Literatur, 


patronymische Endung ic führt, als „freie Sippdürfer“ zu betrachten 
sind (vgl. z. B. S. 29 und 33), ist doch nicht so sicher. In Polen haben 
die Opolen, d. h. unserer Auffassung zufolge, die Sippschaften nicht je 
in einem Dorfe gesessen, sondern in mehreren Dörfern verteilt; dennoch 
finden wir auch hier Dörfer mit patronymischen Endungen. Es giebt 
sogar Dörfer mit patronymischer Endung des Namens, die nicht, wenn 
der Ausdruck erlaubt ist, auf altem Volkslande lagen, d. h. von Opole = 
Bauern bewohnt, sondern auf herzoglichem Boden durch Rodung seitens 
Unfreier des Herzogs neu angelegt waren; das Heinrichauer Gründungs- 
buch gibt dafür Belege!). Schreuer zieht (a. O.) eine Urkunde aus dem 
13. Jahrhundert heran, die seines Erachtens „deutlich den Uebergang vom 
freien, gesippten Bauern in die Untertänigkeit zeigt“. Es handelt sich 
dabei um eine Urkunde, in der der Abt von Ostrow den Bauern des 
Dorfes Porezic die Genehmigung zu Veräußerung eines Grundstückes 
gibt. Aber daß Porezic ursprünglich ein „freies Sippdorf“ ist, ist 
lediglich eine Annnahme Schreuers auf Grund der patronymischen 
Namensendung, und das scheint mir denn doch noch nicht zur Genüge 
beweiskräftig. Der Abt erteilt seine Zustimmung sicherlich als Grund- 
herr; wie er zu dieser Stellung gelangt ist, bleibe dahingestellt; die 
Notwendigkeit seines Konsenses beweist jedenfalls, daß jene Bauern nicht 
auf freiem Eigen saßen. Ob es ein solches nach Schreuers eigenen Aus- 
führungen seit der Ausbildung der fürstlichen Gewalt wohl überhaupt 
gegeben hat? Die Möglichkeit liegt immerhin vor, daß das Kloster 
die Grundherrschaft über das Dorf entweder eigener kolonisatorischer 
Tätigkeit auf ihm von vornherein gehörigen Terrain oder auch landes- 
herrlicher Schenkung verdankt; eben deshalb ist die betreffende Ur- 
kunde kein sicherer Beweis „für den Uebergang freier, gesippter Bauern 
in die Untertänigkeit“. 

Zum Schlusse noch einige Bemerkungen über einen Punkt, der 
zwar nicht in das Gebiet der ältesten böhmischen Geschichte gehört, 
den wir hier aber deshalb berühren können, weil Schreuer selbst ihn 
heranzieht. Er erklärt, die älteste Organisation der wirtschaftlichen 
Verhältnisse bei den Böhmen weise gewisse Aehnlichkeiten mit denen 
der Germanen zur Zeit Cäsars auf: später stelle sich dagegen eine 
Divergenz ein, da bei den Slaven nicht ein derartiger Fortschritt hin- 
sichtlich der Entwickelung des genossenschaftlichen Prinzipes statt- 
gefunden habe, wie er sich für die Germanen aus dem 26. Kapitel der 
Germania des Tacitus ergebe. Im Zusammenhange damit gibt er (S. 28, 
Anm. 34; vgl. dazu seine früheren Ausführungen in der Zeitschrift der 
Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Bd. 19, Germ. Abt, S. 172 f) 
eine Interpretation dieses Kapitels folgenden Wortlautes: ,1) agri.. ab 
universis . . occupantur, ein Stück Landes wird von der Gesamtheit 
behufs Landwirtschaft in Angriff genommen, also z. B. ausgebrannt. 
2) Daraufhin wird es verteilt, mox secundum dignationem partiuntur. 
3) Auf den verteilten agri erfolgt nun seitens der Losbesitzer das arva 
mutare, so daß immer ein Stück des Loses brach bleibt.“ 


1) Vergl. z. B. daselbst S. 40: Glambo —- Glambowiez. 


Literatur. 89 


Schreuer bemerkt dazu, er gehe bei seiner Stellung zu diesem 
Kapitel aus „von der regelrechten stylistischen Interpretation des Tacitus 
und stimme „in der Hauptsache“ mit den neuerdings veröffentlichten 
Ausführungen Müllenhotfs !) überein“. Beides darf billigerweise be- 
zweifelt werden. Die Schreuersche Interpretation ist keineswegs „sty- 
listisch regelrecht“ und weicht auch von der Müllenhoffs durchaus ab. 
Denn sie läßt in ihrem ersten Teile den Ausdruck in vices, den Müller- 
hoff mit guten Gründen (S. 365) verteidigt, fallen; Schreuer ist vielmehr 
(vergl. Zeitschr. der Sayigny-Stiftung a. a. O. S. 172) geneigt, ab 
universis vicinis oder ab universis vicis zu lesen. Nur unter der Vor- 
aussetzung, daß die Lesart in vices unhaltbar sei, könnte die Auslegung 
Schreuers als „stylistisch regelrecht“ anerkannt werden; diese Voraus- 
setzung aber trifft nicht zu. Wäre schon hier eine Differenz zwischen 
Schreuer und Müllenhoff zu konstatieren, so weiterhin eine zweite in 
der Deutung des ersten Wortes der Stelle: „agri“. Nach Schreuer ist 
unter agri das gesamte für den Ackerbau bestimmte Land zu verstehen, 
nicht aber so nach Müllenhoff: bei ihm bedeutet ager das ganze Land, 
„das unter den Pflug genommen werden könnte“, agri im Eingange 
des Passus aber nur bestimmte Teilstücke des ager, z. B. das Norder-, 
Süder-, Oster- oder Westerfeld; indem Müllenhoff an dem Ausdrucke 
in vices festhält, bezieht er ihn nun auf den innerhalb eines längeren 
Zeitraumes erfolgenden Wechsel zwischen diesen Teilstücken des ager: 
es wird z. B. einige Jahre das Norderfeld unter jährlichem Wechsel der arva, 
d.h. des jeweiligen Pfluglandes, beackert, oder auch vielleicht Norder- und 
Süderfeld zugleich ; wenn der Boden dann erschöpft ist, so wird das Norder- 
feld, falls es allein derart benutzt wurde, daß auf ihm der jährliche Wechsel 
der arva stattfand, mit dem Süderfelde, falls Norder- und Süderfeld 
zugleich in dieser Weise in Gebrauch waren, Norder- und Süderfeld 
nit dem Oster- und Westerfelde vertauscht. „Stylistisch regelrechter“ 
ist unzweifelhaft die Müllenhoffsche Erklärung; sie leidet aber anderer- 
seits daran, daß die Existenz solcher Teilstücke des ager, eines Norder- 
us. w. Feldes, eine sonst quellenmäflig durchaus nicht beweisbare Ver- 
mutung ist; es wird uns zugemutet, ihre Existenz und den angeblich 
auf ihnen sich vollziehenden Wechsel lediglich aus dem Ausdrucke in 
vices herauszulesen: das ist das alte System kunstvoller Interpretation 
und nicht minder kunstvoller Aufeinanderbeziehung der einzelnen Aus- 
drücke des Tacitus, das nur einen Fehler hat, daß man nämlich auf 
diesem Wege niemals zu einem Ergebnisse gelangt, das man als über- 
zeugend, geschweige denn als zwingend betrachten kônnte?). Auch von 


1) Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde, Bd. 4, 1900, S. 363 ff. 

2) In Rücksicht darauf und auf Grund einer eingehenden quellenkritischen Analyse 
der Stelle des Tacitus bin ich (in dieser Zeitschrift, Bd. 74, S. 177 ff.) dazu gelangt, 
dieser den selbständigen Quellenwert abzusprechen und sie als ein Exzerpt aus Cäsars 
Ausführungen über den Ackerbau bei den Germanen zu erklären. Dagegen haben sich 
neuerdings Hübner in seiner Besprechung des neuen Bandes von Müllenhoff (Zeitschr, 
der Savigny-Stiftung für Rechtsgesch. Germ. Abt. 21, S. 251 ff.) und Wittich („Die 
Frage der Freibauern“, ebd., 22, S. 257 Anm. 2) ausgesprochen. Beide begnügen 
sich damit, meine quellenkritische Analyse „nieht überzeugend" zu finden, ohne doch 
den Versuch zu machen, eine bestimmte Lücke oder einen bestimmten Fehler in meiner 


90 Literatur, 


der Schreuerschen Auslegung kann dies nicht gesagt werden, und 
so sind denn seine Bemerkungen über die anfängliche Aehnlichkeit 
und die darauf folgende Abweichung zwischen der germanischen und 
slavischen Wirtschaltsverfassung in der Urzeit mit Vorsicht aufzunehmen. 

Wenngleich wir in einer Reihe von Punkten, zumal was die Ver- 
wertung des Sageninhaltes anbelangt, nicht mit Schreuer übereinstimmen, 
so ist seine Schrift doch unzweifelhaft eine beachtenswerte Vorarbeit 
für eine künftige Darstellung der altböhmischen Verfassungsgeschichte. 
Notwendig ist eine solche jedenfalls; die unerläßliche Vorbedingung 
dafür ist freilich eine vollständige und kritische Ausgabe des alt- 
böhmischen Urkundenschatzes, und ob diese Voraussetzung sobald in 
Erfüllung gehen wird, steht dahin. 


Argumentation zu konstatieren. Hübner verweist weiterhin auf die Ausführungen 
Müllenhoffs (IV, S. 31 ff.), daß im allgemeinen Tacitus eine höhere Glaubwürdigkeit 
verdiene als Cäsar, sowie auf dessen Interpretation von Kapitel 26 der Germania. Nun 
bin ich der Ansicht, die ich hier freilich. nicht näher begründen kann, daß Müllenhoff, 
was sein Allgemeinurteil betrifft, in der Kritik Cäsars zu weit geht und Tacitus über- 
schätzt; aber selbst wenn er darin recht haben sollte, so wäre doch dadureh für die 
spezielle Frage betreffend das 26. Kapitel noch nichts entschieden. Müllenhoffs Dar- 
lezungen über dieses Kapitel können um so weniger als maßgebend für den heutigen 
Stand der Forschung gelten, als sie ihrer zeitlichen Entstehung zufolge schon Jahrzehnte 
zurückliegen, und als Müllenhoff selbst in seinen Ansichten mehrfach geschwankt hat. 
Erklärt doch der Herausgeber Roediger (S. 370), daß die Formulierung des Textes hier 
von ihm herrühre, und daß er dabei „den jüngeren Müllerhoff gegen den älteren in 
Schutz genommen habe“. Daß das betreffende Kapitel Müllenhoffs veraltet ist, dafür 
zeugt die vergleichende Heranzichung (S. 371 f.) der Ansichten Haxthausens über den 
russischen mir und der Trierschen Gehöferschaften. Das vornehmste Argument, das 
Hübner und Wittich gegen mich vorbringen, besteht darin, daß meine Ansicht ein 
Attentat gegen die schriftstellerische Größe des Tacitus bedeute. „Es liegt in soleher 
Auffassung", so sagt Hübner, „ein Mangel an Verständnis für die Größe des Tacitus, 
für seinen schriftstellerischen Rang, der eine richtige Verwendung seiner Nachrichten 
unmöglich macht.“ Und in demselben Sinne äußert Wittich: „Warum sollen wir dem 
Schriftsteller, dem wir ein einzigartiges, in manchen Zügen noch heute zutreffendes Bild 
deutschen Lebens verdanken, gerade in diesem wichtigen Punkte, wo er doch ein im 
ganzen durchaus glaubhaftes Bild giebt [??], gar keinen Glauben schenken?“ — Bei 
solchen Aeußerungen handelt es sich weniger um Argumente, als um Gefühlseindrücke, 
zumal da trotz Müllenhoff das letzte Wort in der ganzen Germaniafrage noch nicht ge- 
sprochen ist. Wittich schließt seine Erörterungen gegen mich mit den Worten: „Meiner 
Ansicht nach werden die Nachrichten des Tacitus über den Ackerbau der Germanen 
trotz der abfälligen Beurteilung Rachfahls nach wie vor die Grundlage und den Aus- 
gangspunkt für alle Untersuchungen bilden.“ Ich kann darauf nur erwidern: Monströs 
und unklar wird der Passus des Tacitus über die germanische Agrarverfassung immer 
bleiben, ob man ihn nun, wie ich, als Lesefrüchte aus Cäsar, oder als originale 
Schilderung ansehen wird, und im letzteren Falle wird „nach wie vor“ jedermann das 
daraus lesen, was ihm behagt. Das beste Beispiel bietet dafür Wittich selbst: liest er 
doch aus eben dieser Stelle, indem er, einen Gegensatz zwischen universi und cultores 
statuierend, jene als Eigentümer resp. Grundherren, diese als grundhörige Zinsleute er- 
klärt, eine Bestätigung seiner grundherrlichen Theorie heraus! Auch in der 4. Auflage 
von Schröders Rechtsgeschichte S. 56, Anm. 4 findet sich gegen meine Auffussung 
zwar ein heftiger Widerspruch unter Berufung auf Tacitus als den „größten Geschichts- 
schreiber Germaniens“ [sie!], aber keine Widerlegung. 


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—— 


D 


Uebersieht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 91 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands 
und des Auslandes. 
1. Geschichte der Wissenschaft. Encyklopädisches. Lehrbücher. Spezielle 
theoretische Untersuchungen. 

Huber, F. C., Deutschland als Industriestaat. Stuttgart 1901. 

Die Handelsvertrags- und Zollpolitiklitteratur der letzten Jahre ist 
bereits außerordentlich stark angeschwollen. Wir haben allein aus den 
Jahren 1900—1902 mehr als 60 Arbeiten bekannterer volkswirtschaft- 
licher Autoren gezählt. Naturgemäß zerfallen diese sämtlichen Schriften 
in drei Hauptkategorien, in die hochschutzzöllnerischen, die antihoch- 
schutzzöllnerischen und die mehr oder weniger in der Mitte liegenden. 
Bezeichnenderweise gibt es nur wenig namhafte Volkswirte, die sich 
offen zu dem Standpunkt völliger Handelsfreiheit und gegen alle Schutz- 
zölle bekennen. Die meisten freihändlerisch gesinnten oder angehauchten 
Volkswirte sind schon zufrieden, wenn der jetzige status quo der Zölle 
erhalten bleibt, die für Brotgetreide den doch immerhin nicht ganz un- 
beträchtlichen Satz von ca. 30 Proz. des Preises erreichen. Das ist 
ein sehr erheblicher Schutz der nationalen Arbeit. Männer, die einen 
Schutzzoll bis zu einem Drittel des Preises der betreffenden Waren zu 
bewilligen geneigt sind, sind denn doch wohl alles andere als „Vater- 
landsfeinde, die die Geschäfte des Auslandes besorgen“, sie sind ja 
eigentlich gar nicht Freihändler im strengen Wortsinne, sondern sie 
legen nur das Hauptgewicht auf die „Selbsthilfe“, im Gegensatz zu dem 
übermäßigen Verlangen nach „Staatshilfe“ — also doch gewiß ein sehr 
gesunder Standpunkt. 

Der Kernpunkt der Frage liegt in letzter Linie in dem Problem 
beschlossen: Ist das Hochschutzzollsystem ein geeignetes 
Rüstzeug für die Zukunft Deutschlands, die bekanntlich 
auf dem Wasser liegen, d. h. in der friedlichen Eroberung der Welt 
durch deutsche Geistes- und industrielle Erzeugnisse bestehen soll? 
Reit sich Industrialisierung und Weltpolitik einerseits und gegen- 
seitige Absperrung durch hohe Schutzzölle andererseits zusammen? 
Oder liegt es etwa gar im wahren Interesse Deutschlands und seiner 
Landwirtschaft, die Industrialisierung aufzuhalten, ist es besser, vom 
Industriestaat wieder zum Agrarstaat zurückzukehren ? 

Das sind Fragen, mit denen sich Huber eingehend beschäftigt. Er 
kommt, wie nicht anders zu erwarten, auf Grund umfangreichen 
Statistischen Materials zu dem Schluß, daß Deutschlands Industrialisierung, 


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BIT 


92 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


namentlich im Westen und einzelnen anderen Industriezentren, bereits 
zu weit fortgeschritten ist, als daß man zur alten merkantilistischen 
Absperrungs- und Gewaltpolitik, zum reinen Agrarstaat, zurückkehren 
könnte. Auch für die Landwirtschaft bedeute die Industrialisierung die 
einzige und dauernde Hilfe. Nicht industrielle Abrüstung, sondern 
Industrialisierung des Ostens! Keine Absperrungspolitik, sondern immer 
innigere Verflechtung mit dem Weltmarkt, die auch zugleich eine der 
stärksten Garantien für den Weltfrieden bildet! — Hubers Buch ist 
weniger als Streitschrift angelegt; seine Bestimmung ist vielmehr eine 
Klärung und Aufhellung dieser oben angedeuteten Probleme durch 
Herbeibringung eines reichen Tatsachenmaterials. Mit dem festen Blick 
auf das große Ganze geht Huber unbeirrt auf das „Endziel“ der Ent- 
wickelung los, als welches er den Industriestaat erkannt hat. Auf die 
Einzelheiten des wogenden Kampfes, insbesondere die streitige Zoll- 
höhe der einzelnen Artikel, läßt er sich daher nicht ein. Aber die ganze 
Konsequenz seiner Ausführungen ist die Verwerfung hoher Zölle und 
die Herstellung eines möglichst erleichterten internationalen Waren- 
austausches. 

Namentlich eine Frage, die erst nach dem Erscheinen des Huber- 
schen Buches in den Vordergrund der Diskussion gerückt ist, ist es, 
die die Freunde und Verehrer von Prof. Huber gern von ihm be- 
antwortet gesehen hätten: Ist in Anbetracht der riesenhaft anschwellen- 
den industriellen Produktion Amerikas und seiner außerordentlichen und 
stetig zunehmenden Produktionsverbilligung eine Verteuerung der 
Produktion, wie sie hohe Schutzzólle, namentlich Lebensmittelzölle, 
im Gefolge haben müssen, oder vielmehr umgekehrt eine Verbilligung 
der Produktion und der Produktionsmittel in Deutschland 
am Platze? Das ist unseres Erachtens der Brennpunkt des ganzen 
Zoll- und Handelsvertragstreites. Wenn die Konkurrenzländer, nament- 
lich die Vereinigten Staaten von Amerika, unterstützt durch eminente 
Hilfskräfte, wie auch durch höchste Ausbildung der Arbeitsteilung und 
Spezialisierung und weitgehendste maschinelle Ausrüstung, auf eine 
stetige Verbilligung der Produktion unter gleichzeitiger Steige- 
rung der Löhne und Verbesserung der Lebensverhältnisse der arbeiten- 
den Bevölkerung hinwirken, kann da für den Praktiker eine künstliche 
Erhaltuug teuerer Produktionsformen, die Vergeudung von Arbeit und 
Kapital, ernstlich noch diskutierbar sein? Die einzige Möglichkeit 
für Europa, von dem stetig stärker werdenden Wettbewerb der 
von der Natur so verschwenderisch ausgestatteten Vereinigten Staaten 
nicht erdrückt zu werden, ist daher — abgesehen von einer möglichst 
nahen Zollvereinigung der europäischen Staaten — die möglichste Ver- 
billigung und ökonomische Gestaltung der Produktion auf alle Weise, 
womit aber eine künstliche Verteuerung aller Preise und Produktions- 
mittel, insbesondere des Grund und Bodens, nicht vereinbar wäre. Die 
künstliche Verteuerung unserer Produktion durch übermäßige Schutz- 
zölle, namentlich auf Lebensmittel, wird Amerikas wirtschaftliche und 
politische Suprematie nur beschleunigen. Unsere Hauptkonkurrenten, 
die Vereinigten Staaten von Amerika und England, haben entweder 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 93 


keine!) Lebensmittelzölle, oder sie werden doch, wie in den Vereinigten 
Staaten — als Exportland — nicht wirksam, und in Frankreich geht der 
ganz überwiegende Teil des Weizens bekanntlich zollfrei ein. Möge 
man bei uns über diese wichtige Frage, von deren richtiger Lösung 
unserer Ueberzeugung nach Deutschlands Zukunft zum großen Teil ab- 
hängt, nicht leichtherzig hinweg gehen! J. Wernicke. 


Handbuch der Wirtschaftskunde Deutschlands. Her- 
ausgegeben im Auftrage des „Deutschen Verbandes für das kaufmänn- 
ische Unterrichtswesen“. Bd. 1. Leipzig 1901. 

Ein vorwiegend nicht von theoretischen Gelehrten, sondern von 
wissenschaftlich durchgebildeten Praktikern geschriebenes Handbuch 
für den Unterricht an den höheren kaufmännischen Schulen! Mit 
einiger Spannung wird mancher das Buch in die Hand genommen 
haben, noch dazu, da es gegenüber den bisherigen Hand- und Lehr- 
büchern der Nationalökonomie etwas Neues bieten will, einen ergänzen- 
den Teil zu den bisher üblichen beiden Teilen, dem theoretischen und 
dem praktischen, eben die Wirtschaftskunde. 

Ursprünglich war die Absicht, mit der Herausgabe dieses Hand- 
buches eine bestehende Lücke für den sogenannten handelsgeographischen 
Unterricht auszufüllen. Es sollte ein systematisches Hand- und Lehr- 
buch der Handelsgeographie werden. Bei der Weiterverfolgung dieser 
Idee stieß man aber bald auf die größten Hindernisse, da es sich her- 
ausstellte, daß die dazu erforderlichen litterarischen Vorarbeiten größten- 
teils noch fehlten. 

Aus diesem Grunde mußte die ursprüngliche Idee zunächst fallen 
gelassen und vorerst in einer Reihe von Einzelmonographien der große 
und meistens noch nicht bearbeitete Stoff zusammengetragen werden. 

Vor allen Dingen aber mußte man sich erst über die Bestimmung 
und Abgrenzung des Stoffes klar werden, Der Gegenstand der Dar- 
stellungen sollte die praktische Seite des Wirtschaftslebens, die kon- 
kreten Grundlagen der Volkswirtschaft sein, die man in den Kreisen 
der Handelsschulen mit dem allerdings nicht zutreffenden, weil nur von 
einem einzigen Teile des Stoffes entnommenen, Namen „Handels- oder 
Wirtschaftsgeographie“ belegt. Der Name , Wirtschaftskunde“ dagegen 
trifft den Kern der Sache, denn es handelt sich hierbei um die Be- 
schreibung der einzelnen Elemente der Volkswirtschaft, wie der geo- 
graphischen, geologischen, klimatischen, pflanzlichen, tierischen und Be- 
völkerungsverhältnisse; ferner der einzelnen Zweige der Volkswirtschaft, 
der einzelnen Gewerbe und Erwerbszweige in ihrem Verhältnis zuein- 
ander und in ihrer geschichtlichen Entwickelung. Es ist ungefähr das- 
selbe Stoffgebiet, dessen Aussonderung aus den beiden üblichen Teilen 
der Nationalökonomie und dessen Erweiterung und Vertiefung seit 
Jahren bereits die österreichische Schule unter dem aus der Natur- 


1) England hat bekanntlich im vorigen Jahre einen niedrigen Finanzzoll für Ge- 


treide ete, eingeführt, der zugleich auch als Kompensationsobjekt gegenüber den Kolonien 
dienen soll. D, O 


— Bü À ——n Ga — ?M— —— eee 


94 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


wissenschaft entnommenen Namen der wirtschaftlichen Morphologie ver- 
langt hat. Da indes dieses Wort sich nicht durch Wohlklang ausge- 
zeichnet und andererseits auch eigentlich eine weit engere Bedeutung 
hat — Gestaltenkunde — so ist die Bezeichnung ,Wirtschaftskunde* 
ibm weit vorzuziehen und als durchaus glücklich gewählt anzuerkennen. 

Der vorliegende I. Band mit einem Vorwort von Regierungsrat 
Dr. Stegemann, Braunschweig, und einer Einleitung von Dr. Lehmann, 
Aachen, enthält zunächst eine allgemeine Beschreibung des Landes nach 
seiner Lage, Bodenbeschattenheit, seinem natürlichen Reichtum und 
seinen Vorbedingungen für Landwirtschaft, Industrie und Handel; und 
sodann eine Darstellung der Bevölkerungsverhältnisse des Deutschen 
Reichs nach örtlicher Verteilung, sozialem Aufbau und allgemeinen Er- 
werbsverhältnissen. 

Auf Einzelheiten in den verschiedenen Abhandlungen einzugehen, 
müssen wir uns an dieser Stelle versagen. Dagegen können wir mit 
lebhafter Befriedigung das Gesamturteil fällen, daß, soweit der I. Band 
das erkennen läßt, das Handbuch sein ihm gestecktes Ziel erreichen 
wird. Die Grundelemente der Volkswirtschaft sind im I. Band mit 
Geschick, Klarheit und Ausführlichkeit zur Darstellung gelangt; jeder 
Lehrer der Wirtschaftswissenschaften wird dieses Handbuch mit Vor- 
teil für seine Vorträge benutzen können. J. Wernicke. 


Seligman, Edwin R. A, The Economie Interpretation of History. 
New York and London (Macmillan) 1902. 166 SS. 

Das Buch ist eine Zusammenfassung von Artikeln, die der Vert. 
im Political Science Quarterly hatte erscheinen lassen. Der Titel ist 
etwas irreführend, indem der Leser an das gleichbenannte Buch Thorold 
Rogers erinnert wird und wirtschaftsgeschichtliche Untersuchungen er- 
wartet. Seligman dagegen beschäftigt sich mit der materialistischen 
Geschichtsauttassung, die er auf das richtige Maß zurückgeführt wissen 
will, d. h. Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse, jedoch 
mit voller Anerkennung der übrigen Faktoren der geschichtlichen Ent- 
wickelung. Verf. giebt eine historische Darstellung und Kritik der 
materialistischen Geschichtsauttassung. Beides ist um so nötiger, als 
außerhalb Deutschlands die Kenntnis derselben sehr mangelhaft ist und 
Marx’ bei uns längst bekannte Theorien dort noch immer neu „ent- 
deckt“ werden, wofür Verf. interessante Belege gibt. Leider ist die Be- 
handlung des Stoffes nicht gleichmälig. Die ersten beiden Kapitel, die 
sich mit den Vorläufern Marx’ in der materialistischen Geschichts- 
auffassung beschäftigen, sind etwas kurz gehalten. Doch entschädigt 
hierfür das Folgende durch große Klarheit und Anschaulichkeit. Ein 
besonderer Vorzug ist die gleichmäßige Beherrschung der englisch- 
amerikanischen wie der deutschen Literatur. 

Halle a. S. Georg Brodnitz. 


Abhandlungen, volkswirtschaftliche, der Badischen Hochschulen, herausgeg. von 
Carl Joh. Fuchs, Karl Rathgen, Gerh. v. Schulze-Gävernitz, Max Weber. Bd. VI, 
Heft 3. Tübingen, J. C. B. Mohr, 1902. gr. 8. (Inhalt: Arth. Blaustein, Die Ent- 
stehung der gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung im deutschen Sattlergewerbe. VI— 
159 SS. mit Tabellen. M. 3,60.) 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes, 95 


Gierke, O., Das Wesen der menschlichen Verbände. Rede, bei Antritt des Rekto- 
rats am 15. X. 1902 gehalten. Leipzig, Duncker & Humblot, 1902. gr. 8. 36 SS. 
X. 1—. 

Lahn, J. J. O., Der Kreislauf des Geldes und der Mechanismus des Soziallebens. 
Mit einem Vorwort von (Prof.) Adolf Wagner. Berlin, Puttkammer & Mühlbrecht, 
1902, gr. 8. Mit einer Karte in Farbendruck, geb. M. 6.—. 

Sammlung nationalókonomischer und statistischer Abhandlungen des staatswissen- 
schaftlichen Seminars zu Halle a/S., herausgeg. von (Prof.) Joh. Conrad. XXXV. Bd. 
Jena, G. Fischer, 1902. gr. 8. (Inhalt: Voye, Ernst, Ueber die Höhe der verschiedenen 
Zinsarten und ihre wechselseitige Abhängigkeit. Die Entwickelung des Zinsfußes in 
Preußen von 1807 bis 1900, 95 SS.) 


Anseele, Ed., La coopération et le socialisme, Gand, Société cooptrative „Volks- 
drukkerij“, 1902. 12. 29 pag. fr. 0,50. 

Lassalle, Ferd., Discours et pamphlets, trad. de l'allemand, par Dave et Rémy. 
Paris, Giard & Brière, 1903. 8. 364 pag. fr. 3,50. 

MeaeBb, A. A., Hero oxuarb ;keuuunrb orb coniauuMa? Stuttgart, J. H. W. 
Dietz Nachf., 1903. gr. 8. 23 pp. (Was haben die Frauen vom Sozialismus? von 
A. A. Issaieff.) 

de Amicis, Ugo, L’anormalitä dell’ altruismo. Torino-Ciriè, tip. R. Streglio 
& C, 1902. 8. 17 pp. 1. 0,50. 

Desehanel, Paolo, Il socialismo agrario. Traduzione. Torino, fratelli Bocca, 
1902, 8. 120 pp. 1. 2.—. 

Nebbia, P., Il trionfo del socialismo. Cronistoria d'un compagno. Milano, tip. 
A. Koschitz & C., 1902. 12. 63 pp. 1. 0,50. : 

Scorpio, B. (avvocato), Dello Stato nella storia, nella dottrina nelle funzioni. 
Santamaria C. V., tip. F. Cavotta, 1902. 8. 1109 pp. 1. 10.—. (Indice: Introduzione. 


— Indagini critiche: Stato autoritario monarchico ; Stato politarchieo. — Stato democratico, 
— Stato demagogieo. — Stato anarchico e nihilistico. — Stato idenlistico ed utupistico, 
— Stato. transattivo e moderno, — Stato socialistico. — Dello Stato funzionale auto- 
ritario.) 


Zorli, Alberto, Primi principi di economia sociale descrittiva e teoretica. To- 
rino, fratelli Bocca, 1902. 8. 347 pp. 1. 3.—. 

Treub, M. W. F., Het wijsgeerig-economisch stelsel van Karl Marx. Deel I. 
Amsterdam, Scheltema & Holkema, 1902. 8. fl. 11.—. 


2. Geschichte und Darstellung der wirtschaftlichen Kultur. 


Oppel, O., Die Baumwolle nach Geschichte, Anbau, Verarbeitung 
und Handel, sowie nach ihrer Stellung im Volksleben und in der Staats- 
wirtschaft. Leipzig, Duncker u. Humblot, 1902. gr. 8°. XV, 745 SS. 
Mit 236 Karten u. Abbild. 

Das Werk ist im Auftrage der Bremer Baumwollbörse zur Eróff- 
nung ihres Monumentalbaues in dieser Handelsstadt geschrieben und 
muß selbst als ein gewichtiger Denkstein der Handelsgeschichte be- 
zeichnet werden. Verf. hatte auf seiner wirtschaftsgeographischen Reise 
durch die Vereinigten Staaten 1808 gerade der Baumwolle besondere 
Aulmerksamkeit gewidmet und hat nach seiner Rückkehr wohl die ge- 
samte Literatur über die Baumwolle in sein Buch hineingearbeitet. 

In zwei große Abteilungen ist der Stoff geschieden, einen allge- 
meinen und einen lünderkundigen Teil. 

Das erste Kapitel gibt eine Geschichte der Baumwolle im Ueber- 
blick, ihm folgt die Beschreibung der Baumwolle als Pflanze, in Anbau 
wie Ernte; nun wird die Entwickelung und Beschaffenheit der Daum- 
wolliaser vorgeführt, wir werden mit den Nebenprodukten des Gewächses 
bekannt gemacht, es schließt sich der Handel mit der Rohbaumwolle 


— ET EEE dh das >, 


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— 


96 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


an, die Verarbeitung der Baumwolle füllt das siebente Kapitel, der 
Handel mit den Fabikraten folgt naturgemäß. Die Baumwolle im Völker- 
leben und in der Staatswirtschaft beschließt diesen allgemeinen Teil. 

Als Hauptmomente seien aus demselben folgende Punkte mitgeteilt. 
Die Baumwolle vermag auf eine fast 3000-jährige Geschichte zurückzu- 
blicken. Als Ursprungsland der Baumwollkultur ist aller Wahrschein- 
lichkeit nach Indien anzusehen; ebendaselbst wurden die Fasern wohl 
auch zuerst verarbeitet. So zweifelhaft auch die Verhältnisse für die 
älteren Epochen sich gestalten mögen, so geht doch aus den Ueber- 
lieferungen und Nachrichten mit Bestimmtheit hervor, daß noch in den 
letzten Jahrhunderten der vorchristlichen Aera die Baumwolle bis an 
die Gestade des Mittelmeeres gelangt war. Die Araber verbreiteten 
vor allem Anbau wie Verarbeitung der Baumwolle. In China war sicher- 
lich dieser Faserstoff in verhältnismäßig früher Zeit bekannt, wenn auch 
der Anbau erst viel später einsetzte. 

Höchst interessant sind die Märchen des Mittelalters vom soge- 
nannten Pflanzenschaf oder der Schafspflanze; diesen Barometz dachte 
man sich als ein doppellebiges Wesen, das zugleich ein wirkliches Tier 
und eine Pflanze sei; er galt als die Frucht eines Baumes, der aus 
einem Samen wie dem einer Melone oder eines Kürbis entstünde; bei 
der Reife springt die Frucht auf und zeigt ein kleines Lamm, welches 
dann geschoren wird. 

Der Ausgangspunkt für die Verbreitung der Baumwolle nach West- 
und Nordeuropa ist Italien mit seinem Genua und Venedig anzusehen; 
in Deutschland finden wir die Verarbeitung der Baumwolle bereits zu 
Anfang des 14. Jahrhunderts erwähnt; von Ulm aus kam die Barchent- 
weberei nach Augsburg, Chemnitz, Plauen; auch die rheinischen Städte 
verarbeiteten damals bereits die Baumwolle. Sicher war ausgangs des 
Mittelalters und bei Beginn der Neuzeit Deutschland das wichtigste 
Land Europas für die Verarbeitung der Baumwolle wie des Handels mit 
daraus gefertigten Stoffen. Seitdem hat sich England dieses Geschäfts- 
zweiges bemächtigt. 

Die Entdeckung Amerikas war für die Baumwolle von höchster 
Bedeutung, nicht sowohl dadurch, daß man die Pflanze und Fabrikate 
aus derselben bereits vorfand, sondern vielmehr, weil sie hier die größte 
Verbreitung erhielt und darin ihr Ursprungsland Indien bald bei weitem 
übertraf; freilich vollzog sich dieser Umschwung der Verhältnisse aller- 
dings erst im Laufe des 19. Jahrhunderts. 

In England wurde dann im Laufe der zweiten Hälfte des 18. Saeculums 
die mechanische Weberei erfunden, mil der Einführung der Dampfkraft 
riß Großbritannien die Leitung der Baumwollenverarbeitung an sich und 
damit begann für Albion die Aera seiner industriellen wie kommerziellen 
Weltmacht. Jetzt ist wohl Australien der einzigste Erdteil, wo die 
Maschinenarbeit auf dem Gebiete der Baumwollenverarbeitung fremd 
ist, da kürzlich auch in Aegypten eine große Spinnerei gebaut wurde. 

Die Baumwolle gehört zu den malvenähnlichen Gewächsen; bota- 
nisch heißt sie Gossypium; sie ist, wie alle Kulturgewächse, ungemein 
varietätenreich. Selbstverständlich haben die Unterarten ungleichen 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 97 


Wert. Während die einen Gelehrten es bis zu 58 Formen bringen, 
nimmt man andererseits 5 Grundarten an mit mancherlei Variierungen. 

Die Baumwolle braucht zum Gedeihen Sonne, viel Wärme und tiefen 
Boden, ohne Steine und Felsen; schroffe Temperaturgänge sind ihr 
schädlich. Ihr bestes Fortkommen findet sie in denjenigen Flachländern, 
welche während der im Durchschnitt 6 Monate dauernden Wachstums- 
zeit eine mittlere Wärme von 18—26° C, keine anhaltende Regenzeit, 
wohl aber ausreichende Feuchtigkeit besitzen. Auf der nördlichen Erd- 
hälfte bildet im allgemeinen der 40. Breitengrad die Nordgrenze des 
Baumwollenbaues; in Europa dringt er ein gutes Stück nördlicher 
vr. Auf der südlichen Hemisphäre endet die Gossypium-Kultur viel 
früher. 

Die zum Anbau der Baumwolle benutzten Bodenflächen lassen sich 
zahlengemäß nicht genau angeben. Immerhin erfahren wir, daß bei- 
spielsweise 1900/1901 in den Vereinigten Staaten als höchsten Betrag 
bisher 10 Millionen ha mit Gossypium bestanden waren, d. h. eine 
Fläche, welche Bayern, Württemberg nebst dem Großherzogtum Hessen 
glechkommt. Als Maximum für Britisch-Ostindien werden 7 Millionen 
ha verzeichnet, für Aegypten beträgt die Zahl nur 540000 ha, Japan 
ist mit 60 Mille beteiligt und Russisch-Asien soll 200000 aufweisen. 
Als Maximalziffern rechnet Oppel 18000000 ha heraus, als Mittelzahl 
will er etwa 16 Mille betrachtet wissen. 

Aebnlich ergeht es mit den Ernteerträgen. Eine Zusammenstellung 
der Mittelzahlen für 1891—99 ergibt 3260,8 Millionen Kilo, welche 
sich folgendermaßen verteilen: 


Vereinigte Staaten 62,5 Proz. Japan 0,4 Proz. 
Ostindien 16,8 5 Persien 69^ 5 
China 259! 5 Peru 0,1 » 
Aegypten 73 » Cochinchina 0,06 ,, 
Uebriges Afrika SC. e Australien 0,06 » 
Russisches Asien Lg 26 Griechenland 0,04 » 
Mexiko 19 5 Columbien 0,02 „ 
Brasilien QU ` Le Italien 0,02 „ 
Türkei DA Westindien 0:01: z 


Die mittleren Erträge kommen nach zwei Richtungen in Betracht: 
einmal handelt es sich darum, festzustellen, wieviel Saatbaumwolle auf 
einer bestimmten Fläche gewonnen wird, dann aber, wieviel Fasern ein 
bestimmtes Quantum Saatbaumwolle liefert. Namentlich die erste Ziffer 
ist starken Schwankungen unterworfen. In den Vereinigten Staaten 
rechnet man einen Mittelwert von 183 Pfd. Ertrag für den Acre heraus, 
Louisiana lieferte mit 373 Pfd. den höchsten Jahresertrag, Alabama mit 
110 den niedrigsten. 

Noch in den ersten 3 Jahrhunderten der Neuzeit war der Baum- 
wollenhandel nicht groß; neben Zucker, Seide, Gewürzen nahm die 
Baumwolle eine bescheidene Stellung ein. Die gesamte durch den da- 
maligen Handel bewegte Menge dürfte nicht viel mehr als 60 Millionen 
Pid. oder 300000 heutige amerikanische Ballen betragen haben im Werte 
von etwa 72 Mille Mark. Seit 1800 hatte England unter den Einfuhr- 
ländern den ersten Rang erreicht und ständig behauptet. Sein Import 

Dritte Folge Bd, XXV (LXXX). ti 


98 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


zeigte ein stetiges und fast gleichmülliges Wachsen. 1835 wurde die 
erste Million Ballen erreicht, 17 Jahre später die zweite, und 1860 bereits 
die dritte erzielt. 
Von der Gesamtausfuhr entfielen auf: 
die Ver. Staaten Brasilien Mittelmeer Westindien Ostindien 


Proz. Proz. Proz. Proz. Proz. 
1835 70,0 13,1 4,0 2,1 10,8 
1852 76,0 6,1 8,1 0,5 4,3 
1860 76,8 3,0 3,2 0,3 16,7 


Neuerdings — der amerikanische Bürgerkrieg hatte manche Verände- 
rungen im Baumwollenhandel wie im Anbau dieser Pflanze gezeitigt — 
haben fast alle europäischen Länder Fortschritte in der Baumwolleneinfuhr 
gemacht. Der gesamte Mehrbedarf, wenn man 1890/91 und 1899/1900 
miteinander vergleicht, wird für das festländische Europa zu 336 000 000 
Pfd. beziffert! Der Bedarf der modernen Industrie an Baumwolle wird 
auf 13,86 Millionen Ballen zu 500 Pfd. netto geschätzt. Man hat be- 
rechnet, daß gegenwärtig in jeder Woche über 133 Millionen Pfd. ver- 
sponnen werden, das gibt täglich über 22 Millionen Pfd. 

Leider können wir auf Einzelheiten nicht näher eingehen, nur noch 
einige Worte über die Baumwolle in der Staatswirtschaft hinzuzufügen. 

Der Rohstoff unterliegt außer in Rußland in Europa keinem Ein- 
gangszoll; mit Ausnahme von England werden aber alle daraus herge- 
stellten Erzeugnisse beim Eingang besteuert. Spanien verlangt nächst 
Rußland die höchsten Sätze. 

Folgende Tabelle mag einen Einblick in die Zölle geben bei 
100 kg: 

Glatte rohe Bedruckte 


Garn Seeche Spitzen 
M. M. M. M. 

Spanien 203,30 258,20 274,75 929,30 
Rußland 90,90 394,10 505,55 2745,45 
Oesterreich-Ungarn 23,80 54,40 102,00 382,50 
Italien 22,70 50,95 99,15 481,45 
Frankreich 19,30 66,10 94,80 344,25 
Deutschland 15,30 68,00 102,00 297,50 


Noch mancherlei ließe sich hier anführen, doch ist der zugeteilte 
Raum zu Ende: aber allseitig sei das Werk empfohlen, der National- 
ökonom wie der Statistiker, der Kaufmann wie der Privatmann wird 
viel aus dem Buche lernen können. Ernst Roth. 


Brandt, Otto, Studien zur Wirtschafts- und Verwaltungsgeschichte 
der Stadt Düsseldorf im 19. Jahrhundert. Düsseldorf 1902. VI, 435 SS. 

Die unter vorstehendem Titel veröffentlichte Schrift des Geschäfts- 
führers der Düsseldorfer Handelskammer verdankt ihre Entstehung einem 
im Mai 1901 erteilten städtischen Auftrage, welcher auf die Darstellung 
der Geschichte der Düsseldorfer Stadtverwaltung in den letzten 30 Jahren 
abzielte. Wenn der Verf. anfangs Bedenken getragen hatte, als ein der 
städtischen Verwaltung Fernstehender den Auftrag zu übernehmen, so 
hat er durch die Art, wie er sich seiner entledigte, das geschenkte Ver- 
trauen in vollem Maße gerechtfertigt. Die Leistung verdient um so mehr 


| 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 99 


Anerkennung, als die für die Ausführung gesetzte einjährige Frist über- 
aus kurz bemessen war, besonders wenn man berücksichtigt, daß die 
erforderliche Muße einer reichlich bemessenen Berufsarbeit abgerungen 
werden mußte. Es ist begreiflich, daß unter solchen Umständen der 
Verf. keine erschöpfende, alle Zweige gleichmäßig berücksichtigende 
Darstellung bieten konnte, vielmehr sich damit begnügen mußte, seinen 
Gegenstand in großen Umrissen zu zeichnen und wenn er auch alles 
berührte, doch nur einigen Verwaltungszweigen eine eingehende Dar- 
stellung angedeihen lassen konnte. Die Rücksicht auf diese Umstände 
war es auch, die ihn bestimmte, für seine Arbeit den bescheideneren 
Titel „Studien“ zu wählen. 

Der Schwerpunkt der Arbeit liegt in dem verwaltungsgeschichtlichen 
Teile, dem fast zwei Drittel des Anfanges gewidmet sind. Um für das 
Verständnis der Verwaltungsgeschichte die notwendige Grundlage zu 
gewinnen, ist eine Darstellung der Wirtschaftsgeschichte Düsseldorfs 
seit Anfang des 19. Jahrhunderts vorausgeschickt. Ausgehend von den 
Zuständen der Stadt zu Anfang des 19. Jahrhunderts, wo sie nur erst 
12000 Einwohner zählte und in wirtschaftlicher Beziehung weit zu- 
rückstand hinter so mancher Nachbarstadt, der sie gegenwärtig eben- 
bürtig ist, schildert der Verf. die Entwickelung des Verkehrs, ins- 
besondere die Rheinschiffahrtsverhältnisse, denen vor dem Aufkommen 
der Eisenbahnen eine ausschlaggebende Bedeutung zukam, sowie den später 
einsetzenden Eisenbahnverkehr, auch das Post- und Telegraphenwesen, 
alles mit besonderer Rücksicht auf den Anteil Düsseldorfs. In gleicher 
Weise entwirft er ein Bild von dem allmählichen Aufblühen von 
Handel und Industrie in Stadt und Umgegend und von ihrer eigen- 
artigen Gestaltung. Der Schluss des wirtschaftsgeschichtlichen Teiles ist 
der Erörterung der zukünftigen Aufgaben Düsselsdorfs auf dem Gebiete 
der Wirtschaftspolitik gewidmet, wobei besonders des Kampfes zwischen 
Eisenbahn und Wasserstraße gedacht wird und seiner Bedeutung für 
die Verhältnisse der Stadt. Von den neuen Kanälen des Westens er- 
wartet der Vert, um dies hier zu bemerken, für diese nur nachteilige 
Folgen, ohne im übrigen diesen Wasserstraßen und ihrer allgemeinen 
Bedeutung damit zu nahe treten zu wollen. 

Der anschließende verwaltungsgeschichtliche Teil wird eingeleitet 
durch eine Schilderung der Bevölkerungsentwickelung während des 
ganzen 19. Jahrhunderts, während er im übrigen sich auf die 30 Jahre, 
1870—1900, beschränkt. Zu den eingehender behandelten Verwaltungs- 
zweigen gehört vor allem derjenige, welcher sich auf die Bebauung des 
Bodens bezieht. Außer durch eine Statistik der Boden- und Häuser- 
preise und ihrer Bewegung, ist er besonders interessant durch eine 
Darstellung der vorgeschrittenen städtischen Boden- und Baupolitik. 
Der seit 1895 eingeführten, nach dem Wert des Objekts bemessenen 
Immobilienumsatzsteuer ist neuerdings die Umwandlung der vom Staat 
überwiesenen Grund- und Gebäudesteuer in eine Grundsteuer vom ge- 
meinen Wert hinzugetreten, welche bebaute wie unbebaute Grundstücke 
gleichmäßig trifft und der Stadt nicht nur einen Anteil an der Grund- 

wertsteigerung sichert, sondern die auch auf die Grundstücksbesiter einen 


ré 


TE (nt 


100 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Druck ausüben läßt, ihre Ländereien nicht aus Spekulationsrücksichten 
der Bebauung länger zu entziehen. Ein nach dem Vorgange Frank- 
furts a. M. gebildeter Grundstücksfonds gewährt die Mittel zu fort- 
gesetztem Grundstückserwerb über das augenblickliche Bedürfnis hinaus, 
vermöge dessen die Stadt sich nicht nur unmittelbaren Anteil an der 
Wertsteigerung des Bodens, sondern auch größeren Einfluß auf die 
. Bodenverwendung sichert. Zur Zeit besitzt nach mäßiger Schätzung 
die Stadt bereits für 10 Mill. M. Grundvermögen, das nicht für be- 
stimmte Gemeindezwecke in Anspruch genommen ist. Im Anschluß 
hieran finden wir behandelt: Bauplan, Bauordnung, die in Düsseldorf 
im wesentlichen dem Zonensystem entspricht, sowie die Wohnungspolizei. 
Letztere ist für den ganzen Regierungsbezirk einheitlich geregelt, wäh- 
rend die Ausführung der Bestimmungen in der Stadt einer besonderen 
Wohnungskommission obliegt, welche in schonender Beseitigung un- 
geeigneter Wohnungen sich überaus nützlich betätigt. Ergänzt wird 
die Tätigkeit der Kommission durch die Bemühungen eines Wohnungs- 
fürsorgevereins, der den Verlegenheiten der Mieter durch Geldvorschüsse, 
Beschaffung von Betten etc. abzuhelfen sucht. 

Aber auch die Bautätigkeit selbst fördert die Stadtverwaltung und 
zwar durch Gewährung von Baugeldern und Hypotheken an einzelne 
Unternehmer und -Genossenschaften ein Vorgehen, dessen Berechtigung 
und Zweckmäligkeit der Verf. in eingehender Weise erörtert. Die bezüg- 
lichen Geschäfte besorgt ein in der jüngsten Zeit der Geldknappheit errich- 
tetes Hypothekenamt. Die Beleihung erstreckt sich bis zu 60 Proz. des 
Wertes. Den Bau von Wohnungen hat die Stadt selbst bisher nur als 
Verwalterin der Adersstiftung betrieben, deren Kapital zur Hälfte für die 
Errichtung von Arbeiterwohnungen bestimmt ist, wie denn auch die Miets- 
erträgnisse wieder in dieser Richtung verwendet werden müssen. Ergänzt 
wird diese Gemeindetätigkeit durch die Wirksamkeit dreier Baugenossen- 
schaften. 

Das umfangreichste Kapitel ist dem Haushalt der Stadt gewidmet. 
Die weitgehendste Behandlung erfährt dabei das System und die Ent- 
wickelung der städtischen Steuern und ihrer Erträgnisse. Letztere er- 
geben, dem gewaltigen wirtschaftlichen Aufschwunge entsprechend, ein 
geradezu glänzendes Bild. Unter den zahlreichen übrigen Abschnitten 
seien, da es unmöglich ist, in einem kurzen Referate dem mannigfaltigen 
Inhalte des Buches gerecht zu werden, nur diejenigen noch hervor- 
gehoben, welche den Schlacht- und Viehhof, das Armenwesen und die 
Krankenpflege behandeln, am nachdrücklichsten jedoch das umfang- 
reiche Kapitel über das Schulwesen. Ueberall hier begnügt sich der 
Verf. nicht mit der Schilderung der tatsächlichen Verhältnisse, viel- 
mehr entwickelt er zugleich in prägnanter Kürze die Gesichtspunkte, 
welche für die Beurteilung der Tatsachen und die späteren Entwicke- 
lungsmöglichkeiten maßgebend sind. Somit sind die Ausführungen meist 
nicht rein historischen, sondern zugleich historisch-politischen Charakters, 
und mit Genugtuung erkennt man, wie sehr er über die umfassende, 
wissenschaftliche Bildung verfügt, welche die erfolgreiche Behandlung 
so mannigfacher Materien zur Voraussetzung hat. Dies bringt auch 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 101 


das Schlußkapitel zum Ausdruck, in welchem die Natur und Aufgaben 
der Gemeindepolitik im allgemeinen und insbesondere das Verhältnis 
zwischen Staat und Gemeinde näher erörtert wird. Der leichte und 
flüssige Stil trägt weiter dazu bei, daß sich für jeden, der überhaupt 
dem Kommunalleben Interesse entgegenbringt, die Lektüre sich zu 
einer überaus fesselnden gestaltet. 

Wenn der Verf. es beklagt, daß man der Bedeutung der Gemeinde- 
verwaltung und ihrer Geschichte in der Wissenschaft der National- 
ökonomie bisher noch nicht genügend Rechnung getragen habe, so wird 
man dieser Klage die Berechtigung nicht absprechen können. Er weiß 
aber auch, daß eine vollkommene Darstellung der städtischen Wirtschaft 
und ihrer Geschichte, welche überdies auf Vergleichung basiert sein 
müßte, nicht von heute auf morgen entstehen kann. Betont er doch 
selbst, daß ihr die Monographien einzelner Verwaltungszweige vorangehen 
müsse, und daß die Darstellung der kommunalen Verwaltungsverhältnisse 
eine bisher erst vereinzelt durchgeführte Ordnung der städtischen Archive 
nach wissenschaftlichen Grundsätzen zur Voraussetzung habe. 

Um die internationale vergleichende Durchforschung der Städte- 
verwaltung praktisch zu gestalten, empfiehlt er den deutschen Groß- 
städten die gemeinsame Gründung einer nach einem festen Programm 
arbeitenden Studiengesellschaft, welche bewährte Gemeindebeamte auf 
Reisen schickte. Auch diese im Vorwort enthaltenen Ausführungen 
beweisen ebenso, wie die ganze Darstellung, daß der Verf, wenn er 
auch nur die Geschichte einer Kommune schrieb, nicht in dem Rahmen 
enger lokalgeschichtlicher Auffassung sich bewegte, sondern das Einzelne 
in einem größeren und allgemeinen Zusammenhange auffaßte. Sein Buch 
on somit auch außerhalb des Düsseldorfer Bannkreises Leser zu 
nden. 


Jena. J. Pierstorff. 


Calwer, Richard, Handel und Wandel, Jahresberichte über 
den Wirtschafts- und Arbeitsmarkt. Jahrgang 1900. Akademischer 
Verlag für soziale Wissenschaften Berlin-Bern. 

Das Bedürfnis weiter Kreise nach einem wirtschaftlichen Jahrbuch, 
das mehr bietet als ein bloßes Sammelsurium von allerlei wirtschaftlichen 
Vorkommnissen innerhalb eines Jahres, läßt sich nicht leugnen. Die 
Jahresberichte des inzwischen verstorbenen Redakteurs der National- 
zeitung Basch, die in ihrer Art vorzüglich waren, boten aber nur eine 
sehr gedrängte zusammenfassende Uebersicht ohne tiefer in das Detail 
einzugehen. Ein alle Seiten der Volks- und Weltwirtschaft erfassender 
Jahresbericht hatte bisher gefehlt, das Bnch von R. Calwer füllt daher 
ohne Frage eine bestehende Lücke aus. Dasselbe bietet auch keines- 
wegs nur eine „tote“ Uebersicht über die wirtschaftlichen Jahres- 
ereignisse, sondern der Verfasser fühlt die wirtschaftlichen Pulse schlagen 
und weiß die Haupttriebfedern und springenden Punkte der Entwickelung 
aufzuspüren. Dabei geht Calwer, wie man zunächst vermuten möchte, 
keineswegs einseitig von seinem Parteistandpunkt aus, sondern er unter- 
sucht den Fluß der Dinge mit dem kritischen Auge des Sozialforschers 


102 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


vom wissenschaftlichen Standpunkte aus und widmet insbesondere den 
Brennpunkten des Wirtschaftsjahres 1900 eingehende Betrachtungen. 
So untersucht er zunächst die Ursache des im April 1900 deutlich zu 
Tage getretenen wirtschaftlichen Umschwungs, die er, wie das ja bei 
den meisten natürlich verlaufenden Krisen der Fall ist, in dem Zurück- 
bleiben der Konsumkraft hinter der rapide entwickelten Produktivkraft 
findet (er nimmt das Verhältnis beider gegenüber 1895 mit 6 Proz.: 
88,5 Proz. an). Auf eine nähere Untersuchung der speziellen Faktoren 
und Ursachen dieses Mißverhältnisses von Produktion und Konsumtion 
läßt sich Calwer dabei leider nicht ein, obwohl es doch, wie gesagt, 
keinem Zweifel unterliegt, daß jede nicht durch außergewöhnliche Ur- 
sachen, wie Mißernten, Kriege, Geldkalamitäten etc. hervorgerufene Krisis 
auf irgendwelche größere oder geringere Absatzstockungen bestimmter 
Produktionszweige zurückzuführen ist. Diese speziellen Nachweise er- 
bringt Calwer leider nicht, trotzdem sie für unsere jetzige Krisis 
nicht so schwer zu finden waren. Des weiteren wäre es bei diesem 
Thema interessant gewesen, zu untersuchen, inwieweit die durch die 
starke Nachfrage und — auch zum guten Teil — durch die Kartelle 
und Syndikate hochgetriebenen Preise in Verbindung mit dem teuren 
Geldstande lähmend auf die Unternehmungslust eingewirkt und dadurch 
der Krisis vorgearbeitet und sie verstärkt haben. 

Der ziffermäßige Vergleich der angewachsenen Produktiv- und 
Konsumkraft dürfte übrigens ein vergeblicher und mißglückter Versuch 
sein, da er sich auf zu unsicheren und zahlenmäßig nicht feststellbaren 
Faktoren aufbaut. Namentlich ein Hauptmoment hat Calwer bei der 
Gegenüberstellung der Produktion und des Konsums außer acht ge- 
lassen, das ist der Umstand, daß gerade die Industrien, die am meisten 
ihre Produktion ausgedehnt haben, die Eisen- und Kohlen-, sowie die 
elektrische Industrie, großenteils nicht für den unmittelbaren Konsum 
arbeiten, sondern Produktiv- und Betriebsmittel liefern, deren Anschaffung 
vielfach auf dem Wege des Kredits geschieht. — Bei der Uebersicht über 
die Weltgetreideproduktion ist die Dürftigkeit der benutzten Quellen 
beklagenswert, obwohl doch dieselben seit Jahren ziemlich reichlich 
fließen, es sei nur an die Statistiken der englischen, amerikanischen 
und französischen Fachblätter, an die Uebersichten des ungarischen 
Ackerbauministeriums und des russischen Finanzministeriums, an das 
große Werk des österreichischen Ackerbauministeriums „Das Getreide 
im Weltverkehr“, Wien 1900, erinnert. 

Ferner fällt die sehr günstige Beurteilung der Kornhausgenossen- 
schaften auf, deren sehr wenig befriedigende Leistungen dem Sachkenner 
schon im Jahre 1900 kein Geheimnis mehr waren, deren Fiasko aber 
jetzt eine kaum noch zu bezweifelnde Tatsache ist. Es genügt, auf die 
überaus traurigen Ergebnisse des Hallenser Kornhauses, des bedeutendsten 
seiner Art, hinzuweisen. J. Wernicke. 


Blink, H., Geschiedenis van den Boerenstand en den Landbouw 
in Nederland, 1. Deel, te Groningen bij J. B. Wolters, 1902. 
Der Verfasser des vorliegenden Werkes, der in der niederlän- 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 103 
dischen wissenschaftlichen Litteratur durch frühere Arbeiten, besonders 
auf dem Gebiete der Erdkunde!) eines wohlverdienten Ansehens sich 
erfreut, hat es unternommen, eine wesentliche Lücke in der ökonomi- 
schen Litteratur Hollands auszufüllen. 

Während der Bearbeitung seines Werkes: „Nederland en zijne 
Bewoners“, fiel es Blink auf, wie wenig im großen ganzen die Ent- 
wickelung der Zustände auf dem Lande und die des Bauernstandes 
erforscht ist. Seine geographischen Untersuchungen veranlaßten den 
Verfasser, viel Material zu sammeln, das er in seinem hier vorliegenden 
Werke in vorzüglicher Weise ausgearbeitet hat. 

Soweit sich aus diesem ersten Teil ein Urteil fällen läßt, haben 
wir eg hier mit einer wertvollen, durch Gründlichkeit und Klarheit aus- 
gezeichneten Arbeit zu thun. 

Der Titel des vorliegenden Buches läßt weniger erwarten als es 
wirklich bietet. Der Autor hat seinem Thema an manchen Stellen?) 
geographische Beschreibungen als Basis gegeben, welche die Kenntnis 
der Zustände wesentlich fördern. 

Nicht nur Nationalökonomen und Wirtschaftshistoriker, sondern 
auch Geographen werden diese Arbeit nur mit Dank annehmen können. 

Das Werk wird in den beiden ersten Abteilungen eingeleitet durch 
einen geschichtlichen Rückblick (S. 1—42), welcher bis in die alt- 
testamentliche Zeit zurückgreift. Der 3. Auschnitt (S. 43—62) führt 
us in den niederländischen Gauen und in der Römerzeit herum. 
Hieran reiht sich in den Abschnitten IV (S. 63—82), V (S. 83—105) 
und VI (S. 106—111) die Beschreibung der Zustände unter den Franken, 
den Karolingern und darnach der Zeit bis zum 10. Jahrhundert. 

Vor dem 12. Jahrhundert waren die Agrarverhältnisse in den Gegen- 
den, welche das heutige Holland und Belgien ausmachen, nicht ver- 
schieden von denen des übrigen Nord- und West-Europa. Nach dieser 
Zeit entstehen Abweichungen, welche nach und nach durch die Ver- 
schiedenheit der geschichtlichen Entwickelung zu völlig eigenartigen 
Zuständen führen. 

Während der Verf. sich in den bis jetzt besprochenen Abschnitten 
öfters an die deutschen Quellen hält, kommen in den folgenden seine 
eigenen Forschungen mehr zur Geltung und giebt er uns einen klaren 
Einblick in die sich allmählich lokalisierenden Zustände. 

Während die Abschnitte VII (S. 119—133) und VIII (S. 134—164) 
die niederländischen Agrar- und Bauernverhältnisse und die Entwicke- 
lung der Stände bis zum 14. Jahrhundert behandeln, umfaßt der IX. Ab- 
schnitt (S. 165— 208) die weitere Entwickelung bis zum 16. Jahrhundert. 

Der Grundbesitz von Kirchen und Klöstern und deren Einfluß auf 
die Landwirtschaft füllt den X. Abschnitt (S. 208—231). 


1) Nederland en zijne Bewoners, 1892. — Tegenwoordige Staat van Nederland, 
1897. — Bewoners der vreemde Werelddeelen, 1898—1900. — Een blik op de Ontwik- 
kelingsgeschiedenis van Amsterdam, 1900. — Studien over Nederzettingen in Nederland, 

01. 


2) S. 47—48; 50—55 ; 63—66 ; 287—321. 


104 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Die Abgaben und Steuern, welche im Mittelalter mit dem Besitz 
oder Gebrauch von Grund und Boden verbunden waren, werden im 
XI. Abschnitt (S. 234—275) behandelt; während die rechtliche Natur 
und die Geschichte der Zehnten ihrer großen Bedeutung wegen im 
XII. Abschnitt (S. 276—288) besonders besprochen werden. 

Zum Schluß dieses ersten Teiles giebt uns der Verfasser noch einige 
Blütter aus der Geschichte des Bodens in den Niederlanden: Boden- 
verlust in früheren Zeiten (S. 289—306), Bodengewinne durch Ein- 
deichung und Trockenlegung (S. 306—321) und Entstehung der Ver- 
eine zur Wasserregulierung (Waterschappen) (S. 321—340). 

Mit Interesse sehen wir dem IL Teil der vorliegenden Schrift, 
welche einen ehrenvollen Platz unter Blinks Werken  beanspruchen 
kann, entgegen und hoffen dann auf einzelne Punkte noch näher ein- 
gehen zu kónnen. 

Möge, wie der Verfasser in seiner Vorrede sagt, seine Arbeit An- 
regung geben zum eingehenderen Studium verschiedener Fragen, die 
bis jetzt noch zu wenig aufgeklàrt sind. 


Halle a/S. Juli 1902. G. Hesselink. 


Byng, G., Protection. The Views of a Manufacturer. London 
(Eyre & Spottiswood) 1901. 255 SS. 

Byng, G., Fiscal Problems of To-Day. An answer to arguments 
of Free Traders. Fortnightly Review, September 1902. 

Byngs Schriften nehmen keinen wissenschaftlichen Wert für sich 
in Anspruch, sie sind von einem Praktiker für Männer des praktischen 
Lebens verfaßt. Sie nehmen aber die Aufmerksamkeit als bedeutsames 
Zeichen der Zeit in Anspruch, denn sie lassen erkennen, wie sehr die 
in England herrschenden wirtschaftspolitischen Anschauungen doch schon 
erschüttert sind. Byng verlangt in jeder Beziehung einen erhöhten 
staatlichen Schutz: Verbesserung der Patentgesetze zum Schutze eng- 
lischer Erfindungen, Verstaatlichung der Eisenbahnen zur Herabsetzung 
der Tarife, vor allem aber Aenderung der Handelspolitik im Sinne 
eines wirksamen Industrie- und Agrarschutzes. Rohprodukte sollen 
zwar prinzipiell zollfrei bleiben, wohl aber soll z. B. die Einfuhr von 
Eiern erschwert werden, damit England nicht weiter jährlich 5 Mill. £ 
dafür dem Auslande zu zahlen brauche. Man sieht, daß Byng in seinen 
Forderungen nicht nur über Williams’ „Made in Germany“, sondern auch 
weit über die bisherigen englischen Schutzzöllner von der Richtung 
Howard Vincents hinausgeht. 

Mit Recht hält er seinen Gegnern vor, daß sie Neues nicht mehr 
zu schaffen wüßten. Seit 1890 sei kein freihändlerisches Buch mehr 
erschienen und auch ihr Vorgehen bei der diesjährigen Einführung der 
Kornzölle sei nicht von Bedeutung gewesen. Allerdings ist auch Byngs 
eigene Argumentation nicht immer einwandsfrei. So ist gleich auf der 
ersten Seite seines Buches die Annahme bestimmter Perioden, in denen 
der Freihandel England nütze oder schade, durchaus willkürlich. Ebenso 
sind seine Ausführungen (S. 130) über die Unproduktivität des Handels 
und der Schiffahrt kurzsichtig und falsch; auch seine in der Fortnightly 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 105 


Rew. S. 465 vorgenommene Zusammenwertung von direkten Steuern 
und Produktionskosten beruht auf oft widerlegten Voraussetzungen. 
Von solchen Einzelheiten abgesehen, wird aber jeder Byngs Schriften 
mit Interesse lesen, der sich über die augenblicklichen englischen An- 
schauungen ein vollständiges Bild machen will. 
Halle a. S. Georg Brodnitz. 


Agrar-, Zoll- und Handelsfragen, brennende. Bearbeitet und herausgeg. von Herm. 
Egner (k. württemb. Zollinspekt.) u. Karl Schuemacher (Revisor bei großh. bad. Zoll- 
direktion). Karlsruhe, J. J. Reiff, 1902. gr. 8. 376 SS. M. 3.—. 

Bahrfeldt, E. und A. Mieck, Der Hacksilberfund von Alexanderhof. Prenz- 
lau, A, Mieck, 1902. gr. 8. 31 SS. mit Abbildgn. u. 2 Taf. M. 2.—. (Aus Mittei- 
lungen des uckermärkischen Museums- und Geschichtsvereins zu Prenzlau.) 

Beiträge, neue, zur Geschichte deutschen Altertums.  Herausgeg. von dem 
henneberg. altertumsforschenden Verein in Meiningen. Lieferung 17. Meiningen, Brückner 
& Renner, 1902. gr. 8. 112 SS. M. 1,50. 

Blech, E. (Archidiak.), Das älteste Danzig. Danzig, L. Saunier, 1903. 8. IV— 
21888. M. 3.—. (A.u.d. T.: Gedanensia. Beiträge zur Geschichte Danzigs, 7. Bändchen.) 

v Bulmerincq, Aug., Zwei Kümmereiregister der Stadt Riga. Ein Beitrag 
zur deutschen Wirtschaftsgeschichte. Leipzig, Duncker & Humblot, 1902. gr. 8. XI— 
279 SS. M. 6,40. 

Bunzel, Jul., Studien zur Sozial- und Wirtschaftspolitik Ungarns. Beiträge zu 
den Ausgleichs- und Zolltarifverhandlungen zwischen Oesterreich und Ungarn. Leipzig, 
Duncker & Humblot, 1902. gr. 8. VII—231 SS. M. 4,80. 

Chroniken, die, der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert. Bd. XXVIII. 
Leipzig, S. Hirzel, 1902. gr. 8. (A. u. d. T.: Die Chroniken der niedersächsischen 
Städte. Lübeck. Bd. III. Inhalt: Der sogen. Rufusehronik U. Teil von 1395—1430. 
— III. Fortsetzung der Detmarchronik I. Teil von 1401—1438.) XX—462 SS. M. 18.—. 

Eulenburg, F., Die gegenwärtige Wirtschaftskrise. Jena, G. Fischer, 1902. 8. 
85 SS. 

Fried, Alfr. H., Die Grundlagen der modernen Wirtschaft und der Krieg. 
Eslingen, W. Langguth, 1902. gr. 8. 32 SS. M. 0,30. 

Jahrbuch für Geschichte, Sprache und Litteratur ElsaD-Lothringens. Herausgeg. 
von dem histor.-litterarischen Zweigverein des Vogesenklubs. XVIII. Jahrg. Straßburg, 
J.H. Ed. Heitz, 1902. gr. 8. 230 SS. M. 2,50. (Aus dem Inhalt: Pfalzburg zur 
Zeit des jungen Goethe (1770), von Wilh. Kahl. — Zum Falle StraBburgs, von K. 
Hölscher. — Vom Straßburger Gimpelmarkt anno 1577. Mitteilung von W. Teich- 
mann, — etc.) 

Medinger, W., Wirtschaftsgeschichte der Domäne Lobositz. Auf Grund von 
Quellenstudien im fürstlich Schwarzenbergischen Archiv zu Lobositz. Wien, C. W. 
Stem, 1903. gr. 8. 203 SS. M. 5.—. 

Sehanz, Moritz, Westafrika. Berlin, W. Süsserott, 1903. gr. 8. IV—415 SS. 
geb. M. 7,50. (Aus dem Inhalt: Portugiesisch Westafrika: (Verwaltung; Handel; Schiff- 
fahrt; Bankwesen.) — Portugiesisch Guinea: (Verwaltung und Handel; Plantagenbetrieb). 
— Spanisch Westafrika: (Geschichte und Verwaltung; Schiffahrt.) — Kanarische Inseln: 
(Produktion und Handel). — Fernando Po und Annobom: (Verwaltungen und Pflanzungen). 
— Liberia. — Französisch Westafrika: (Zollwesen; Landkonzessionen ` Verkehrsmittel). 
— Senegal: (Verkehrsmittel; Handel ; Industrie; Bergbau und Plantagenbau). — Fran- 
zösisch Guinea. — Elfenbeinküste: (Verkehrsmittel; Handel; Bergbau). — Dahome. — 
Franz. Kongo. — Englisch Westafrika: (Verkehrsmittel; Handel). — Gambia. — Sierra 
Leone. — Goldküste: (Verkehrsmittel; Handel; das Gold). — Lagos. — Nigeria. — 
Der unabhängige Kongostaat. — Deutsch-Westafrika. — Togo. — Kamerun — Deutsch- 
Südwestafrika. — etc.) 

Schwalb, Hans (Hauptm.), Römische Villa bei Pola. Wien, A. Hölder, 1902. 
Er. 4 VI SS. u. 52 Spalten mit 15 Taf. u. 5 Abbildgn.im Text. M. 15.—. (Schriften 
der Balkankommission. — Antiquarische Abteilung. Herausgeg. von der kais. Akademie 
der Wissenschaften. II.) 

Trauer, Eduard, Chronik des Dorfes Marieney im Vogtland bis zur Einführung 
der sächsischen Landesverfassung. Plauen, A. Kell, 1903. gr. 8. IV—111 SS. mit 
1 Plan. M. 2,40, 


ane si tr nn nn nn 


106 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Wirminghaus, H. (Prof. u. Handelskammersyndikus), Die wirtschaftlichen Auf- 
gaben der Stadt Köln. Vortrag gehalten am 13. VI. 1902 im Verein zur Wahrung etc. 
der Interessen des mittleren östlichen Stadtteiles in Köln. Köln, P. Neubner, 1902. 
gr. 8. 43 SS. M. 0,50. 

Zabel, Rudolf, Durch die Mandschurei und Sibirien. Reisen und Studien. 
Leipzig, Georg Wigand, 1902. XII—314 SS. mit 46 Abbildgn., zumeist nach photogr. 
Aufnahmen des Verfassers, geb. M. 20.—. 


Mansuetus, Le milieu social. Etude sociologique. Paris, Guillaumin, 1902, 
gr. in-8. XXII—336 pp. fr. 5.—. (Table des matières: Le droit. — La sociabilité, — 
L’unit& sociale, la personnalité. — La personnalité sociale. — Classification des sociétés. 
— Les sociétés volontaires. — Les sociétés naturelles. — Les sociétés necessaires. — 
Le domaine publie matériel et économique, le capital de la nation. Le sol. — Domaine 
publie intellectuel et moral. — Institutions sociales. — Le protectionisme. — Inventions 
et découvertes. — Le mariage. — Le principe de population. — Le paupérisme. — Le 
commerce. — La valeur et le prix des choses. — La monnaie. — Le parasitisme social. 
— La mainmorte. — La religion. — La politique négativiste.) 

Skarzynki, Louis, L’aleool et son histoire en Russie. Etude économique et 
sociale. Avec une préface de M. Paul Deschanel (de l'Académie française) et une lettre 
de M. Léopold Mabilleau (directeur du Musée sociale). Paris, Arth. Rousseau, 1902. 
8. XVI—186 pag. fr. 5.—. 

Hobson, J. A., Imperialism: a study.’ London, Nisbet, 1902. 8. 408 pp. 10/.6. 


(Contents: The economies of imperialism. — Commercial value. — Imperialism as an 
outlet for population. — Imperialism based on protection. — Imperialist finance. — 
The political signiticance of imperialism. — Moral and sentimental factors. — Imperial 


federation.) 

Schiratti, Gaetano (presidente? del I°-gruppo delle banche polari italiane), Il 
credito ed il risparmio nelle provincie Venete nel 1900. Treviso, tip. A. Longo, s. a. 
(1902). in-obl.-Folio. LIV pp. e 537 tavole statistiche. 

Signorino, Carlo, Le condizioni economiche della provincia di Arezzo: note 
di statistica agricola, industria e commerciale. Arezzo, tip. Sinatti, 1902. 8. XI—211 pp. 


3. Bevölkerungslehre und Bevölkerungspolitik. Auswanderung 
und Kolonisation. 
Reinecke, F., Samoa. Berlin, W. Süsserott, o. J. (1902). gr. 8. 312 SS. mit 
Abbildgn. u. 1 Karte, geb. M. 5.—. (Süsserotts Kolonialbibliothek, Bd. 3 u. 4.) 


Colonisation et exploitations dans la république de Bolivie, Bruxelles, impr. 
A. Lesigne, 1902. 8. 50 pag. et 2 cartes hors texte. 

Rapport d'ensemble sur la situation générale de la Guinée française en 1901. 
Mesnil, (Eure) impr. Firmin-Didot & C", 1902. 8. 135 pag. av. grav. 


4. Bergbau. Land- und Forstwirtschaft. Fischereiwesen. 


Bedeutung, die, der landwirtschaftlichen Bevölkerung für die Wehrkraft des 
Deutschen Reichs, (von [Prof.] Sering). Sonderabdruck aus dem Archiv des Deutschen 
Landwirtschaftsrats. Jahrg. XXVI. Berlin, Parey, 1902. gr. 8. 

Dittmer, R. (Kapitän z. See a. D.), Die deutsche Hochsee-, See- und Küsten- 
fischerei im 19. Jahrhundert und bis zum Jahre 1902. Hannover, Hahn, 1902. gr. 8. 
70 SS. M. 1.—. 

Etienne, Aug., Die Baumwollzucht im Wirtschaftsprogramm der deutschen 
Ueberseepolitik. Berlin, H. Paetel, 1902. gr. 8. 49 SS. mit 1 Tafel graphischer Dar- 
stellgn. M. 1,20. (Schriften der Deutsch-Asiatischen Gesellschaft. Heft 1.) 

Forst- und Jagdkalender, 1903. Jahrg. 53. Teil II. Bearbeitet von (Geh- 
OForstR.) M. Neumeister und (Geh. exp. Sekr.) M. Retzlaff. Berlin, Jul. Springer, 1903. 
12. XII—796 SS. M. 2.—. (Inhalt: Statistische Uebersicht der Forsten des Deutschen 
Reichs und Personalstand der deutscher Forstverwaltungen; Statistik der österreichischen 
Staats- und Fondsforste, sowie Waldfläche der Schweiz, ete.) 

Mentzel und v. Lengerke's Landwirtschaftlicher Hilfs- und Schreibkalender. 
56. Jahrgang, 1903. Herausgeg. von H. Thiel (Wirkl. GehORegR.). 2 Teile. Berlin, 
P. Parey, 1903. 12. geb. u. br. M. 2,50. (Aus dem Inhalt des II. Teils: Die bakte- 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 107 


riellen Hilfsmittel zur Erhaltung und Vermehrung der in der Wirtschaft umlaufenden 
Stickstoffvorräte, von (Prof.) Th. Remy. — Die neueste Gesetzgebung auf dem Gebiete 
des Landwirtschaftsrechts, von (MinistDirekt.) Hermes. — Landwirtschaftliche Genossen- 
schaftsverbände. — Landwirtschaftliche Unterrichtsanstalten.) 

Schier, R. (OFürster), Aus Wald und Heide. Schilderungen aus deutschen Forsten. 
Dresden, C. Heinrich, 1902. gr. 8. 115 SS. mit Abbildgn. kart. M. 3.—. 

Schramm, C. (Direktor der schweizerischen Hagelversicherungsgesellschaft), Der 
Hagelschaden. Praktische Anleitung zur sachgemäßen Beurteilung und Regulierung 
von Hagelschäden. 5. Aufl. Zürich, Th. Schröter, 1902. gr. 8. 84 SS. M. 1,20. 

Seligo, A., Die Fischgewässer der Provinz Westpreußen, in kurzer Darstellung 
bearbeitet. Danzig, L. Saunier, 1902. gr. 8. VI—193 SS. kart. M. 2,50. 

Verhandlungen des 18. österreichischen Forstkongresses 1902. Wien, W. Frick, 
1902. gr. 8. III—121 SS. M. 2.—. 

Weineck (landw. Kreisschuldir., Prof.), Die Bedeutung. der Brache für den neu- 
zeitlichen landwirtschaftlichen Betrieb. Leipzig, H. Voigt, 1902. gr. 8. IV—20 SS. 
M. 0,60. 

Westpreußisches Güteradreßbuch. Stettin, Paul Niekammer, 1903. 4. XX— 
210 SS. M. 9.—. (Ein Verzeichnis sämtlicher Güter mit Angabe der Gutseigenschaft, 
des Grundsteuerreinertrages, der Gesamtfläche und des Flücheninhalts der einzelnen 
Kulturen, des Viehbestandes, aller industriellen Anlagen und der Angabe der Besitzer, etc.) 

Wirz, Jak., Die Getreideproduktion und Brotversorgung der Schweiz. Solothurn, 
A. Lüthy, 1902. gr. 8. VIII—175 SS. mit 1 graph. Darstellung u. 7 Taf. in quer- 
Folio. M. 3.—. (Promotionsschrift.) 


Collet, Octave J. A., L'étain. Etude minière et politique sur les états fédérés 
malais. Bruxelles, Falk fils; s. d. (1902). 8. 196 pag., avec grav. et une carte en 
couleurs hors texte. fr. 5.—. 

Damseaux (prof. à l'Institut agricole de l'Etat), Manuel d’agrieulture générale. 
3' édition. Paris, Guillaumin & C*, 1902. 12. 450 pag. fr. 5,60. (Table des matières: 


Le sol arable. — Mise en valeur du sol et améliorations. Assainissement. Irrigations. 
— Préparation du sol. — La fumure. — Les semailles. — Soins d'entretien pendant la 
eroissance des plantes. — Récolte des produits. — Conservation des produits.) 


du Plessis de Grenédan, J. (prof. à l'Ecole supérieure d’agrieulture d'Angers), 
Géographie agricole de la France et du monde. Paris, Masson & C", 1903. gr. in-8. 
XX—424 pag. av. 118 figur. et cartes dans le texte. fr. 7.—. 

Rayneri, Ch., Le crédit agricole par l'association coopérative. 3* édition. Paris, 
Guillaumin & C'°, 1902. 8. 149 pag. fr. 1,50. 

Message from the President of the United States, transmitting a report of the 
Secretary of Agriculture in relation to the forests, rivers, and mountains of the Southern 
Appalachian region. Washington, Government Printing Office, 1902. Imp. in 8. 210 pp. 
with 78 plates. 

Ware, L. S., Cattle feeding with sugar beets, sugar, molasses, and sugar beet 
residuum, Philadelphia, Phil. Book C°, 1902. 8. 23; 389 pp., illustr., cloth. $ 2,50. 

Williams, Gardner F. (General Manager of De Beers consolidated mines), 
The diamond mines of South Africa; some account of their rise and development. 
London, P. S. King & Son, 1902. gr. 8. Illustrated. 42/.—. 

Hjort, J., Fiskeri og hvalfanget in det norlige Norge. Bergen, J. Grieg, 1902. 
8. kr. 1,50, 


5. Gewerbe und Industrie. 

Grunzel, Josef, Ueber Kartelle. Leipzig, Duncker & Humblot, 
1902. VIIL und 330 SS. | 

In Oesterreich wird gegenwärtig die Kartellfrage vielleicht noch 
eingehender als bei uns in Deutschland diskutiert, und besonders die 
Versuche einer gesetzlichen Regelung haben auch eine große Litteratur 
daselbst hervorgerufen. Zusammenfassende Darstellnngen der ganzen 
Kartellfrage unter Berücksichtigung des Materials sind jedoch, abgesehen 
von Kleinwächters grundlegendem, aber größtenteils veraltetem Buche 


-—— em u 


108 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


bisher von dort nicht geboten worden. Diese Lücke füllt das oben 
genannte Buch Grunzels in glücklicher Weise aus, indem es vorwiegend 
auf den österreichischen Verhältnissen basiert. In der umfassenden 
Darbietung des österreichischen Materials beruht der Hauptwert des 
Buches. Zwar geht Grunzel auch an eine neue Revision der theoretischen 
Grundlagen des Kartellwesens. Aber man wird kaum behaupten können, 
daß seine Ausführungen in dieser Hinsicht viel Neues und Richtiges 
enthalten. Das gilt gleich für die Auseinandersetzung über den Begriff 
des Kartells. Er erklärt (S. 6), der Fehler, den die meisten gemacht 
hätten, sei, daß sie den täglichen Sprachgebrauch des Wortes nicht 
genügend beachtet hätten. Es versteht sich aber von selbst, daß wenn 
dieser klar und unzweideutig wäre, die Erörterungen über den Begriff 
„Kartell“ längst geschlossen wären. Denn es handelt sich hier nicht 
mehr um die Erkenntnis der Erscheinung als solcher, sondern um die 
zweckmäligste Namenergebung. Das Neue, was nun Grunzel über den 
Begriff des Kartells sagt, besteht erstens darin, daß er ihn in Zusammen- 
hang mit dem Begriff des Unternehmers bringt, was aber bekanntlich 
schon längst geschehen ist (vgl. meine „Unternehmerverbände‘“), zweitens 
aber darin, daß er den monopolistischen Charakter der Kartelle leugnet. 
Letzteres ist der verbreitete Irrtum, daß ein Monopol nur dann vor- 
handen sei, wenn alle Unternehmungen vereinigt sind, die Konkurrenz 
absolut ausgeschlossen ist. Es ist nun richtig, daß die Lehre von den 
Monopolen noch recht unvollkommen ist, aber das muß sich doch jeder 
Beobachter der heutigen Verhältnisse selbst aus den Tatsachen ableiten 
können, daß ein monopolistischer Zustand auch dann vorhanden ist, 
wenn es zwar Konkurrenten giebt, aber ihre Zahl und ihr Angebots- 
quantum so gering ist, daß der weitaus größte Teil der Nachfrage seine 
Befriedigung ausschließlich durch einen einzigen Anbieter finden kann. 
Grunzels Definition lautet (S. 12): Ein Kartell ist eine auf dem Wege 
freien Uebereinkommens geschaffene Vereinigung von selbständigen 
Unternehmungen mit gleicher Interessengemeinschaft (!), zum 
Zwecke gemeinsamer Regelung der Produktion und des Absatzes. Das 
ist aber natürlich viel zu weit, denn danach wäre es schon ein Kartell, 
wenn zwei Kohlenzechen, wie es mehrfach vorkommt, gemeinsamen 
Verkauf ihrer Produkte vereinbaren, oder überhaupt eine Firma den 
Verkauf der Produkte einer anderen mit übernimmt. 

Weiter behandelt Grunzel im ersten Abschnitt die Ursachen und 
Voraussetzungen der Kartellbildung. Hier, wie überhaupt in dem ganzen 
Buche, stoßen wir mehrfach auf ganz unnötige polemische Erörterungen, 
so wenn er (S. 25f.) die Beobachtung, daß Kartelle oft in Zeiten 
steigender Konjunktur zustande kommen, einer irrigen Deduktion, nicht 
einer Beobachtung der Tatsachen zuschreibt, aber selbst mit einer lang- 
atmigen Deduktion die nun einmal nicht aus der Welt zu schaffende 
„Tatsache“, die durch zahlreiche Beispiele belegt werden kann, weg- 
disputieren will. 

Der zweite Abschnitt bringt die Klassifikation der Kartelle. Hier 
begeht Grunzel wieder den Fehler, daß er einerseits die sog. Konditionen- 
kartelle, andererseits alle Abnehmerverbände mit zn den Kartellen rechnet. 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 109 


Da diese aber ganz anders zu beurteilen sind als die eigentlichen Kartelle, 
so kommt es, daß seine Urteile über „Kartelle“ in Wirklichkeit sich 
nur auf einen Teil der zu seinem Begriff Kartell gehörenden Organisationen 
beziehen. Er verletzt damit die erste Forderung, die an eine wissen- 
schaftliche Arbeit zu stellen ist und deren Erfüllung viel wichtiger ist 
als die, seine Bezeichnungen dem Sprachgebrauch anzupassen, nämlich 
die Forderung, daß die Bezeichnungen bei der Definition und bei Ur- 
teilen übereinstimmen müssen. 

Auch Grunzel glaubt wieder eine neue Einteilung der Kartelle auf- 
stellen zu müssen. Ich kann im Rahmen eines Referates nicht näher 
darauf eingehen, möchte nur bei dieser Gelegenheit betonen, daß ich an 
der von mir gegebenen Einteilung vollständig festhalte und die Ein- 
wendungen Schäffles, Pohles und endlich auch Grunzels nicht als 
berechtigt anerkennen kann. Denn diese Einteilung, die sich übrigens 
aus allgemeinen theoretischen Erörterungen über das Wesen der Monopole 
ergibt, hat mir bisher noch in keinem Fall versagt, in dem es sich 
darum handelte, eine Klassifikation von Kartellvereinbarungen vorzu- 
nehmen. 

Grunzel unterscheidet bei den Kontingentierungskartellen drei Arten: 
Kontingentierung der Produktion, des Absatzes und des Gewinnes und 
glaubt, daß sich diese Einteilung „von der in der Litteratur üblichen 
sehr unterscheidet“. (S. 68.) Tatsächlich aber verwechselt er wieder 
Gewinnverteilungs- und Auftragsverteilungs- oder, wie er es nennt, Ver- 
kaufskartell. Er kann nicht einsehen, daß das Kohlensyndikat den Zechen 
gar nichts abkauft und daher auch eigentlich kein Kapital gebrauchte, 
da, wie er selbst bemerkt, alle Regiekosten durch Umlage erhoben 
werden. Etwas ganz anderes ist es aber, wenn ein besonderes Organ 
den Mitgliedern die ganze Produktion abkauft. Dies kommt heute in 
verschiedenen Formen vor (z. B. Vereinigte Glasfabriken in Dresden) 
und ein solches Kartell nähert sich umsomehr dem Ring in meiner Auf- 
fassung, je mehr neben den Kartellmitgliedern an dem Ein- und Ver- 
kaufsorgan auch fremde Personen beteiligt sind. 

Der dritte Abschnitt behandelt „die wirtschaftlichen Rückwirkungen 
der Kartelle“. Er ist der kürzeste des ganzen Buches, während er der 
längste sein müßte. Denn die Wirkungen der Kartelle sind heute so 
mannigfach, daß man darüber allein ein Buch schreiben könnte, und 
Grunzel hätte hier Gelegenheit gehabt, eigene Beobachtungen über die 
nenere Entwickelung des Kartellwesens zu bringen. Aber der ganze 
Abschnitt zählt überhaupt nur 29 Seiten und behandelt nur noch ein- 
mal die schon in der früheren Litteratur oft erórterten Fragen. Keine 
einzige neue Beobachtung, das Ganze besteht nur aus Polemik gegen 
die Beobachtungen anderer. Ich hätte hier mehrfach Veranlassung, 
unrichtige Behauptungen zu widerlegen und gegen einseitige Dar- 
stellungen fremder Anschauungen zu protestieren (z. B. gegen die Be- 
hauptungen auf S. 119 und 120), will es jedoch unterlassen, auf Einzel- 
heiten einzugehen, da es für ein Referat genügt, hervorzuheben, daß 
der Grundcharakter des Buches in der Polemik nicht in der Darstellung 
neuer Beobachtungen liegt. 


110 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Der vierte und letzte Abschnitt des allgemeinen Teils darf als der 
beste bezeichnet werden. Er behandelt die staatliche Regelung des 
Kartellwesens, zwar auch hier ohne neue Gedanken, sondern nur zu den 
bisher gemachten Vorschlägen Stellung nehmend; aber er enthält viel 
tatsächliches Material, österreichische Gerichtsentscheidungen, ausländische 
Gesetzgebung, z. B. die die Kartelle betreffende Bestimmung des 
kanadischen Zolltarifs, einen Abdruck der beiden österreichischen Ent- 
würfe u. dgl. Grunzel verhält sich fast allen Vorschlägen gegenüber 
ablehnend und verlangt nur Oeffentlichkeit im Wege der Registrierung 
und Kontrolle. 

Ein sehr umfangreicher zweiter Teil enthält dann eine Uebersicht 
der gegenwärtigen Kartellbewegung. Er ist entschieden der wertvollste 
des Buches und zwar deswegen, weil er, wenigstens was Oesterreich an- 
betrifft, das Tatsachenmaterial in größerem Umfang darbietet, als man 
es sich sonst leicht verschaffen könnte. Dagegen kann ich dem Grunzel- 
schen Selbstlob von der „Fülle der beschafften neuen Daten und Ge- 
sichtspunkte“, die er von der Kartellbewegung des Auslandes beigebracht 
habe (S. 289), ebensowenig zustimmen wie der Behauptung: „Das ge- 
wonnene Resultat ist schon deshalb überraschend, weil ich Kartelle aus 
Ländern vorführen kann, die als kartellfrei gelten.“ Denn die Mit- 
teilungen über Deutschland sind recht unzureichend, zumal deshalb, weil 
Grunzel eben nur eine „Uebersicht der gegenwärtigen Kartell- 
bewegung“ giebt, dieselbe nur etwa in den letzten zwei Jahren näher 
verfolgt hat. Die Nachrichten über die Kartellbewegung in anderen 
Ländern sind aber vollständiger schon bei de Rousiers (Frankreich), 
Macrosty (England) und in dem amerikanischen Consular Report on 
trusts and trade combinations in Europe publiziert. Immerhin muß 
die Zusammenbringung des zerstreuten Materials als ein Verdienst be- 
zeichnet und die darauf verwandte Mühe voll anerkannt werden. 

Robert Liefmann. 


Haacke, Heinrich, Handel und Industrie der Provinz Sachsen 
1859— 1899 unter dem Einflusse der deutschen Handelspolitik. 45. Stück 
der Münchener volkswirtschaftlichen Studien. Stuttgart 1901. 

Der Verfasser hat sich gewiß große Mühe gegeben, um die ihm 
gestellte Aufgabe zu lösen. Aber in dieser Form war sie nicht lösbar, 
es konnte zum wenigsten nichts Rechtes dabei herauskommen. Ein 
derartiger Ausschnitt aus dem Wirtschaftsleben einer Provinz müßte, 
wenn er zu befriedigenden Resultaten führen will, tiefgründig angelegt 
sein; er müßte zunächst eine historische Entwickelung der wirtschaft- 
lichen Hauptfaktoren der betreffenden Provinz geben und sodann bei 
der Schilderung der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit weit mehr 
ins einzelne gehen. Insbesondere hätte der Verfasser unseres Er- 
achtens die Besonderheiten der einzelnen Industriesitze der Provinz 
Sachsen charakterisieren und uns auch mit einigen Haupttrügern, d. h. 
hervorragenden Industrie- und Handelsbetrieben bekannt machen müssen. 
So hätte dann das alles zu einem lebensvollen Gesamtbilde verflochten 
werden können — allerdings, und das ist zuzugeben, wäre das eine 


| 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 111 


sehr schwierige und langwierige Arbeit gewesen, die dann aber auch 
von grundlegendem Werte gewesen wäre. 

In der jetzigen Gestalt indes ist die vorliegende Arbeit in der 
Hauptsache eine kurze Zusammenstellung aus den einzelnen Handels- 
kammerberichten, in einem knappen Rahmen der gleichzeitigen deutschen 
Wirtschaftsgeschichte. Die Einteilung in 3 Perioden, 1889— 1891, 
1892—1893, 1894—1899, reißt bei einer Darstellung von 152 Seiten 
den Stoff zu sehr auseinander und wirkt schließlich ermüdend. Zudem 
beschränkt sich der Verfasser nach einem jedesmaligen kurzen Gesamt- 
überblick auf die Schilderung der Lage der 4 Hauptindustrien in jeder 
Periode, der Zuckerindustrie, des Braunkohlenbergbaues, der Maschinen- 
industrie und der Textilindustrie. Die unausbleibliche Folge davon ist 
die da die Darstellung zu mechanisch, eintónig und schleppend wird. 
Ein großer Teil der Reflexionen bezieht sich ferner auf die bekannten 
Vorginge auf dem Weltmarkt, die in verhältnismäßig viel zu großer 
Breite zur Darstellung gelangen, während die besonderen wirtschaftlichen 
Verhältnisse der Provinz Sachsen dabei viel zu kurz kommen. Der be- 
deutende Handel der Provinz Sachsen findet — abgesehen von dem 
Außenhandel — überhaupt keinen Platz in dem Buche. Gerade solche 
Seiten des wirtschaftlichen Lebens, wie der Getreidehandel, die Korn- 
häuser, besonders das Hallesche, die Mühlenindustrie, die Salzwirkerei 
in Halle, der Warenhandel, die Warenhäuser, die Konsumvereins- 
bewegung, würden — in geeigneter Darstellung — weit mehr Interesse 
erweckt haben, als z. B. die breiten Schilderungen des Zuckerexports 
und der Braunkohlenindustrie, die dem Fachmann nichts Neues zu bieten 
vermögen. 

Alles in allem möchten wir von der Wiederholung derartiger 
Arbeiten entschieden abraten, wenn sie nicht die eigentlichen wirt- 
schaftlichen Fäden und Triebfedern zu erfassen und in der Darstellung 
mit Fleisch und Blut zu umkleiden vermögen. Das Stoffgebiet, an dem 
sich junge Autoren mit mehr Erfolg versuchen können, ist ja doch so 


aulerordentlich weit. J. Wernicke. 


Troeltsch, Walter, Ueber die neuesten Veränderungen im 
deutschen Wirtschaftsleben. Stuttgart 1899. 

Diese fünf Vorträge, Ende 1898 im Stuttgarter Landesgewerbe- 
museum vor dem kaufmännischen und Handelsverein gehalten, machen, 
wie der Verfasser im Vorwort sagt, keinen Anspruch darauf, dem Fach- 
mann viel Neues zu bringen, sie wollen in der Hauptsache für Nicht- 
fachleute ein kurzes Orientierungsmittel über die moderne wirtschaft- 
liche Entwickelung bieten. Gleichwohl enthält das Werkchen mancherlei 
treffliche Gedanken und Urteile. 

So wird der Verfasser den historischen Verdiensten des wirtschaft- 
lichen Liberalismus, dem wir die Bauernbefreiung, die Verkehrsfreiheit, 
die Gewerbefreiheit, die Freizügigkeit verdanken, in anerkennenswerter 
Weise gerecht. Er betont die Notwendigkeit, die Selbsthilfe, die Selbst- 
verantwortlichkeit des Einzelnen wieder mehr zur Geltung zu bringen, 
da leider ein Rückgang des individuellen Verantwortlichkeitsgefühls zu 
konstatieren sei. 


112 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Aus dieser sehr gesunden Grundanschauung heraus bekennt sich 
Troeltsch als ein Anhänger der modernen Wirtschaftsentwickelung, wenn 
er auch keineswegs ihre Gefahren und Nachteile, namentlich die Schatten- 
seiten des Kapitalismus, verkennt. 

Als bestes Gegenmittel dagegen empfiehlt Troeltsch für die Arbeiter 
das freie Koalitionsrecht, während er unseres Erachtens die Kartelle 
und ihre Bestrebungen etwas zu günstig und optimistisch beurteilt. Be- 
züglich der landwirtschaftlichen Streitfragen nimmt Troeltsch die Be- 
hauptungen von der geringen Rentabilität der Landwirtschaft zu gut- 
gläubig hin. Er führt sie in erster Linie auf den Rückgang der 
wichtigsten landwirtschaftlichen Preise zurück — was aber in dieser 
Allgemeinheit nicht zutrifft; Butter, Eier, Milch, Fleisch, Gemüse, Obst, 
Heu, Hülsenfrüchte etc. sind im Preise weit höher wie früher; in der 
Hauptsache steht eigentlich nur Weizen und teilweise Roggen niedriger 
wie früher — und sodann auf die ungesunde Bodenpreisbildung, worin 
er durchaus recht hat. Von den Getreideabsatzgenossenschaften ver- 
spricht er sich nicht viel, und er hat mit dieser Ansicht leider recht 
behalten. Wenn, wie gesagt, Troeltsch auch in etwas zu weitgehender 
Weise einen landwirtschaftlichen Notstand anerkennt, so erklärt er sich 
doch entschieden gegen die Erhöhung der Getreidezölle, die in ihrer 
jetzigen Höhe zur Erhaltung der Landwirtschaft völlig ausreichten. 
Troeltsch tritt für Hebung des Exports, für Handelsverträge und für 
möglichste Erweiterung des Inlandsabsatzes, so durch Hebung der 
Löhne, Verbilligung des Warenabsatzes durch Warenhäuser und Konsum- 
vereine und Ermäßigung der Gütertarife und der Verbrauchssteuern ein. 

In eine solche rationelle Wirtschaftspolitik paßt selbstverständlich 
nicht die Hemmung der Entwickelung der Warenhäuser etc. durch 
hohe strafartige Sondersteuern, die Troeltsch sehr richtig einen „Mib- 
brauch der Steuergewalt“ nennt. Ein Recht auf Existenz hat 
nach Troeltsch nur derjenige Betrieb, der es versteht, 
sich anzupassen an die nimmer ruhende Bewegung im 
Wirtschaftsleben. 

Alles in allem verdient dieses kleine, gesunde Anschauungen ent- 
haltende Werk es, von den sogenannten „Mittelstandspolitikern“ eifrig 
studiert zu werden. J. Wernicke. 


Arbeitertaschenbuch für das Jahr 1903 Herausgeg. von den Verbänden 
katholischer Arbeitervereine West- und Süddeutschlands. Berlin, Verlag der Germania, 
1902. 8. 212 SS. 

Burk, H. A., Der Centralverband deutscher Industrieller 1876 bis 1901. I. Band. 
Berlin, Druck Deutscher Verlag, 1902. gr. 8. 

Hasse, Herm., Die allgemeine Elektrizitätsgesellschaft und ihre wirtschaftliche 
Bedeutung. Monographie eines technischen Großbetriebes. Heidelberg, K. Winter, 
1902. gr. 8. 97 SS. M. 1,50. 

Imle, Fanny, Die Arbeitslosenunterstützung in den deutschen Gewerkschaften. 
Nach Angaben der Gewerkschaftsvorstände bearbeitet. Berlin, Verlag der sozialistischen 
Monatshefte, 1903. gr. 8. 51 SS. M. 0,75. 

Jahrbuch der deutschen Braunkohlen- und Steinkohlenindustrie, 1903. Jahrg. III. 
Herausgeg. unter Mitwirkung des deutschen Braunkohlenindustrievereins. 2 Teile. 
Halle a/S., Wilh. Knapp, 1903. gr. 8. XVI—168 u. 136 SS. reb. M. 6.—. (Teil II 
[160 SS.]: Deutsche Braunkohlenstatistik.) 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 113 


Jastrow, J. (Privdoz., Univ. Berlin, StadtR., Charlottenburg), Sozialpolitik und 
Verwaltungswissenschaft. Aufsätze und Abhandlungen. Band I. Arbeitsmarkt und Arbeits- 
nachweis, Gewerbegerichte und Einigungsämter, Berlin, G. Reimer, 1902. gr. 8. XIV— 
548858. M. 10.—. 

Kerp, Heinr., Methodisches Lehrbuch einer — begründend — vergleichenden 
Erdkunde. Bd. I: Die deutschen Landschaften: (Das Deutsche Reich und die Schweiz. 
Trier, Fr. Lintz, 1902. gr. 8. VIII—368 SS. M. 3,80. (Aus dem Inhalt: Aus dem 
Wirtschafts- und Kulturleben der Menschen: Das Uhrengewerbe auf der Schweiz; Die 
Geigenverfertigunz in Mittenwald; Der Holzhandel des Schwarzwaldes; Der Tabakbau 
und seine Geschichte; Der Weinbau im Neckarlande; Das Achatgewerbe des südlichen 
Hunsrück; Die Bimssandsteinverfertigung ; Die Tongewinnung und das Töpfergewerbe 
des Westerwaldes ; Die Industrien von Elberfeld und Barmen in früherer Zeit; Die 
Spielwarenindustrie des Thüringer- und Frankenwaldes; Weberei und Spinnerei in den 
Sudetentälern und im Sudetenvorlande; Der Grünberger Weinbau; Berlin als Industrie- 
stadt; Die Geschichte des Hopfenbaues Die Geschichte der Krefelder Seidenindustrie. 
— Siedelungskunde: Lage und Bedeutung von Städten; Besiedelungsweise. — etc.) 

Oeser, Rud., Wie stellen wir uns zu den Kartellen oder Syndikaten ? Vortrag, 
gehalten auf dem 22. Parteitag der deutschen Volkspartei am 21. IX. 1902. Frank- 
fut a M., J. D. Sauerländer, 1902. gr. 8. 29 SS. M. 0,60. 

Oppel, A. (Prof., Bremen), Die Baumwolle nach Geschichte, Anbau, Verarbeitung 
und Handel, sowie nach ihrer Stellung im Volksleben und in der Staatswirtschaft. Im 
Auftrage und mit Unterstützung der Bremer Baumwollbórse bearbeitet und herausgeg. 
Leipzig, Duncker & Humblot, 1902. gr. 8. XV—745 SS. Mit 236 Karten u. Abbildgn. 
geb. M. 20.—. 

Pieper, Aug. und Helene Simon, Die Herabsetzung der Arbeitszeit für 
Frauen und die Erhöhung des Schutzalters für jugendliche Arbeiter in Fabriken. Referate. 
Nebst einem Bericht über die Generalversammlung der Gesellschaft für soziale Reform 
in Köln. Jena, G. Fischer, 1902. gr. 8. 164 SS. M. 1.—. (Schriften der Gesellschaft 
für soziale Reform. Herausgeg. von dem Vorstande. Heft 7 u. 8.) 

Textilindustrie, die deutsche, im Besitze von Aktiengesellschaften. Statisti- 
sches Jahrbuch über die Vermögensverhältnisse und Geschäftsergebnisse derselben im 
Betriebsjahre 1901/1902. 6. vollständig umgearbeitete Aufl. Leipzig, Verlag für Börsen- 
und Finanzliteratur, A.-G., 1902. Lex.-8. XI—187 SS., geb. M. 5.—. (Bringt auch 
Angaben über die jährliche Produktion, sowie über die Zahl der Spindeln und Kraft- 
stüble der einzelnen Betriebe.) 

Timm, Joh., Aus dem Entwickelungsgang der deutschen Gewerkschaftsbewegung. 
Mit einem Nachwort von L. Sinzheimer über: die Stellung der oberen Klassen und 
der Wissenschaft zu den Gewerkschaften. 2. Aufl. München, E. Reinhardt, 1902. gr. 8. 
98 M. 1.—. 

Untersuehungen über die Heimarbeit der Frauen. Dresden, O. V. Bóhmert, 
1902, 8. 41 SS. (Schriften der Dresdener Gesellschaft für soziale Reform, Heft 1.) 

Wendlandt, W. (Generalsekretär), Das Kartellwesen. Referat, gehalten am 9. X. 
1902 auf der Generalversammlung des Bundes der Industriellen zu Berlin. o. O. u. J. 
(Berlin, 1902). 8. 16 SS. 


Annuaire des établissements belges métallurgiques, aciéries, ferronneries, char- 
bonnages et l'industrie en général, pour 1902. Liége, 45, rue des Guillemins, 1902. 8. 
XII—948 et 18 pag.; toile. fr. 7,50. 

Borderaux de salaires pour diverses catégories d'ouvriers en 1900 et 1901. Paris, 
Berger-Levrault & Ci, 1902. gr. in-8. 257 pag. fr. 3,50. (Publication du Ministère 
du commerce, Office du travail.) 

Husson, F. (conseiller honoraire de la chambre syndicale des entrepreneurs de 
serrurerie), Artisans français. Les serruriers (étude historique). Paris, impr. Watelet & 
Vigot, 1902, 8. 270 pag. fres. 5.—. 

Moteurs, les, électriques dans les industries à domicile. Rapport présenté par 
Ernest Dubois (prof. à l'Université de Gand) et Armand Julin (chef de division à l'office 
du travail). Bruxelles, 1902. 8. 292 pag. (Sommaire: L'industrie horlogère suisse. — 
Le tissage de la soie à Lyon. — L'industrie de la rubanerie à Saint-Etienne. (Publi- 
cation du Ministère de l’industrie et du travail. Office du travail.) 

Paulet, G. (directeur de l'assurance et de la prévoyance sociales), Rapports aux 


Dritte Folge Bd. XXV (LXXX). 8 


114 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


congrès ‘internationaux des accidents, Paris 1900-(Düsseldorf 1902). Paris, Berger- 
Levrault & C", 1902. 8. 36 pag. fr. 0,60. 

Pelloutier, Fernand (secrétaire général de la fédération des bourses du travail 
de France), Histoire des bourses du travail. Origine. Institutions. Avenir. Paris, 
Schleicher frères & C^, 1902. 12. Ouvrage posthume, avec le portrait de l’auteur. 
fr. 3,50. (Table des matieres: Notice biographique, par V. Dave. — Préface, par G. 
Sorel. — Après la commune. — Les partis ouvriers et les syndicats. — Naissance des 
bourses du travail. Historique des bourses du travail. — Comment se crée une 
bourse du travail. — 3 ues des bourses du travail. — Le comité fédéral des bourses 
du travail. — Conjonctures sur l'avenir des bourses du travail. — Documents et an- 
nexes: Projet de loi sur les retraites ouvrières. Rapport sur les travaux du Comité 
fédéral pendant l'exercice 1900—1901. Projet de loi sur la règlementation des grèves 
et de V’arbitrage obligatoire, Rapport sur les travaux du Comité fédéral pendant lexer- 
vice 1900—1901. — ete.) 

Verhaegen, P., Les industries à domicile en Belgique. Tome IV. et V.: La 
dentelle et la broderie sur tulle. 2 vols. Bruxelles, Lebègue, 1902. gr. in-8. fr. 25.—. 

Iron and Steel Institute. Meeting at Düsseldorf, 1902, September. (Contents: The 
progress and manufacture of pig iron in Germany since 1880, by W. Brügmann (Dort- 
mund) — Progress in steelworks practice in Germany since 1880, by R. M. Daelen 
(Düsseldorf). — The overheating of mild steel, by E. Heyn (Charlottenburg). — Iron 
and steel et the Düsseldorf Exhibition, 1902, by (Prof. Herm. Wedding (Berlin). 

Potter, H. Codman, The citizen in his relation to the industrial situation. 
(Yale lectures). New York, Seribner, 1902. 8. 5; 248 pp., eloth. 8 1.—. (Contents: 
The industrial situation. — The citizen and the workingman. — The citizen and the 
capitalist. — The citizen and the consumer. — The citizen and the corporation. — The 
citizen and the State.) 

Willett, Mabel Hurd, The employment of women in the clothing trade. New 
York, 1902. 8. 206 pp. with maps, tables, and diagrams. 6/.—. (Studies in History, 
Economies and publie law. Edited by the faculty of political economy of Columbia 
University. Vol. XVI (n° 2 of the series). [Contents: The industrial employment of 


women in England and in United States. — The clothing trade in the Unit. States. — 
Women in the clothing industry. — The Italian finishers in their homes. — Work, 
wages, and expenses of the home finishers. — The factory system in the overalls trade. 
— Labour legislation in New York States. — Trade Unions. — ete.].) 


Raugoni, Domenico, Il lavoro colletivo degli italiani al Brasile: conferenza 
popolare. S. Paolo (Brasile) tip. Duprat & C°, 1902. 8. 126 pp. 

Salvatore, Alma Rizzo, I lavoratori e la produzione in Sicilia. Parte I. Il 
lavoratore siciliano. Napoli, tip. R. Pesole, 1902. 8. 40 pp. 


6. Handel und Verkehr. 


Jahresbericht der Bergischen Handelskammer zu Lennep. Umfassend die Kreise 
Gummersbach, Lennep, Remscheid, Wipperfürth und die Bürgermeistereien Kronenberg, 
Heiligenhaus, Velbert, Wülfrath 1901. Teil III. Gummersbach, Druck von Fr. Luyken, 
1902. gr. 8. 95; VI SS. 

Jahresbericht über die Staatseisenbahnen und die Bodenseedampfschiffahrt im 
Großherzogtum Baden für das Jahr 1901. Herausgeg. von der Generaldirektion der 
badischen Staatseisenbahnen, zugleich als Fortsetzung der vorangegangenen Jahrgünge 
61. Naehweisung über den Betrieb der großh. badischen Staatseisenbahnen und der 
unter Stautsverwaltung stehenden badischen Privateisenbahnen. Karlsruhe, Ch. Fr. Müller, 
1902. 4. 80 SS. mit zahlreichen Tabellen und graphischen Anlagen. 

Metzler, Lud w. (Sekretär der Handelskammer für das Herzogt. Sachsen-Alten- 
Rumänien, seine Handelspolitik und sein Handel 1890—1900. Mit besonderer 
chtigung der deutsch-rumänischen Handelsbeziehungen. Altenburg, O. Bonde, 
1902. gr. 8. 66 SS. M. 2.—. 

Neisser, E. J. (wissenschaftl. Hilfsarbeiter der Handelskammer zu Potsdam), 
Die wirtschaftliche Lage und Leistungsfäbigkeit von Handel, Gewerbe und Industrie 
im Bezirke der Handelskammer zu Potsdam (in seinem Umfange bis zum Jahre 1901). 
Bearbeitet im Auftrage der Handelskammer auf Grund amtlichen und privaten statisti- 
schen Materials. Berlin, C. Heymanns Verlag, 1903. Lex.-8. X—82 u. 48 SS. Mit 
3 Karto- und 3 Diagrammen. 

Sammlung von Schriften zur Kanalfrage N° 1-—3. Hannover 1902, 8. (Inhalt: 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 115 


vin 2: Der Mittellandkanal als Bindeglied einer einheitlichen Wasserwirtschaft 
Nordwestdeutschlands, nebst einer Uebersichtskarte von (Ingenieur) Humann. — N° 3. 
Weser — im zukünftigen deutschen Schiffahrtsstraßennetz, von Victor Kurs.) 

Segelhandbuch für die Nordsee. I. Teil. Heft 3: Deutsche Bucht der Nordsee. 
Dinische Küste von Hanstholm bis zur deutsch-dänischen Grenze mit dem Lim Fjord. 
Holländische Küste von der Ems bis Terschelling. 5. Aufl. Berlin, Dietrich Reimer, 
1902, gr. 8. XX—373 SS. mit 2 Taf. geb. M. 4.—. 

Zolger, Ivan, Das kommerzielle Bildungswesen in England. Wien, Alfr. Holder, 
1903. gr. 8. VII—215 SS. M. 5,20. (A. u. d. T.: Das kommerzielle Bildungswesen 
der europäischen und außereuropäischen Staaten, von Fr. Diabac u. J. Zolger. Bd. I.) 


Chambre de commerce de Verviers. Rapport général sur la situation du com- 
mere et de l'industrie de l'arrondissement de Verviers pendant l'année 1901. Verviers, 
impr. Aug. Nicolet, 1902. 8. 122 pag. 

Congrès, le, international du commerce et de l’industrie d’Ostende, 1902. Comptes- 
rendus analytiques des séances réunis par Alb. Bouchery, (secrétaire du Congrès) ete. 
Ostende, impr. A. Bouchery, 1902. 8. 104 pag. fr. 20.—. 

Congrès, I", du Sud-Ouest navigable tenu à Bordeaux les 12, 13 et 14 juin 
1902. Compte rendu des travaux. Paris, L. Mulo, 1902. gr. in-8. fr. 5.—. 

Coudert, Ant. (avocat à la Cour d’appel de Paris), Le livre du brocanteur et 
du négociant en chiffons. Paris, Arth. Rousseau, 1902. 8. fr. 3,50. 

Mazoyer, Rigaux et Galliot (ingénieurs en chef des ponts et chaussées) et 
Claise (ingénieur des ponts ete.), La navigation intérieure, rivières et canaux. Paris, 
E, Bernard & C'*, 1902. gr. in-8. 226 pag. et atlas de 18 planches in-Folio. M. 20.—. 

Philbert, V., De la liberté du commerce dans les traités de commerce. Paris, 
Rousseau, 1902. 8. 197 pag. 

Réelamation de l'administration des douanes concernant un droit d'importation. 
La Rochelle, impr. Masson & Or, 1902. 8. 15 pag. 

Marvin, W. L., American merchant marine: its history and romance from 1660 
101902. London, Low, 1902. 8. 462 pp. 8/.6. 

Morgan, Ben H. (Engineering Trades Commissioner) The engineering trades. 
London, P. S. King & Son, 1902. 8. With reproductions of numerous special plans, 


drawings and photographs. 15/.—. (Contents chapters on: Condition of trade. — Methods 
of business. — The shipping question. — Preferential tarifis. — Prices. — Gold mines 
and mining machinery. — Coal and coal burning and mining machinery. ete. etc.) 


Pogson, C. Ambrose, Germany and its trade. London & New York, Harper 
& Brothers, 1903. gr. 8. XVI—174 pp. with map, cloth. 3/.6. (Contents: The German 
empire of to-day; its geography, climate, and government. — Population. — Natural 
resources and wealth of Germany. — Currency, weights and measures, banks and 
banking. — Railways, tramways and waterways. — German harbours and shipping. — 
Imperial and national revenues, expenditure, and debts. — Post-office, telegraphs and 
telephones. — Imports and exports. — German commercial policy and the German 
m — Commercial education in Germany. — Lists of German consulates in the British 
Empire.) 

Tables showing the progress of British merchant shipping to 1901. London, 1902, 
Folio. 1/.—. Parl. pap. (Contents: Tonnage of British vessels and foreign vessels, 1840— 
1901. — Rates of wages of seamen. — Persons employed. — Nationality of crews. — 
Suez Canal traffic. — Vessels on the register of the United Kingdom, the principal 
British possessions, and foreign countries, classified according to tonnage.) 

Movimento della navigazione nel 1901. Roma, stabilimento Calzone-Villa, 1902. 
Roy. in-Folio. XXVI—1192 pp. (Pubblieazione del Ministero delle finanze, Direzione 
generale delle gabelle.) 

7. Finanzwesen. 

Uebersicht der Reichsausgaben und -Einnahmen für das Rechnungsjahr 1901. 
Berlin, 1902, Roy.-4. 630 SS. (Reichstagsvorlage, 10. Legislaturperiode, II. Session 
1900/1903. N° 780 vom 29. XI. 02.) 

Wernicke, J., Die Sonderumsatzsteuern im Lichte der Gewerbefreiheit und Ge- 
Werbeordnung sowie der allgemeinen Rechts- und Steuerprinzipien. Berlin, J. Gutten- 
tag, 1902. gr. 8. IV—63 SS. M. 0,80. 


HS 


116 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Neymarek, Alfred, Finances contemporaines. I. Trente années financières 
1872—1901. Paris, Guillaumin & C^, 1902. 8. 539 pag. fr. 7,50. (Table des matières: 
1872. L'année des trois milliards. — 1873. L'année de la libération du territoire. — 
1874. La rente 5°, au pair. — 1875. L'année des surprises. — 1876. L'année des 
inquiétudes. — 1877. L'année des crises. — 1878. L'année de l'exposition. — 1879. 
L'année des syndicats. — 1880. L'année des déerets. — 1881. L'année de la spécu- 
lation. — 1889. L'année du krach. — 1883. L'année de !’inquietude. — 1884. L'année 
de la crise. — 1885. L'année de la liquidation. — 1886. L'année de la reprise des 
affaires. — 1887. L'année de surmenage. — 1888. L'année des équivoques. — 1889. 
L'année du centenaire. — 1890. Militarisme, protectionnisme, socialisme. — 1891. Une 
année d'avertissements, — 1892. Rente 3°/, au pair, dynamite et Panama. — 1893. 
La lutte des classes. — 1894. L'année noire. — 1895. L'année de déceptions et de 
spéeulation. — 1596. L'année des discussions fiscales. — 1897. L'année de l'alliance. 
— 1898. Pessimisme exagéré. — 1899. Une année d'affaires et de profits. — 1900. 
La dernière année d'un siècle. — 1901. Une année de fléchissement et de liquidation.) 

du Velay, A. Essai sur l'histoire financière de la Turquie depuis le règne du 
sultan Mahmoud II jusqu'à nos jour. Paris, Arth. Rousseau, 1902. 8. 722 pag. 
fr. 20.—. 

Colli, C., L'imposta progessiva. Milano, stamp. editr. Lombarda di Mondaini, 
1902. 12. 46 pp. 

Note sul dazio di consumo in Napoli. Napoli, tip. F. Giovannini & figli, 1902. 
4. 16 pp. 

8. Geld-, Bank., Kredit- und Versicherungswesen. 

Buxton, Sydney, Mr. Gladstone as chancellor of the Exche- 
quer. A study. London 1901. VIII u. 197 SS. Geb. 5 sh. 

Neben einem vorwiegend für den englischen Politiker wertvollen, 
bereits in neun Auflagen erschienenen „Handbook to political questions“, 
hat Sydney Buxton ein in Deutschland viel zu wenig beachtetes zwei- 
bändiges Werk 1888 unter dem Titel „Finance and politics, an histo- 
rical study“ veröffentlicht, eine treffliche, stoffreiche Finanzgeschichte 
Englands für den Zeitraum von 1783—1885, die sich durch eine Fülle 
litterarischer Quellennachweise, Vollständigkeit und Zuverlässigkeit in 
der Benutzung der Materialien auszeichnet, Vorzüge, die man anderen, 
bekannteren englischen Finanzwerken, insbesondere der weit über Ge- 
bühr geschätzten lückenreichen Steuergeschichte von Dowell, durchaus 
nicht nachrühmen kann. 

Buxton’s Studie über Gladstone’s Finanzpolitik giebt im Vergleich 
zu seinem größeren Werke nicht viel Neues. Sie kann aber auf alle 
Fälle als eine übersichtliche Darstellung der englischen Finanzverhält- 
nisse für die Zeit von 1853—1883 bezeichnet werden. Der Verfasser 
besitzt die Eigenschaft, die er bei Gladstone bewundert, das trockene 
Zahlenmaterial der Budgets, Abrechnungen und Steuergesetze in an- 
ziehender und fesselnder Weise zum Vortrag zu bringen, selbst in hohem 
Maße, so daß man seine Studie auch da, wo sie schon von ihm im 
früheren Werk Gesagtes wiederholt, gerne liest. He was never, for one 
single minute — so sagt Buxton von Gladstone — dry or dull. Und 
das gilt auch für den Verfasser. Dazu kommt, daß die Finanzepoche 
Gladstone neben denen eines Pitt und eines Peel zu den interessantesten 
und wichtigsten in England gehört. 

1809 geboren, seit 1832 im Parlament, 1841 von Peel in die 
Regierung berufen, hat Gladstone 10 Jahre als Chancellor of the Exche- 
quer (Ende 1852 bis Anfang 55, Mitte 1859 bis Ende 66), à Jahre 
als Premierminister und Leiter der Finanzen (August 1873 bis Februar 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 117 


1874, April 1880 bis April 83) und 11 Jahre (Ende 1868 bis August 1873, 
April 1883 bis Juli 1885, Januar bis Juli 1886, August 1892 bis Mitte 1894) 
als Premierminister ohne das Finanzportefeuille seinen entscheidenden 
Einfluß auf Englands Finanzen ausgeübt, ein Zeitraum, wie er seit Pitt, 
welchem 18 Jahre lang das Finanzministerium unterstanden hatte, keinem 
englischen Finanzminister mehr beschieden war. — Das parlamentarische 
Regierungsprinzip trübt leicht das Urteil über einen großen Minister. 
Auch auf Gladstone’s Verdienste als Finanzminister ist ein Schatten 
gebreitet, den allerdings nicht seine Finanzleistungen, sondern seine 
allgemeine Politik veranlaßt hat. Während die Finanzpolitik eines 
Pit und eines Peel eine „hand-to-mouth finance“ war, war die 
Gladstones auf Erfahrung und Wissen gegründet und häufig hat 
er in seinen Parlamentsreden seine oft originellen Finanzideen ent- 
wickelt. Aber der Druck der Verhältnisse nötigte ihn manchmal zu 
einem Verzicht auf die Verwirklichung seiner Pläne. So war Gladstone 
ein Gegner der Einkommensteuer und dreimal hat er den Versuch ihrer 
Beseitigung unternehmen wollen. Er schätzte sie zwar als „an engine 
of gigantic power for great national purposes“, aber nur als eine außer- 
ordentliche Maßregel, als eine „war tax“ wollte er sie haben. Allein 
‚Mr. Gladstones dream has been to destroy the tax, his fiscal work 
bas resulted in making it perpetual.“ (Finance and politics, I, S. 194.) 
Eine andere direkte Steuer, die succession duty, wurde 1853 von ihm 
eingeführt, „the first considerable new tax that had been created since 
the great war“, eine Steuer, wie sie Pitt schon 1796 geplant hatte 
und die, wie die von Miquel beabsichtigte Erbschaftssteuer, eine Ergän- 
zung zur Besteuerung des fundierten Einkommens bilden sollte. Diese 
Steuer entsprach allerdings in ihrem Ergebnis nicht den Erwartungen 
und ist neben dem von Gladstone versuchten Schema zur Zinsreduktion 
für die Staatsschuld als Mißgriff zu bezeichnen. Um so erfolgreicher 
waren Gladstone's sonstige zahlreiche Reformen, von denen wir nur an 
die folgenden erinnern wollen: die endgiltige und völlige Reinigung 
des alten und die Herstellung des vollkommen freihändlerischen Tarifs; 
die Reduktion zahlreicher Abgaben, insbesondere auf Thee und für die 
Feuerversicherung; die Beseitigung anderer insbesondere für Papier und 
Zucker, die Reform der Stempelsteuer durch Einführung der Penny- 
marke als Erhebungsform; die Reform der Biersteuer, der Erhebung 
der Einkommensteuer, der Finanzkontrolle u. s. w. Wenn wir schließ- 
lich anführen, daß zwischen 1852 und 1882 Steuern im Betrag von 
53 Mill £ auferlegt, solche im Betrag von 721/, Mill. £ aber be- 
seitigt wurden, und daß trotz des Nachlasses dieser 20 Mill. £ die 
„tax revenu“ dennoch um 70 Mill. £ höher war, so erhellt schon hier- 
aus, daß Gladstone’s Finanzpolitik einer Betrachtung würdig ist. 
Berlin. Alfred Manes. 


Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissen- 
schaft. Herausgegeben vom deutschen Verein für Versicherungswissen- 
schaft. Schriftleitung: früher Rechtsanwalt Ad. Rüdiger jetzt 
Dr. phil. et jur Alfred Manes. Band I und II. Berlin (E. S. 
Mittler u. Sohn) 1901/02 (Preis pro Band, 4 Hefte) 9 M. 


118 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Der am 26. September 1899 gegründete deutsche Verein für Ver- 
sicherungswissenschaft, welcher an die Stelle des durch die Aufstellung 
der aus den Erfahrungen 23 deutscher Lebensversicherungsgesellschaften 
hervorgegangenen deutschen Sterblichkeitstafeln bekannten Kollegiums 
für Lebensversicherungswissenschaft trat, hat den Zweck, die Versiche- 
rungswissenschaft zu fördern. Unter Versicherungswissenschaft werden 
nach $ 1 der Satzungen des Vereins „sowohl die rechts- und wirt- 
schaftswissenschaftlichen wie die mathematischen und naturwissen- 
schaftlichen Wissenszweige verstanden, deren Bestand und Fortbildung 
dem Versicherungswesen dienlich sind“. Die Zahl der Mitglieder be- 
trägt bereits 100 körperschaftliche und über 400 persönliche, darunter 
die bedeutendsten deutschen Versicherungsgesellschaften und Vertreter 
der Versicherungswissenschait. — Die vom Vereine herausgegebene, 
nunmehr den 3. Jahrgang beginnende „Zeitschrift für die gesamte 
Versicherungswissenschaft", ist, dem Zweck des Vereins entsprechend, 
allen Versicherungszweigen ohne Unterschied, ob es sich um Privat- 
versicherungsanstalten oder Staatsanstalten oder staatlich geleitete An- 
stalten handelt, gewidmet; sie will aber, wie der Herausgeber in 
einem einleitenden Artikel des 1. Jahrganges „das Versicherungswesen, 
sein Zustand und seine Stellung in Wirtschaft, Gesetzgebung und Wissen- 
schaft“ sagt, nur der Wissenschaft dienen und wird darum „einerseits 
der freien Forschung keine Schranken setzen, andererseits von jedem 
Hinübergreifen in die Sphäre nichtwissenschaftlicher Interessenvertre- 
tung sich fernhalten“. Diesem Grundsatz ist die Zeitschrift, wie aus 
dem reichen Inhalt der beiden ersten Bände ersichtlich ist, treu ge- 
blieben. Sie enthält eine ganze Reihe größerer wissenschaftlicher Arbeiten, 
daneben kurze Abrisse, deren Inhalt sich auf alle Zweige der privaten 
und öffentlichen Versicherung erstreckt, behandelt rechtswissenschaft- 
liche, historische, volkswirtschaftliche, statistische, mathematische und 
andere versicherungstechnische Fragen , und zwar nicht lediglich aus 
der Feder von Akademikern, sondern zum größten Teil aus den Federn 
von Versicherungspraktikern. Eine Zusammenstellung der einschlägigen 
Rechtsprechung wird von Zeit zu Zeit vom Herausgeber beigegeben. 
— Das jüngst ausgegebene 4. Heft des 2. Bandes enthält folgende 
Abhandlungen: 1) Ueber die Haftpflichtversicherung von Personen in 
Vertrauensstellungen. Referate, gehalten im preußischen Versicherungs- 
beirat von den Herren: Generaldirektor Dr. jur. F. Hahn-Magedeburg 
und Geh. Hofrat Th. Klauss-Karlsruhe. 2) Zur juristischen Natur der 
Kollektivunfall- und Haftpflichtversicherung. Von A. v. Weinreich. 
3) Die Haltung des Reeders Dritten gegenüber für Verschulden der 
Schiffsbesatzung bei der Schleppschiffahrt nach deutschem Recht. Von 
Dr. P. Brüders. 4) Die Wertung der Familiengeschichte gegenüber 
der Lungenschwindsucht. Von Stabsarzt a. D. Dr. Gollmer-Gotha. 5) Der 
Begritf „Privatversicherungsunternehmung“. Von Rechtsanw. Dr. Fuld- 
Mainz. 6) Die wirtschaftliche Bedeutung und Wirkung der Glieder- 
taxe in der Unfallversicherung. Von A. Kleeberg, Prokurist der Vers.- 
A.G. „Securitas“-Berlin. 7) Die Volksversicherung und ihre Fortbildung. 
Von Dr. V. Peters. 8) Die Versicherung in den Niederlanden im Jahre 
1901. Von Dr. W. Blink Schuurmann, Rechtsanwalt in Amsterdam. — 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 119 


Dem vorliegenden Heft ist ein Ergänzungsheft folgenden Inhalts bei- 
gegeben: 1) Der Entwurf zu einem schweizerischen Bundesgesetz über 
den Versicherungsvertrag. Mit Einleitung und Erläuterungen von A. 
Rüdiger. Nebst einem Anhang, enthaltend: a) Berechnung des Abzugs 
som Deckungskapital beim Rückkauf einer Lebensversicherung, nach 
Sprague. b) Der Schweizerische Bundesratsbeschluß vom 9. Mai 1902, 
betr. Chomageversicherung, und dessen Begründung. 2) Vorschläge zur 
Aenderung der gesetzlichen Vorschriften, betr. die Haftung der Reeder, 
von Justizrat Boyens in Leipzig. Beide hier behandelten Fragen können 
angesichts der bevorstehenden Regelung der privatrechtlichen Seite 
der Versicherungsgesetzgebung für das Deutsche Reich einerseits und 
der von den Hansestädten ausgehenden Bewegung zu Gunsten refor- 
matorischen Vorgehens im Seeversicherungswesen andererseits zur Zeit 
besonderes Interesse beanspruchen. — Da es bis jetzt außer dem in 
Wien erscheinenden Ehrenzweig'schen Assekuranzjahrbuche in Deutsch- 
land kaum eine umfassendere, den Anforderungen der Wissenschaft ge- 
nügende, Parteiinteressen nicht dienende Versicherungszeitschrift giebt, 
so ist die vorliegende Zeitschrift, die einem tatsächlich fühlbar ge- 
wordenen Bedürfnisse ihre Entstehung verdankt, angethan, eine be- 
deutende Lücke in der wissenschattlichen Fachlitteratur auszufüllen. 
Wenn sie weiter in der bis jetzt betätigten Weise die erforderliche 
Objektivität zu wahren versteht, wird sie nicht nur dauernd für 
jeden Versicherungspraktiker und -theoriker ein unentbehrliches Hilfs- 
mittel sein und bleiben, sondern auch für weitere Kreise, wie Volks- 
wirte und Staatsrechtler, ganz besonders auch für den großen Kreis 
der Versicherungsnehmer von hohem Interesse sein. 


Gottfr. Leuckfeld. 


Assekuranzjahrbuch. Begründet von A. Ehrenzweig. Herausgeg. von der 
„Oesterr. Versicherungszeitung“. Jahrg. XXIV. Wien, Manz, 1903. gr. 8. IV—442 SS. 
geb. M. 9.—. (Aus dem Inhalt: Treu und Glauben im Versicherungsverkehr, von Jos. 
Zalud. — Zur Frage der Exekutionsfreiheit der Lebensversicherungspolizen, von Rud. 
Hauensehild. — Die rechtliche Natur des Rückkaufs und der Beleihung der Polize in 
der Lebensversicherung auf den Todesfall, von P. Moldenhauer. — Das italienische Ge- 
setz über die Aufteilungs-(Tontinen-)Unternehmungen, von (Prof. Ul. Gobbi, — Be- 
trachtungen über die Verletzung der Anzeigepflicht im Versicherungs- und insbesondere 
im Rückversicherungsvertrage, von (Prof.) Arn. Bruschettini. — Risikoprämie und Spar- 
prämie bei Lebensversicherungen auf eine Person, von (Prof. L. v. Bortkiewiez. — 
Nach Maßgabe der rechnungsmäßigen Sterblichkeit steigende Renten, von K. Dizler. — 
Vergleichung von Mittelwerten, von Corneille L. Landré. — Untersuchungen über die 
Sterblichkeit der minderwertigen Leben in Skandinavien und Finland, von Hans Tise- 
lius, — ete. 

Bericht des Vorstandes über die Verwaltung der Landesversicherungsanstalt Elsaß- 
Lothringen für das Jahr 1901. o. O. u. J. (Straßburg, im Oktober 1902). 4. 36 SS. 

Crüger, Hans (Verbandsanwalt der deutschen Erwerbs- und Wirtschaftsgenossen- 
schaften), Handel und Genossenschaftswesen. Berlin, L. Simion, 1902. gr. 8. 36 SS. 
M. 1.—. (Volkswirtschaftliche Zeitfragen, Heft 192.) 

Gesehüftsberieht des Vorstandes der Versicherungsanstalt Württemberg für 
die Jahre 1897—1901. Stuttgart, Druck der Stuttgarter Vereinsbuchdruckerei, 1902. 

gr. Folio. 82 SS. 

Götze, E. und P. Schindler, Taschenkalender zum Gebrauche der Handhabung der 
Arbeiteryersicherungsgesetze. Jahrg. XV: 1903. 2 Teile. Berlin, Liebel’sche Buchhdlg., 
1902, 12. geb. M. 9.—. (Inhalt: Teil I. Unfallversicherung; Teil II. Invalidenversiche- 
rung, Krankenversicherung, Ortsübliche Tagelöhne, etc.) 


120 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


v. Knebel-Doeberitz (GehORegR.), Hugo und (RegR.) Herm. Broecker, 
Das private Versicherungswesen in Preußen. II. Bd.: Das Sterbekassenwesen in Preußen. 
2. Aufl. Berlin, G. S. Mittler & Sohn, 1902. gr. 8. XI—92 SS. mit Tab. M. 3,50. 

Mitteilungen über den 43, allgemeinen Genossenschaftstag der auf Selbsthilfe 
beruhenden deutschen Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften zu Bad Kreuznach vom 
3. bis 6. IX. 1902. Herausgeg. von Hans Crüger (Verbandsanwalt). Berlin, J. Guttentag, 
1902. gr. 8. VI—449 SS. 

Müller, Neander, Differenztheorie und Börsengeschäfte. Aus den Gesichts- 
punkten der Praxis beleuchtet auf Grund der gegenwärtigen Rechtsprechung des Reichs- 
gerichts. 3. Aufl. Berlin, Frz. Siemenroth, 1903. gr. 8. 50 SS. M. 1.—. 

Reichau, Wern., Die Kommanditgesellschaft auf Aktien und der ,,rechtsfühige 
Verein“. Berlin, Struppe & Winckler, 1903. gr. 8. VI—72 SS. M. 2.—. 

Sehouten, P., Die Prinzipien der Lebensversicherungsmathematik. Aus dem 
Holländischen übs. von T. Chr. F. Reach. Vorwort von Corn. L. Landré. Jena, 
G. Fischer, 1903. gr. 8. VIII—159 SS. M. 4,50. 


Bailly, eP. (chef du contentieux à la compagnie d'assurances „le Monde“), De la 
clause à ordr dans les polices d'assurances sur la vie et maritimes. Tome I". Lons- 
le-Saunier, impr. Rubat du Mine & C", 1902. 8. 291 pag. fr. 10.—. 

Banking almanack and directory, 1903. London, Waterlow, 1902. 8. 15/.—. 

Fricke, W. A., The law and distribution of surplus of life insurance companies, 
New York, Hooper & Underwood, 1902. 8. 84 pp. S 1.—. 

Report of proceedings at NI Congress (of the International Co-operative Alliance) 
held at Manchester, 21* to 25" July, 1902. London, King & Son, 1902. 8. 445 pp. 
with 21 portraits and diagrams. 6/.—. (Contents: Rules, organization, and composition 
of the Congress. — Reports on co-operation and profit sharing in various countries. — 
Proceedings of the Congress, reports and resolutions adopted. — Papers read on: The 
housing problem; Land settlement ; Co-operations in the United States; Co-operators and 
peace; Co-operators and arbitration, ete. — International co-operative exhibition, ete.) 

Warren, H., Story of the Bank of England: a bistory of English banking and 
sketeh of money market. London, Jordan, 1902. 8. 258 pp. 3/.6. 

Margini, Silvio, Il mutuo a scala mobile d'interesse ed il mutuo e l'assicura- 
zione sulla vita. Verona, R. Cabianea, 1902. 12. 31 pp. l. 1.—. 

de Lieme, N., De „centrale werkgevers risibank* hare verkeerde organisatie en 
onvoldoend gedekte obligatieleening. 's Gravenhage, Passage-boekhandel, 1902. gr. 8. 
19 blz. fl. 0,15. 

9. Soziale Frage. 

Dreydorff, Rud, Ein deutsches Reichsarbeitsamt. Geschichte 
und Organisation der Arbeiterstatistik im In- und Ausland. Leipzig 
(Jàh & Schunke) 1902. 

Die vorliegende Arbeit ist das dritte Heft der von Professor 
Stieda herausgegebenen volkswirtschaftlichen und wirtschaftsgeschicht- 
lichen Abhandlungen. Im ersten Abschnitt werden Begriff und Auf- 
gaben der Arbeiterstatistik, ihre Arten und ihre Notwendigkeit be- 
stimmt. Die Arbeiterstatistik soll über die Lage der Arbeiter in der 
Form von Zahlen einen erschöpfenden Aufschluß gewähren, sie soll zur 
Gewinnung eines Bildes von der materiellen und sozialen Lage der Ar- 
beiter führen. Es wird hervorgehoben, daß eine streng statistische Be- 
handlung aller damit zusammenhängenden Materien als unmöglich zu 
bezeichnen ist, und daß die Arbeiterstatistik von der allgemeinen Sta- 
tistik, speziell von der Sozialstatistik, nicht getrennt zu behandeln ist. 
Die erste Aufgabe der Arbeiterstatistik ist die zahlenmüfige Ermitte- 
lung aller derjenigen Verhältnisse, in denen der Arbeiter als handeln- 
des oder leidendes Subjekt selbst der Beobachtung zugänglich ist. 
Reichen zu diesem Zweck die statistischen Untersuchungen nicht aus, 
so sind andere Methoden heranzuziehen, es müssen „eventuell sogar 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 121 


wegen der praktischen Unerreichbarkeit der Elemente einzelner Massen- 
erscheinungen die Elemente anderer für jene symptomatischen Massen 
als Quelle der Erkenntnis benutzt werden (Symptomstatistik).“ Das 
ausführliche Programm, welches der Verfasser als Grundlage empfiehlt, 
unfait: Lebensgestaltung der Arbeiter, Lebensweise und Lebenshaltung 
— zur letzteren werden als Unterabteilungen aufgeführt: Das Budget, 
die Arbeit (Arbeitsart, Arbeitszeit, Arbeitslohn u. s. w.) und der Ar- 
beiter in sozialer Beziehung gegenüber der Gesamtheit, und als Glied 
einer besonderen sozialen Gruppe (Organisation). Die Arbeiterstatistik 
wirde demnach alle Gebiete der Statistik berühren, ihre Durchführung 
kan nur durch den Staat erfolgen. Die Notwendigkeit liegt hierfür 
darin, daß der Staat alle Verhältnisse, die ein öffentliches Interesse 
haben, kennen soll, und daß er nur dann nachdrücklich helfen kann, 
wenn er alle Schäden hinreichend kennt. Ferner kann er dadurch, 
nach völliger Klarstellung der fraglichen Verhältnisse, sie einer sach- 
gemäßen Diskussion unterwerfen und damit Gefahren vorbeugen, die 
entstehen könnten. 

Auf den Inhalt des zweiten Abschnittes, der eine Darstellung von 
Leistungen des Auslandes auf dem Gebiete der Arbeiterstatistik bringt, 
kann hier nicht näher eingegangen werden. Es werden behandelt: die 
Vereinigten Staaten von Nordamerika, England, Frankreich, Belgien, 
Schweiz und Oesterreich. Dreydorff übt an den Einrichtungen dieser 
Staaten, die Deutschland auf diesem Gebiete voraus sind, eine abfällige 
Kritik. Darauf hinweisen möchte ich hier, daß im Dezember 1901 die 
italienische Regierung der Deputiertenkammer einen Entwurf, betreffend 
die Schaffung eines Arbeitsamtes, vorlegte. Deputiertenkammer und 
Senat haben den Entwurf angenommen. Darin ist die Errichtung eines 
Arbeitsamtes und eines höheren Arbeitsrates vorgesehen. Ersteres ist 
dem Ministerium für Handel, Gewerbe und Ackerbau angeschlossen, letz- 
terer ist als Beirat des Arbeitsamtes gedacht. Auch die spanische Re- 
gierung hat bereits einen Entwurf der Deputiertenkammer unterbreitet, 
der beifällig aufgenommen ist. 

Was hat nun Deutschland zur Pflege der Arbeiterstatistik getan ? 
Zum Zweck der Ermittelung der Klagen, die gegen die Gewerbeordnung 
erhoben waren, wurde 1875 eine Erhebung über die Verhältnisse der Ge- 
sellen, Lehrlinge und Fabrikarbeiter veranstaltet. Das Ergebnis war nicht 
übermälig wertvoll. Desgleichen lieferte eine Untersuchung über die 
Frauen- und Kinderarbeit nur dürftiges Material. Dann folgten Er- 
mittelungen über die Lohnverhältnisse der Arbeiterinnen in der Wäsche- 
fabrikation und der Konfektionsbranche und Erhebungen über die Be- 
schäftigung gewerblicher Arbeiter an Sonn- und Feiertagen. Im Jahre 
1897 ersuchte der Reichskanzler die Bundesstaaten, Erhebungen über 
die Beschäftigung von Kindern anzustellen, weil die Angaben der Ge- 
werbeaufsichtsbeamten im Jahre 1896 zu erheblich von denen der Be- 
rufszählung des Jahres 1895 abwichen. Bei ungleichmäliger Durch- 
führung konnten diese Erhebungen nur mangelhafte Gesamtresultate 
ergeben. Im Jahre 1892 begann dann die Tätigkeit der Kommission 

für Arbeiterstatistik; am 13. März laufenden Jahres hielt sie ihre 
22. und letzte Sitzung ab. Sie hat Untersuchungen angestellt über 


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122 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes, 


die Arbeitszeit in Bäckereien und Konditoreien, über die Arbeitszeit 
etc. im Handelsgewerbe, über die Arbeitsverhältnisse in der Kleider- 
und Wäschekonfektion, in Getreidemühlen und über die Verhältnisse 
der in Gast- und Schankwirtschaften beschäftigten Personen. 

An anderweitigen Veröffentlichungen des Reiches werden noch an- 
geführt die amtlichen Mitteilungen aus den Berichten der Gewerbe- 
aufsichtsbeamten, denen man den Vorwurf mangelnder Objektivität nicht 
erspart hat, die Statistik der Strikes und Aussperrungen, die Volks-, 
Berufs- und Gewerbezählungen und die Arbeiterversicherungsstatistik. 
Dreydorffs Urteil geht dahin, daß das, was Deutschland amtlicherseits 
auf dem Gebiete der Arbeiterstatistik geleistet hat, dürftig ist. Auch 
die arbeitsstatistischen Leistungen von Organen der Arbeiterinteressen- 
vertretungen könnten keinerlei Ersatz bieten für den Mangel einer um- 
fassenden Reichsarbeiterstatistik. 

Um dem Mangel an einer Organisation der Arbeiterstatistik in 
Deutschland abzuhelfen, hat es an Vorschlägen nicht gefehlt; dabei 
gehen die Ansichten auseinander, ob man die Pflege der Arbeiterstatistik 
— unter der Voraussetzung, daß sich die Bildung eines Arbeitsamtes 
in absehbarer Zeit nicht verwirklichen lasse — dem kaiserlich-statistischen 
Amte oder dem Reichsversicherungsamt übertragen soll. Von positiven 
Vorschlägen, die darauf hinzielen, ein selbständiges Organ für die Ar- 
beiterstatistik zu schaffen, sind der Schönbergsche vom Jahre 1871, der 
Antrag der sozialdemokratischen Partei vom Jahre 1899 und die Leit- 
sätze der „Gesellschaft für soziale Reform“ vom Jahre 1901, näher be- 
leuchtet. 

Den Schluß der Dreydorffschen Arbeit bildet ein aus 15 Paragraphen 
bestehender „Gesetzentwurf, betreffend die Gründung eines arbeits- 
statistischen Reichsamts (Reichsarbeitsamts)“. Dieses erhält die Aufgabe, 
arbeitsstatistische Daten zu sammeln, zu verarbeiten und periodisch zu 
veröffentlichen. Es wird die Errichtung von Arbeitsämtern für jeden 
höheren Verwaltungsbezirk jedes Bundesstaates vorgeschlagen; als 
Zentralbehörde ist ein dem Reichsamt des Innern unterstelltes Arbeits- 
amt vorgesehen, dem ein Beirat zugeteilt wird, der sich aus dem Leiter 
des Reichsamtes als Vorsitzenden und aus je einem Vertreter der übrigen 
Reichsämter und aus 30 weiteren Mitgliedern zusammensetzt, von denen 
je ein Drittel Arbeitgeber, Arbeitnehmer nnd fachmännisch gebildete 
Personen sein sollen. Die einzelnen Arbeitsümter erhalten auch je einen 
Beirat von 12 Personen. 

Auch wer dem Dreydorffschen „Gesetzentwurf“, in dem die vor- 
erwähnten Vorschläge berücksichtigt sind, nicht unbedingt zustimmen 
kann, wird dem Buche seinen Wert nicht absprechen. 


Seebach. Dochow. 


Die Herabsetzung der Arbeitszeit für Frauen und 
Erhöhung des Schutzalters für jugendliche Arbeiter in 
Fabriken. Schriften der Gesellschaft für soziale Reform. Heraus- 
gegeben vom Vorstande. Heft 7 u. 8. Jena (G. Fischer) 1902. 

Das vorliegende Doppelheft der Schriften der Gesellschaft für soziale 
Reform enthält Referate von Dr. August Pieper-M.Gladbach und von 


a xx rm 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 123 


Helene Simon-Berlin nebst einem Bericht über die erste Generalver- 
sammlung der Gesellschaft in Köln. 

Pieper behandelt die Notwendigkeit und Zweckmäligkeit des Zehn- 
stundentages für Arbeiterinnen. Er weist darauf hin, wie von den ver- 
schiedensten Seiten nachdrücklich auf einen zehnstündigen Arbeitstag 
für Arbeiterinnen hingearbeitet werde. Als Gründe dafür macht er in 
erster Linie die Notwendigkeit des Schutzes der Gesundheit geltend. 
Die Frau wird in ihrer Gesundheit durch gewerbliche Arbeit weit leichter 
geschädigt als der Mann; sie ist zudem, wenn sie ein Hauswesen zu 
besorgen hat, durch diese Nebenbeschäftigung noch erheblich mehr be- 
lastet. Als gleich wichtig werden die Gefahren bezeichnet, die aus 
überlanger Arbeitszeit für die geistig-sittlichen Interessen der Arbeite- 
rinnen erwachsen. Zudem mache die lange Arbeitszeit früher erwerbs- 
wfähig; mit überlanger Arbeitszeit seien meistens auch niedrige Löhne 
verbunden. Die Industrie habe ein Interesse an der verkürzten Ar- 
beitszeit, weil sie sich dadurch ihre Arbeiter leistungsfähiger erhalten 
kann. Desgleichen Staat und Gesellschaft; für beide hängt viel davon 
ab, ob die Arbeiterinnen eine gesunde und leistungsfähige Nachkommen- 
schaft erziehen können. Nur bei genügend freier Zeit kann der Arbeiter 
an den Kulturgütern hinreichend Anteil nehmen. 

Im zweiten Kapitel wird das Vordringen des Zehnstundentages in 
den Industriestaaten erörtert. Auf Grund des vorliegenden Materials 
erklärt Pieper die Frage der gesetzlichen Feststellung eines zehnstün- 
dign Maximalarbeitstages für erwachsene Arbeiterinnen in Deutschland 
für spruchreif. Die Angaben über die außerordentlichen Staaten be- 
weisen, daß Deutschland, wenn es den Zehnstundentag für Arbeiterinnen 
allgemein zur Durchführung bringt, „eine Entwickelungstendenz unter- 
stützt, die sich in jenen Industrieländern am kräftigsten durchgesetzt 
hat, die auf dem Weltmarkte den größten Vorsprung gewonnen haben.“ 

Im dritten Kapitel finden sich Untersuchungen über die Wirkung 
des Zehnstundentages auf die Produktion. Pieper kommt zu dem Schluß, 
daß eine Schädigung der Industrie oder der Arbeiter nicht eingetreten 
ist. Eine Entlassung von Arbeiterinnen und ihre Verdrängung in die 
Hausindustrie sei nicht zu befürchten, ebensowenig werde eine ungün- 
stige Beeinflussung der Arbeitsbedingungen der männlichen Arbeiter 
und eine Beeinträchtigung der Konkurrenzfähigkeit der Industrie er- 
folgen. Piepers Vorschläge zielen auf eine Abänderung der Gewerbe- 
ordnung 8 137 Abs. 2 ab, die, wie folgt, lautet: „Die Beschäftigung 
von Arbeiterinnen über 16 Jahren darf die Dauer von 10 Stunden täg- 
lich, an den Vorabenden der Sonn- und Festtage von 9 Stunden nicht 
überschreiten.“ Die gegenwärtige, ungünstige Lage der Industrie sei 
gerade geeignet, die Durchführung eines gesetzlichen Zehnstundentages 
zu ermöglichen. Mit der Einschränkung der täglichen Arbeitszeit ist 
naturgemäß auch eine Abänderung der Bestimmungen für die Ueberzeit- 
arbeit zu verbinden. Pieper weist die Einwände, die gegen einen vor- 
zeitigen Arbeitsschluß an Vorabenden von Sonn- und Festtagen geltend 
gemacht werden zurück und tritt ein für eine Abänderung der Gewerbe- 
ordnung $ 137 Abs, 1 und $ 138a Abs. 5 dahingehend, daß an diesem 
Tage nicht mehr nach 41/, Uhr nachmittags (statt 5!/,) gearbeitet 


124 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


werden soll, und daß eine Ueberzeitarbeit nach 7!/, Uhr nicht mehr 
gestattet sein darf. Unter nachdrücklichem Hinweis auf die Notwen- 
digkeit einer genügend langen Mittagspause schlägt Pieper eine Ab- 
änderung des $ 137 Abs. 3 vor, wonach bestimmt wird, daß eine min- 
destens 11/,-stündige Mittagspause den Arbeitern gewährt werden mul, 
falls die Arbeiter nicht in geheimer Abstimmung durch Arbeitsbeschluß 
sich für eine einstündige Mittagspause erklären. Die Bestimmungen für 
Wöchnerinnen sind dahin abzuändern, daß sie während 6 Wochen nach 
ihrer Niederkunít überhaupt nicht und während der folgenden 2 Wochen 
nur dann beschäftigt werden dürfen, wenn das Zeugnis eines appro- 
bierten Arztes dies für zulässig hält. 

Helene Simon stellt in ihrem Korreferat die Forderung auf, daß 
Arbeiterinnen täglich nur 10 Stunden innerhalb der Zeit von 6 Uhr 
vormittags und 6 Uhr abends, oder 7 Uhr und 7 Uhr, oder 8 Uhr und 
8 Uhr beschäftigt werden dürfen; an den Vorabenden der Sonn- und 
Festtage soll nur 8 Stunden gearbeitet werden; eine Beschäftigung 
nach 4 Uhr nachmittags darf nicht erfolgen. Zwischen der Arbeits- 
zeit sind 2 Stunden als Pausen zu gewähren, davon eine mindestens 
11/,-stündige Mittagspause. 

Ausnahmen von der gesetzlichen Arbeitszeit sind móglichst zu be- 
schränken. Falls dies gegenwärtig nicht durchführbar ist, ist $ 138a 
und 8 139a Abs. 4 der Gewerbeordnung zu streichen, und die weib- 
lichen Arbeiter sind den jugendlichen nach $ 139a Abs. 3 und Ab- 
schnitt 4 gleichzustellen. 

In einem zweiten Abschnitt über die Erhöhung des Schutzalters 
jugendlicher Arbeiter tritt die Korreferentin für ein Verbot der Arbeit 
von Kindern unter 14 Jahren und für eine Erhöhung des Schutzalters 
der Jugendlichen in den Fabriken von 16 auf 18 Jahre ein. 

Beide Referate waren für die erste Generalversammlung der Gesell- 
schaft für soziale Reform erstattet, dieam 22. September vergangenen Jahres 
in Köln unter dem Vorsitze des Staatsministers Freiherrn von Berlepsch 
stattfand. Aus der Einleitungsrede des Vorsitzenden und dem Geschäfts- 
bericht des Generalsekretärs ist zu erwähnen, daß sich die Gesellschaft 
im Jahre 1901 in Berlin konstituierte und laut Satzungen zur Aufgabe 
stellte, erstens durch Aufklärung in Wort und Schrift die soziale Reform 
auf dem Gebiete der Lohnarbeiterfrage in Deutschland zu fördern. Als 
wesentliche Bestandteile dieser Reform erachtet sie: den weiteren Ausbau 
der Gesetzgebung im Interesse der Arbeiterklasse und die Förderung 
der Bestrebungen der Arbeiter, in Berufsvereinen und Genossenschaften 
ihre Lage zu verbessern. Ferner wollte sie als deutsche Sektion der 
Internationalen Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz deren Be- 
strebungen mit allen Kräften unterstützen. 

Inwieweit die Gesellschaft im ersten Jahre ihres Bestehens ihrer 
Aufgabe gerecht geworden ist, ist aus dem in Köln erstatteten Bericht 
zu ersehen. Die Internationale Vereinigung wurde in jeder Weise unter- 
stützt, hauptsächlich dadurch, daß es den Bemühungen des Vorstandes 
gelang, die Beteiligung des Reichs und der Einzelstaaten an den Be- 
strebungen zu erwirken, die in der Gewährung einer Subvention und 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes, 195 


der Delegation von Regierungsvertretern zur Delegiertenversammlung 
der internationalen Vereinigung in Köln zum Ausdruck kam. 

In einer Reihe von Ausschußsitzungen sind wichtige Fragen an 
der Hand von Referaten erörtert, so die Errichtung eines Reichsarbeits- 
antes, die Verleihung von Korporationsrechten an die Arbeiterberufs- 
vereine und deren Befreiung von den Vorschriften der Gesetze über 
das Recht der politischen Vereine und die Teilnahme von Frauen an 
sozialpolitischen Bestrebungen. Im Auftrage der Gesellschaft verfaßte 
Professor Dr. Tönnies eine Schrift „Vereins- und Versammlungsrecht 
wider die Koalitionsfreiheit^ (Heft 5 der Schriften) Zur Diskussion 
stand die Frage der Regelung der Arbeitsverhältnisse in gewerblichen 
Gärtnereien, und man sprach sich dahin aus, daß die in Kunst, Zier- 
und Handelsgärtnereien beschäftigten Arbeiter den Bedingungen der 
Gewerbeordnung zu unterstellen seien. Ferner wurde die Forderung 
nach Verschärfung und weitere Ausdehnung der Bundesratsverordnung 
über den Schutz der Angestellten in Gast- und Schankwirtschaften er- 
hoben. Die Referate und Resolutionen sind in den Schriften der Gesell- 
schaft enthalten. Es gehören ihr über 1000 Mitglieder an, darunter 
130 Korporationen; auch haben sich schon mehrere Ortsgruppen ge- 
bildet, die teilweise eine rege Tätigkeit entfalten. Mit Hilfe von Reichs- 
tagsabgeordneten der Zentrumspartei, der nationalliberalen Fraktion und 
der Freisinnigen Vereinigung, die dem Ausschuß der Gesellschaft für 
soziale Reform angehören, sind gemeinsam und teilweise mit Erfolg 
eine Anzahl sozialpolitischer Anträge eingebracht worden. 

Die Gesellschaft für soziale Reform kann mit Genugtuung auf das 
erste Jahr ihres Bestehens zurückblicken. 


Seebach. Dochow. 


Delbrück, Hygiene des Alkoholismus. Jena, (Gustav Fischer) 1901. 

Die lesenswerte und, was besonders hervorgehoben sei, leicht lesbare 
Abhandlung bildet einen Abschnitt des von Weyl herausgegebenen 
Handbuches der Hygiene. Verfasser verkennt die Schwierigkeiten, die 
der Darstellung des Alkoholismus heutigen Tages noch entgegenstehen, 
nicht, und er will deshalb seine Darstellung auch nur als kurze Skizze 
des Standes der Sache aufgefaßt wissen. Man wird anerkennen müssen, 
daß diese Skizze mit Sicherheit gezeichnet und gerade wegen der 
kritischen Würdigung des Materiales als wertvolles Orientierungsmittel 
zu brauchen ist. 

Verfasser bespricht zunächst die Ursachen des Alkoholismus; er 
vergißt nicht, dabei auch der Fehlerquellen zu gedenken, die namentlich 
dem statistischen Material — z. B. bezüglich des Alkoholkonsums — 
anhaften. Von Interesse und sicher überraschend ist der Schluß, zu 
dem ihn eine kritische Würdigung der Verbrauchsziffern geführt hat, 
daß zur Zeit die Schnapsländer die mäßigen, die Wein- und Bierländer 
die unmäßigen sind. Auch wenn man die Berechtigung dieser Folgerung 
nicht in vollem Umfang anerkennen will, erscheint des Verfassers Warnung 
vor Unterschätzung der aus dem Bierkonsum drohenden Gefahren doch 
beachtenswert. Die sozialen und individuellen Ursachen des Alkohol- 
konsums finden gebührende Berücksichtigung. 


126 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


In letzter Linie wird die Trinksitte für den zunehmenden 
Alkoholmißbrauch verantwortlich gemacht; Verfasser identifiziert aber 
hier vielleicht zu sehr den da und dort bestehenden, sicher ebenso be- 
klagens- wie bekämpfenswerten Zwang zum Alkoholgenuß mit der 
Gewohnheit, und der Kampf, den er gegen die Trinksitte führt, gilt in 
Wirklichkeit dem Trinkzwang. 

Die aus dem Alkoholismus resultierenden Schädlichkeiten auf ge- 
sundheitlichem und sozialem Gebiete sind knapp, übersichtlich und mit 
erfreulicher Vorsicht und Zurückhaltung in der Verwertung von Zahlen 
dargestellt. 

Einen breiten Raum nimmt entsprechend der Anlage des Gesamt- 
werkes das Kapitel über die Bekämpfung des Alkoholismus ein. 

Einigermaßen auffallend in einem der Hygiene gewidmeten Buche 
mag es erscheinen, daß der erste Abschnitt dieses Kapitels der Be- 
handlung der Trunksucht gewidmet ist; die Erklärung liefert zum Teil 
die Stellung des Autors als Psychiater, dem natürlich die Behandlung 
der ausgebrochenen Krankheit als tägliche Aufgabe am nächsten liegt, 
zum viel größeren Teil entspricht die Voranstellung des im engeren 
Sinne therapeutischen Teils der in der ganzen Antialkoholbewegung viel 
mehr, als gemeinhin angenommen und zugegeben wird, vorherrschenden 
Neigung, die Einwirkung auf das Einzelindividuum in ihrer Wertig- 
keit bezüglich des Gesamterfolges zu überschätzen. Daher wohl auch 
die nach des Ref. Anschauung etwas zu optimistische Beurteilung, die 
die Wirksamkeit der Abstinenzvereine durch den Verfasser erfährt. Daß 
ihre Wirksamkeit hinter den Erwartungen, die die Darstellung des 
Verfassers erwecken muss, zurückbleiben, ergibt sich aus seiner 
eigenen späteren Notiz, daß die Zahl der Abstinenten in der Schweiz, 
deren Verhältnisse Verfasser aus eigener Anschauung und tätiger Mit- 
arbeit kennt, im Vergleich zu England und den skandinavischen Ländern 
noch minimal ist; dabei erfreut sich die Schweiz einer regen, von 
berufenster Seite organisierten und mit Feuereifer geleiteten Vereins- 
tätigkeit, die noch dazu in den lokalen Verhältnissen eines kleinen 
Landes besonders günstigen Boden findet. 

Die zwangsweise Unterbringung von Trinkern will Verfasser auf 
die unheilbaren, dauernder Detention bedürftigen Trinker beschränkt 
wissen; die heilbaren sollen freiwillig sich in Anstalten begeben, die 
Verfasser der privaten Initiative vorbehalten will. Ref. möchte auf 
Grund eigener Erfahrungen bezweifeln, ob die Zahl der Trinker, die 
von der so gebotenen Heilungsmöglichkeit Gebrauch machen werden, 
irgend erheblich sein wird. Es genüge zur Begründung dieser Zweifel da- 
rauf hinzuweisen, daß die spärlichen bis jetzt bestehenden Trinkerasyle, wie 
ein vor kurzem erlassenes Rundschreiben zu Gunsten der Berliner An- 
stalt lehrt, über mangelnde Frequenz zu klagen haben. Beizupflichten 
ist dem Verfasser darin, daß die Hoffnungen, die man auf die Trinker- 
entmündigung nach Inkrafttreten des B.G.B. gesetzt, sich nicht erfüllt 
haben. Nach den Erfahrungen des Ref. wird von der Maßregel über- 
haupt nur ein verschwindender Gebrauch gemacht. Glaubt man also 
schon durch die zwangsweise Anstaltsbehandlung der Säufer Erfolge 
erzielen zu können, so muß dieser Zwang auf weniger umständlichem 


— 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 127 


Wege geübt werden können. Im übrigen steht Verfasser auch den 
Heilerfolgen, die durch die Anstalten erzielt werden, erfreulicherweise 
nicht kritiklos gegenüber. 

Aus einer historischen Uebersicht über die Antialkoholbewegung 
verdient besondere Beachtung, was Verfasser über die glänzend be- 
gonnene und jäh beendete ältere deutsche Bewegung sagt. Von gesetz- 
geberischen Maßnahmen verspricht sich Verfasser nicht allzuviel; seine 
kritischen Bemerkuugen über die vieltach so hoch angeschlagenen 
Wirkungen des Gotenburger Systems und der Prohibition sind jedenfalls 
geeignet, übertriebene Erwartungen von vornherein zu dämpfen. 

Die wesentlichsten Gesichtspunkte scheint dem Ref. ein kurzes 
„andere Maßregeln“ überschriebenes Kapitel zu enthalten; bezüglich der 
alkoholfreien Ersatzgetränke ist dem Verfasser voll beizustimmen; das 
beste derselben ist Wasser; alle wein- und bier- ähnlichen derartigen 
Produkte sind nach des Ref. Ansicht absolut entbehrlich und nur ge- 
eignet, die falsche und gerade von den Abstinenzlern zu bekämpfende 
Vorstellung weiter zu nähren, als ob Geselligkeit ohne wenigstens alkohol- 
äbnliche Getränke unmöglich wäre. Nach des Ref. Ansicht verdanken 
diese Ersatzgetränke ebenso wie die unzähligen künstlichen Nähr- und 
Heilmittel, die eine rege Industrie immer erneut auf den Markt bringt, 
den Bedürfnissen der Konsumenten ihre Existenz viel weniger als den 
Bedürfnissen der Produzenten. 

Den übrigen Maßnahmen, die in dem Kapitel kurz gestreift werden, 
hätte Ref. in Anbetracht ihrer Wichigkeit eine etwas ausführlichere 
Darstellung gewünscht; gerade in dem Streben nach Befriedigung der 
hier ganz kurz erhobenen Forderungen bietet sich der praktischen 
Tätigkeit des einzelnen wie der Vereine ohne gesetzgeberische oder 
propagandistische Vorarbeit ein ergiebiges Feld. 

Wenn dann immer weitere Kreise durch die Bereitstellung von 
Wärmehallen, Kaffeehäusern, Klubs, Speisehäusern ohne Alkoholzwang, 
durch bessere Wohnungen und dergleichen von dem Zwang oder Be- 
dürfnis nach Erholung im Wirtshaus befreit werden, so wird sich die- 

jenige Umstimmung der öffentlichen Meinung über den Alkohol, die 
der Verfasser als Vorbedingung für alles weitere Tun betrachtet, 
als Wirkung ganz von selbst ergeben, und die Streiter im Kampfe 
haben zudem den Gewinn, daß sie durch den Hinweis auf positive 
Leistungen den Mut der noch abseits Stehenden zur Mitarbeit zu ent- 
fachen vermögen. 

Als letztes Ziel gilt dem Verfasser die allgemeine Abstinenz, und 
er glaubt, daß dieselbe noch eher erreichbar wäre als die allgemeine 
Mäßigkeit. Vorläufig bescheidet er sich allerdings mit einer Forderung, 
die man als ebenso maßvoll und berechtigt, wie auch nach des Ref. 
Erfahrungen erfüllbar ansehen darf: der Befreiung vom Trinkzwang, 
der Berechtigung jedes einzelnen, darüber zu entscheiden, ob er trinken 
wil oder nicht: also wenn man will, statt der von den Fanatikern ge- 
forderten von den Vereins- oder Logenbrüdern übernommenen Pflicht 
der Abstinenz das von der Gesellschaft dem einzelnen zuzuerkennende 
Recht der Enthaltsamkeit. Nach der Ansicht des Verfassers wäre auch 
die Anerkennung dieses Rechtes noch in weite Ferne gerückt. Nach 


128 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


den Erfahrungen, die Ref. persönlich in fast zehnjähriger Uebung der 
Abstinenz gemacht, ist der Abstinenzler friedlicher Duldung und An- 
erkennung seines guten Rechtes in Gesellschaft von Alkoholfreunden 
auch jetzt schon sicher, wenn er — unbeschadet des Rechtes und der 
Pflicht, nach Kräften Aufklärung am rechten Orte zu schaffen — 
die Freiheit der Bestimmung, die er selbst beansprucht, gegebenen Falles 
auch anderen zubilligt. Wenn aber Verfasser gar behauptet, der 
Vegetarianer stoße in Gesellschaft viel weniger an als der Alkoholabstinent, 
so ist das sicher eine der Uebertreibungen, wie sie gerade im Kampfe 
gegen den Alkohol vielfach unterschlüpfen, von denen aber der Ver- 
fasser seine gerade darum so wertvolle Darstellung sonst dankenswerter- 
weise freigehalten hat. Heilbronner. 


Hoppe, Die Tatsachen über den Alkohol. 2. Autlage. Berlin 
(S. Calvary & Co.) 1901. 

Das Werk, das nach relativ sehr kurzer Frist eine 2. Auflage er- 
lebt hat, soll in erster Linie ein Repertorium bilden, in dem jeder für 
die Alkoholfrage sich Interessierende diejenigen Tatsachen zu finden 
vermag, die bisher über den Alkohol bekannt geworden sind. 

Man wird dem Verfasser rückhaltlose Bewunderung zollen dürfen 
für die Bewältigung der Riesenarbeit, das aus zahllosen, zum Teil ganz 
versteckten Quellen fließende Material zu sammeln — noch dazu unter 
äußeren Verhältnissen, die der Erledigung solcher Arbeit keineswegs 
günstig gewesen zu sein scheinen. 

Nach eingehenden Mitteilungen über die Verbreitung des Alkohol- 
konsums in den verschiedenen Kulturländern, denen sich eine Be- 
sprechung des Aufwandes für alkoholische Getränke anschließt, folgt 
zunächst eine Darstellung der Herstellung und Zusammensetzung der 
alkoholischen Getränke und ihrer physiologischen Wirkung, wobei die 
bekannten Versuche der Heidelberger Schule eingehend gewürdigt 
werden. 

Im Hauptteil des Buches entwirft Verfasser dann, fast ausschließ- 
lich auf Grund einer Zusammenstellung des literarisch niedergelegten 
Materials, gelegentlich auch eigene Beobachtungen aus seiner psychia- 
trischen Tätigkeit heranziehend, ein erschreckendes Bild der durch die 
Alkoholseuche angerichteten Verheerungen. 

In größeren Abschnitten schildert er zunächst die durch den Alkohol 
gesetzten Schädigungen der einzelnen Organe, unter denen die Erkran- 
kungen des Zentralnervensystems begreiflicherweise den weitesten Raum 
einnehmen, den Einfluß des Alkohols auf die Morbidität (insbesondere 
die Verminderung der Resistenz gegen Infektionskrankheiten) und die 
Beziehungen des Alkoholismus zur Mortalität. Den Beziehungen zwischen 
Alkohol und Geisteskrankheiten ist ebenso wie denen zwischen Alkohol 
und Kriminalität je ein besonderes Kapitel gewidmet. Nach einer aus- 
führlichen Erörterung der Beziehungen zwischen Alkohol und Pauperis- 
mus und der neueren, auch der experimentellen Forschungen über die 
deletären Wirkungen des elterlichen Alkoholismus auf die Descendenz 
schließt eine Darstellung der Verbreitung der Trinksitten und der Trunk- 
sucht, von der ganz besonders die Mitteilungen über die schweren Folgen 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 129 


des Alkoholkonsums der Kinder und Heranwachsenden allgemeinste 
Verbreitung verdienten, das inhalt- und umfangreiche Werk ab. 

Dasselbe wird zweifellos seiner Bestimmung, Material zu liefern, 
das ebenso zu eigener Belehrung wie auch als Material im Kampfe 
gegen den Alkohol dienlich ist, durchaus gerecht, ganz besonders liefert 
ein reichliches Tabellenwerk am Schlusse des Bandes in nuce ein schätz- 
bares Material an Daten und Zahlen. 

Auf Einzelheiten einzugehen, erscheint bei der Menge des bei- 
gebrachten Materiales unmöglich, um so mehr als der Verfasser seine 
Person und seine persönlichen Ansichten durchaus zurücktreten läßt. 
Trotz dieser Zurückhaltung muß die Lektüre des Buches zu dem 
Schlusse führen, daß der Verfasser zu den Alkoholgegnern strengster 
Observanz gehört: für ihn ist (S. 41) der giftige Alkohol einfach ein 
Analogon der Zerfallsprodukte, welche bei der Zersetzung der Eiweiß- 
stoffe durch die Fäulnisbakterien entstehen. 

Wenn sich gegen die Darstellung des Verfassers Bedenken erheben 
lassen, so gelten dieselben nicht dem verdienstlichen Werke als solchem, 
sondern der ganzen Richtung, die durch dasselbe gekennzeichnet wird; 
es erscheint aber dem Ref. angezeigt, diese sich aufdrängenden Be- 
denken hier auszusprechen, auf die Gefahr hin, daß ihm von seiten der 
rübrigen Vertreter der Totalabstinenz der Vorwurf der Rückständigkeit 
gemacht werde. 

Verf. erkennt irgendwelche Berechtigung des Alkoholkonsums nicht 
an, und er stützt sich dabei auf die oben erwähnten Ergebnisse der 
Exprimentaluntersuchungen, die als solche sicher nicht angezweifelt 
werden sollen; es verdient aber nach Ansicht des Ref. doch ausge- 
sprochen zu werden, daß sich die psychischen Leistungen nicht er- 
schöpfen in dem, was solcher experimenteller Prüfung zugänglich ist; 
wem Auswendiglernen, Addieren, Assoziationen auf Reizworte im Ex- 
periment geschädigt werden, und wenn sogar überhaupt jede intensive 
geistige (wie körperliche) Tätigkeit unter dem Einflusse des Alkohols 
weniger gut von statten geht, so ist damit noch nicht erwiesen, daß 
jede Art psychischen Geschehens in gleicher Weise ungünstig be- 
einflußtt wird; und selbst wenn dies der Fall sein sollte — Ref. ist 
geneigt, es anzunehmen, sieht aber keine Móglichkeit, diese Frage exakt 
zu beantworten — bliebe noch zu beweisen, daß die durch mäßigen 
Alkoholgenuß gesetzte Dauerschädigung tatsächlich so groß ist, daß die 
Forderung der Totalabstinenz auch für all diejenigen berechtigt wäre, 
die jetzt im gelegentlichen oder regelmäßigen Genuß Erholung und subj ek - 
tive Anregung finden. Den Ergebnissen der Experimentaluntersuchungen, 
die in diesem Sinne sprechen, steht doch eine Erfahrung gegenüber, die 
nicht ohne weiteres vernachlässigt werden darf: daß die große Mehrzahl 
auch derjenigen Menschen, die auf den verschiedensten Gebieten mehr 
als Durchschnittliches geleistet haben, im Sinne des Laboratoriums- 
versuches als chronische Alkoholisten anzusprechen wären. Wie schwer 
sich die Ergebnisse solcher Versuche auf die Praxis übertragen lassen, 
erhellt aus nichts so deutlich, als aus dem gleichfalls von der Heidel- 
berger Schule geführten Nachweis, daß auch ein zweistündiger Spazier- 

Dritte Folge Bd, XXV (LXXX). 9 


me -— © 


130 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


gang die experimenteller Prüfung zugänglichen psychischen Leistungen 
nicht bessert, sondern und sogar recht nachhaltig verschlechtert. Trotz- 
dem wird niemand das Spazierengehen als schädlich grundsätzlich ver- 
bieten. \ 

Ein anderes Bedenken des Ref. richtet sich gegen die Heran- 
ziehung einzelner Fälle, die der Verf. da und dort zur Illustration ein- 
schaltet; zum großen Teil handelt es sich um kasuistische Mitteilungen 
ganz seltener Vorkommnisse, deren Deutung an sich nicht immer unan- 
fechtbar ist und die, trotzdem den Ergebnissen umfangreicher Ermittelungen 
ohne weiteres an die Seite gestellt, geeignet sind, dem Laien, für den 
das Buch doch mitbestimmt ist, ein zwar propagandistisch wirksames, 
in Wirklichkeit aber verzerrtes Bild der tatsächlichen Verhältnisse zu 
liefern. 

Auch sonst erscheint das Material, mit dem der Verf. arbeitet, 
nicht immer durchaus einwandfrei; wie weit die sonstigen statistischen 
Mitteilungen Anspruch auf unbedingte Verlässigkeit machen, entzieht 
sich dem Urteil des Ref.; er möchte aber doch, von den Erfahrungen 
seines speziellen Berufes ausgehend, darauf hinweisen, daß die Zahlen, 
die z. B. das Verhältnis zwischen Alkohol und Morbidität speziell be- 
züglich der psychischen Erkrankungen ausdrücken sollen, so ohne 
weiteres doch nicht die wirklichen Verhältnisse wiedergeben. Daß dem 
Alkohol (nicht nur der Trunksucht, sondern auch unter ungünstigen 
Verhältnissen dem mäligen Konsum) ein erhebliches Kontingent 
der psychischen Erkrankungen zur Last zu legen ist, wird kein Er- 
fahrener bestreiten; die immensen Ziffern, die die Prozentzahlen der 
Säufer unter den aufgenommenen Geisteskranken, namentlich in den 
großstädtischen Irrenanstalten, darstellen, geben aber doch ein zu 
schwarzes Bild; um die Verhältnisse richtig zu würdigen, muß man 
wissen, daß diese Säufer in den Anstalten zum großen Teil nur ganz 
vorübergehend untergebracht sind; ein richtiges Bild ergäbe sich also 
nur dann, wenn statt des Prozentverhältnisses unter den Aufnahmen 
dasselbe Verhältnis unter dem Bestande oder noch besser unter der 
Gesamtzahl konsumierter Verpflegungstage bestimmt würde. Auch dann 
bleibt noch dem subjektiven Ermessen ein weiter Spielraum bezüglich 
der Annahme der alkoholischen Genese der einzelnen Erkrankungen: 
Beweis dafür, daß von zwei sächsischen Landesanstalten (S. 201) im 
gleichen Jahre die eine 8, die andere aber 27 Proz. Säufer unter ihren 
Aufnahmen hatte; wenn nicht besondere Umstände, die dann eben 
kenntlich gemacht sein müßten, wirksam sind, so kann die Differenz 
nur der Ausdruck subjektiver Meinungsverschiedenheiten sein. Die 
Frage wird namentlich dann praktisch wichtig, wenn der Versuch ge- 
macht wird — wie es des öfteren geschehen — aus der Zu- und Ab- 
nahme der Frequenz der Irrenanstalten oder der Potatoren in den An- 
stalten Schlüsse auf die Wirksamkeit der antialkoholischen Bestrebungen 
zu ziehen; ganz abgesehen von anderen Einflüssen darf auch nicht ver- 
gessen werden, daß mit der zunehmenden Einführung von Irren- 
abteilungen bei den Krankenhäusern die Alkoholisten aus den eigent- 
lichen Irrenanstalten, deren Zahlen den Statistiken zumeist zu Grunde 
gelegt werden, mehr und mehr verschwinden, während andererseits die 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 131 


städtischen Anstalten eine unverhältnismäßig große Anzahl „geistes- 
kranker Säufer“ — vielfach allerdings nur schwer Betrunkener — auf- 
nehmen. 

Alle derartigen Momente müßten gewürdigt werden, wenn die Zahlen 
mehr als propagandistische Zwecke erfüllen sollten; daß nackte Ziffern 
auch in anderem Sinne gedeutet werden können, als es der Verf. tut, 
beweist das bekannte, etwas ältere Buch Grotjahns, dessen Auffassung 
der Verf. wieder gelegentlich kritisiert. 

Analoge Bedenken hätte Ref. noch nach manch anderer Richtung 
bezüglich der medizinischen Kapitel, namentlich der Zahlen über die 
Entartung der Alkoholikerfamilien, zu erheben; der Verdacht muß sich 
aufdràngen, daß die Kritik auch an anderen Zahlen mit gleichem Rechte 
einsetzen würde. 

Die Erklàrung liegt nahe: die ganze Alkoholfrage wird zu sehr 
isoliert von anderen Phänomenen behandelt, und die Neigung, bei jeder 
Koinzidenz von Alkoholmißbrauch und anderen unerfreulichen Erschei- 
nungen ohne weiteres den Alkohol als Ursache, alles andere als Folge 
anzusehen, ist allmählich übermächtig geworden; nur so erscheint es 
verständlich, daß Kindersterblichkeit, Totgeburten, ja Rachitis und 
Tuberkulose in der Deszendenz ohne weiteres dem degenerativen Einfluß 
der väterlichen Unmäßigkeit zur Last gelegt werden konnten, und daß 
man zuletzt bei ?/, aller in Nervenanstalten untergebrachten Männer 
den Alkohol als ursächliches Moment anschuldigte. 

Ein Hinweis auf diese Mängel, an denen ein großer Teil aller ein- 
schlägigen Arbeiten krankt, erscheint nicht nur aus wissenschaftlichen 
Gründen gerechtfertigt, sondern auch aus eminent praktischen durchaus 
nötig. Daß die Feinde der Antialkoholbewegung gerade an derartigen 
Stellen einsetzen und aus einzelnen Uebertreibungen für ihre Zwecke 
Kapital schlagen, erscheint dem Ref. noch der geringere Schaden; die 
Gefahren des Alkohols und die Notwendigkeit des Kampfes gegen den- 
selben werden ernstlich kaum mehr in Zweifel gezogen werden können. 

Viel ernster erscheint eine andere Gefahr: der Kampf gegen die 
aus dem Alkoholismus drohende Gefahr erfordert eine tätige Mitarbeit 
der weitesten und breitesten Kreise: es darf nicht verkannt und ver- 
schwiegen werden, daß die Art und Weise, namentlich die zu Ueber- 
treibungen neigende, laute, propagandistische Form, in der der Kampf 
von vielen Seiten geführt wird, vielfachen Anstoß in den Kreisen derer 
erregt, die den Zielen selbst sympathisch gegenüberstehen, und daß so 
der Sache Kräfte entzogen werden, die sich zu stiller Arbeit gerne zur 
Verfügung stellen würden. Es ist ganz bezeichnend, daß der verdiente 
deutsche Verein gegen den Mißbrauch geistiger Getränke sich vor kurzem 
der übereifrigen Freunde der Antialkoholbewegung — der Total- 
abstinenzler — recht energisch zu wehren Gelegenheit nehmen multe. 

Noch eine weitere Gefahr erwächst aus der Auffassung der Alkohol- 
frage, wie sie sich in dem Hoppeschen Buche widerspiegelt. Die Maß- 
nahmen, die zur Abwendung von Mißständen getroffen werden, sollen au 
den Schäden einsetzen, die als Ursache der Mifstünde erachtet werden. 
Gewinnt, wie es manchmal fast scheinen möchte, eine Richtung die 

de 


132 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslande 


Oberhand, die einseitig im Alkoholismus die Wurzel aller Uebel sieht, 
so erhebt sich die schwere Gefahr, daß die Abwehrmafregeln in ebenso 
einseitiger Richtung getroffen werden; es erscheint nötig, zeitig zu 
warnen, um späteren schweren, aber unausbleiblichen Enttäuschungen 
vorzubeugen, und es wäre auf alle Fälle zu wünschen, daß sich ein Autor 
fände, der mit demselben Eifer, mit dem Hoppe alle möglichen Folgen 
des Alkoholmißbrauchs zusammengestellt, allen möglichen Ursachen 
desselben nachginge. Heilbronner. 


Lieven, Fürst Maximilian, Die Arbeiterverhältnisse des Groß- 
grundbesitzes in Kurland. I. Abt., I. Bd., Lief. 1—4. Mitau, bei 
J. F. Steffenhagen und Sohn, 1900/1901. Fol. 199 SS. 

Der auch in Kurland — wenngleich örtlich differenziert — immer 
häufigere und empfindlichere Mangel an landwirtschaftlichen Arbeits- 
kräften hat im Jahre 1898 eine Untersuchung der Ursachen dieser Er- 
scheinung durch die Kurländische ökonomische Gesellschaft in Gang 
gebracht. Hierbei stieß man jedoch sofort auf unüberwindliche Schwie- 
rigkeiten, da es an jeder verläßlichen statistischen Grundlage fehlte. 
Diese nun im Interesse „einer gründlichen Beurteilung der augenblick- 
lichen Lage der in der Landwirtschaft des Großgrundbesitzes beschäf- 
tigten Arbeitskräfte und zwar speziell im Hinblick auf den Arbeiter- 
mangel und seine Gründe“ zu beschaffen, übernahm der Verf. Er ver- 
anstaltete zu diesem Zwecke im Frühjahr 1899 eine Privatenquete, die 
dann noch zur Ausfüllung von nachträglich zu Tage getretenen Lücken 
des ursprünglichen Fragebogens durch eine Nachenquete bezw. im Wege 
der Privatkorrespondenz ergänzt wurde. 

Untersuchungsobjekt bildeten: das Verhältnis der vorhan- 
denen zu den erforderlichen Knechten, d.h. „allen ständigen 
für die Feldwirtschaft direkt von der Gutsverwaltung jährlich engagierten 
Arbeitskräften gegen vorher bemessene Löhnung“ mit Ausschluß also 
alles speziellen Dienstpersonals; Dienstzeit, Nationalität und 
Geburtsort der Knechte; die Arbeitsverhältnisse; die 
Lage und die Locopreise; die Lohnverhältnisse der De- 
putatknechte, d. h. derjenigen, die „alle Arbeitstage des Jahres 
der Gutsverwaltung zu leisten haben und daher auch so gestellt sind, 
daß ihre Art der Löhnung keinen Aufwand an eigener Zeit von ihnen 
beansprucht“; die Lohnverhältnisse der Landknechte, denen 
im Gegensatz zu den „Deputatknechten“ „ein großer Teil ihrer Arbeits- 
zeit zwecks Erwerbung ihres Lohnes zur Verfügung gestellt werden 
mul“; die Lohnverhältnisse der Tagelóhner. 

Das vom Verf. gesammelte Material, das sich auf etwa 80 Proz, 
des gesamten kurländischen Großgrundbesitzes bezieht, also ziemlich 
vollständig ist, gelangt nun — nach den 10 Kreisen des Landes ge- 
ordnet — in dem vorstehend angezeigten Werke zur Darstellung. Dies 
geschieht derart, daß die oben erwähnten untersuchten Verhältnisse zu- 
nächst gesondert in tabellarischen Uebersichten vorgeführt werden. 
Hierzu aber treten, um tiefere Einsicht zu ermöglichen, am Schlusse 
eines jeden Abschnittes: eine Anzahl von Kontraktkopien; eine kurze 
Zusammenfassung der dem Verf. über die Verhältnisse jedes Kreises 


E 


Uebersicht über die nenesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 133 


zugegangenen Meinungsäußerungen; ein Bericht über etwa im Kreise 
oder auf einzelnen Gütern vorhandene besondere Einrichtungen, resp. 
auch Kopien der Statuten, Rechenschaftsberichte etc. 

Vorläufig liegt nur die Bearbeitung des Materials für die Kreise 
Windau, Goldingen, Talsen und Tuckum vor. Für die 6 anderen steht 
sie — hoffentlich nicht mehr lange — noch aus. 

Diese Anzeige bezweckt nur, vorläufig auf die sehr wertvolle und 
für die Erkenntnis der ländlichen Arbeitsverfassung in Kurland ungemein 
wichtige Publikation aufmerksam zu machen. Eine eingehende und 
systematische Würdigung ihrer Ergebnisse behält sich Ref. für den 
Zeitpunkt vor, da sie vollständig vorliegen. 

Wien. , Carl Grünberg. 


Detmer, H. (OBibliothekar), Bilder aus den religiösen und sozialen Unruhen in 
Münster während des 16. Jahrhunderts. I. Johann v. Leiden. Seine Persönlichkeit 
Ce seine Stellung im münsterschen Reiche. Münster, Coppenrath, 1903. gr. 8. 71 SS. 

. 1,25, 

Frauenbewegung, die, in der Schweiz. 6 Vorträge, veranstaltet durch die 
Pestalozzigesellschaft. Zürich, Th. Schröter, 1902. gr. 8. 107 SS. M. 1,20. 

Kolleck, Georg und Frz. Ziegler, Private Wohlfahrtspflege für Fabrik- 
arbeiter, Beamte und ihre Familien im organischen Zusammenhang mit der sozialen 
Reform des Reiches nebst typischen Beispielen und Formularen aus der Praxis. Berlin, 
Bruer & C°, 1902. gr. 8. XII—285 SS. u. Anhang 184 SS. M.3—. (Herausgeg. vom 
Bergischen Verein für Gemeinwohl.) 

Kraus, K., Sittlichkeit und Kriminalität. (Nach einem Ehebruchsprozesse.) Wien, 
Verlag „Die Fackel“, 1902. 8. 24 SS. M. 0,40. P 

Parent-Duchatelet, Die Prostitution in Paris. Eine sozial-hygienische Studie. 
Bearbeitet und bis auf die neueste Zeit fortgeführt von G. Montanus, D' med. Frei- 
burg i. B., 1903. gr. 8. VIII —262 SS. M. 4,50. 

Salomon, Alice, Soziale Frauenpflichten. Berlin, O. Liebmann, 1902. 8. 
196 SS. M. 2,20. (Aus dem Inhalt: Soziale Hilfstätigkeit. — Frauen in der öffent- 
lichen Armenpflege. — Arbeiterinnenschutz und Frauenbewegung.) 

Schorer, Hans, Die Wohltätigkeitsstiftungen Bayerns. Mit einem namentlichen 
Verzeichnis von an 6500 Wohltätigkeitsstiftungen, nebst Angabe von Zweck, Begrenzung, 
Gründungsjahr, Vermögen. München, Verlag des katholischen Caritasverbandes, 1902. 
gr. 8. 244 SS. M. 3.—. 

Schriften des deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit. Heft 61 
und 62, Leipzig, Duncker & Humblot, 1902. gr. 8. (Inhalt. Heft 61: Silbergleit, 
Heinr. (Direktor des statistischen Amtes der Stadt Magdeburg), Finanzstatistik der 
Armenverwaltungen von 108 deutschen Städten. VIII—82 SS. mit 3 Tabellen. M. 2,20.—. 
Heft 62: Bericht, stenographischer, über die Verhandlungen der XXII. Jahresversamm- 
lung des deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit am 18. und 19. Sep- 
tember 1902 in Kolmar. 143—XX SS. M. 3,40. 

Stade, Reinh., Gefüngnisbilder. Kritische Blütter aus dem Strafvollzuge. Leipzig, 
Dörffling & Franke, 1902. gr. 8. VII—361 SS. M. 4.—. (Aus dem Inhalt: Arbeit 
und Arbeitslohn. — Talente in der Zelle. — Das Kind im Gefüngnisse. — Hunger 
oder sinnliches Begehren? — Der Alkohol und das Verbrechen. — Der Entlassene und 
die Gesellschaft.) 


Didier, Ch., L'évolution de l'habitation urbaine. Bruxelles, P. Weissenbruch, 
1902. 8. 21 pag. fr. 1.—. 

Riis, Jae. A., The battle with the slum. New York, The Macmillan Cr, 1902. 
gr. 8. VI—465 pp. with illustr. 9/.—. (Contents: Battle against heavy odds. — The 
outworks of the slum taken. — The devil's money. — The blight of the double-decker. 
— „Druv into decency.“ — The mills houses. — On who shall we shut the door? — 
The genesis of the gang. — Letting in the light. — Justice to the boy. — Reform of 
humane touch. — ete.) 

Banterle, Gius. (sacerd.), La questione sociale e il socialismo nei loro rapporti 


134 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


colla religione e colla morale. Modena, tip. dell’ Immacolata concezione, 1902. 12. 
XV—224 pp. 1. 1,20. 
10. Gesetzgebung. 

Birkenbihl, F. (Landrichter), Der unlautere Wettbewerb erläutert durch die 
Rechtsprechung zum Reichsgesetze vom 27. V. 1896. Hannover, Helwing, 1902. 8. 
XII—170 SS., geb. M. 2,50. 

v. Bülow, Joach., Das Vereinsrecht des bürgerlichen Gesetzbuches. Berlin, 
C. Heymann, 1902. gr. 8. VIII—123 SS. M. 2.—. 

Heinemann, Ernst, Das Grundprinzip der Aktienform und der NachschuB- 
zwang bei Aktiengesellschaften. Eine aktienrechtliche Untersuchung. Berlin, Haude & 
Spener, 1902. 8. 72 SS. M. 1,50. 

Lüersen, Heinr., Das Schiffsgläubigerrecht und die übrigen seerechtlichen Pfand- 
rechte. Berlin, Struppe & Winckler, 1902. 8. 68 SS. M. 1,60. 


de Lacoste-Lareymondie, P. (avocat à Niort), Du risque professionnel dans 
la loi du 9 avril 1898 et de son application à l'agriculture par la loi du 30 juin 1599 
(these). Niort, Clouzot, 1902. 8. 173 pag. 

Larcher, Emile (prof. à l'Ecole de droit d'Alger), Traité élémentaire du légis- 
lation Algérienne. Tome Uer, Paris, Arth. Rousseau, 1902. 8. VI—811 pag. fr. 12,50. 

Réglementation du travail dans l'industrie. Lois, décrets, arrêtés, Sept. 1902. 
Paris, Berger-Levrault & Or, 1902. 8. 75 pag. fr. 1.—. 
. Turpault, H. (avocat à la Cour d'appel) La protection du gibier dans la legis- 
lation francaise. Paris, A. Rousseau, 1902. 8. 185 pag. fr. 4.—. 

Bardari, Renato Luc. (avvoc.), Il sindacato giudiziario sugli atti amministra- 
tivi. Napoli, F. Giannini & figli, 1902. 8. 274 pp. 1. 4.—. 

Hemming, A. Hankbok i handelsrätt och sjórütt. Stockholm, Alb. Bonnier, 
1902. 8. kr. 2,25. 

López Peláez, A., El derecho español en sus relaciones con la iglesia. Madrid, 
Asilo de Huérfanos del S. C. de Jesus, 1902. 8. pes. 2,50. 


11. Staats- und Verwaltungsrecht. 


Bezirkstag des Unterelsaß. Sitzung von 1902. Verhandlungen. Straßburg, 
Elsässische Druckerei, 1902. 4. XVI S. 261—415. 

Charlottenburg. Bericht über die Verwaltung und den Stand der Gemeinde- 
angelegenheiten der Stadt Charlottenburg für das Verwaltungsjahr 1901. Charlottenburg, 
C. Ulrich & C°, November 1902. Lex.-8. 279 SS. 

Erfurt. — Bericht über die Verwaltung und den Stand der Gemeindeangelegen- 
heiten der Stadt Erfurt für das Rechnungsjahr 1901. Erfurt, Druck von Fr. Kirchner, 
1902. Roy.-4. 311 SS. 

Gemeindeverwaltung der Stadt Frankfurt a./M. 1901.) An die Stadtverord- 
netenversammlung. Bericht des Magistrates, die Verwaltung und den Stand der Ge- 
meindeangelegenheiten im Verwaltungsjahre 1901 betreffend. Frankfurt a./M., Druck 
von Gebr. Knauer, 1902. gr. 4. XXIV—734 SS. 

Görlitz. — Bericht über Verwaltung und Stand der Gemeindeangelegenheiten 
der Stadt G. im Etatsjahre 1901. Görlitz, Druck von Hoffmann & Reiber, 1902. 4, 
181 SS. u. 32 SS. — Jahresabschluß der Stadthauptkasse zu Görlitz für das Rechnungs- 
jahr 1901. Ebd. 1902. Folio. 143 SS. 

Jahrbuch, politisches, der schweizerischen Eidgenossenschaft. Jahrg. XVI: 1902, 
Herausgeg. von (Prof.) C. Hilty. Bern, K. J. Wyss, 1902. 8. VII—708 SS. M. 9.—. 
(Aus dem Inhalt: Die Zukunft der Schweiz, vom Herausgeber. — Das Ende der 
Helvetik (1801—1802), von Joh. Strickler. — Ueber die Entstehung der Artikel XI 
u. XII der schweizerischen Bundesverfassung, vom Herausgeber. 

Küssner, G., Was können Magistrate kleiner Städte gegen den Mißbrauch geistiger 
Getränke tun, Mölln, L. Alwart, 1902, gr. 8. 91 SS. M! 1,50. 

Marcuse, H. (Rechtsanw. beim k. Landgericht I Berlin), Die Verfassung des König- 
reichs Serbien vom 6. IV. 1901. Berlin, Freier Verlag, 1902. gr. 8. 42 SS. M.1.—., 

v. Massow, W., Die Polennot im deutschen Osten. Studien zur Polenfrage. 
Berlin, Alex. Duncker, 1903. gr. 8. 428 SS. M. 5.—. 

Osnabrück. — Bericht über die Verwaltung und die Gemeindeangelegenheiten 
der Stadt Osnabrück für das Rechnungsjahr 1901. Osnabrück, Druck von A, Liesecke, 
1902. 4. 139 SS. 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 135 


Rehm, Herm. (Prof., Erlangen), Quellensammlung zum Staats- und Verwaltungs- 
recht des Königreichs Bayern. Leipzig, C. L. Hirschfeld, 1903. gr. 8. XIV—382 SS. 
M. 6,50. (A. u. d. T.: Quellensammlungen zum Staats-, Verwaltungs- und Völkerrecht. 
Hrsg. von (Prof.) H. Triepel, Bd. VI.) 

v. Roëll, P. (kgl. LandR. z. D.) und Georg Epstein, Bismarcks Staatsrecht. 
Die Stellungnahme des Fürsten Otto v. Bismarck zu den wichtigsten Fragen des deut- 
schen und preußischen Staatsrechts. Nach amtlichen, privaten und zeitgenössischen 
Quellen bearbeitet und herausgeg. Berlin, Ferd. Dümmler, 1903. gr. 8. VI—488 SS, 
M. 7.—. 

Sembratowyez, Roman, Polonia irredenta. Frankfurt aM. Neuer Frankfurter 
Verlag, 1903. gr. 8. 157 SS. M. 2.—. 

Tezner, Fr. (Prof), Die landesfürstliche Verwaltungsrechtspflege in Oesterreich 
vom Ausgang des 15. bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. Heft 2. Wien, A. Höl- 
der, 1902, gr. 8. 179 SS. M. 3.—. 

Uebersicht über den Betrieb der öffentlichen Schlachthäuser und Roßschlächte- 
reien in Preußen für das Jahr 1901. A. Oeffentliche Schlachthäuser. Berlin, Buch- 
druckerei „Die Post‘, 1902. Größt. Imper.-Folio. 28 SS. (Veröffentlichung des kgl. 
Ministeriums für Landwirtschaft, Domänen und Forsten.) 


Almanach national. Annuaire officiel de la République française pour 1902— 
1903. 204° année. Paris, Berger-Levrault & C's, 1902. 8. 1646 pag. fr. 15. 

Damoiseaux, Maur. (prof. de droit constitutionnel à Ecole commerciale et 
consulaire, à Mons), Les institutions nationales de la Belgique. Eléments de droit con- 
ren et de droit administratif. Tournai, Decallonne-Liagre, s. d. (1902). 8. 194 pag. 
r, 2.—, 

Simons, L., De nood der gemeenten en de middelen tot uitkomst. Amsterdam, 
Scheltema & Holkema, 1902. gr. 8. 51 blz. fl. 0,90. 

Annual report of the proceedings of the London County Council for the year 
ended 31* March 1902. London, printed by J. Truscott & Son, 1902. Folio. 285 pp. 
i=. (Contents: General report of the work of the council. — Reports of the standing 
ommittees: Asylums ` Finance; Bridges; Building Act; Corporate property; Charities 
ad endowments; Establishment; Fire brigade; highways; Historical records and buil- 
dings ; Housing; Improvements; Industrial and reformatory schools; Inebriates Acts 

Committee; Local government and taxation; Main drainage; Parks and open spaces; 
lie control; Public health; Rivers; Stores; Theatres and music halls; Water. — ete.) 
Benlloch, F. J. J., Las constituyentes de 1902. Madrid, J. Calleja, 1902. 8. 


12. Statistik. 


Allgemeines. 
M eitzen, August (GehRegR., Prof.), Geschichte, Theorie und Technik der Stati- 


stik. 2, Aufl. Stuttgart, J. G. Cotta, Nacht, 1903. gr. 8. X—240 SS. M. 6.—. 


H ofkalender, gothaischer genealogischer, nebst diplomatisch -sta tistisehem 


lhrbuche, 1903. Jahrg. 140. Gotha, J. Perthes, 1902. 12. XXIV—1127 SS. mit 


i Stahlstichen (Porträts), geb. M. 8.—. 

.. Whitaker, Jos., Almanack for the year of our Lord 1903. London, 1902. 8. 
'% pp., cloth. 2/.6. (Containing a large amount of information respecting the Govern- 
Went, finances, population, commerce and general statistics of the British Empire throughout 
the world.) 


Deutsches Reich. 


AdreBbuch der gesamten evangelischen Geistlichkeit Deutschlands. Nach amt- 
lihen Unterlagen zusammengestellt. Jahrg. IV. 1902. Leipzig, Schulze & C°, 1902. 
w. 8. III SS., 940 Spalten u. S. 941—974, geb. M. 15.—. 

Bericht, statistischer, über den Betrieb der unter kgl. süchsischer Staatsverwal- 
tung stehenden Staats- und Privateisenbahnen mit Nachrichten über Eisenbahnneubau 
im Jahre 1901. Dresden, Druck von C. Heinrich, 1902. gr. 4. 167 SS. nebst einer 

Vebersichtskarte vom Bahnnetz. (Herausgeg. vom kgl. sächsischen Finanzministerium.) 

Brüderkalender. Statistisches Jahrbuch der evangelischen Brüderkirche und 
ihrer Werke. Jahrg. X (1903). Bearbeitet von Rud. Müller. Gnadau, Universitäts- 
buchhdl., 1902. 19. 108 SS. M. 0,60. 


136 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Drucksachen des Beirats für Arbeiterstatistik. Verhandlungen N’ 1: Protokolle 
über die Verhandlungen des Beirats für Arbeiterstatistik vom 22. X. 1902. Berlin, 
C. Heymanns Verlag, 1903. Folio. 32 SS. M. 0,40. 

Preußische Statistik. (Amtliches Quellenwerk.) Heft 168: Statistik der Land- 
wirtschaft (land- und forstwirtschaftliche Bodenbenutzung) im preußischen Staate für 
das Jahr 1900. II. Die Forsten und Holzungen im besonderen. Berlin, Verlag des 
kgl. statistischen Bureaus, 1902. Bos A XXII—91 SS. mit 2 Taf. graphischer Dar- 
stellungen. 

Preußische Statistik. (Amtliches Quellenwerk.) Herausgeg. in zwanglosen 
Heften vom kgl. statistischen Bureau. Heft 176: Das gesamte niedere Schulwesen im 
preußischen Staate im Jahre 1901. Teil III. Die öffentlichen Volksschulen in den ein- 
zelnen Kreisen und Oberämtern des preußischen Staates, mit Unterscheidung der Schulen 
in den Städten und auf dem Lande. Im Auftrage (des Herrn Kultusministers) bearbeitet 
vom kgl. statistischen Bureau. Berlin, Verlag des Bureaus, 1902. Imp.-4. 553 SS. 

Statistik des Deutschen Reichs, Neue Folge, Bd. 143. Auswärtiger Handel des 
deutschen Zollgebiets im Jahre 1901. Bearbeitet im kaiserl. statistischen Amt. Teil II. 
Darstellung nach Warengattungen, Berlin, Puttkammer & Mühlbrecht, 1902. Imp.-4. 
409 u. 30 SS. M. 6.—. 

Uebersicht über die historische und numerische Entwickelung der rómisch- 
katholischen Kirehe in der Provinz Sachsen am Ende des XIX. Jahrhunderts mit 
vielen statistischen Nachweisen, von M. Herrmann. Halle, Wischan & Wettengel, 
o. J. (1902). gr. 8. 88 SS. M. 0,75. 


Frankreich, 
Annuaire statistique de la ville de Paris. XXI* année, 1900. Paris, Masson 
& C^, 1902. gr. in-8. XXXII—843 pag. fr. 6.—. (Publication de la préfecture de 
la Seine, direction des affaires municipales, service de la statistique municipale (M. Jacques. 
Bertillon, chef des travaux de la statistique.) 
Statistique des naufrages et autres accidents de mer pour l'année 1900. Paris, 
impr. nationale, 1902. 8. 136 pag. (Publication du Ministere de la marine.) 


England. 
Abstract, statistical, for London, 1902. (vol. V.) Compiled by the statistical 
officer of the London County Council. London, P. S, King & Son, November 1902. 
gr. 8. VII—115 pp. 1/.—. 


Oesterreich. 

Mitteilungen des k. k. arbeitsstatistischen Amtes im Handelsministerium. Heft 3. 
Wien, A. Holder, 1902. gr. 8. VII—215 SS. (Inhalt: Gesindewesen und Gesinderecht 
in Oesterreich, von H. Morgenstern (Advokaturskand., Wien). 

Schwechler, Karl, Die städtischen Hausdiensthoten in Graz. Beiträge zur 
Dienstbotenstatistik. Graz, Verlagsbuchhdl. „Styria“, 1903. gr. 8. 41 SS. M. 1.—. 
(Veröffentlichungen des statistischen Seminars der Universität Graz. Heft 1.) 

Satistik, österreichische. Herausger. von der k. k. statistischen Zentralkom- 
mission. Bd. LXII, Heft 3: Bewegung der Bevölkerung der im Reichsrate vertretenen 
Königreiche und Länder im Jahre 1899. Wien, C. Gerolds Sohn, 1902. Imp.-4. LXXV— 
269 SS. Kr. 10.—. 


Italien. 

Censimento della popolazione del Regno d'Italia al 10 Febbraio 1901. Volume I. 
Popolazione dei comuni e delle rispettive frazioni divisa in agglomerata e sparsa e 
popolazione dei mandamenti amministrativi. Roma, tip. nazionale di G. Bertero & C., 
1902. Lex. in-8. 455 pp. l. 3.—. (Pubblieazione del Ministero di agricoltura, industria 
e commercio, Direzione generale della statistica.) 

Statistica giudiziaria civile e commerciale e statistica notariele per l'anno 1899. 
Parte I. Statistica giudiziaria civile e commerciale. Roma, tipogr. di G. Bertero & C., 
1902. Lex. in-8. CLIII—152 pp. (Pubblicazione della Direzione generale della statistica.) 


Dänemark. 


Danmarks Statistik, Statistisk Aarbog. VII. aargang: 1902. Kobenhavn, Gylden- 
dal, 1902. gr. in-8. XIII—196 pp. (Table des matières: Superficie et population. 


m ni 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 137 


— Professions: Agriculture, pêche, industrie et métier, commerce et navigation. — 


Moyens de transport. — Argent, crédit et assurances. — Statistique sociale. — Justice. 
— Enseignement. — Finances communales et d'Etat. — Aperçus statistiques des dépen- 
dances et colonies. — ete.) 

Holland. 


Jaarcijfers voor het Koninkrijk der Nederlanden. Rijkin Europa. 1901. 's Gra- 
venhage, Gebr. Belinfante, 1902. gr. in-8. XXVIII—292 blz. (Bewerkt door het Cen- 
tral-Bureau voor de statistiek.) À 

Schweden. 


Bidrag till Sveriges offieiela Statistik. F. Handel. Kommerskollegii berättelse 
för Ar 1901. Stockholm, P. A. Norstedt & Söner, 1902. Roy. in-4. XVII—238 pp. 


Australien (englischer Kolonialbesitz im allgemeinen). 

Statisties. Six States of Australia and New Zealand, 1861 to 1901. Compiled 
from official sources, by T. A. Coghlan (Statistician of New South Wales). Sydney, 
W. A. Gullick printed, 1902. gr. 8. VII—84 pp. 1/.—. 

— (Kolonie Victoria). 

Census of Victoria (one of the six States of the commonwealth of Australia) 1901. 
Part I. Inhabitants and houses. Population enumerated on the 31" March, 1901. Mel- 
boume, S. Brain printed, 1902. Folio. 132 pp. with 5 maps. 

— (Kolonie West-Australien). 

Register, statistical, of the colony of Western Australia for 1900 and previous 
years. 13 parts. Perth, A. Watson printed, 1902. Folio. With map of Western Austra- 
lia, max.-in-Folio. 

13. Verschiedenes. 

Rivista Italiana di Sociologia. 6. Jahrgang, Heft 2/3, 
MürzJuni 1902. Rom, Fratelli Bocca. 

Die Reihe der Beiträge eröffnet A. Bosco mit einem Nachruf für 
den im vergangenen Jahre verstorbenen Statistiker Angelo Messedaglia. 
Daran schliessen sich Artikel über die politischen Einrichtungen Irans, 
über die rechtliche und wirtschaftliche Entwickelung Toscanas und 

eıne Abhandlung von G. Sorel über das Verhältnis der Geschichte zu 
den Sozialwissenschaften. Für deutsche Leser dürfte von besonderem 
Interesse ein kurzer Beitrag von G. Brugi über die Beziehungen der 
historischen Rechtsschule zur modernen Soziologie sein, in dem, zumeist 
auf Grund deutscher Quellen, Savigny als ihr Mitbegründer geschildert 
wird. 

Beigefügt ist dem Hefte eine umfangreiche Bibliographie, die auch 
die Haupterscheinungen der Zeitschriftenlitteratur mitberücksichtigt. 

Halle a. S. G. Brodnitz. 


Uebersicht der gesamten staats- und rechtswissen- 
schaftlichen Litteratur des Jahres 1900, zusammengestellt 
von Otto Mühlbrecht (23. Jahrg.). Berlin (Puttkammer und Mühl- 
brecht) 1901. 300 SS. 

Die Uebersicht bringt seit 1868 aus der deutschen, französischen, 
englischen, italienischen, niederländischen, skandinavischen und spanischen 
Literatur über Staats- und Rechtswissenschaft das Hauptmaterial an 
selbständig erschienenen Arbeiten. In diesem Jahrgang sind wieder 


138 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes, 


über 4300 Nummern enthalten, wobei für die deutschsprachliche Litteratur 
eine gewisse Vollständigkeit erzielt sein mag. Das beliebte, von uns 
schon öfter empfohlene Hilfsmittel, wird auch in dieser Ausgabe seinem 
Zweck gerecht werden. 


Aachen. W. Kähler. 


Bericht über die Verhandlungen der X. allgemeinen lutherischen Konferenz in 
Lund vom 3. bis 6. IX. 1901 im Auftrage des Ortsausschusses herausgeg. von O. Ahn- 
felt (Prof. d. Theologie, Universität Lund). Stockholm, P. A. Norstedt & Sóners, 1902. 
8. 265 SS. 

Bresnitz v. Sydacoff, Die Wahrheit über Ungarn. Politische und gesellschaft- 
liche Skizzen aus der neuen und neuesten Geschichte Ungarns. 2. Aufl. Berlin, Fr. 
Luckhardt, 1902. gr. 8. V—122 SS. M. 3.—. 

Bruhns, C. (Privdoz., Univ. Berlin) Hygiene der Barbierstuben. Jena, G. Fischer, 
1902. gr. 8. 39 SS. M. 1.—. (A. u. d. T.: Handbuch der Hygiene, herausgeg. von 
(Privdoz.) Th. Weyl. II. Supplementbd., Liefer. 3.) 

Eckstein, A., Die bayerischen Parlamentarier jüdischen Glaubens. Bamberg, 
Verlag der Handelsdruckerei, 1902. gr. 8. 47 SS. M. 0,60. (Beiträge zur Geschichte 
der Juden in Bayern, 1.) 

Edelmann, Rich. (Prof. an d. k. tierürztl. Hochschule, Dresden), Lehrbuch 
der Fleischhygiene mit besonderer Berücksichtigung der Schlachtvieh- und Fleisch- 
beschau. Jena, G. Fischer, 1903. gr. 8. XVI—336 SS. mit 172 Textabbildgn. und 
2 Farbentafeln. M. 8.—. 

Emmerich, Rud. u. Heinr. Trillich, Anleitung zu hygienischen Unter- 
suchungen. Nach den im hygienischen Institut der kgl. Ludwig-Maximiliansuniversität 
zu München üblichen Methoden zusammengestellt. 3. Aufl. München, Rieger, 1902, 
gr. 8. V—424 SS. mit 123 Abbildgn. geb. M. 10. 

Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte. In Verbin- 
dung mit Fr. Holtze, G. Schmoller und A. Stölzel herausgeg. von O. Hintze. XV. Bd., 
2. Hälfte. Leipzig, Duncker & Humblot, 1902. gr. 8. IV—311 SS. und (Sitzungs- 
berichte des Vereins für Geschichte der Mark Brandenburg, 9. X. 1901 — 14. V. 1902.) 
52 SS. M. 6.—. 

Frobenius, Leo, Völkerkunde in Charakterbildern des Lebens, Treibens und 
Denkens der Wilden und der reiferen Menschheit. 2 Bde. mit über 700 Abbildgn. im 
Text und auf Tafeln. Hannover, Gebr. Jünecke, 1902. gr. 8. XII—416 SS. geb. 
M. 15. — (Bd. I. Aus den Flegeljahren der Menschheit. — Bd. II. Die reifere 
Menschheit.) 

Jahresbericht der Obersehulbehórde (von Hamburg) über das Unterrichtsjahr 
1901/1902. Hamburg, Druck von Lütcke & Wulff, 1902. 4. 114 SS. 

Króhnke, O. und (Ingen. H. Müllenbach, Das gesunde Haus. Als Führer 
und Berater bei der Wahl und Errichtung der Wohnstätte nach den Grundsätzen der 
modernen Gesundheitspflege. Stuttgart, Ferd. Enke, 1902. Lex.-8. XII—644 SS. mit 
527 Textabbildungen. M. 14.—. 

Lówenfeld, L. (Spezialarzt für Nervenkrankheiten, München), Sexualleben und 
Nervenleiden. Die nervósen Störungen sexuellen Ursprungs. 3. Aufl. Wiesbaden, J. 
Bergmann, 1903. gr. 8. IV—326 SS. M. 6.—. 

Pichler, Ad., Das Sturmjahr. Erinnerungen aus den März- und Oktobertagen 
1848. (Aus dem Nachlas Ad. Pichlers.) Berlin, Meyer & Wunder, 1903. II—181 SS. 
M. 2,50. 

v. Reichenau, W., Judentum und Deutschtum. Ueber den Einfluß der jüdi- 
schen auf die deutsche materielle und besonders höhere Kultur. Stuttgart, Süddeutsche 
Verlagsbuchhdl. (D. Ochs), 1902. 8. 32 SS. M. 0,50. 

Schierse, Bruno, Das Breslauer Zeitungswesen vor 1742. Breslau, J. U. Kern, 
1902. gr. 8. 136 SS. M. 3.—. 

Wettig, Herm., Die Leichenverbrennung und der Feuerbestattungsapparat in 
Gotha. 4. Aufl. Gotha, Rich. Schmidt, Ende 1902. 8. 45 SS. mit 5 Vollbildern. 
M. 1.—. 


Die periodische Presse des Auslandes. 139 


Annuaire de l’enseignement primaire, fondé par Jost, publié sous direction de 
M. F. Martel (inspecteur général de l'instruction publique). XIX* année, 1903. Paris, 
A. Colin, 1902. 12. 668 pag. fr. 3.—. 

Congrès international d'anthropologie et d'archéologie préhistoriques. Compte 
rendu de la douzième session, Paris 1900. Paris, Masson & Ce, 1902. Lex. in-8. 
XXVIN—513 pag. av. fig. et planches. fr. 15.—. 

Mahan, A. T., Retrospect and prospect. Studies in international relations naval 
and political. ‚London, Sampson Low, 1902. 8., cloth. VII—309 pp. 8/.6. (Contents: 
Retrospeet and prospect (by courtesy of the „World’s work“, February 1902.) — Con- 
ditions determining the naval expansion of the United States (by c. of „Leslie’s Weekly“, 
Octob., 2, 1902). — The influence of the South American war upon the prestige of 
the British Empire (by c. of the „National Review“, Decbr. 1901). — Motives to imperial 
federation (by e. of the „National Review‘ and the „International Monthly“, May 1902). 
— Considerations governing the disposition of navies (by c. of the „National Review‘, 
July, 1902) — The Persian gulf and international relations (by c. of the „National 
Review", September, 1902. — ete.) 


Die periodische Presse des Auslandes. 


A. Frlankrefich. 


Bulletin de statistique et de législation comparée. XXVI" année, 1902, Novem- 
bre: A. France, colonies: Décret relatif à la contribution des patentes en Algérie. — 


Produits des droits sur les boissons pendant les neuf premiers mois de 1902. — Le 
commerce extérieur de la France en 1901. (Résultats définitifs.) — Les revenus de 
l'Etat. — Le commerce extérieur mois d’Octobre 1902. — Les produits de l'enregistre- 


ment des domaines et du timbre constatés et recouvrés au cours du XIX* siecle (avee 
diagrammes). — Production des vins en 1902. (Résultats provisoires.) — B. Pays étrangers: 
Pays divers: La production et la frappe de l'or et de l'argent dans le monde de 1896 
à 1900. — Angleterre: Les résultats de l'année financière 1901—02; Les recettes et les 
dépenses budgétaires depuis 1880; La situation des caisses d'épargne. — Autriche- 
Hongrie: Le projet de budget autrichien pour 1903; L'historique de la réforme moné- 
taire austro-hongroise; Les caisses d'épargne autrichiennes en 1900. — Belgiques: Les 
opérations de la caisse générale d'épargue et de retraite en 1901. — Espagne: Le com- 
merce extérieur (3 premiers trimestres 1902). — Italie: Le produit des taxes de fabri- 
cation. — Russie: Les résultats définitifs de l'exercice 1901; l'enquéte agricole. — 
Le budget coréen. — etc. 

Journal des Economistes. Revue mensuelle. 61° année, 1902, Décembre: La 
concurrence et sa organes, marchés et intermédiaires, par G. de Molinari. — Un anar- 
chiste amérieain, par Paul Ghio. — Mouvement scientifique et industriel, par Daniel 
Bellet. — Revue de l'Académie des sciences morales et politiques (du 15 août à 
19 novembre 1902), par J. Lefort. — Travaux des chambres de commerce, par Rouxel. 
— L'industrie de la chaussure aux Etats-Unis, par E. M. — Etude d'économie rurale, 
par Paul Bonnaud. — Congrès international du crédit populaire, par G. François. — La 
crise des caisses d'épargne, par Henry W. Wolff. (Correspondance.) — L’impöt sur les 
bourses en Allemagne. Les résultats, par Ferd. Moos. — Société d'économie politique 
réunion du 5 décembre 1902; Discussion: 1. Les nouvelles méthodes du commerce inter- 
national; 2. Les trusts (suite). — Chronique. — ete. 

Journal de la Société de statistique de Paris. 43° année, 1902, n? 11, Novembre: 
Procès-verbal de la séance du 15 octobre 1902. — Organisation des enquêtes agricoles. 
Rapport adressé à M. le Président de la République par le Ministre de l'agriculture. 

— lndustrie du suere sur le continent, par Yves Guyot. — Le mont-de-piété de Paris. 
— Chronique trimestrielle des banques, changes et métaux précieux, par Pierre des 
Essars, — etcj 


140 Die periodische Presse des Auslandes, 


B. England. 

Journal of the Royal Statistical Society, vol. LXV, part 4, 31" XII, 1902: The 
inaugural address of Major Patrick G. Craigie (President of the Royal Statistical Society, 
session 1902/03. Delivered 18. XI. 1902; Proceedings on the 18. XI. 1902. — Eng- 
lish railway statisties, by W. M. Acworth; Discussion on Mr. Acworth’s paper. — Mis- 
cellanea: Memorandum on estimates of the production of meat and milk, by R. Henry 
Rew; Further notes on life-tables, by T. E. Hayward; The investigation of retail prices, 
by G. H. Wood: Agricultural returns, 1902. — etc. ? 

Nineteenth Century, the, and after. N" 310, December 1902: America's bid 
for navalsupremacy, by Archibald S. Hurd. — The weak spot in the American Republic, 
by J. Weston. — The real object by corn laws, by (Sir) Guilford L. Molesworth. — 
The tangle of London locomotion, by Sidney Low. — Our publie schools as a publie 
peril, by (Sir) Oliver Lodge (principal of the University of Birmingham). — Religion 
and physical science, by the Duke of Northumberland. — The Jesuits and the law in 
England, by (the Rev. Father) Gerard (S. J.). — The story of „the fourth party, by 
Harold E. Gorst (art. II: its progress) — etc. 

Westminster Review, the. December 1902: The liberal d&bäcle, by John G. 


Godard. — Education question and the teaching profession, by (nomadic schoolmaster). 
— Chemical basis of life, by N. C. Macnamara (art. III). — Should Parliament snub 
the savings banks? by George W. Boag. — Applieation of science to criminal reform, 


by W. H. Champness. — On the neglected centenary of Harriet Martineau, by C. E. 
Plumptre. — Mordern paganism, by W. — etc. 


C. Oesterreich-Ungarn. 

Deutsche Worte. Monatshefte herausgeg. von Engelbert Pernerstorfer. Jahrg. XXII, 
1902, Dezember: Die Sprachenfrage im Amt, die Grundzüge des Ministeriums Koerber 
und die Vorschläge der deutschen Parteien, von Rud. Springer. — etc. 

Handelsmuseum, das. Herausgeg. vom k. k. ósterreichischen Handelsmuseum. 
Bd. XVII. N' 48—52, vom 27. November bis 25. XII. 1903: Eisenbahntarif und 
Handelsvertrag, von Alex. Freud. — Das Importgeschäft in Südafrika. (Art. I—V). — 
Die Geschäftslage in Shanghai. — Die Baumwollfrage, von Kurt Kuntze (Dresden) — 


Die elektrotechnische Industrie in Rußland. — Handelsreisende und Agenten in Bul- 
garien. — Interbritische Handelspolitik, von Sigm. Schilder. — Winke für den Export 
von Baumwollwaren. — Die japanischen Geldverhältnisse. — Der deutsche Zolltarif als 
Gesetz. — Die Messe in Nisehny-Nowgorod. — etc. 


Monatsschrift, statistische, herausgeg. von der k. k. statistischen Zentral- 
kommission. Jahrg. 1902, Oktoberheft: Die Zwangsversteigerungen von Liegenschaften 
im Jahr 1900, von J. Winckler. — Die Ergebnisse des Konkursverfahrens im Jahre 
1901, von J. Winckler, — Die Verteilung des Grundbesitzes in der Bukowina. — 
Oesterreichs Sparkassen im Jahre 1900, von H. Ehrenberger (II. Art.). — Statistik der 
registrierten Konsumvereine in den im Reichsrate vertretenen Königreichen und Ländern 
für das Jahr 1898, von Fritz Hawelka. — Zur Statistik der öffentlichen Armen- 
pflege. — ete. 

Soziale Rundschau. Herausgeg. vom k. k. arbeitsstatistischen Amte im Handels- 
ministerium. Jahrg. III, 1902, Novemberheft: V. Plenarsitzung der österreichischen Un- 
fallverhütungskommission. — Zentralverband der deutschen landwirtschaftlichen Ge- 
nossenschaften Böhmens 1901. — Soziale Versicherung: Betriebskrankenkassen in Bosnien 
und der Hercegowina. — Zur Frage der Arbeitslosenversicherung im Deutschen Reihce. 
— Berufssyndikate in Frankreich. — Arbeitseinstellungen und Aussperrungen : Arbeits- 
konflikte in Oesterreich; Arbeitseinstellungen und Aussperrungen in den Verein. Staaten 
von Amerika 1881—1900. — Arbeitsvermittlung: Ergebnisse der Arbeitsvermittlung in 
Oesterreich im Monate Oktober 1902; Städtische Arbeitsvermittlungsanstalt in Laibach 
1901. — Internationaler Arbeitsmarkt (Belgien, Deutsches Reich, England). — Arbeiter- 
verhältnisse: Dienst- und Lohnverhältnisse der landwirtschaftlichen Arbeiter in Böhmen ; 


Arbeiterverhältnisse in Rußland. — Die Salinen Oesterreichs im Jahre 1900. — 
Sanitäre und soziale Fürsorge in Kärnten 1901. — Wohnungsgesetzgebung in Lübeck. 
— Sozialpolitisches aus dem Landtage des Königreiches Böhmen. - Gesetzliche Maß- 


nahmen zur Bekämpfung des Alkoholismus in Oesterreich. — Armenwesen: Organi- 
sation der Armenpflege der Stadt Wien; Organisation der privaten Wohltätigkeit in 
London. — Zulässigkeit der Gewährung abwechlungsweiser Ruhepausen für gewerb- 


Die periodische Presse des Auslandes. 141 


liche Hilfsarbeiter unter Aufrechterhaltung des Betriebes während der Pausen. — Ver- 
schiedenes: Strafhausarbeit in Oesterreich ; Die Frauen im österreichischen Staatsdienst ; 
Regelung der Dienstverhältnisse der Aushilfsdiener bei den staatlichen Behörden, 
Aemtern und Anstalten in Oesterreich; Das k. k. Versatz-, Verwahrungs- und Ver- 
steigerungsamt in Wien im Jahre 1901. — etc. 


E. Italien. 


Giornale degli Economisti. Dicembre 1902: Osservazioni su alcune teorie di 
economia pura, per G. Scorza. — La beneficenza dello Stato, per E. Branzoli-Zappi. — 
Poche osservazioni sullo schema di capitolato proposto per la concessione della costru- 
zione e dell’ esercizio e manutenzione dell’ acquedotto Pugliese. — ,, Rapport au Ministre 
des finances par l'administration des monnaies et médailles". Compte rendu, par G. B. 
Suvioni, — Cronaca: I lavori pubblici; Il credito agrario; Il progetto Sonnino. -— ete. 

Rivista della beneficenza pubblica. Anno XXX, n° 12, Dicembre 1902: Per 
l'organizzazione degli impiegati delle opere pie, per Mellini. — Il congresso dell’ Unione 
inemazionale di diritto penale a Pietroburgo e i patronati, per Nicola Tabanelli. — 
Cronaca: Spedali ed ospizi di Lucca; Comitato interparrocchiale permanente di Bologna. 
Unione filantropica Triestina „la Previdenza'* — Patria casa di ricovero di Venezia. 
— ete. 

Rivista italiana di sociologia. Anno VI, 1902, fasc. 4: Il villanaggio in Sicilia 
e la sua abolizione, per G. Salvioli. — Le origini storiche dei Serbi e dei Croati, per 
L. Gumplowiez. — Note per la storia delle ritualità romano-tedesche, per N. Tamassia. 
— Per la scienza della storia, per G. Ferrero. — Rassegne analitiche: Lo sviluppo 
economico della Russia contemporanea, par G. Luzzatto. — Rassegna delle pubblicazioni. 
‘ét, 

G. Holland., 

de Economist, opgericht door J. L. de Bruyn Kops. LI. jaargang, 1902, Decem- 
ber: Over samenstelling en omvang eener metaal-industrie, door C. Hoitsema. — Nieuwe 
uitgaven; „Geschiedenis van den boerenstand en den landbouw in Nederland, door 
H. Blink“, door F. B. Lühnis. — De internationale geldmarkt, door C. Rozenraad. — 
Economische kroniek: Einfuhrzölle auf Mehl; Die Zuckerfrage; Der Finanzbericht 
des amerikanischen Schatzamtssekretärs vom 3. XII. 1902, — Handelskroniek. 

Tijdsehrift van het Centraal Bureau voor de Statistiek. (Revue du Bureau cen- 

tral de statistique, specialement contenant les renseignements rassemblés par les cham- 
bres du travail selon art. 33, al. 3, de la loi concernant les chambres du travail du 
2 mai 1897 (bulletin des lois n° 141) et d'autres données statistiques d'un caractère 
social-économique. 1° livraison. ’s Gravenhage, Gebr. Belinfante, gr. 8. XIX—220 pp. 
— Supplément de la Revue du Bureau central de statistique des Pays-Bas, 1* livr.: 
Werkstakingen en uitsluitingen in Nederland (grèves et exclusions) gedurende 1901. 
'5 Gravenhage, 1902. gr. 8. 51 blz. 


IH. Schweiz. 


Monatsschrift für christliche Sozialreform. Redaktion: (Prof. J. Beck (Frei- 
burg, Schweiz.) Jahrg. 1902 Heft 12: Soziale Wohlfahrtsmuseen, von Leop. Katscher. 
— Zur Charakteristik der wirtschaftlichen Ordnung im Altertum, von (Prof.) Karl Holder 
(IL. Art). — Statistische Streiflichter, von Buomberger (IV. Art.): Konfession und Sitt- 
lichkeit, — Zeitschriftenschau, von (NationalR.) E. Decurtius. — ete. 

Sehweizeriche Blätter für Wirtschafts- und Sozialpolitik. Jahrg. X, 1902, 
Heft 22: Gesetzliche Sicherung der Einleger von Sparkassageldern, von E. Traber-Hefti 
(Basel. — Die schweizerische Holzschnitzindustrie, von Kurt Demme (GroßR., Bern) — 
Der IL internationale Kongreß zur Bekämpfung des Müdchenhandels, von B. Pappen- 
heim (Frankfurt a./M.). — Soziale Chronik. — Statistische Notizen: Kohlenhandel im 
Jahre 1901, — Der Wohnungsnachweis des Mietervereins der Stadt Zürich. — ete. 

Zeitschrift für schweizerische Statistik. Jahrg. 1902, Lieferung 4: Grundzüge 
des Finanzhaushaltes der Kantone und Gemeinden, von J. Steiger. — Statistisch-volkswirt- 
schaftliche Gesellschaft zu Basel. — Finanzstatistik der Gemeinden von Appenzell a. Rh., 

von J. J. Tobler. — Statistische Notizen aus dem luzernischen Erziehungswesen 
1876—1900. 


142 ` Die periodische Presse Deutschlands. 


Die periodische Presse Deutschlands. 


Alkoholismus, der. Vierteljahrsschrift zur wissenschaftlichen Erörterung der 
Alkoholfrage. Jahrg. III, 1902, Heft 4: Weshalb ist ein Trinkerfürsorgegegesetz in 
Deutschland nötig und welche Bestimmungen muß es enthalten, von (D' med.) Wald- 
schmidt. — Die Verwendung des Spiritus zur Gaserzeugung, von (Reg.- u. GewerbeR.) 
Oppermann. — Alkohol und Krankenkassen, von Paul Schenk. — Mitarbeit der kleineren 
evangelischen Kirchengemeinschaften im Kampfe gegen den Alkoholismus, von Stubbe, 
— Jahresversammlung des deutschen Vereins gegen den Mißbrauch geistiger Getränke, 
— IX. internationaler Kongreß gegen den Alkoholismus. — etc. 

Annalen des Deutschen Reichs für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft, 
Jahrg. XXXV, 1902, N° 11: Die Reform der sächsischen Steuern, von Peter Stubmann 
(Dresden): 1. Die Entwickelung zur Reform; 2. Der Reformversuch von 1897; 3. Die 
Steuerreform des Landtages 1901/02. — Der Konkurs des Versicherungsvereins auf 
Gegenseitigkeit, von Jos. Thaler (Würzburg). — Miszellen: Statistik der Einkommen- 
besteuerung in den einzelnen Ländern; Die Anleihen bayerischer Städte und Märkte. 
— ete. N’ 12: Die Ausgabe von Hypothekenpfandbriefen und die Hypothekenregister 
nach dem Reichshypothekenbankgesetz, von Seidel (RegRat, Wiesbaden). — Die recht- 
lichen Grenzen der Gehorsamspflicht und die Verantwortlichkeit für auf Befehl be- 


gangene Handlungen, von Paul Bauer (München). — Miszellen: Jahresbericht der Hand- 
werkskammer für Oberbayern; Der Konsum von Wein, Bier und Spirituosen in den 
hauptsächlichsten Ländern; Die Bevölkerung Chinas. — etc. 


Annalen des Deutschen Reichs für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirt- 
schaft. Jahrg. XXXVI, 1903, N° 1: Zum künftigen Gesetz „über die Verwaltung der 
Einnahmen und Ausgaben des Deutschen Reichs", von (GehORegR.) W. Thrän (Pots- 
dam). [I. Art.] — Die Regelung des gewerbsmäßigen Arbeitsnachweises in den größeren 
deutschen Bundesstaaten, von Heinr. Schanz (Würzburg). — Die Abschreibungen und 
ihre Zulässigkeit als Einkommensabzüge nach dem preußischen und dem hessischen Ein- 
kommensteuergesetze, von Rud. Blum (Östhofen). — Staat und Recht. Versuche über 
allgemeines Staatsrecht, von A. Affolter (Solothurn) (Art. I). — ete. 

Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik. Herausgeg. von Heinrich Braun. 
Bd. XVII, Jahrg. 1902, Heft 5 u. 6: Der Stahlarbeiterstreik vom Sommer 1901 und 
seine Lehren. Ein Beitrag zum Verständnis des amerikanischen Kapitalismus, von (Prof.) 
Heinr. Waentig (Münster). — Koalitionsrecht und Erpressung, von Rechtsanwalt Wolfg. 
Heine (Berlin). — Die deutsche Seemannsordnung und ihre Nebengesetze, von H. 
Molkenbuhr (Berlin). — Die englische Fabrikgesetzgebung in den Jahren 1878—1901, 
von Henry W. Macrosty (London). — Der Gesetzentwurf betreffend Arbeiterinnenschutz 
im Kanton Bern, von Emil Hofman (NationalR., Frauenfeld). — Die Lage der studen- 
tischen Hauslehrer an den Wiener Hochschulen, von Fritz Winter (Wien). — Die Aus- 
sichten der elektrischen Landwirtschaft, von Otto Pringsheim (Breslau). — ete. 

Archiv für Post und Telegraphie. Jahrg. 1902, Nr 19—24, Oktober-Dezember: 
Die Grundlagen der Preisbildung im elektrischen Nachrichtenverkehre. — Shanghai. — 
Ueber Land- und Seekarten, insbesondere die Merkatorkarte. — Industrie- und Gewerbe- 
ausstellung Düsseldorf. — Die Herstellung von Eisendraht. — Die Vielfachumschalter 
von Siemens & Halske mit Anruflampen und Zentralmikrophonbatterie. — 60 Jahre 
schweizerischen Postdienstes 1842—1902. — Postübereinkommen zwischen Deutschland 
und Luxemburg. — Portovergünstigungen in fremden Ländern für Postsendungen von 
und an Militärpersonen. — Luftschiffahrt und Flugteehnik. — Schnellbahnen. — Das 
Postwesen in Neuchâtel bis 1849. — Die deutsche Südpolarexpedition und ihre erste 
Tätigkeit. — Das fünfundzwanzigjährige Jubiläum des Fernsprechers. — Feldpost und 
Feldtelegraphie. — Die Anfänge der elektrischen Telegraphie im Königreiche Sachsen. 
— Vorposten der Kultur in Elgran Chako (Südamerika). — etc. 

Masius’ Rundschau. Blätter für Versicherungswissenschaft. Neue Folge. Jahr- 
gang XIV, 1902, Heft 12: IV. internationaler Kongreß von Versicherungssachverstän- 


digen. — Die ärztliche Auslese und die Lebensversicherung. — Prämiendeckung oder 
Kapitaldeckung bei der Invalidenversicherung. — Versicherungswissenschaft auf dent- 
schen Hochschulen. — Die Not der Rückversicherung in Frankreich. — Versicherung 


gegen Arbeitslosigkeit. — Die Verbreitung von Viehseuchen im Deutschen Reiche im 


Die periodische Presse Deutschlands. 143 


Jahre 1901. — Die physiologische Albuminurie. — Rechtsprechung des Reichsgerichts. 
— ete, x 

Mitteilungen vom Verband deutscher Patentanwälte. Jahrg. II, 1902, Nr 7, 
November: Uebereinstimmung von Anmeldungen $ 3 P.G., von (PatAnw.) R. Wirth. — 
Internationale Union. Patentanmeldungen in der Uebergangszeit, von (PatAnw.) R. Wirth. 


— Zur Auslegung des $ 24 des Patentgesetzes, von . . . .h. — Der Eventualantrag 
auf Eintragung eines Gebrauchsmusters kann später ohne Verlust der Priorität in einen 
unbedingten Antrag umgewandelt werden, von ....h. — Der $ 4 des Gesetzes zum 


Schutze der Warenbezeichnungen in der Praxis des Patentamtes. — etc. 

Mitteilungen des Vereins zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen In- 
teresen in Rheinland und Westfalen, Düsseldorf. Jahrg. 1902, Heft 1/2, Heft 3 und 
Heft 4/5 (Schlußheft): Die kgl. preußische Eisenbahnverwaltung und die Rheinhäfen. 
— Der Entwurf eines Gesetzes, betreffend die Vorausleistungen zum Wegebau. — Bri- 
tisches Geschäfts- und Zeitungsgebahren. — Wider die Lohnzahlungsbücher. — Die 
Delegiertenversammlung des Zentralverbands deutscher Industrieller vom 10. IX. 1902. 
— Aus der Sitzung der Rheinschiffahrtskommission. — Ueber Syndikate und Kartelle: 
1, Reichstagsrede des Abg. Dr. Beumer vom 4. XI. 1902. 2. Vorbesprechung im Reichs- 
amt des Innern über das Kartellwesen. — etc. 

Neue Zeit, die. Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie. Jahrg. XXI, 
Bd. I N°7 bis 11, vom 15. XI.—13. XII. 1902: Dietzgens Philosophie, von Cornelie 
Huygens. — Philipp Langmann, von Friedr. Stampfer. — Zur Geschichte der Wert- 
theorie, von R. Hilferding. — Der Kampf um die Preßreform in Oesterreich, von Ad. 
Braun. — Parlamentarischer Selbstmord. — Die Lage der Braunkohlenarbeiter, von 
Otto Hué. — Klassenkämpfe in der Gemeindeverwaltung, von Max Quarck. — Die 
Nationalratswahlen in der Schweiz, von Dionys Zinner. — Notizen: Der Gang.der 
Krisis, — Der Fall Krupp. — Zum Ausbau unserer Organisationen, von Wilh. Ditt- 
mann. — Vom Kohlenstreik in den Verein. Staaten, von Edmund Deuss. — Ueber 
die Anfinge der Lehre vom Klassenkampf, von G. Plechanow. — Die höhere Gewalt 
ds Gefahrenquelle in technischen Betrieben, von J. German. — Björnstjerne Björnson, 
von Frz. Diederich. — Sozialismus und Anarchismus in Spanien, von Heinrich Cunow. 
— J. J. Rousseau und Henriette, von r. — Ein Wort zur Sozialistenhetze. — Die 
terroristischen Strömungen in Rußland, von Wera Sassulitsch (I. Art.). — Universität 
und Volksschullehrer, von Otto Kühle. — Im Zeughaus der Revolution, von Fried. 
Stampfer. — Aus dem Auflagbuch der Nürnberger Flaschnergesellenschaft 1806—1865, 
von Ad. Braun. — etc. 

Politisch-anthropologische Revue. I. Jahrg., N° 10, Januar 1903: Völkerkunde 
und Urgeschichte im 20. Jahrhundert, von Karl Weule. — Die politische Geschichte 
der Serben und Kroaten, von Ludwig Gumplowiez. — Erblichkeit und sanitärer Faktor 
bei den tuberkulösen Erkrankungen, von F. Lämmerhirt. — Das Strafrecht als soziales 

Organ der natürlichen Auslese, von L. Kuhlenbeek. — Die soziale Wirkung der Ideen, 
von Gustav Ratzenhofer. — etc. 

Preußische Jahrbücher. Herausgeg. von Hans Delbrück. Bd. 111, Heft 1, 1903, 
Januar: Napoleon 1870, von H. Delbrück. — Kant-Orthodoxie, von Ferd. Jak. Schmidt 
(Berlin). — Der Winter 1865/66 in Hannover, von (Frh.) B. v. Cramm-Burgdorf (Wirkl. 
GehR. u. Bevollmächtigter zum BundesR.). — Kardinal v. Geissel und die katholische 
Bewegung 1848/49, von (Privdoz.) Walther Struck (Univ. Berlin). — Politische Kor- 
respondenz: Die russischen Finanzen, von Paul Rohrbach. — etc. 

Rechtsschutz, gewerblicher, und Urheberrecht. Herausgeg. von Alb. Osterrieth. 
Jahrg. VII, N’ 11, November 1902: Rechte uud Pflichten des Patentanwalts, von Jul. 
Ephraim. — Zum $ 16 des Gesetzes, betreffend die Patentanwälte, von (Ing.) Bernh. 
Bomborn (München). — Zur Geltendmachung der Prioritätsrechte aus einer österreichi- 
schen Musterschutzanmeldung für ein deutsches Gebrauchsmuster, von (PatAnw.) Bruno 
Alexander-Katz (Görlitz). — Bemerkungen zum Entwurf eines Gesetzes, betreffend das 
Urheberrecht an Werken der Photographie, von Alb. Osterrieth. — etc. 

Vierteljahrshefte zur Statistik des Deutschen Reichs. Herausgeg. vom kais. 
statistischen Amt. XI. Jahrg., 1902, Heft 4: Konkursstatistik 1901. — Kriminalstatistik 


für das deutsche Heer und die kaiserl. Marine 1901. — Zur Kriminalstatistik. Vor- 
läufige Mitteilung für 1901; Verbrechen und Vergehen gegen Reichsgesetze 1896— 
1901. — Zur deutschen Justizstatistik 1901. — Die Bergwerke, Salinen und Hütten 


1901. — Salzgewinnung und -Besteuerung 1901. — Zur Statistik der Preise: 1. Lebens- 


144 Die periodische Presse Deutschlands. 


mittelpreise in Berlin, Breslau und Dresden 1897 bis 1901; 2. Roggen- und Weizen. 
preise an deutschen und fremden Bórsenplützen im III. Vierteljahr 1902; 3. Viehpreise 
in 10 deutschen Städten im III. Vierteljahr 1902; 4. Rindvieh- und Schweinepreise in 
5 deutschen Stüdten 1898/1902; 5. Getreidepreise in England: a) Landesmittelpreise 
von Weizen, Gerste, Hafer in den 100 Jahren 1802—1901; b) Preise von Weizen, 
Gerste, Hafer in 16 englischen Großstädten in den 10 Jahren 1892—1901. — Hopfen- 
anbau und Schätzung der Hopfenernte 1902. — Bierbrauerei und Bierbesteuerung 1901. 
— Stürkezuckergewinnung und -Handel 1901/02. — Zuckergewinnung und -Besteuerung 
1901/02. — Weitere Ergebnisse der Volkszählung 1900: Die Gebürtigkeit der Reichs- 
bevölkerung: (Einheimische, Zugezogene und Weggezogene.) — Ergebnisse des Heeres- 
ergänzungsgeschäfts 1901. — Die Schulbildung der Rekruten 1901. — Die jugend- 
lichen Fabrikarbeiter und Fabrikarbeiterinnen 1901. — Konkursstatistik 1902, 3. Viertel- 
jahr. — Streiks und Aussperrungen 1902, 3. Vierteljahr. — Der Tabak im deutschen 
Zollgebiet 1901. — Tabakbau 1902. Vorläufige Nachweise. — etc. 

Zeitschrift des k. bayerischen statistischen Bureaus. Redigiert von (ORegR.) 
Karl Trutzer. Jahrg. XXXIV, 1902, N° 2: Die Hauptergebnisse der Unterrichtsstati- 
stik im KReich Bayern für das Schuljahr 1899/1900. — Ergebnisse der im Jahre 1901 
in Bayern vorgenommenen Tuberkulinimpfungen an Rindern. — Die Morbidität in den 
Heilanstalten Bayerns wührend des Jahres 1901. — Die Bewegung der Bevólkerung 
im KReich Bayern während des Jahres 1901. 

Zeitschrift des kgl. sächsischen statistischen Bureaus. Redigiert von (RegR.) 
Eugen Würzburger. Jahrg. 48, 1902, Heft 1 u. 2, ausgegeben im November 1902: 
Arthur Geißler T. — Die Bewegung der Bevölkerung im Königreiche Sachsen während 
des Jahres 1900, von (RegAss.) Georg Lommatzsch. — Die sächsischen Städte im 19. Jahr- 
hundert, von (RegAss.) G. Wächter: 1. Gewerbe und Handel; 2. Schulwesen ; 3. Die Ein- 
kommensverhältnisse in den Städten; 4. Die Vermögensverhältnisse der Städte. — Die 
Mehrlingsgeburten im KReich Sachsen in den Jahren 1876—1900, von (RegAss.) G. Lom- 
matzsch. — Die Bevölkerung des KReichs Sachsen nach der Staatsangehörigkeit und 
der Gebürtigkeit am 1. XII. 1900, von (RegAss.) G. Lommatzsch. — Kleinere Mit- 
teilungen. 

Zeitschrift für Sozialwissenschaft. Jahrg. V, 1902, Heft 12: Ueber den Ur- 
sprung des Adels im Zusammenhang mit der ursprünglichen Familienverfassung, von 
Julius Lippert (Leitmeritz). — Malthusianische Bestrebungen in Westeuropa, von G. Stille 
(Ihlienworth) Art. II (Schluß). — Das Kartellproblem in französischer Beleuchtung, von 
Siegm. Schilder (Wien). — Aus der Geschichte der Zünfte, von (AmtsgerR.) Paul Frauen- 
städt (Breslau). [Art. IL]: Die Verrufungen. — Sozialpolitik: Kommunales Arbeiterbe- 
amtentum, von Heinr. Jenne (Würzburg). — Sprechsaal: Entgegnung auf Herrn Dr Worms 
„Berichtigung“ im vormonatlichen Heft, von (Prof.) Joh. v. Komorzynski (Wien). — 
Miszellen. — ete. 

Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft. Bd. XXIII, 1903, Heft 2: 
Die richterliche Bestechung (8 334 RStGB.), von Jak. Katzenstein (München). — Die 
gesellschaftlichen Faktoren der Kriminalität. Vortrag, geh. von (Prof.) v. Liszt am 
21. IX. 1902. — Zur Reform des $ 59 StGB., von (Staatsanw.) Werner Rosenberg 
(Straßburg i. Elsaß). — Ueber den einseitigen Widerruf der Pensionierung eines Reichs- 
beamten und Eintritt des Pensionsverlustes infolge von der Versetzung in den Ruhe- 
stand verübter strafbarer Handlungen, von (KriegsgerR.) Schlayer (Stuttgart). — Die 
juristische Natur der bedingten Verurteilung, von Kaarlo Ignatius (Helsingfors). — Drei 
Malefizbücher, von (AmtsgR. a. D.) Frauenstädt (Breslau). — etc. 


Frommaunsche Buchdruckerei (Hermann Pohle) in Jena, 


ju 
WI 


Josef Kulischer, Zur Entwickelungsgeschichte des Kapitilzinses. 145 


Nachdruck verboten. 


II. 


Zu Entwiekelungsgeschichte des Kapital- 
zinses. 


Von 


Josef Kulischer in St. Petersburg. 
Dritte (letzte) Abhandlung !). 


Der Kapitalgewinn im 19. Jahrhundert. 


I. 


Bis zu Ende des 18. Jahrhunderts war man bei der Waren- 
produktion fast ausschließlich auf die Muskelkraft des Menschen an- 
gewiesen. Der Mensch lieferte die Kraft, welche den Stoff in Be- 
wegung setzte, er verrichtete auch alle einzelnen Operationen, die 
in der verschiedenartigen Vereinigung und Trennung der Stoffteile 
bestanden. Die wenigen Arbeitsmaschinen, die vorhanden waren, wie 
Bandmühle oder Strumpfwirkerstuhl, bildeten nur seltene Ausnahmen, 
se wurden nur in den minder wichtigen Produktionszweigen ange- 
wandt und auch dort nur in geringem Umfange, so daß ihre Be- 
nutzung noch keine greifbaren Resultate ergeben konnte. Es fehlte 
ferner eine überall anwendbare von Zeit und Ort unabhüngige Kraft, 
welche den Menschen und die unregelmäßige an einen bestimmten 
Ort gebundene Wasserkraft auch in der Bewegung der Arbeits- 
maschinen hätte ersetzen können. 

Erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts wurden die hervor- 
ragenden Erfindungen gemacht, welche den Produktionsprozeß voll- 
ständig umgestalteten. Es war dies die Dampfmaschine, welche dem 
Menschen eine neue bisher unbekannte Naturkraft zuführte, die ihm 
stets zur Verfügung stand, wenn und wo er ihrer bedurfte; es waren 
Spinnmaschine und Kraftstuhl, welche wichtige Operationen in der 


1) Erste Abhandlung (Der Handelsgewinn bis zum 18. Jahrhundert), Jahrbücher, 
III. F. Bd. XVIII, 1899, S. 305—371; zweite Abhandlung (Das mittelalterliche Hand- 
werk und die Hausindustrie des 16.—18. Jahrhunderts), III. F. Bd. XIX, 1900, 
8. 449—470 und 593—647. 


Dritte Folge Bd. XXV (LXXX), 10 


| 4 
Up Josef Kulischer, 


Textilindustrie vereinfachten, an Stelle der schwierigen und unregel- 
mäßigen Leistungen von Menschenarmen und -Beinen mechanische 
in geordneter Reihenfolge erfolgende Maschinenbewegungen setzten. 

Die Bedeutung der neuen Maschinen für die Volkswirtschaft lag 
darin, daß nun die gleiche Quantität Waren in einer kürzeren Zeit 
produziert werden konnte oder in derselben Zeit eine viel größere 
Warenmasse. Um 1812 konnte der Spinner in der gleichen Arbeits- 
zeit 200mal soviel produzieren wie vor der Erfindung der Jenny- 
maschine. Ein Weber am Kraftstuhl leistete etwa ebensoviel wie 
40 gute Handweber. Es wird nun nicht selten behauptet, dieses 
Mehrprodukt sei auch dem Spinner bezw. Weber zu verdanken, der 
die betreffende Maschine beaufsichtigt. Denn er leistet ja jetzt 200 
bezw. 40mal soviel als es früher der Fall war, „als zweckmälige, 
nützliche, produktive Tätigkeit hat seine Arbeit ihre Kraft“ ent- 
sprechend gesteigert. 

Bei einer solchen Auffassung wird die Arbeit zweierlei Art nicht 
genügend auseinandergehalten. Bei der mechanischen Betriebsweise 
besteht die eine Arbeitsart darin, daß die Maschine in Bewegung 
gesetzt und gehalten wird, die andere in den verschiedenen Ver- 
richtungen, welche die sich bewegende Maschine ausführt. Während 
vor Einführung der Maschinen der Arbeiter die gesamte in der Pro- 
duktion nötige Arbeit zu leisten hatte, vollzieht er nun, wo er 
durch die Maschine unterstützt wird, nur die erstgenannte Arbeit: er 
läßt die Maschine Bewegungen ausführen und verrichtet gewisse Hand- 
griffe, um die Hindernisse zu beseitigen oder wenn eine Stockung 
‚bereits eingetreten ist, die Maschine von neuem in Gang zu bringen. 
Diese Tätigkeit ist ihm in der Tat auch beim Maschinenbetrieb ver- 
blieben und selbst bei den automatisch wirkenden Apparaten, welche 
sich selbst mit Rohstoff versorgen und eine kombinierte Reihe von 
Prozessen vollbringen, ist die Arbeit der Maschine ohne Hilfe des 
Menschen auf längere Zeit unmöglich, wenn man nicht an ein per- 
petuum mobile glauben will. Es verbleibt jedoch noch die andere 
Arbeitsart, jene Arbeit, welche in der Ausführung der einzelnen 
Operationen besteht, die früher der Mensch besorgte und die jetzt 
der Maschine überwiesen sind, mag sie nun Kraft- oder Arbeits- 
maschine sein. Sie besteht darin, daß die Maschine gewisse Be- 
wegungen ausführt, daß „die bewegten Punkte bestimmte Bahnen, 
(seraden, Kreise, Kurven durchlaufen“). In dem einen Falle wirkt 
sie als Druckpresse, in dem anderen als Webstuhl ; diese Maschine führt 
Dampf zu, jene Elektrizität, die dritte ist sogar, wie der Dampfhammer, 
Kraft- und Arbeitsmaschine zugleich. Der Arbeiter setzt in allen Füllen 
auf gleiche Weise die Maschine in Bewegung und beschrünkt sich 
weiterhin auf die Zuführung des Materials und Abnahme desselben von 
der Maschine, auf die fernere Regulierung ihres Ganges, ungeachtet 
dessen, welche Produkte die Maschine schafft, worin ihre Leistungen 


1) Reuleaux, Lehrbuch der Kinematik, Bd. II. Die praktischen Beziehungen der 
Kinematik zu Geometrie und Mechanik. Braunschweig 1900, S. 238—239. 


Zur Entwickelungsgeschichte des Kapitalzinses. 147 


bestehen. Im Spinnprozeß ist seine Rolle dieselbe wie in der Eisen- 
erzeugung. Die Tätigkeit des Spinners besteht darin, daß er „den 
richtigen Gang der Arbeit überwacht und dann und wann eingreift, 
um die Maschine mit neuen Rohstoffmengen zu speisen und die 
fertigen Produkte zu entfernen“. Beim Konvertor fällt ihm ebenfalls 
nur die Aufgabe zu, „für das richtige Einfließen des Roheisens, für 
die ordentliche Entleerung der Birnen zu sorgen; er hat bloß den 
Gang des Umwandlungsprozesses zu beaufsichtigen, nur hier und da 
hat er leise einzugreifen“ +). Und doch wird in dem einen Falle 
Garn, in dem anderen Eisen erzeugt. Es ist klar, daß der Umstand, 
welche Operationen die Maschine ausführt, ob wir einen Selfaktor 
oder einen Bessemerkonvertor vor uns haben, von der Konstruktion 
der Maschine abhängt, da die Art und Weise der Bewegungen, die 
sie ausführt, durch den Bau der Maschine gegeben sind. Die Kon- 
struktion derselben rührt aber nicht vom Arbeiter her, der die 
Maschine leitet und überwacht, sondern vom Erfinder, nach dessen 
Modell die Maschine hergestellt ist. 

Daß die Bewegungen der Maschine nach einem bestimmten Plane 
vor sich gehen, daß gewisse Wege unter gewissen Geschwindigkeiten 
nd in gewisser Folge durchlaufen werden, — das hängt von dem 
Ziele ab, daß sich der Erfinder gesetzt hat und davon, in welcher 
Weise er dasselbe zu erreichen bestrebt war. Daher ist auch die 
Wirkung der Maschine auf die ihrer Bearbeitung unterworfenen 
Körper oder Stoffe eine voraus bekannte, durch die Tätigkeit des 
Erfinders gegebene. Der Arbeiter „tritt dann mit seiner Muskelkraft 
zu einer Bewegung ebenso ein, wie die rein mechanische Naturkraft — 
für sine Bewegungen ist ihm keine Wahl gelassen“: er muß sich den 
Zielen des Erfinders vollständig unterwerfen ?). Auch der Maschinen- 
fabrikant wie seine Arbeiter sind bloß Mittelsmänner zwischen dem Er- 
finder und dem die Maschine anwendenden Unternehmer. Der Er- 
finder hat die Maschine wirklich geschaffen, während ihre Rolle nur 
darin liegt, daß sie den Befehl des Erfinders ausführen, das von ihm 
gelieferte Modell nachmachen und vervielfältigen, ohne eigene Aende- 
rungen in ihrer Stellung als Fabrikant bezw. Arbeiter vornehmen zu 
können ®). Nicht in ihrer vervielfältigenden Arbeit, sondern in der 
schöpferischen Arbeit des Erfinders liegt die neue Eroberung auf 
dem Gebiete der Technik, denn sobald der Erfinder seinen schöpfe- 
rischen Gedanken verwirklicht hat, sobald er die Schwierigkeiten 
überwunden und die erste Modellmaschine zustande gebracht hat, 
ist die Erfindung fertig; sie kann nun in der Warenproduktion an- 
gewandt werden. Und sämtliche Produkte, die mittels jener Maschine 
in Zukunft hergestellt werden, enthalten die schöpferische Arbeit des 
Erfinders. 


1) Sinzheimer, Der volkswirtschaftliche Charakter der technischen Entwiekelung 
des deutschen Eisenhüttengewerbes 1865—1879. München 1892, S. 55. 

2) Reuleaux, Ibid. Bd. II, S. 238—240. 

3) Wenn und soweit sie das tun, wirken sie ebenfalls als Erfinder, nicht aber als 
Unternehmer bezw. als Arbeiter. 


10* 


148 Josef Kulischer, 


Es gibt also zwei Arten Arbeit, denen die Warenproduktion im 
19. Jahrhundert zu verdanken hat: die schöpferische Arbeit des Er- 
finders, der die Maschine geschaffen hat, einerseits, und die aus- 
führende Arbeit des Lohnarbeiters andererseits, der den Maschinen- 
gang leitet und überwacht. Wir werden demgemäß nicht mehr 
Natur, Arbeit und Kapital als Produktionsfaktoren bezeichnen, son- 
dern Natur, schöpferische und ausführende (physische) Arbeit, da 
das Kapital als Maschine (und Werkzeug) auf schöpferische, als Roh- 
stoff auf schöpferische und ausführende Arbeit zurückzuführen ist. 
Wir werden ferner die beiden Arten Arbeit unterscheiden, wenn 
wir von der Produktivität der Arbeit schlechthin reden; denn es 
muß in jedem einzelnen Falle festgestellt werden, um welche Arbeit, 
schöpferische oder ausführende, es sich handelt, welche Arbeit 
produktiver bezw. minder produktiv geworden ist. Nicht bei allen 
Veränderungen im Arbeitsprozeß, durch welche die Produktion eines 
größeren Warenquantums in der gleichen Zeitperiode möglich wird, 
ist die produktive Kraft der physischen (ausführenden) Arbeit ge- 
stiegen, sondern nur dann, wenn die Tätigkeit des Arbeiters inten- 
siver geworden ist, wenn er eine größere Anzahl von Maschinen als 
früher bedient, wenn er mit mehr Umsicht arbeitet, die Handgriffe, die 
er leistet. vollkommener sind. Nur wenn und nur in dem Grade als 
dies der Fall ist, erwirbt die physische Arbeit die Kraft, ein größeres 
Güterquantum zu produzieren, ist produktiver geworden. In den 
anderen Fällen dagegen, wo und soweit eine größere Warenmasse 
nur durch Einführung einer vollkommeneren Maschinerie erreicht wird, 
durch Anbringung neuer Verbesserungen an den früheren Apparaten 
und andere technische und chemische Neuerungen in der Produktion, 
ist die Produktivität der schöpferischen Arbeit gestiegen, die Pro- 
duktivität der physischen Arbeit insoweit unverändert geblieben. 

Es gibt jedoch noch eine andere Auffassung, welche noch weiter 
geht, als diejenige, welche das ganze Produkt als von der Arbeit 
des Lohnarbeiters herrührend betrachtet. Es wird nämlich zuweilen 
überhaupt geleugnet, daß die mittels der Maschine geschaffene Güter- 
quantität der menschlichen Arbeit, sei es diese oder jene Arbeitsart, 
schöpferische oder physische Arbeit, zugeschrieben werden könne. 
Leistungen der Naturkräfte, welche durch die Maschine in der Pro- 
duktion wirken, sollen es vielmehr sein, die jenes Güterquantum er- 
zeugen. Nicht der Produktionsfaktor Arbeit, sondern der Produktions- 
faktor Natur, wird behauptet, bildet die Quelle der Ueberschuß- 
quantität an Waren, die durch Anwendung der Maschinen zustande 
kommt, weil eben durch die Maschine Naturkräfte der Produktion 
zugeführt werden. 

Daß die Maschine Naturkräfte wirken läßt, wird natürlich niemand 
leugnen; nur darf man darin nicht etwas Besonderes, der Maschine 
Eigentümliches erblicken. Denn wenn auch die Arbeit des Menschen 
bloß darin besteht, daß er — wie J. St. Mill sagt — Dinge in die 
rechte Lage bringt, damit die ihnen beiwohnenden Kräfte wie die 
bei anderen Gegenständen vorhandenen Kräfte in entsprechender 


Zur Entwickelungsgeschichte des Kapitalzinses. 149 


Weise wirken können !), so ist ja offenbar zwischen der menschlichen 
Arbeit und der Tätigkeit der Maschine ein qualitativer Unter- 
schied nicht vorhanden, da beide auf gleiche Weise die Tätigkeit 
der Naturkräfte veranlassen, wenn auch in quantitativer Hinsicht 
diese Tätigkeit der Naturkräfte bei Anwendung der Maschine er- 
heblicher sein mag. Wenn der Handweber — führt Mill aus — 
ein gewebtes Zeug hervorgebracht hat, so sagt man, „er habe dies 
mit der Hand getan, indem vorausgesetzt wird, daß keine Natur- 
kraft dabei mit tätig gewesen sei. Aber durch welche Kraft ist jeder 
Schritt bei dieser Verrichtung möglich gemacht worden und wodurch 
wird das angefertigte Gewebe zusammengehalten? Geschieht dies 
nicht durch die Haltbarkeit und das natürliche Zusammenhängen 
der Fasern?“ 2). Wenn nun die Maschine den Menschen ersetzt, so 
werden die Bewegungen, durch welche jene Wirkung der Naturkräfte 
veranlaßt wird, die Raumversetzungen des Stoffes nicht mehr vom 
Menschen, sondern von der Maschine verrichtet. Es werden „mittelst 
der Maschine mechanische Naturkräfte genötigt, unter bestimmten 
Bewegungen bestimmte Wirkungen auszuüben“). Beim Spinnen 
nit der Spindel schlichten die Finger die Fasern, legen sie ge- 
rade, ordnen sie in gleicher Menge und wickeln sie zusammen. 
Die Spinnmaschine vollzieht dieselben Bewegungen, nur daß an 
Stele der menschlichen Hand verschiedene Apparate treten. Die 
menschliche Hand wird hier durch die Bremse, den Kneipapparat, 
das Streckwerk ersetzt. Um jener vom Menschen vollführten Be- 
wegungen willen bezeichnen wir das Produkt, wo der Mensch ohne 
Maschine produziert, als gemeinsames Resultat der Tätigkeit zweier 
Faktoren, Natur und physische Arbeit; jenes Produkt, das die 
Maschine als solche, abgesehen von der Tätigkeit des dieselbe über- 
wachenden Arbeiters, hervorbringt, wird demgemäß als Produkt von 
Naturkräften und schöpferischer Arbeit aufzufassen sein, da ja — 
wie oben gezeigt — jene Bewegungen der Maschine, ihre Art und 
Weise von der schöpferischen Arbeit des Erfinders herrühren, der 
sie konstruiert hat. 

Wenn es sich nun weiterhin um den Wert der Produkte handelt, 
so wird die Natur ganz auszuscheiden sein. Sie bildet zwar einen 
Produktionsfaktor, jedoch kein Wertelement; damit ein Gut Wert 
erhalte, muß es bekanntlich nicht bloß nützlich sein, d. i. irgend- 
welche Bedürfnisse des Menschen befriedigen können, sondern auch 
selten sein im Verhältnis zu den vorhandenen Bedürfnissen. Nun 
sind die Naturkräfte, soweit sie die menschliche Arbeit direkt unter- 
stützen, nicht bloß allen und immer zugänglich, sondern auch in un- 
begrenzter Quantität vorhanden. Die Quantität Arbeit dagegen, über 
welche der Mensch verfügt, reicht nicht aus, um sämtliche Bedürfnisse 


1) J. St. Mill, Grundsätze der politischen Oekonomie. Deutsch von Soetbeer. 
Leipzig 1881. Bd. 1, S. 26 (Buch I, Kap. I, $ 2). Vergl. Bóhm-Bawerk, Positive 
Theorie des Kapitals. 2. Aufl., Innsbruck 1902, S. 10—14. 

2) J. St. Mill, ibid. 

3) Reuleaux, Bd. II, S. 247. 


150 Josef Kulischer, 


des Menschen zu befriedigen, um die Naturkräfte in allen Fällen 
wirken zu lassen, wo es für den Menschen nötig ist. Daher werden 
die Produkte menschlicher Arbeit, trotzdem die eigentlich stoffver- 
ändernde Tätigkeit die Naturkräfte vollziehen und nicht der Mensch. 
wegen der menschlichen Tätigkeit gewöhnlich bewertet, nämlich dann 
immer, wenn sich mittels derselben irgend welche Bedürfnisse be- 
friedigen lassen. Wo die Maschine an Stelle des Menschen tritt, 
ändert sich die Lage auch in Bezug auf jene Produkte, welche die 
Maschine selbst hervorbringt, nicht im geringsten: auch hier sind 
es offenbar nicht die Naturkräfte, welche Wert besitzen, denn sie sind 
ja auch in diesem Falle unbegrenzt vorhanden, sondern die schöpfe- 
rische Arbeit des Erfinders, welche für die Schaffung der Maschine 
notwendig ist. Wie der Wert der Produkte physischer Arbeit nicht 
in den in der Produktion wirkenden Naturkräften liegt, sondern in 
den relativ seltenen (im Verhältnis zu den menschlichen Bedürfnissen) 
Bewegungen, welche der Mensch auszuführen hat, um die Natur- 
kräfte in der Produktion wirken zu lassen, so werden auch die Pro- 
dukte der Maschinentätigkeit — es handelt sich immer um jene 
Bewegungen der Maschine, abgesehen von der Arbeit des dieselbe 
leitenden Menschen — nicht um der Naturkräfte willen bewertet, welche 
die Maschine der Produktion zuführt, sondern der schöpferischen Arbeit 
halber, welche den Mechanismus schafft, der für die Wirkung der Natur- 
kräfte nötig ist und ohne den, wie im ersteren Falle ohne die Hände 
des Arbeiters, die Naturkräfte nichts leisten können. Der Satz. 
daß die Naturkräfte zwar für alle auf gleiche Weise wirken können, 
jedoch tatsächlich nur für diejenigen tätig sind, die gewisse Vor- 
richtungen besitzen, welche die Wirkung der Naturkräfte veranlassen, 
gilt eben für beide Fälle auf gleiche Weise: nur besteht in dem 
einen Falle jene Vorrichtung in der menschlichen Hand, in dem 
anderen Falle in der Maschine, die ebenfalls vom Menschen produziert 
ist; in dem ersten Falle ist sie von Natur vorhanden, wenn auch 
in begrenzter Quantität, im zweiten muß sie noch vom Geiste des 
Menschen erfunden werden. 

Aus dem Dargelegten folgt, daß es im 19. Jahrhundert zwei 
und nur zwei Quellen des Kapitalzinses geben kann, die ausführende 
(physische) und die schöpferische Arbeit; denn wenn die Tätigkeit 
der Naturkräfte keinen Wert besitzt, so kann sie auch nicht Mehr- 
wert ergeben; auch in der Güterzirkulation ist jene Quelle nicht mehr 
zu suchen: schon in der Periode der Volkswirtschaft des 16.—18. Jahr- 
hunderts fehlte sie, um so weniger kann von ihr in der Weltwirtschaft 
des 19. Jahrhunderts, bei der noch viel mehr entwickelten Konkurrenz, 
bei Welthandel und Weltverkehr die Rede sein. Wenn jedoch jene 
beiden Quellen (schöpferische und ausführende Arbeit) den Kapitalzins 
schaffen können, so folgt daraus noch nicht, daß sie ihn auch wirklich 
schaffen müssen. Es ist noch zu untersuchen, ob dies der Fall ist und 
ob sie beide zusammen als Gewinnquellen auftreten oder nur eine von 
beiden und welche die richtige ist. Die Untersuchung muß also in 
zwei Teile zerfallen. Wir müssen zuerst darüber Klarheit gewinnen, 


Zur Entwickelungsgeschichte des Kapitalzinses. 151 


ob und warum diese oder jene Arbeitsart, die physische bezw. die 
schöpferische Arbeit einen Teil der von ihr produzierten Güter dem 
Unternehmer überläßt, warum ein Güterteil, der von der betreffen- 
den Arbeitsart geschaffen, vom Produzenten weggenommen und dem 
Unternehmer übergeben wird. Damit wäre erwiesen, daß ein Ueber- 
schufquantum an den Unternehmer gelangt. Als zweiter Teil der 
Aufgabe bleibt dann zu zeigen, daß und warum jenes an den Unter- 
nehmer gelangte Güterquantum auch in der Tat bei ihm verbleibt 
und zum Ueberschußwert wird und nicht in Form einer Preisherab- 
setzung dem Konsumenten zufließtt, warum der Warenpreis den 
Preis der Produktivgüter übersteigt, der Konsument mehr bezahlt, 
als die Auslagen des Unternehmers betragen. Dann erst ist er- 
wiesen, daß das Mehr an Gütern sich notwendig in ein Mehr an 
Wert verwandeln muß. Entweder der Wert des Produkts zieht den 
Wert der (schöpferischen bezw. ausführenden) Arbeit zu sich hinauf; 
oder der Wert der Arbeit zieht durch Konkurrenz den Wert des 
Produkts zu sich herunter; oder endlich das von der (schöpferischen 
bezw, ausführenden) Arbeit produzierte bleibt über dem Wert der 
(betreffenden) Arbeit wie er im Arbeitslohn zum Ausdruck gelangt, 
stehen. Letzteres muß eben bewiesen und erklärt werden, und es muß 
dargelegt werden, warum die ersten beiden Fälle unmöglich sind !). 

Die Untersuchung jeder von den beiden Arten von Arbeit in 
dieser Beziehung werden wir zunächst für die zwei ersten Drittel 
des 19. Jahrhunderts führen und dann uns mit dem Ende des Jahr- 
hunderts befassen. 


II. 


Im Jahre 1623 wurde das englische Patentgesetz erlassen. Ob- 
wohl auch nach dieser Acte die Gewährung des Erfindungspatentes 
dem freien Ermessen der Krone überlassen blieb, so stellte sich doch 
in der Praxis bald der Grundsatz fest, daß jedes nachgesuchte Patent, 
falls nicht Bedenken gegen die Patentfähigkeit oder die Neuheit des 
Gegenstandes vorliegen, auch erteilt wird, daß also dem Erfinder als 
solchem, nach Erfüllung der vorgeschriebenen Formen und nach Er- 
legung der Taxen ein Anspruch auf die ausschließliche Benutzung 
der Erfindung und zwar für die Dauer von 14 Jahren eingeräumt 
wird?). Damit erhielten auch die Produkte geistiger Arbeit ein Recht 
auf Existenz und die Erzeugung derselben sollte, wie die aller anderen 
Arbeitsprodukte, dem Produzenten ein Einkommen gewähren. Zu- 
gleich ist England das Land, in welchem zu Ende des 18. Jahr- 
hunderts und zu Anfang des 19. jene Erfindungen ans Licht traten 
und in der Güterproduktion angewandt wurden, die als die groß- 
artigsten bisher gemachten Schöpfungen des menschlichen Geistes 
auf dem Gebiete der Technik bezeichnet zu werden verdienen. Die 
unermeßliche Bedeutung jener Erfindungen für die volkswirtschaft- 


Innsbruck 1900, S. 203. 


2) Klostermann, Das Patentrecht. Endemann, Handbuch des deutschen Handels-, 
See- und Wechselrechts, Bd. II, Leipzig 1582, S. 316. 


152 Josef Kulischer, 


liche Produktion besteht sowohl in ihrer außerordentlichen Leistungs- 
fähigkeit, in der Größe des von ihnen hervorgebrachten Güterquantums, 
als auch darin, daß sie gerade in der Textilindustrie gemacht worden 
sind, und zwar in den zwei wichtigsten Branchen derselben, der Baum- 
woll- und Wollenfabrikation, Industriezweigen, welche einen großen 
Teil der Kapitalien des Landes beschäftigen und überhaupt für die 
Volkswirtschaft von ausschlaggebender Bedeutung sind. 

Man wäre berechtigt anzunehmen, daß der Patentschutz jenen 
großen Erfindern den ihnen gebührenden Lohn auch wirklich von 
seiten der Fabrikanten hätte verschaffen müssen. Tatsächlich war 
dies nicht der Fall. Das Patentwesen hatte sich in England nicht 
nur im 17., sondern auch im 18. und zu Anfang des 19. Jahrhunderts 
noch so wenig eingelebt, daß einerseits viele Erfinder die Regierung 
um ein Patent gar nicht angehen wollten, da sie ihre Schöpfungen 
noch immer als gemeinsames Eigentum der Menschheit betrachteten 
und daher die Benutzung der Erfindungen sämtlichen Produzenten 
freistellten und daß andererseits, soweit der Erfinder ein Patent 
besaß, die Fabrikanten sich das Recht anmaßten, seine Erfindung 
offenkundig anzuwenden, ohne ihm dafür irgend eine Entschädigung 
zu zahlen. 

Ein derartiges Bild entfaltet sich nämlich vor unseren Augen, 
wenn wir die Erfindungen auf dem Gebiete der Spinnerei und 
Weberei betrachten, die im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in 
England gemacht worden sind. Paul und Wyatt, Arkwright, Har- 
greawes und Crompton waren diejenigen Erfinder, denen die Um- 
wälzungen im Spinnprozeß zu verdanken sind; ihnen stehen eben- 
bürtig zur Seite Kay, Kartwright und Radcliffe als Schöpfer der 
modernen Technik in der Weberei. Und die Werke aller dieser Er- 
finder — Arkwright lassen wir vorläufig außer Acht — sind den 
Fabrikanten umsonst zugefallen. 

Die erste Vorrichtung in der Spinnerei, durch welche das mecha- 
nische Ausziehen des Materials ermöglicht, die festhaltende Hand 
durch Streckwalzen ersetzt wird, hat Lewis Paul in Vereinigung 
mit John Wyatt 1738 erfunden. Paul nahm zwar ein Patent für die 
Erfindung, jedoch nicht um dasselbe auszunutzen, denn er gab die 
Einführung der Maschine völlig frei, was auch wirklich in ver- 
schiedenen Teilen des Landes versucht wurde. 1757 besingt John 
Dyer, welcher eine solche Maschine Pauls in Tätigkeit gesehen 
haben muß, dieselbe in einem Gedicht auf die Wolle. Der Ruhm 
des Erfinders, den Paul sich allein zusprechen wollte, obwohl Wyatt 
jedenfalls einen gleichen Anteil am Zustandekommen der Erfindung 
besitzt, genügte ihm offenbar vollkommen. Einen materiellen Vorteil 
von denselben suchte er nur als Unternehmer, nicht aber als Erfinder, 
da er wohl zwei Spinnereien anlegte, in denen die neue Maschine 
in Gang gesetzt wurde, jedoch niemanden hinderte, seinem Beispiele 
zu folgen D. 


1) Grothe, Bilder und Studien zur Geschichte vom Spinnen, Weben, Nühen. 
2. Aufl, Berlin 1875, S. 134. 


Zur Entwiekelungsgeschichte des Kapitalzinses. 153 


Das Streckwalzensystem Pauls und Wyatts wurde durch Ark- 
wright vervollkommnet; da es jedoch für feine wie weiche (schwach 
gedrehte) Garne unbrauchbar war, so wurden zwei neue Maschinen 
erfunden. Die eine Lücke füllte Hargreawes aus, indem seine Jenny- 
maschine keine Streckwalzen enthielt, sondern das Ausziehen der 
Fäden mittels Presse und Wagenbewegung vollführte und so mit 
beliebig schwachem Grade der Drehung spinnen konnte. Anfangs 
dachte Hargreawes gar nicht daran, sich die Jenny patentieren zu 
lassen, erst später, 1770, nachdem die Arbeiter von Blackburn, gegen 
die Maschine aufgebracht, dieselbe zerstórt hatten, nahm er ein Patent 
darauf. Doch hinderte er auch jetzt das unberechtigte Nachahmen 
nicht und die Maschine fand immer mehr Eingang in die Spinnereien, 
wenn sie auch vorübergehend Feindseligkeiten zu erfahren hatte: in 
den 1779 gegen die Maschinen ausgebrochenen Unruhen wurden auch 
viele Jennymaschinen zerstórt, unter anderen auch die von Robert 
Peel und diejenigen, auf welchen Hargreawes selbst arbeitete !). 

Den zweiten Teil der Aufgabe, das Spinnen feiner Garne voll- 
brachte die von Crompton erfundene Mulemaschine, welche jedoch 
zugleich Garne sowohl mit schwacher als mit starker Drehung liefern 
konnte. Crompton vereinigte nämlich den von ihm abweichend kon- 
struierten Hargreawesschen Wagen mit dem (Arkwrightschen) Walzen- 
streckwerk und nannte seine Maschine „Mule“ (Maulesel), um an- 
zudeuten, daß sie'ein Bastard sei. Diese Maschine, welche die von 
Arkwright und Hargreawes erfundenen überflüssig machte und über 
ein halbes Jahrhundert die Spinnsäle beherrschte, unterließ auch 
Crompton sich patentieren zu lassen. Gegen das Versprechen der 
Spinnereibesitzer, für ihn eine Subskription zu veranstalten, ihn in 
jeder Weise zu unterstützen, gab er seine Erfindung preis, zeigte 
sie öffentlich und erklärte sie. Als jedoch die Subskription statt- 
fand, gab keiner von den Fabrikanten über eine Guinee, so daß nur 
106 £ zusammengebracht wurden, trotzdem die Liste von einer 
großen Zahl von Fabrikanten gezeichnet war, die seine Erfindung 
benutzten. Auch seine weiteren Vervollkommnungen wurden von 
seinen Söhnen verraten und von den Fabrikanten ganz ungeniert 
angewandt. Nicht die Spinnereibesitzer, sondern das Volk zahlte 
Crompton später, als ihm das Parlament auf seine Petition eine 
Nationalbelohnung von 5000 £ zu geben beschloß, den zehnten Teil 
der von Crompton erbetenen Summe, obwohl schon damals einige 
Hundert Betriebe mit seiner Mule arbeiteten, was im Parlament auf 
Grund einer Untersuchung referiert wurde ?). 

Schon 1733 konstruierte Kay seinen Schnellschützen, die erste 
große Erfindung auf dem Gebiete der Weberei, weil dadurch von 
den beiden Arbeitern, die früher am Webstuhl beschäftigt waren, 
einer ganz überflüssig wurde und auch beim anderen nur eine Hand 


1) Karmarsch, Geschichte der Technologie seit der Mitte des 18. Jahrhunderts. 
München 1872, S. 598. Otto, Buch berühmter Kaufleute. Leipzig und Berlin 1868, 
8. 176. Grothe, S. 135—136. 

2) Karmarseh, 598—599. Grothe, S. 142—144. 


T E EN Ce 


154 Josef Kulischer, 


tätig sein mußte. Kay erhielt zwar ein Patent auf seine Verbesse- 
rung und verfolgte die Weber, welche ihn für den Gebrauch der- 
selben nicht vergüten wollten und sogar eine Gesellschaft gebildet 
hatten, die den Zweck hatte, die Gerichtskosten für den zu bezahlen, 
der etwa für unrechtmäßige Benutzung des Kayschen Apparats auf 
Entschädigung angeklagt werden sollte. Doch scheint die Ent- 
schädigung recht erbärmlich gewesen zu sein, weil Kay bei diesen 
Prozessen gar nichts gewonnen hat, obwohl fast alle zu seinen 
Gunsten entschieden waren. Nur das eine erreichte er wirklich, daß 
die Anwendung seiner Erfindung bis zum Ablauf der Patentdauer 
sehr langsam von statten ging. Erst seit 1760 wurde der Schnell- 
schütze in England häufiger benutzt — Adam Smith erwähnt ihn 
unter den neueren Erfindungen noch gar nicht — also in einer Zeit, 
wo Kays Patent bereits erloschen und der Gebrauch der Erfindung 
allen freigegeben war!). 

Nicht viel mehr hat den englischen Fabrikanten der mechanische 
Webstuhl gekostet. Derselbe wurde fast gleichzeitig von Cartwright 
und Jeffray erfunden. Letzterer stellte seinen Webstuhl den Fabri- 
kanten zur Verfügung. Er ließ sich zwar denselben patentieren, 
kümmerte sich aber garnicht um den Gewinn, den ihm das Patent 
verschaffen konnte. Was Cartwright betrifft, so wurde dessen Patent 
angegriffen und der Erfinder in kostspielige Prozesse verwickelt. Er 
selbst erhielt jedenfalls nichts von den Produzenten: ob seine Brüder, 
denen er später seine Patente überlassen hat, mehr Gewinn davon 
hatten, ist nicht bekannt ?). 

Der mechanische Webstuhl kam jedoch anfangs nur wenig in 
Aufnahme, da man sich zur Verarbeitung feiner Garne der Schlichte 
bedienen mußte, um dem Faden durch Klebematerialen Halt zu geben. 
Dieser SchlichtprozeR, der das Weben unterbrach und einen eigenen 
Arbeiter erforderte, wurde von Radcliffe vereinfacht und die Unter- 
brechung beim Weben beseitigt. Demselben hatten die Fabrikanten 
versprochen, ihn zu unterstützen und sich mit ihm zu verbinden, 
wenn die Erfindung gelingen sollte. Sie gedachten jedoch später 
ihrer Versprechen nicht. Ein Patent auf seinen Apparat scheint 
Radcliffe überhaupt nicht genommen zu haben 5). 

Was die englischen Erfinder zu Ende des 18. Jahrhunderts für 
die Baumwoll- und Wollenindustrie gewesen, für die Entwickelung 
dieser Industriezweige in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, das 
waren die Franzosen auf dem Gebiete der beiden anderen Branchen 
der Textilgewerbe, der Fabrikation von Seiden- und Leinenstoffen. 

An der Herstellung des Seidenwebstuhls haben drei Erfinder 
gearbeitet, Falcon, Vaucanson und Jacquard. Doch die Schöpfungen 
der beiden ersten fanden keine Anwendung in der Industrie. Falcons 
Maschine verschwand sehr bald nach ihrem Aufkommen und Vaucan- 


1) Karmarsch, S. 667. Grothe, S. 224—226. 
2) Grothe, S. 151—153. 
3) Grothe, S. 154—155. 


Zur Entwickelungsgeschichte des Kapitalzinses. 155 


sons Erfindung, welche er sofort dem allgemeinen Gebrauche über- 
gab, wollte niemand benutzen!) so daß er sie im Conservatoire des 
arts et métiers in Paris aufbewahrte, von wo dieselbe erst durch 
Jacquard hervorgeholt und vervollkommnet wurde. Jacquard ver- 
einigte nämlich die Erfindungen von Falcon und Vaucanson und 
ersetzte die Arbeit zweier Männer durch die neue Maschine und 
einen Arbeiter. Gemäß einem Dekret Napoleons vom Jahre 1806 
wurde die Maschine von der Munizipalität Lyons erworben und den 
Fabrikanten frei zur Einführung überlassen. Selbst die geringe Ver- 
gütung von 50 fres. pro Maschine welche die Fabrikanten Jacquard 
zu zahlen hatten, wurde ihm tatsächlich vielfach nicht entrichtet. Und 
doch arbeitet seine Maschine noch heute in manchen Teilen verändert 
und verbessert, in ihrem Prinzip aber unverändert in Tausenden 
von Fabriken der ganzen Welt ?). 

Für die Konstruktion der Flachsspinnmaschine sollte Girard den 
von Napoleon I. ausgesetzten Preis von 1 Mill. fres. erhalten, weil 
er eine vortreffliche Lösung der Aufgabe geliefert hatte. Und doch 
wurde ihm der Preis vorenthalten: der unglückliche Feldzug Napoleons 
nach Rußland und der darauffolgende Sturz des Kaisers waren haupt- 
sächlich daran schuld. Wäre ihm aber auch die Million ausbezahlt 
worden, so hätte ihm damit die Nation eine Belohnung gegeben, 
nicht die Fabrikanten, wie dies ja auch bei Crompton, zum Teil auch 
bei Jacquard der Fall war. Was die Fabrikanten betrifft, so hatte 
Girard zwar gleich 1810 ein Patent zum Schutze der Maschine ge- 
nommen, doch hat dieselbe in Frankreich niemand benutzt, nach 
England wurde sie aber heimlich hinübergebracht und das Modell 
daselbst verkauft. Verschiedene Engländer gaben sich für Erfinder 
der Flachsspinnmaschine aus und ließen sich einzelne Bestandteile 
derselben in England patentieren. Girard selbst trug dazu bei, daß 
ie Engländer sich sein Spinnverfahren nutzbar machten, indem er 
darlegte, daß jene Patente Kopien des von ihm erhaltenen Patents 
darstellten. Auf diese Weise wurde den Fabrikanten die Entrichtung 
einer Belohnung für die Benutzung seiner Maschine erlassen, da die 
Engländer, die jene Patente besaßen, sich als unrechtmäßige Eigen- 
tümer derselben erwiesen, Girard selbst aber keinen Geldgewinn für 
sich nachsuchen wollte: „Das Verfahren ward ohne weiteres überall 
eingeführt und trug zur schnelleren Entwickelung der englischen 
Flachsspinnerei viel bei‘ ?). 

Unter den vielen hervorragenden Erfindern, die im letzten 
Drittel des 18. und zu Anfang des 19. Jahrhunderts gewirkt haben, 
sind es nur zwei, die sich auch eines materiellen Erfolges er- 
freuten, indem die Erfindung ihnen nicht nur Ruhm, sondern auch 
Vorteil in wirtschaftlicher Beziehung verschaffte. Wir sprechen von 
Richard Arkwright und James Watt. Auf den ersten Blick erscheint 


1) Godart, L'ouvrier en soie. Monographie du tisseur lyonnais. T. I, Paris 1899 
p. 277 sqq. 

2) Grothe, S. 79—80. 

>) Grothe, S. 320, 324—325. 


ES e 


156 Josef Kulischer, 


es, als ob die Fabrikanten keinen Anteil an dem Güterüberschuß 
genossen haben, den die von diesen Erfindern geschaffenen Maschinen 
erzeugten, daß das ganze Mehrprodukt den großen Schöpfern der- 
selben auch zugefallen ist. Sieht man sich jedoch die Sache näher 
an, so ergibt sich, daß selbst diese Erfinder einen nur minimalen 
Teil jenes überschüssigen Produktionsquantums erhalten haben, daß 
vielmehr auch in diesen Fällen die überwiegend größte Masse den 
Fabrikanten zugekommen ist. 

Ueber Arkwright wissen wir, daß er nicht nur Patente auf seine 
Erfindungen genommen, sondern auch seine Ansprüche auf Entgelt 
für Benutzung derselben streng verfolgt hat, indem er die Nach- 
ahmer seiner Watermaschine durch Prozesse belangte und von jedem, 
der seine Maschine einführte, sich einen Teil des Ertrags abtreten 
ließ. Dadurch gelangte er zwar in kurzer Zeit zu einem bedeuten- 
den Vermögen, machte sich jedoch bei den Fabrikanten verhaßt, welche 
in seinen Forderungen eine Ungerechtigkeit sahen und nicht zu- 
geben wollten, daß der Erfinder den von ihm geforderten Anteil am 
Güterüberschuß, den seine Maschine erzeugte, erhalten sollte, da 
ihrer Auffassung nach dessen Geistesprodukt doch der Allgemeinheit 
gehörte, jeder, der die Erfindung benutzte, schon allein dadurch ein 
Anrecht erwarb auf das gesamte von ihr hervorgebrachte Produkt. 
Das geltende Recht stand zwar mit jener Auffassung der Produzenten 
in Widerspruch, nicht aber die Rechtsprechung in Patentsachen, bei 
der sich eben die herrschende Ansicht von dem Anrecht der Ge- 
samtheit auf freie Benutzung der Erfindung durchsetzte in der Leichtig- 
keit, mit welcher die Richter die unberechtigten Anwender der 
patentierten Erfindung freisprachen, in der mangelhaften Beweis- 
führung, welche für sie genügte, um den Erfinder des ihm erteilten 
Patents zu berauben. Letzteres war gerade bei Arkwright der Fall. 
Die Fabrikanten petitionierten beim Parlament um Aufhebung des 
Arkwrightschen Patents, indem sie die Neuheit der Erfindung be- 
zweifelten und den Beweis zu erbringen suchten, daß die Arkwrightsche 
Maschine weiter nichts als eine Nachbildung der Paulschen sei, daß 
das Patent also aufzuheben wäre und die Benutzung allen frei- 
zustellen. Es gelang ihnen auch wirklich, das Patent zu vernichten !). 
Nun, als sie dieses erreicht, zauderten sie nicht mehr die angeblich 
der Neuheit entbehrende Erfindung in großer Anzahl einzuführen. 
Im Jahre 1780 — sagt Held — gab es 20 Fabriken, die entweder 
Arkwright oder solchen Leuten gehörten, die ihn für sein Patent 
bezahlt hatten; im Jahre 1790, nachdem Arkwright inzwischen 1785 
sein Patent durch Prozeß verloren hatte, gab es 150 Fabriken in 
England und Wales?) Was also Arkwright von allen übrigen 
(oben erwähnten) Erfindern unterscheidet, ist dies: während eines 
kurzen Zeitraumes bis zur Aufhebung seines Patents waren die Unter- 
nehmer verpflichtet, ihm die Benutzung der Maschine zu vergelten. 
Und diese kurze Zeitperiode hat ihm einen Reichtum von Millionen 


1) Grothe, S. 139. 
2) Held, Zwei Bücher zur sozialen Geschichte Englands. Leipzig 1881, S. 592. 


Zur Entwickelungsgeschichte des Kapitalzinses. 157 


Pfl. St. eingebracht. Wie groß mußte also der Reichtum sein, den seine 
Maschine später, als sie allgemein eingeführt wurde, ihm hätte ver- 
schaffen können, wie groß war demnach der Güterüberschuß, der 
in den Händen der Spinnereibesitzer verblieb! 

Und wäre auch Arkwrights Patent nicht aufgehoben und er in 
den Stand gesetzt, dasselbe den ganzen Zeitraum hindurch benutzen 
zu können, für den es ihm ursprünglich zugesprochen war, hätte 
er dann das ganze Mehrprodukt, das seine Maschine erzeugt, für 
sich behalten, hätte er selbst dann auch nur einen mehr oder weniger 
bedeutenden Anteil daran erwerben können? Genügt überhaupt eine 
Frist von 14 Jahren oder eine auf einige Jahre darüber hinaus ver- 
lingerte, wie dies bei Watt der Fall war — genügt sie dazu, den 
Fabrikanten zur Auszahlung eines Anteils von auch nur wenigen 
Prozenten von jenem Mehrprodukt zwingen zu können, wenn es 
sich um wichtige Erfindungen handelt, welche viele Jahrzehnte hin- 
dureh fortleben und die Industrie beherrschen? Wir sagen ent- 
schieden: Nein. Der Anteil des Erfinders, der ihm von den Unter- 
nehmern ausgezahlt wird, der Erfinderlohn, bleibt immer minimal 
im Verhältnis zur Güterquantität, welche die neue Erfindung der 
alten gegenüber mehrerzeugt, denn nur diejenigen Unternehmer, welche 
in der Zeit der Gültigkeit des Patents die Erfindung einführen, 
müssen zu ihren Auslagen einen Entgelt für die Anwendung der- 
selben rechnen, während alle übrigen, die nach Erlöschen des Patents 
die Erfindung neueinführen oder ihre Anwendung fortsetzen, den 
gesamten Güterüberschufi für sich behalten kónnen. 

Dies bezieht sich auch auf James Watt, der die Dampfmaschine 
vervolkommnet und so die Anwendung des Dampfes in der In- 
dustrie möglich gemacht hat. Obwohl seine Patente im Gegensatz 
zu den Arkwright'schen sogar über die vorgeschriebene Frist hinaus 
verlängert wurden und er sich, wie Arkwright, von allen, die seine 
Maschine benutzten, zahlen ließ!), so wäre doch die Behauptung, 
daß der Vorteil aus der Maschine ihm auch nur zu einem bedeutenden 
Teile zugefallen sei, nichts weniger als erwiesen. Widerlegt wird eine 
solche Auffassung schon durch die Tatsache, daß die Maschinen, die 
in der Fabrik von Watt und Boulton in Soho produziert waren, ein 
sehr hohes Alter erreicht haben. „Erst gegen 1860 — sagt Reu- 
leaux — war ihr Geschlecht so ziemlich ausgestorben. Einzelne Ueber- 
ständer giebt es noch heute. Im Patentmuseum in London wurde 
1885 eine Wattische Maschine ausgeliefert, nachdem sie genau 100 Jahre 
ihre treuen Dienste (in einer chemischen Fabrik) getan*?). Es ist 
klar, daß Watt beim Verkaufe jener von ihm produzierten Dampf- 
maschinen unmöglich auch nur einen größeren Teil jenes Ueber- 
schusses an Produkten, welche seine Maschinen, die viele Jahrzehnte 


1) Ein bedeutendes Vermögen hat sich Watt jedoch nicht erworben. Als er nach 
Erlöschen des Patents von der Unternehmung zurücktrat, besaß er nur ein kleines 
Landgut bei Heathfield, daß er sich von seinem Gewinnanteil erworben hatte. Mat- 
schoss, Geschichte der Dampfmaschine. Berlin 1901, S. 379. 

2) Reuleaux, Kurzgefaßte Geschichte der Dampfmaschine. Braunschweig 1892, S. 52. 


158 Josef Kulischer, 


hindurch fortleben sollten, erzeugten, vorwegnehmen konnte. In 
ihrem Verkaufsvertrage bedang sich gewöhnlich die Firma das An- 
recht auf ein Drittel der Kohlenersparnis aus, die man mit ihren 
Maschinen gegenüber den früheren (insbesondere der Newcomenschen) 
erreichte. Auf diese Weise erhielten die Unternehmer, welche die 
Dampfmaschine benutzten, sowohl jenes Mehr an Gütern, daß die 
Newcomensche Maschine produzierte, als auch ?/, des Wertes der 
Kohlenersparnis, die mit der Wattschen Maschine erzielt wurde: 
denn die Patente für die früheren Dampfmaschinen (auch die von 
Newcomen und Savery) waren zur Zeit der Wattschen Erfindung 
bereits abgelaufen und die von Watt konstruierten Maschinen er- 
móglichten wohl eine bedeutende Kohlenersparnis, verursachten aber 
in anderen Beziehungen keine viel größeren Kosten als ihre Vorgänge- 
rinnen!). Und doch waren es nur 46 Dampfmaschinen, für welche 
wenigstens eine zeitlang Watt eine Vergeltung erhielt; denn soviel 
waren in der Fabrik zu Soho bis 1800 produziert worden. Im Jahre 
1800 erlosch aber Watts Patent und die schópferische Arbeit, die in 
den später aufgestellten Dampfmaschinen tätig war, wurde überhaupt 
nicht mehr bezahlt. Bloß in dem einen Jahrzent 1800—1810 hat 
sich aber deren Anzahl im Vereinigten Königreich von 46 auf 5000 
vermehrt?) Ja selbst als um die Mitte des 19. Jahrhunderts Ver- 
besserungen an der Dampfmaschine angebracht wurden, ist nur das 
Mehrprodukt noch weiter vergrößert worden, während das von Watt 
hervorgebrachte nach wie vor ungeschmülert blieb. 

Aus dem Dargelegten folgt, daß die hervorragenden Erfin- 
dungen vom Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts 
den Unternehmern umsonst zugefalen sind, daß sie den Güter- 
überschuß, den jene Erfindungen geschaffen, für sich allein beibe- 
halten konnten. Die wenigen Ausnahmefälle, wo der Unternehmer 
etwas zahlt, belaufen sich nur auf wenige Jahre. Es darf als er- 
wiesen gelten, daß in das Mehr an Gütern, das die schöpferische 
Arbeit des Erfinders produziert hatte, der Fabrikant sich hat mit 
niemand teilen müssen, dafi seine Unternehmungsanlagen nur als 
Belohnung physischer (teilweise auch leitender) Arbeit bestanden, 
die schópferische Arbeit dagegen keinen Bestandteil der Kosten für 
sich beanspruchte, indem die Vergeltung der Erfinderarbeit voll- 
stindig ausblieb. Der Erfinder war ebenfalls Unternehmer oder Ar- 
beiter, Ingenieur oder Beamter, oder er lebte von einer National- 
belohnung, welche ihm das Volk bezahlte; ein besonderes Ein- 
kommen in seiner Eigenschaft als Erfinder, einen Erfinderlohn be- 
zog er nicht. 

Damit ist der eine Teil des Problems gelöst. Es bleibt jedoch 
noch der andere übrig. Es bleibt nämlich noch die Frage zu be- 
antworten, ob jener durch die schópferische Arbeit des Erfinders 


1) Matschoss, Geschichte der Dampfmaschine, Ihre kulturelle Bedeutung, ihre 
technische Entwickelung und ihre großen Männer. Berlin 1900, S. 71 ff. 
2) Karmarsch, S. 209. Reuleaux, S. 52 Anm. 


Zur Entwickelungsgeschichte des Kapitalzinses. 159 


produzierte Güterüberschuß, der dem Fabrikanten zugeflossen, auch 
in dessen Händen verblieben ist, ob der Fabrikant nicht durch irgend 
welche Umstände gezwungen ward, jemanden, insbesondere dem Kon- 
sumenten, jenen Güterüberschuß zu übergeben. Sollte es sich in 
der Tat herausstellen, daß jene Vergrösserung der Güterquantität 
nicht eine entsprechend große Preisherabsetzung der fertigen Pro- 
dukte nach sich gezogen hat, daß also das Mehr an Gütern zugleich 
ein Mehr an Wert dargestellt hat, so wäre die Quelle oder eine 
von den Quellen gefunden, aus denen der Kapitalgewinn in der 
ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts herrührt. 


III. 


Die erste Anwendung der Maschine in einem gewissen Produk- 
tionszweige bezeichnet die Entstehung der neuen Quelle, die den 
Mehrwert liefert; die Periode der allgemeinen Einführung derselben 
in der Industrie, wo die mechanische Produktionsweise zur herrschen- 
den wird, bildet die Endstadie des Auszahlungsprozesses, jene Stadie, 
in welcher das durch Erfindertätigkeit hervorgebrachte Mehrprodukt 
dureh entsprechende Preisherabsetzung an das konsumierende Publikum 
vollständig übergeht. Zwischen diesen beiden Grenzpunkten liegt 
jedoch eine weite Strecke, welche zurückgelegt werden muß, ehe der 
Konsument den aus der Anwendung der betreffenden Maschine ent- 
springenden Vorteil in Form niedrigerer Preise genießen kann, jener 
Zeitraum, innerhalb dessen das von der Maschine hervorgebrachte Mehr- 
produkt sich in Mehrwert für den Unternehmer verwandelt. Für die 
Erfindungen, die im letzten Drittel des 18. und zu Anfang des 19. Jahr- 
hunderts aufgetreten sind, nimmt jene Zwischenstadie eine bedeutende 
Zeitperiode in Anspruch. In England, dem Geburtslande der Maschinen, 
vollzieht sich die Verbreitung derselben anfangs nur allmählich und 
langsam, bald wird sie aber schneller und allgemeiner, was die eng- 
lische Industrie in eine ausschließlich günstige Stellung versetzt. Auf 
dem Kontinent dagegen beginnt der Ersatz physischer Arbeit durch 
die Maschine, die Verwandlung von Hausindustrie und Manufaktur 
in die Fabrik !) viel später und geht viel langsamer von statten. Es sind 
anfangs nur einzelne, welche trotz aller Ausfuhrverbote englischer 
Maschinen, trotz der großen Gefahren, mit denen jeder Versuch ver- 
bunden war, die geheim gehaltenen Maschinen aufs Festland zu bringen, 
doch das Kunststück wagen, durch Bestechungen in den Besitz englischer 
Modelle zu gelangen, auch englische Mechaniker und Arbeiter auf das 
Festland zu locken wissen und mit den neuen Maschinen auch auf 
dem Kontinent die mechanische Produktionsweise einführen. Die 


1) Im Verlauf der weiteren Darstellung werden Manufaktur und Fabrik streng von- 
einander geschieden. Für beide ist arbeitsteiliger zentralisierter Betrieb charakteristisch. 
Während jedoeh in der Fabrik mit Maschinen und Motoren gearbeitet wird und wissen- 
schaftlich chemische Verfahren angewandt werden, wird in der Manufaktur die mensch- 
liche Hand nur von mehr oder weniger komplizierten Werkzeugen unterstützt und 
ist das chemische Verfahren weniger exakt und rationell, mehr empirisch und zufällig. 
Vergl. Sombart, Der moderne Kapitalismus. Leipzig 1902, Bd. I, S. 48, Bd. II, S. 64—65. 


160 Josef Kulischer, 


meisten, weniger unternehmenden, die nicht soviel Sinn für technische 
Neuerungen besitzen, auch nicht das nötige Kapital für die Fabrik- 
anlage und den Betrieb im großen beschaffen können, schrecken 
jedoch vor jenen Gefahren zurück; auch die niedrigen Löhne in der 
Hausindustrie wie die durch die Zollpolitik gesicherten hohen Preise 
halten die Verbreitung der Maschinen auf. Nach Aufhebung der 
Kontinentalsperre, wo der Kontinent die Konkurrenz englischer 
Maschinenprodukte zu fühlen bekommt, wird der Transport eng- 
lischer Maschinen — die Verbote bestehen noch bis 1825 — etwas 
reger, doch bilden auch dann noch die Fabriken seltene Ausnahmen 
neben der herrschenden Handarbeit. Damit ist aber zugleich sowohl 
den englischen Fabrikanten als denjenigen Unternehmern auf dem 
Festlande, welche die neue Produktionsweise in Anwendung bringen, 
ihre Manufakturen in Fabriken verwandeln, eine Ausnahmestellung 
gesichert, welche ihnen möglich macht, durch eine geringe Herab- 
setzung der Preise zweierlei zu erreichen: einmal sich den Absatz 
zu sichern, da die herrschende Produktionsweise den Kampf mit 
ihnen nicht aufnehmen kann, und andererseits den bei weitem größten 
Teil des von der Erfindertätigkeit stammenden Güterüberschusses 
für sich zu behalten. Denn diese Preisherabsetzung erfolgt ursprüng- 
lich und auch lange Zeit nachher keineswegs im Verhältnis zu 
den verminderten Unternehmungsanlagen und erst allmählich mit 
der Zunahme der Konkurrenz auf dem Kontinent, mit der Ver- 
breitung der Maschinen, beginnt der Warenpreis sich dem Produk- 
tionswerte, den Auslagen des Unternehmers zu nähern. Das Mehr 
an Gütern ist also recht lange auch ein Mehr an Wert; die vom 
Erfinder produzierten Ueberschußgüter verwandeln sich in Ueber- 
schußwerte und ergeben für den Unternehmer einen Kapitalgewinn. 
„Auf solcher Stufe* — sagt Schulze-Gaevernitz — „sind die Ge- 
winne hoch, nicht wegen niedriger Produktionskosten — diese sind 
vielmehr gegen später hoch — sondern wegen der hohen Preise. 
Noch befindet sich die Industrie in einer Monopolstellung gegenüber 
dem heimischen Kleingewerbe wie dem Auslande . .. . Daher fließen 
rasch große Vermögen in den Händen weniger zusammen. Allent- 
halben war das Genie einzelner der Pfadfinder in das Gebiet der 
Großindustrie* !). 

In England (mit Schottland zusammen) soll es um 1788 schon 
142 Baumwollspinnereien gegeben haben mit 2 Millionen Spindeln ?). 
„Das Festland von Europa und Amerika — sagt Ure — besaß da- 
gegen bis einige Zeit nach dem Frieden von 1814 Fabriken nur in 
so kleinem Maßstabe, daß sie überhaupt als Konkurrenten auf dem 
Weltmarkte nicht betrachtet werden konnten“ *). Und zwar sind es das 
sächsische Voigtland und Erzgebirge, der Kanton St. Gallen und Ober- 
elsaß (Departement du Haut-Rhin), welche zuerst mit der mechanischen 


1) Schulze-Gaevernitz, Der Großbetrieb ein wirtschaftlicher und sozialer Fortschritt. 
Leipzig 1802, S, 215—216. 

2) Held, S. 592, 

3) Ure, Cotton Manufacture, S. 57—93. 


SC > — —— 


Zur Entwickelungsgeschichte des Kapitalzinses. 161 


Produktionsweise vorgehen, also dieselben Länder, welche vor Auf- 
kommen der Maschinen, als die englische Baumwollindustrie noch 
keine Dedeutung hatte, die eigentlichen Produktionszentren gebildet 
und den europäischen wie außereuropäischen Absatz besessen hatten !). 
Hier wurden jene kleinen Fabriken begründet, von denen Ure spricht 
und bis in die zwanziger Jahre kamen keine kräftigeren Betriebe auf. 

Nach Sachsen kam ein gewisser Karl Friedrich Bernard, welcher 
zu Manchester eine eigene Spinnerei und in Leipzig mit seinem 
Bruder einen Garnhandel betrieben hatte, und brachte Zeichnungen 
aus England, wonach er 1797 Spinnmaschinen bauen ließ. Alsdann 
wandte er sich an die Regierung mit dem Gesuche, ihm zur Anlage 
und zum Betriebe einer Mulegarnspinnerei mittels neuer Maschinen 
eigener (?) Erfindung ein Privilegium exclusivum für ganz Sachsen 
zu erteilen. Es wurde ihm ein Privileg für die Dauer von 10 Jahren 
zugesprochen. Bernard errichtete eine Spinnerei in Harthau bei 
Chemnitz; er ließ sich einen englischen Mechaniker Namens Watson 
kommen, später auch einen englischen Spinnmeister Evans, der auch 
im Spinnmaschinenbau wohlerfahren war. Unter ihrer Leitung be- 
fand sich sowohl die Spinnerei als auch die Maschinenbauwerkstatt, 
in welcher die für die Fabrik nötigen Mulemaschinen konstruiert 
wurden. Fast gleichzeitig im Jahre 1799 erhielt der Kaufmann Wöhler 
zu Chemnitz, welcher den englischen Maschinenbauer William Whitfield 
aus Halifax heranzog, um den Bau und die Leitung einer Maschinen- 
spinnerei und die Konstruktion der Watermaschinen zu übernehmen, 
ebenfalls ein Privilegium exclusivum für 10 Jahre, jedoch, um den 
früheren Konzessionär nicht zu beeinträchtigen, für die Spinnerei von 
Water Twist. In den folgenden Jahren wurden den beiden sächsischen 
Fabrikanten wiederholt Zuschüsse gegen eine Verzinsung von 2 Proz. 
von der Regierung genehmigt, (Wöhler erhielt 15000 Taler, Bernard 
20000) den Maschinenbauern und Spinnmeistern, die sie aus Eng- 
land kommen ließen, Gehälter, Prämien und Pensionen aus den 
Staatskassen gezahlt?). Die ersten sächsischen Fabrikanten befanden 
sich also in einer noch vorteilhafteren Lage als die englischen Maschinen- 
Spinner. Abgesehen davon, daß sie für die Anwendung der neuen 
(englischen) Erfindungen auch nicht einen Heller zu zahlen hatten ?), 
wurden ja, wie wir sehen, auch die Techniker, die für Maschinenbau 
3 


\ 

1) Während die Schweiz namentlich Italien und Frankreich mit Baumwollen- 
Waren versorgte, kaufte der gesamte Norden und Osten Europas in der Hauptsache 
indische und sächsische Ware. In diese altgewohnten Konkurrenzverhältnisse griff mit 
dem Beginn der 70er Jahre des 18. Jahrhunderts England störend ein. König, Die 
Sächsische Baumwollenindustrie am Ende des vorigen Jahrhunderts und während der 
Kontinentalsperre. Leipzig 1899, S. 2. 

....2) Bein, Die Industrie des sächsischen Voigtlandes, T. II, Leipzig 1884, S. 135—136. 
König, S. 101 ff., 343—347. 

3) Es ist den sächsischen Mechanikern nicht gelungen, eine eigene Erfindung zu 
machen, Was sie zustande gebracht haben, sind Nachahmungen englischer Maschinen 
gewesen; 1786 die Jennymaschine, 1799 die Mulemaschine, 1800 die Watermaschine. 

ie Konstruktion der beiden letzteren gelang erst unter der Oberleitung von Männern 
englischer Nationalität. König, S. 88. 
Dritte Folge Bd, XXV (LXXX). 11 


162 Josef Kulischer, 


und -Reparaturen aus England gekommen waren, auf Staatskosten er- 
halten. Und während andererseits die Engländer sich mit dem faktischen 
Monopol begnügten, daß der wenig verbreitete Maschinenbetrieb ihnen 
verschaffte, wollten die sächsischen Spinner dazu noch ein künstliches 
haben. Die Regierung willfahrte ihnen, ging man doch damals von 
dem Grundsatze aus, daß ein Privileg nicht demjenigen, der die neue 
Erfindung geschaffen, sondern demjenigen, der sie zuerst in die Pro- 
duktion einführte, zu erteilen sei. Das Gleiche können wir auch in 
der Schweiz beobachten. In St. Gallen bildete sich um 1800 eine 
Aktiengesellschaft, welche Maschinen aus England kommen ließ und 
zuerst im Zucht- und Waisenhaus, dann in einem leerstehenden 
Klostergebäude eine mechanische Baumwollspinnerei errichtete. Außer 
der unentgeltlichen Benutzung der (Kloster-)Gebäude, erhielt auch 
hier die Gesellschaft ein Privilegium exclusivum für die Dauer von 
7 Jahren !). 

Erst nach Ablauf der Privilegien konnten weitere Fabriken auf- 
kommen. Jedoch gab es in St. Gallen auch um 1810 bloß 5 Spinne- 
reien und zwar waren dies noch kleinere Betriebe als die zuerst 
gegründete Aktienspinnerei?). Zwischen 1815 und 1825 vergrößerte sich 
ihre Anzahl, doch waren sie alle recht mangelhaft ausgerüstet und 
betrieben, als Anhängsel von Mühlen oder auf verfügbaren Dach- 
böden eingerichtet?). In Sachsen wurde, nach Erlöschen des Privi- 
legs, die Errichtung von Spinnereien durch Prämien begünstigt, 
welche die sächsische Staatsprümienkasse in den Jahren 1807—1810 
für jede in Gang gesetzte Feinspindel gewährte®). In dieser Zeit 
erwarben sich mehrere Spinnereibesitzer wie Gössel, Kauz, Schmidt 
in Plauen bedeutende Vermögen’). Trotzdem brachte die Aufhebung 
der Kontinentalsperre die sächsische ebenso wie die schweizerische 
Spinnerei in eine schwierige Lage. Ungeheuere Massen von Ge- 
spinsten, unter weit günstigeren Bedingungen angefertigt, ergossen 
sich nun über die wiedergeöffneten Kontinentalstaaten und wurden 
zu spottbilligen Preisen auf den Markt geworfen. Wohin sich die 
Spinner auch wenden mochten, überall waren die Lager mit eng- 
lischen Baumwollwaren gefüllt‘). Auch die elsässische Industrie 
hatte darunter zu leiden. 1803 war hier die erste Maschinenspinnerei 
gebaut. Während der Kontinentalsperre kamen noch einige Fabriken 
auf. Nach dem Falle derselben wurde das Land mit englischen 
Waren übertlutet und die ganze industrielle Tütigkeit lahmgelegt. 
„Für bedruckte Tücher, die vordem mit 4—5 fres. per Elle verkauft 
worden waren, löste man nun kaum 65—75 Centimes!* 7). Der ge- 


1) Wartmann, Industrie und Handel im Kanton $t, Gallen auf Ende 1866. 
St. Gallen 1875, S. 210—214. 

2) Ibid., S. 309. 

3) Ibid., S. 454. 

4) Bein, Bd. II, S. 154. König, S. 343—344. 

5) Bein, Bd. II, S. 159. 

6) Wartmann, S. 344. Bein, Bd. II, S. 167 ff., 247 ff. 

7) Herkner, Die oberelsässische Baumwollindustrie und ihre Arbeiter. Straßburg 
1887, S. 87, 93. 


Zur Entwickelungsgeschichte des Kapitalzinses. 163 


waltige Preissturz war zweifelsohne durch die Ueberproduktion in 
England verursacht, wo trotz eines gut organisierten Schleichhandels, 
sich eine große Warenmasse angehäuft hatte und nun mit allen 
Mitteln abgesetzt werden mußte. Jedoch auch bei höheren Preisen 
konnte das Festland nicht mehr mit Gewinn produzieren, wenn es die 
Betriebsweise nicht änderte. Denn eben der Umstand, daß vorwiegend 
mit der Hand gesponnen wurde, hatte Sachsen, wie die schweize- 
rische und elsässische Industrie ihrer Absatzmärkte beraubt. Es ` 
gab nur einen Ausgang — Uebergang zur mechanischen Produk- 
tionsweise. Nur in der Verdrängung des Handgespinstes durch 
Anlage großer Fabrikbetriebe konnte Rettung gefunden werden. 
Und dieser Weg wurde in den zwanziger Jahren eingeschlagen, noch 
mehr wird nach diesem Ziele in den dreißiger Jahren hingearbeitet !). 

Damit schließt die erste Periode der fabrikmäßigen Baumwoll- 
spinnerei, welche durch das Monopol Englands und einiger weniger 
festländischen Unternehmer der übrigen Welt gegenüber gekenn- 
zeichnet wird. Es beginnt seit den 20er und 30er Jahren eine 
neue Periode, wo das Monopol weitere Kreise umfaßt, dadurch aber 
an Intensität verliert: neben England nimmt auch das Voigtland, 
St. Gallen und Elsaß daran teil. England wendet sich nach den 
Vereinigten Staaten von Nordamerika wie nach anderen übersee- 
ischen Gebieten und überläßt jenen Produktionsgebieten das Fest- 
land, denn auch jene Länder befinden sich bereits auf der Höhe der 
englischen Technik und haben nicht mehr die englische Konkurrenz 
zu fürchten. Während bis 1823 noch der gesamte englische Baum- 
wollengarnexport auf dem Kontinent Aufnahme fand, geht seitdem 
ein immer größerer Teil der englischen Garnausfuhr nach den außer- 
europäischen Ländern und seit 1843 zeigt auch absolut der Absatz 
Englands nach Europa (nach Deutschland schon seit 1833) einen be- 
deutenden Ausfall?). Das sächsische Erzgebirge, St. Gallen und Elsaß 
uchmen aber in dieser zweiten Periode eine monopolistische Stellung 
ein gegenüber dem ganzen übrigen Kontinent, weil sie und neben ihnen 
noch einige minder bedeutende Produktionsstätten die wenigen kleinen 
Inseln bilden in dem großen Meere der Handspinnerei, welches 
Europa bedeckt. In Frankreich wurde nämlich, von Elsaß (Départe- 
ments du Haute-Rhin et des Vosges) abgesehen, die erste Spinnerei 
1818 im Département de Haute-Saône gebaut, in den übrigen De- 
partements kamen Fabriken nicht vor 1825 auf?) Die Angaben 
über die franzôsische Fabrikindustrie im ersten Viertel des 19. Jahr- 
hunderts, ja noch später beziehen sich eben immer nur auf Elsaß. 
In Oesterreich gab es noch in den 30er Jahren nur wenige Maschinen- 
Spinnereien und bloß zwei Jahrzehnte später traten darin bedeutendere 
Aenderungen ein‘). Die Entwickelung der russischen Baumwoll- 


1) König, S. 319. Herkner, S. 87. Wartmann, S. 487 ff. 
e a? MURS, Handbook of Cotton Trade. Deutsch von Noest. Norden 1884, 5. Ausg., 
8. 151, 167, 
S Beer; Geschichte des Welthandels, IV, Kap. 2, § 5. 
id. 


11* 


164 Josef Kulischer, 


spinnerei datiert seit den 40er Jahren, als freie Ausfuhr englischer 
Maschinen möglich wurde!) Auch Preußen wie Italien hatten 
noch in den 40er Jahren fast keine eigene Spinnerei und bedurften 
fremden Imports. Das Garn wurde aus Sachsen und aus der Schweiz 
eingeführt. In Gladbach am Niederrhein, einem wichtigen Industrie- 
zentrum, wurde die erste mechanische Baumwollspinnerei 1845 ein- 
gerichtet ?). 

Die dritte Periode in der Geschichte der Maschinenspinnerei, 
wo dieselbe zur herrschenden Betriebsweise wird und die Hand- 
spinnerei verdrängt, beginnt also erst um die Mitte des 19. Jahr- 
hunderts. Da nun das Aufkommen des fabrikmäßigen Betriebs in 
die achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts fällt, um 1790 die eng- 
lische Maschinenspinnerei bereits eine nicht zu vernachlässigende 
Größe darstellt, so ergibt sich daraus reichlich ein halbes Jahr- 
hundert von der Entstehung der neuen Quelle des Mehrprodukts 
bis zum Uebergang des letzteren in Form entsprechender Preis- 
herabsetzung an das konsumierende Publikum, also ein halbes Jahr- 
hundert, innerhalb dessen der Unternehmer jenes Mehrprodukt für 
sich behält, in Kapitalgewinn verwandelt. Denn solange dauert es, 
bis der Verkaufspreis des Baumwollengarnes auf das neue Niveau, 
das die maschinelle Produktionsweise ermöglicht, heruntergeht. Die 
Unkosten des Fabrikanten für Rohbaumwolle und Spinnen zusammen 
belaufen sich 1788 auf 12 sh., 1800 auf 3 sh. 2 d. und 1830 auf 
1 sh. 21/, d. In denselben Jahren sind die Verkaufspreise 35 sh., 
9 sh. und 3 sh. Der Unterschied zwischen den Herstellungskosten 
und dem Verkaufspreise der fertigen Ware beträgt also 1788 23 sh., 
1800 5 sh. 10 d. und 1530 1 sh. 9?/, d. für das Pfund Garn N. 100°) 
In der ersten Periode füllt dem Unternehmer fast die ganze Ueber- 
schußquantität an Gütern zu, später ist er zwar gezwungen, einen 
Teil dem Konsumenten zu übergeben; der andere Teil verbleibt 
jedoch bis in die 40er Jahre sein Gewinn, weil erst um diese Zeit 
die Maschinen, die zu Ende des 18. Jahrhunderts erfunden sind, all- 
gemein eingeführt werden, die früheren wenigen Produktionsstätten 
in ihren Absatzländern sich Konkurrenten erstehen sehen. 


IV. 

Der mechanische Webstuhl ist ungefähr um dieselbe Zeit er- 
funden wie die Spinnmaschine. Doch wurde er selbst in England 
erst seit 1813 mehr angewandt; seit 1820 erfreute er sich einer 
größeren Aufnahme, obwohl noch 1830 etwa 250000 Handstühle 
gegen 50—80000 Kraftstühle standen und die Fabrikanten noch 


1) Historisch-statistische Uebersichten der russischen Industrie (russ.). Bd. 2, Moskau 
1886, T. 1, S. 84—85. 

2) Thun, Die Industrie am Niederrhein und ihre Arbeiter. Leipzig 1879, Bd. 1, 
S. 160. 

3) Steffen, Studien zur Geschichte der englisehen Lohnarbeiter, Bd. II. Stuttgart 
1902, S. 158—159. 


e — 


Zur Entwickelungsgeschichte des Kapitalzinses. 165 


damals der Ansicht waren, daß der Handstuhl insbesondere für 
Mustergewebe nie durch den Kraftstuhl werde ersetzt werden kónnen, 
vielmehr die Zahl der Hausweber dauernd wachsen müsse. „Die 
ersten Besitzer von Kraftstühlen — -sagt Schulze-Gaevernitz — 
machten ähnlich den ersten Spinnern riesige Gewinne; mit dem 
Allgemeinwerden der mechanischen Weberei gingen Preise wie Ge- 
winne schnell herab“ D. Auf dem Kontinent gelang es der Maschine 
erst in den 60er Jahren, die Handweberei zu verdrängen. „Ueber die 
schweizerische Baumwollweberei — sagt Wartmann — brach durch 
die Erfindung des mechanischen Webstuhls in England Anfang der 
3er Jahre eine ähnliche Krise herein, wie früher über die Hand- 
spinnerei durch die Erfindung der Spinnmaschine. Unaufhaltsam 
nahm seit Ende der 20er Jahre die Einfuhr wohlfeiler, weit gleich- 
mäßiger gewobener, glatter Baumwolltücher zu, welche gleichzeitig 
das schweizerische Fabrikat von den auswärtigen Märkten verdrängten. 
Diese Tücher waren das Produkt des neuen mechanischen englischen 
Webstuhls. Immer dringender empfand man dessen Einführung als 
absolute Notwendigkeit, wenn man nicht den wichtigen Stapelartikel 
ganz verlieren wollte" ?). Doch kamen die mechanischen Webereien 
sehr langsam auf. Im Kanton St. Gallen entstanden zwar in den 
3er und 40er Jahren die ersten mechanischen Baumwollwebereien, 
doch wurden dieselben bald aufgegeben und erst seit 1853 verbreitete 
sich allmählich der Kraftstuhl, ein gutes Jahrzehnt bis zu seiner Ein- 
bürgerung in Anspruch nehmend?) Um die Mitte des Jahrhunderts 
gab es in der Schweiz nicht über 3000 mechanische Webstühle*). Im 
Voigtland wurde die erste Weberei im Jahre 1861 begründet 5). 
n anderen Teilen Sachsens um 1847—50, in Gladbach um 1856 °); 
damals gab es an letzterem Orte 300 Webstühle, wie ja Preußen 
überhaupt im Jahre 1861 erst 7000 Kraftstühle für Baumwolle be- 
saß, während in England 1820 zwar auch nur das Doppelte davon, 
1835 aber schon 116000 vorhanden waren?) Ganz Frankreich zählte 
1634 bloß 5000 Kraftstühle, und sogar im Oberelsaß erreichte die 
Anzahl derselben 1846 kaum die Menge der in Betrieb befind- 
lichen Handstühle®). In Holland sind erst in den 50er Jahren 
2000 mechanische Webstühle aufgestellt worden‘). In Oesterreich 
gab es selbst zu Anfang der 60er Jahre 15000 Kraftstühle, das 


1) Schulze-Gaevernitz, S. 71—72. . 
"TD. Wartmann, Industrie und Handel der Schweiz im 19. Jahrhundert. Bern 
302, S, 40, 
sis 3) Wartmann, Industrie und Handel des Kantons St. Gallen, S. 488—489, 508, 
315—519, 

3) Wartmann, Industrie und Handel der Schweiz, S. 43. 

5) Bein, S. 340—341, 263. 

5) Thun, I, S. 161. 
1900 i) Schmoller, GrundriB der allgemeinen Volkswirtschaftslehre, Bd. 1, Leipzig 

10, S. 215. 

, 5) Levasseur, Histoire des classes ouvrières en France depuis 1789 jusqu'à nos 
Jours, Bd. 2, Paris 1867, S. 126. Herkner, S. 87. 

9) Ellison, S. 166. 


166 Josef Kulischer, 


ist so viel, als in England um 1820: Das herrschende Betriebssystem 
bildete noch der hausindustrielle Verlag, dessen Arbeiter neben 
der Hauptbeschäftigung mit Landwirtschaft sich auch mit der Weberei 
befaßten !). In die 60er Jahre fällt auch die Begründung der russischen 
Baumwollweberei auf Kraftstühlen. In den 60er Jahren entstand 
sie nämlich in den Zentren der Baumwollindustrie: im Gouvernement 
Wladimir, wo 1860 die ersten drei mechanischen Webereien errichtet 
wurden, und in Lodz (Polen), wo Karl Scheibler, der in England die 
Konstruktion der neuen Maschinen kennen gelernt hatte, 1854 die erste 
mechanische Weberei mit 100 Stühlen erbaute: 1861 wurden Fabrik 
und Kraftstühle von den Handwebern vollständig zerstört ?). 

Wie in der Baumwollspinnerei, so hat also auch in der Baum- 
wollweberei die Maschine über ein halbes Jahrhundert gebraucht, 
ehe sie allgemein Eingang gefunden und zum herrschenden Produktions- 
mittel geworden. Damit haben wir aber zugleich halbe Jahrhunderte 
des Fabrikationsmonopols für diejenigen Unternehmer, welche sich in 
dieser Zeit der betreffenden Maschinen bedienten. Dieselben Perioden 
von 50 Jahren, innerhalb deren die neue Erfindung monopolistisch 
ausgebeutet wird, finden wir auch in den anderen Zweigen der 
Textilindustrie wieder, auf dem Gebiete sowohl der Wollen- wie der 
Leinenfabrikation, und zwar wie in der Spinnerei so auch in der 
Weberei. Auch hier vergeht mindestens ein halbes Jahrhundert (ja 
noch mehr) von der ersten Einführung der Maschine bis zum Siege 
derselben, von der Entstehung der neuen Quelle des Kapitalzinses 
bis zum Uebergange des Mehrprodukts an das konsumierende Publi- 
kum. Auch hier endlich ist die Spinnerei gegenüber der Weberei 
die ältere; bei ihr hat der Uebergang zur maschinellen Produktions- 
weise zuerst begonnen, bei ihr hat er sich auch früher vollzogen. 
Nur werden dieselben Spinnmaschinen und Kraftstühle in der Woll- 
fabrikation und in der Leinenindustrie später als im Baumwollen- 
gewerbe angewandt, in der Wollenindustrie später als in der Baum- 
wollenbranche, im Leinengewerbe später als bei Bearbeitung der 
Wolle. Daher wird auch der ganze Entwickelungsprozeß in diesen 
Industrien in viel spätere Zeitperioden gerückt, die einzelnen Ab- 
schnitte der Entwickelung, die durch die Ausbreitung der Maschine 
gekennzeichnet werden, viel später durchmessen; es bilden hier die 
Maschinen noch ein Monopol, wo sie in der Baumwollenindustrie 
bezw. in der Wollenfabrikation bereits allgemein gebräuchlich ge- 
worden sind. 

Erst um 1815 finden nämlich die Spinnmaschinen mehr Eingang 
in der englischen Wollindustrie, zwischen 1825 und 1835 die Cart- 
wrightschen Kraftstühle?). Für das Festland hat ohne Zweifel Be- 

1) Beer, IV, Kap. II § 5. 

2) Janschul, Geschichtliche Entwiekelung der Fabrikindustrie Polens. Moskau 
1887 (russ.) S. 57 ff. Schulze-Gaevernitz, Die Moskau-Wladimirsche Baumwollindustrie, 
russ. Uebers. Moskau 1899, S. 28. 


3) Dechesne, L'évolution économique et sociale de l’industrie de la laine en 
Angleterre. Paris 1900, p. 117—122, 


Zur Entwickelungsgeschichte des Kapitalzinses. 167 


deutendes geleistet der Engländer William Cockerill, indem er eng- 
lische Spinnmaschinen auf den Kontinent brachte und zuerst im Jahre 
1798 in Verviers in Belgien t), später 1806 in Düren am Rhein, end- 
lich auch in der Niederlausitz, in Guben und Grünberg 1816 mecha- 
nische Wollspinnereien begründete. In England wurde er dafür für 
bürgerlich tot erklärt und ein Preis auf seinen Kopf gesetzt ?). Trotz- 
dem sollten noch viele Jahrzehnte verstreichen, ehe andere seinem 
Beispiele folgten. In der Niederlausitzer Wollspinnerei gab es auch 
1440 bloß 2 Betriebe mit 4000 Spindeln und wurde erst in den 
40er Jahren die Jenny-Feinspinnmaschine eingeführt, noch später 
die Cromptonsche Mulejenny. Dieselbe Lausitzer Tuchindustrie zählte 
1852 einen mechanischen Webstuhl, 1858 37 Stühle, ja 1870 nur 
5253). Auch am Niederrhein in Aachen und Burtscheid stellte 
Cockerill seit 1821 englische Spinnmaschinen auf und siedelte 1833 
selbst nach Aachen über. In den 40er Jahren kamen hier die Mule- 
jennies in den Spinnereien auf; dagegen begann die dortige Hand- 
weberei erst seit den 50er Jahren allmählich, vorzüglich in den 
glatten Stoffen, von der mechanischen verdrängt zu werden; sie hat 
sich jedoch für die gemusterten Stoffe erhalten und die Gewerbe- 
zählung von 1875 ergab im Regierungsbezirk Aachen noch 2910 Hand- 
stühle ohne und 2420 Handstühle mit Jacquard $), wie ja auch das 
Zollvereinsbureau im Jahre 1861 für den ganzen Zollverein nur 
6000 Maschinenstühle zählte unter 73000 Webstühlen für Wolle über- 
haupt). In den 40er und 50er Jahren besaß trotzdem Aachen eine 
Monopolstellung in der mechanischen Tuchfabrikation: dieselbe war 
eben an anderen Orten noch weniger verbreitet, sowohl die europäischen 
Staaten wie Amerika waren auf fremden Import angewiesen. Aachens 
Produkte spielten daher eine wichtige Rolle unter den importierten 
Wollenwaren. Aachen betrieb ein schwungvolles Exportgeschäft 
nach Italien, Spanien, Portugal. Am wichtigsten war aber der Ab- 
satz nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika: die direkten 
Geschäftsverbindungen mit der Union brachten den großen Häusern 
außerordentliche Gewinne. „Der Reichtum einer großen Anzahl noch 
bestehender Firmen — sagt Thun — stammt aus jener Zeit. Wer 
damals intelligent, energisch und geschäftsgewandt war und wem das 
Glück hold blieb, dem gelang es, immer größere Bestellungen zu 
übernehmen und zu deren Ausführung immer größere Kapitalien 
und eine wachsende Zahl von Arbeitern an sich zu ziehen. Aus glaub- 
würdigster Quelle — führt er aus — ist mir mitgeteilt worden, daß eine 
Aachener Firma damals Abschlüsse von 100000 Talern, eine andere 


1) Barlet, Histoire du commerce et de l’industrie de la Belgique. Malines 1885, 
p. 183, 

2) Quandt, Die Niederlausitzer Schafwollindustrie in ihrer Entwickelung zum GroB- 
betriebe und zur modernen Technik. Leipzig 1895, S. 173. 

3) Quandt, S. 175, 181, 198—199. 

4) Thun, I, S. 23—24. 

5) Schmoller, Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert. 
Halle 1870, S. 579. 


168 Josef Kulischer, 


von 40—80 000, ja sogar bis 86 000 und eine dritte von 60 000 Talern 
jährlich erzielten; der Fabrikinspektor erwähnt gleichfalls in einem 
seiner Berichte an die königliche Regierung, daß ein Haus in Maria- 
weiler 3 Jahre hindurch 60 000 Taler Jährlich und ein Fabrikant in 
Aachen, der ohne Fonds begonnen, in einigen Jahren 250 000 Taler 
verdient hatten“ !). Nicht bloß im Jahrzehnt 1845—1853, ja bis 
1860 haben sich die meisten großen Vermögen gebildet, sondern auch 
später im Verlaufe der 60er Jahre, insbesondere aber im Jahrfünft 
1869—1874 hat ein bedeutender Zuwachs des Vermögens in der 
Aachener Tuchindustrie stattgefunden. „Es werden Fabrikanten ge- 
nannt, welche 150 000 M., andere die 60—40 000 M. im Jahre ver- 
dient hätten. Unter den Männern, welche plötzlich wohlhabend 
wurden, gab es eine Reihe Kommis, Kaufleute und Geschäftsleute 
niederen Ranges“ ?). Aachen, wie die anderen Orte, die mit Maschinen 
arbeiteten, befanden sich eben noch in jener Zeit, in den 70er Jahren, 
in Monopolstellung gegenüber den übrigen Ländern, wo noch mit 
der Hand gearbeitet wurde; gehört ja der Sieg des Maschinensystems 
in der Wollindustrie erst den letzten 30 Jahren an 21. 

Noch länger dauerte der Kampf der Maschine mit der Hand- 
spinnerei im Leinengewerbe; er währte in den meisten Staaten bis 
1860, ja bis 1880 und die Maschinenweberei ist in diesem Produktions- 
zweige noch jünger‘). Bis zum 18. Jahrhundert waren die deutsche 
und die österreichische Leinenindustrie die ersten in Europa und sie 
versorgten fast alle Märkte. Zwar verschlechterte sich schon nach 
dem 30-jährigen Kriege ihre Lage erheblich, da der Krieg jede 
industrielle Tätigkeit Deutschlands für lange Zeit lahm legte: es 
mußte im 18. Jahrhundert ein Kampf mit der schottischen Leinen- 
industrie insbesondere auf den südlichen Märkten aufgenommen 
werden, der nicht immer zu Gunsten der deutschen Fabrikate aus- 
fiel. Besonders ungünstig gestaltete sich jedoch ihre Lage, als die 
Girardsche Spinnmaschine in den englischen Fabriken eingeführt 
wurde. Schon während der Kontinentalsperre gingen die billigen Er- 
zeugnisse der englischen Industrie unbehindert nach den überseeischen 
Märkten. Noch schlimmer aber wurde es später, als die aufge- 
speicherten englischen Leinenwaren auch auf die europäischen Märkte 
geworfen wurden und die deutsche Industrie alle ihre früheren Ab- 
satzorte mit englischen Waren überfüllt sah. Spanien, Portugal, 
Italien, Brasilien gingen Preußen verloren, ja Preußen selbst wurde 
mit billigen englischen Waren überflutet’). Die anderen Staaten 
wehrten sich nun gegen die englische Konkurrenz, indem sie Maschinen- 
betrieb einführten, aus England Mechaniker kommen ließen und die 
Transportierung von Maschinen, trotz englischer Ausfuhrverbote, zu 


1) Thun, I, S. 25—26, 73 

2) Ibid., I, S. 75. 

3) Schmoller, GrundriB, S. 214—215. 

4) Ibid. 

5) Zimmermann, Blüte und Verfall des Leinengewerbes in Schlesien. 2. Aufl. 
Oldenburg und Leipzig, ohne Jahr, S. 287 ff. 


Zur Entwickelungsgeschichte des Kapitalzinses. 169 


bewirken suchten. So war es z. B. in Frankreich der Fall, wo seit 
1834 die mechanische Leinenspinnerei bedeutende Fortschritte machte 
und auch die Weberei insbesondere in den 50er Jahren auf demselben 
Wege nachfolgte!). In Belgien wurde die mechanische Flachsspinnerei 
ebenfalls seit 1855 eingeführt und um 1846 gab es dort 13 Fabriken 
mit 92—95 000 Spindeln ?). Bloß in den deutschen Ländern, in Oester- 
reich und der Schweiz blieben Handspinnerei wie Weberei am Hand- 
stuhl teilweise sogar ohne Schnellschützen als herrschende Produk- 
tionsweise bestehen ?). Um 1830 gab es in Schlesien nur eine einzige 
mechanische Flachsspinnerei mit 4000 Feinspindeln, in den folgenden 
Jahren entstanden noch 4 Fabriken. Doch war die Zunahme in den 
nächsten Jahrzehnten eine überaus geringe, indem 1852 bloß 10 Flachs- 
spinnereien mit 40 000 Spindein in ganz Schlesien existierten: In der 
Hauptsache wurde noch zu jener Zeit mit der Hand gesponnen ^). 
Und während England 1861 140 Fabriken mit ca. 12000 Webstühlen 
für Leinen besaß, gab es in Preußen 1861 258 Kraftstühle und 1875 
erst 5265. Der Zollverein im ganzen zählte in jenen Jahren 350 
bezw. 6678 Kraftstühle für Leinen 5), Die Schweiz hatte 1861 eben- 
falls bloß 3 mechanische Leinenspinnereien, wie auch Oesterreich 
noch zu Anfang der 60er Jahre nur wenige Leinenfabriken auf- 
weisen konnte ®). 

Ersieht man aus den angeführten Tatsachen, daß in der Tat die 
Fabrikanten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ja noch 
darüber hinaus sich in einer monopolistischen Stellung befanden und 
diese Stellung nicht Jahre, sondern Jahrzehnte hindurch ausbeuten 
konnten, so bestütigt sich diese Folgerung noch mehr, wenn wir 
von den Arbeits- zu den Kraftmaschinen übergehen, und die Aus- 
breitung der Dampfmaschine in der Industrie verfolgen. 

In England, dem Vaterlande der Dampfmaschine, wurde die- 
selbe schon in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts benutzt 
und um 1810 wurde die Zahl der im britischen Reiche arbeitenden 
Dampfmaschinen auf 5000 geschützt. Dagegen gab es im preußischen 
Staate, wo die erste Dampfmaschine 1788, die zweite erst 1822 
aufgestellt worden war, auch 1837 bloß 300 Maschinen mit 4000 
Pferdekräften, 1849 1100 Maschinen mit 16000 Pferdekräften, die 
in Fabriken arbeiteten; in Oesterreich 1851 647 und 1863 ca. 
3000 Maschinen in Fabriken mit 8'/; bezw. 45000 Pferdekräften ?), 
m Ungarn im Jahre 1852 nur erst 80 stehende Dampfmaschinen, 
Worunter sowohl Maschinen in Fabriken als in Bergwerken und auf 
Dampfschiffen, wie auch Lokomotiven fallen5). Belgien zählte um 


1) Levasseur, II, p. 127. 

2) Zimmermann, S. 329—330. 

3) Ibid, S. 325. 

4) Ibid., S. 420. 

5) Ibid., S. 435. 

6) Beer, IV, Kap. II, 8 7. 

7) Karmarsch, S. 209, 211, 213. 

5) Sehmidt-Weifenfels, Geschichte des modernen Reichtums. Berlin 1893, S. 77. 


170 Josef Kulischer, 


1840 etwas über 1000 Dampfmaschinen für gewerbliche und landwirt- 
schaftliche Zwecke mit 25 000 Pferdekräften, Frankreich 2 !/, Tausend 
Maschinen mit 33000 Pferdekräften!). Uebereinstimmend damit 
sagt Schmoller, daß die Verbreitung der Dampfmaschine bis zum 
Jahre 1850 noch mäßig war?). Wie langsam dieselbe von statten 
ging, ersieht man aber eigentlich erst bei Betrachtung der Arten 
von Kraftzuführung in den wichtigeren Industriezentren des Kon- 
tinents. In der voigtländischen Textilindustrie waren 1846 bloß 
4 Etablissements mit 6 Dampfkesseln ausgerüstet’). In der 
Baumwollspinnerei im Königreich Sachsen wurden 1831 6 Proz. 
der in Fabriken befindlichen Spindeln durch Dampf getrieben 
und zwar nur zeitweise in Ermangelung genügender Wasserkraft. 
25 Jahre später um 1855 beträgt die Spindelzahl, zu deren Umtrieb 
Dampfkraft herangezogen wurde, ebenfalls nicht über 6 Proz. der 
gesamten Spindelzahl (Mule); es kommen noch 17 Proz. hinzu, in 
denen Dampf nur zeitweilig benutzt wird; die übrigen 77 Proz. 
werden noch immer durch Wasser getrieben*). In der oberelsässi- 
schen Baumwollspinerei gab es um 1851 bloß 65 Maschinen mit 
1800 Pferdekräften, während zu gleicher Zeit 3000 Wasserkriülte 
benutzt wurden; in der Weberei lieferte der Dampf 874 Pferde- 
kräfte, das Wasser 1367?) In der Sommerfelder Wollspinnerei in 
der Niederlausitz wurde um 1852 Dampf nur in 6 Fabriken als 
Betriebskraft benutzt, dagegen wurden 10 mit Wasser betrieben, 
5 besaßen sowohl Wasser- als Dampfmotoren. „Wohl hatte Cocke- 
ril — sagt Quandt — schon 1816 das Beispiel zur Anwendung 
der Dampfkraft gegeben, allein die in seiner Spinnerei aus Mangel 
eines besseren aufgestellte alte Schiffsmaschine fand lange gar 
keine geschweige denn bessere Nachfolger, ja auch in den 30er 
und 40er Jahren noch benutzte man für den Betrieb der Spinne- 
reien, Walken, Appreturen und geschlossenen Fabriken meist tie- 
rische Kraft oder die Wasserkraft der nächsten Umgebung“ °). Auch 
in der St. Gallener Baumwollspinnerei erscheint die Dampfmaschine 
zuerst um die Mitte der 40er Jahre und zwar bloß als Aushilfe 
bei Zeiten der Trockenheit oder strenger Kälte in 2 Spinnereien; 
um 1866 wurden im Kanton 11 Spinnereien mit zusammen 130000 
Spindeln vom Wasser getrieben, 6 mit 78000 Spindeln von Wasser 
und Dampf, und zwar besaßen jene 6 Spinnereien nur 6 Dampf- 
maschinen mit 150 Pferdekräften. In den übrigen Zweigen der 
St. Gallener Textilindustrie scheinen Dampfmaschinen noch in den 
60er Jahren gefehlt zu haben, wie ja auch an anderen Orten 
die Dampfmaschine zuerst in der bereits fabrikmäßig betriebenen 
Baumwollspinnerei eingeführt worden war. 


1) Engel, Das Zeitalter des Dampfes in technisch-statistischer Beleuchtung. 2. Aufl. 
Berlin 1881, S. 130. 

2) Schmoller, Grundriß, I, S. 212. 

3) Bein, II. S. 265. 

4) König, S. 334. Ellison, S. 168. 

5) Herkner, S. 87. 

6) Quandt, S. 42, 182. 


Zur Entwickelungsgeschichte des Kapitalzinses. 171 


Es wird gewöhnlich behauptet, der Monopolgewinn, der vor 
der allgemeinen Einführung der Erfindung den ersten Unternehmern 
zufällt, könne nicht die Quelle des Kapitalzinses bilden, weil er nur 
kurze Zeit verhanden sei; die Erfindung wird bald von allen zur An- 
wendung gebracht, worauf jener Gewinn verschwinden muß. Die 
beigebrachten Angaben besagen nun etwas ganz von dem Verschiedenes. 
Aus ihnen ergibt sich, daß im Gegenteil während eines halben Jahr- 
hunderts ein solcher Monopolgewinn existiert hat, daß ein Monopol 
zuerst für wenige Fabrikanten bestand, später weitere Kreise 
umfaßte, daher auch an Intensität verlor, jedoch im besten Falle 
erst nach 50 Jahren aufgehört hat. Erst dann mußte sich der 
Unternehmer wieder nach einer Gewinnquelle umsehen, und eine 
solche war für ihn schon vorbereitet in Form neuer Erfindungen, 
so daß der Prozeß von neuem beginnen konnte. Die klassische 
Schule, die jenen Lehrsatz von der Ausgleichung der Gewinne auf- 
gestellt und die sich überhaupt die Abwicklung der wirtschaftlichen 
Vorgänge zu schnell und zu einfach vorgestellt hat, ist auch hier 
zu weit gegangen, wenn sie, die großen Hindernisse einer raschen 
Ausbreitung neuer Erfindungen übersehend, einen zu jeder Zeit vor- 
handenen Zustand, einen in regelmäßiger Folge sich stets abspielen- 
den Vorgang als einen solchen betrachtete, der zufällig einmal in 
vielen Jahrzehnten auftritt; wenn sie die Sache so auffaßte, als ob 
nach Aufkommen einer neuen Erfindung für kurze Zeit ein Monopol- 
gewinn entsteht (welcher noch obendrein dem Kapital oder der 
physischen Arbeit zugeschrieben wird, niemals aber der schöpferischen 
Arbeit des Erfinders) der jedoch bald verschwindet, und dann eine 
lange Periode der Ruhe eintritt, der für alle Unternehmungen des- 
selben Produktionszweiges gleichen, nicht mehr aus Erfindungen 
herrührenden Gewinnrate; während doch in Wirklichkeit, sobald der 
Monopolgewinn, den die eine Erfindung liefert, nicht mehr vorhanden, 
schon eine andere Erfindung da ist, so daß eine Unterbrechung nicht 
eintreten kann. Im übrigen enthält aber jener Satz wichtige Wahrheiten. 
Er besagt nämlich vor allem, daß gewöhnlich, wenn eine neue größere 
Erfindung aufkommt, der aus der vorhergehenden stammende Ge- 
winn ganz oder zum größeren Teile schon verloren gegangen sein 
muß, so daß eine Aufhäufung des Gewinnes aus verschiedenen nach- 
einander folgenden Erfindungen unmöglich ist. Und zwar vollzieht 
sich weiterhin der Uebergang des vom Erfinder geschaffenen Pro- 
dukts an den Konsumenten immer schneller, indem das Mehr- 
produkt, das in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts 50 Jahre 
beim Produzenten verblieben, in den späteren Jahrzehnten, wo neue 
bedeutende Erfindungen aufkommen, vielleicht nur 30 Jahre bis 
zum Uebergang an das konsumierende Publikum nötig hat. End- 
lich ist es ganz richtig, daß bei freier Konkurrenz, wie wir sie in 
der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts finden, diese Quelle des Ge- 
Nunes nicht die einzige sein kann, da Hausindustrie und zentrali- 
Sierte Manufaktur, die neben der Fabrik bestehen bleiben und keine 
Maschinen anwenden, doch auch einen Gewinn abwerfen müssen. 


172 Josef Kulischer, 


V. 


Der Uebergang von der hausindustriellen Handarbeit zur me- 
chanischen Betriebsweise bedeutete zugleich einen Uebergang von 
der althergebrachten rutinenmäßigen Arbeitsweise, die sich von 
einer Generation zur anderen durch Jahrhunderte hin vererbt hatte, 
zu einer ganz neuen unbekannten Tätigkeit, bei welcher man sich 
an den eisernen Arbeiter, die Maschine, anzupassen hatte. Es ist 
daher begreiflich, daß der Arbeiter, der an die frühere von den 
Ahnen überkommene Betriebsart gewohnt war, sich nur schwer 
und nur nach langer Zeit in die neue Arbeitsweise einleben konnte, 
daß er anfangs, in den ersten Dezennien der Fabrikindustrie viel 
weniger als früher leisten konnte und Leistungen von viel schlechterer 
Qualität lieferte. Die ersten Fabrikarbeiter — sagt Thun — waren 
rohe, unbeholfene Menschen, die erst nach und nach eingeübt werden 
mußten!). Der Fabrikarbeiter ruinierte viel Rohmaterial, er ver- 
stand nicht mit der Maschine umzugehen. Er arbeitete lässig und 
unaufmerksam und tat nur dasjenige, was gerade nötig war, um 
den Lohn zu erhalten ?2). Es war daher eine kostspielige Kontrolle 
notwendig, um die Zeitvergeudung nicht allzuweit gehen zu lassen. 
Und Spinnmaschinen, die über 20 Spindeln enthielten, wollten die 
Arbeiter anfangs überhaupt nicht bedienen: solche Maschinen wurden 
einfach zerstört). 

Unter diesen Umständen wäre es nicht zu verwundern, wenn 
die Arbeitszeit mit Einführung der Maschinen verlängert worden 
wäre. Und der Fabrikant hätte wohl gern den Arbeiter noch länger 
arbeiten lassen, als dies vor Aufkommen der Fabrikindustrie der 
Fall war — wenn eben eine noch weitere Ausdehnung der Arbeits- 
zeit überhaupt möglich wäre, dieselbe nicht schon vorher die physisch- 
mögliche Grenze vollständig erreicht, ja fast überschritten hätte. Das 
beweisen die Tatsachen, die aus den vorhergehenden Jahrhunderten 
bekannt sind. 

„Die Arbeitszeit der deutschen Gesellen im Mittelalter — sagt 
Schoenlank — war eine lange. Von Sonnenaufgang bis Sonnenunter- 
gang, in vielen Gewerben auch noch bei Licht wird geschafft. 14, 
15, 16 Stunden sind etwas Gewöhnliches; bei den Elitearbeiten des 
Baugewerbes finden wir freilich auch einen Arbeitstag von durch- 
schnittlich 10—11 Stunden“ +). In Goch (am Rhein) dauert z. B. 
die Arbeitszeit von 5 Uhr morgens bis 7 Uhr abends. In Aachen 
ertónt die Glocke, auf welche die Arbeit eingestellt wird, um 9 Uhr 
abends, um 11 Uhr vormittags ist Mittagspause. Wenn die Arbeit 
auch hier um 5 Uhr begann, wie in Goch, so stellen sich 16 Stunden 


1) Thun, I, S. t0. 

2) Ibid. I, S. 38. 

3) Schulze-Gaevernitz, S. 56. 

4) Schoenlank, Die Gesellenverbünde in Deutschland. Handwörterb. d. Staatsw. 
2. Aufl, Bd. 4, S. 187. 


Zur Entwickelungsgeschichte des Kapitalzinses. 173 


Arbeitszeit heraus; in Goch sind es 14!). In der Zunftrolle der 
Lübecker Kistenmacher (Anfang des 16. Jahrhunderts) ist der Arbeits- 
tag auf 15 Stunden angesetzt, in der Rolle der Bernsteindreher auf 
15 Stunden im Sommer und 14 im Winter?). Bei den Maurern in 
Stettin beträgt die Arbeitszeit im 15. Jahrhundert 14 Stunden im 
Sommer bis Michaelis und 12—13 Stunden von Michaelis bis Ostern °). 

In Frankreich wie in England beginnt die Arbeit im Mittelalter 
ebenfalls mit Sonnenaufgang und dauert bis zur Nacht: depuis le 
heure que on i porra ouvrer par jour sans candeille, jusques à tant 
que on porra ouvrer dudict jour sans candelle, wie es in fran- 
zösischen Zunftrollen aus dem 14. Jahrhundert heißt‘). Es waren 
dies im 13.—15. Jahrhundert gewöhnlich 16 Stunden, selten 14 Stun- 
den. Die Arbeit dauerte so lange, daß die außerhalb des Meister- 
hauses wohnenden Gesellen Gefahr liefen, bei der Rückkehr nach 
Hause auf der Straße erschlagen zu werden. Im Winter war frei- 
lieh der Arbeitstag kürzer, da oft das Arbeiten bei Licht verboten 
war. Doch war in anderen Fällen die Arbeit hei Licht ausdrücklich 
gestattet, wie bei den Messerschmieden in Langres im 15. Jahrhundert, 
wo die Arbeit um 4 Uhr morgens zu beginnen hatte und nach 
8 Uhr.abends endigen sollte, wobei von März bis September die 
Arbeit bei Licht erlaubt war. In Paris arbeiteten die Gesellen 
auch über die vorgeschriebene Zeit hinaus, nur wurde ihnen in 
derartigen Fällen eine besondere Belohnung gegeben?) In Eng- 
land scheinen selbst die Bauarbeiter, die bestgestellte Klasse von 
Arbeitern, 16 Stunden gearbeitet zu haben. Rogers giebt den Ar- 
beitstag derselben zwar auf 8 Stunden an, fügt jedoch sofort hinzu, 
daß daneben Ueberstunden „und zwar manchmal nicht weniger als 
4} in der Woche, von den königlichen Agenten gezahlt wurden“ ©). 
Der Arbeitstag hat also offenbar 16 Stunden gedauert, nur war die 
Löhnungsart für die ersten acht wie für die letzten eine verschiedene. 
Noch länger arbeitete man in den berühmten Glashütten von Murano 
bei Venedig im 15. und 16. Jahrhundert. Es herrschte hier sogar 
ein 18-stündiger Arbeitstag *). 

Es war also eher eine Einschrünkung als eine Ausdehnung 
der Arbeitszeit, wenn das Lehrlingsgesetz der Elisabeth vom Jahre 
1562 dieselbe auf 14—15 Stunden festsetzte. Doch scheint dies 
ein Minimum, nicht ein Maximum gewesen zu sein, wurde ja 
auch dieses Gesetz auf Verlangen und zu Gunsten der Meister 


1) Thun, I, S. 10. 

2) Wehrmann, Die älteren Lübeckischen Zunftrollen. Lübeck 1864, S. 147—148. 

3) Blümeke, Die Handwerkszünfte im mittelalterlichen Stettin. Stettin 1884, S. 145. 

4) Neuburg, Zunftgerichtsbarkeit und Zunftverfassung. Jena 1880, S. 143. Ueber 
England Brentano: Die Arbeitergilden der Gegenwart. Leipzig 1872, Bd. 1, S. 52. 

5) Fagniez, L'industrie et la classe industrielle à Paris au XIV. siécle, p. 82—83. 
levasseur, Histoire des classes ouvrières et de l'industrie en France avant 1789. Paris 
1900—1901. 2 éd. T. I, p. 311, 320, 690. T. II, p. 965. 

6) Rogers, Six centuries of work and wages. Deutsch von Pannwitz. Stuttgart 
1396, S. 414. 

7) Molmenti, Venedig und die Venetianer. Frankfurt a. M., ohne Jahr, S. 270. 


174 Josef Kulischer, 


erlassen. Und über die Pausen des Arbeitstages wird gesagt, 
daß dieselben zwar erlaubt sind, jedoch 2!/, Stunden im ganzen 
nicht überschreiten dürfen; ein Maximum der freien Zeit wird 
also vorgeschrieben, ein Mindestmaß fehlt dagegen!) In zwei 
spüteren englischen Gesetzen, die für die Londoner Schneider im 
Jahre 1721 und 1767 erlassen sind, wird die Arbeitszeit auf 14 bezw. 
13 Stunden inkl. einer Stunde Essenspause angesetzt, wofür 1 sh. 
8 d. bezw. 2 sh. 1!|, d. täglich gezahlt werden soll. Einen höheren 
Lohn kann der Geselle nur dann erhalten, wenn er sich bereit er- 
klärt, länger zu arbeiten: dann kann er für die Extrastunden einen 
Zuschußlohn beanspruchen. Wir haben also auch hier Maximallohn 
und Minimalarbeitstag vor uns?). Aehnliches lesen wir in der Rolle 
der Tuchscherer in Münster zu Anfang des 17. Jahrhunderts (1607). 
Die Arbeitszeit ist auf 14 Stunden bestimmt, doch bezieht sich dies 
nur auf jene Zeit, für welche Zeitlohn angesetzt ist und für die 
Stücklohn nicht gezahlt werden darf; denn es heißt weiter, daß „vor 
und nach der klocken des morgens vor 5 und des abends nach 
7 uhren, wo ein meister eilends zu tun hätte, solle er bei macht 
sein, seinen gesellen arbeit um.gebührliche belohnung zu geben“). 
In Lüneburg arbeiten selbst Maurer und Zimmerleute 14 Stunden 
im Sommer und 12 im Winter (1570), die Rotgießer (1573) 16 Stun- 
den (am Donnerstag und Sonnabend 14 Stunden){), in Stettin die 
Tischler (1572) 15 Stunden im Sommer und 13 im Winter‘); die 
Berliner Seidenweber arbeiten (im 18. Jahrhundert) 14 und mehr 
Stunden®). In Holland beträgt die Arbeitszeit der Leineweber (in 
Amsterdam) 15—16 Stunden (1589), der Schiffsbauer (in Haarlem) 
14 Stunden (17. Jahrhundert), die der Bauarbeiter dagegen viel 
weniger, nümlich 10—12 Stunden (in Amsterdam), ja sogar 9 bis 
11 Stunden bei den Maurern in Haarlem (18. Jahrhundert) ?). 

In Frankreich finden wir im 16.—18. Jahrhundert dieselbe 
Arbeitszeit von 14, 15 und 16 Stunden, die im Mittelalter üblich 
war®). Nur selten ist der Arbeitstag kürzer, wie in Bourges im 
16. Jahrhundert, wo er 12 Stunden betrügt, dagegen geht er zuweilen 
auch über 16 Stunden hinaus. So arbeiten die Seidenweber in Lyon 
im 18. Jahrhundert 18 Stunden und noch mehr, wobei die Pausen 


1) Lohmann, Die staatliche Regelung der englischen Wollindustrie vom 15. bis 
zum 18. Jahrhundert. Leipzig 1900, S. 27. 

2) Held, S. 434—435. Ad. Smith, Wealth of Nations, Bd. 1, Chap. X, 2 (am 
Ende des Kap.). 

3) Krumbholz, Die Gewerbe der Stadt Münster bis zum Jahre 1661. Publi- 
kationen aus den k. preußischen Staatsarchiven, Bd. 70. Leipzig 1898, Einl. S. 86, 
Urk. Nr. 57 e, S. 457. 

4) Bodemann, Die älteren Zunfturkunden der Stadt Lüneburg. Quellen und Dar- 
stellungen zur Geschichte Niedersachsens. Hannover 1883, S. XLV, NN. XIX, XXIII, 
XXXII, 2, S. 167—168, 187—188, 259. 

5) Blümcke, S. 145. 

6) Sehmoller, Umrisse und Untersuchungen, S. 551. 

7) Pringsheim, Beiträge zur wirtschaftlichen Entwickelungsgeschichte der ver- 
einigten Niederlande im 17, und 18. Jahrhundert. Leipzig 1890, S. 49—50. 

8) Levasseur, T. II, 2e édit., p. 117, 385, 488, 795—796. 


Zur Entwickelungsgeschichte des Kapitalzinses. 175 


für Mahlzeiten kaum '/, Stunde ausmachen. Die Lyoner Buch- 
drucker sollen nach der Bestimmung vom Jahre 1572 ebenfalls 
18—19 Stunden arbeiten, nämlich von 2 Uhr morgens bis 8—9 Uhr 
abends ?). 

Wenn wir nun mit dem unmenschlich langen Arbeitstag, der 
beim zünftigen Handwerk des Mittelalters und in der Hausindustrie 
wie Manufaktur des 16.— 18. Jahrhunderts existierte, diejenige Arbeits- 
zeit vergleichen, welche die neu aufgekommene Fabrik mit Maschinen- 
betrieb aufweist, so werden wir notwendig zu dem Schlusse kommen 
müssen, daß die so oft behauptete, angeblich mit der Einführung 
von Maschinen notwendig zusammenhängende Verlängerung des 
Arbeitstages tatsächlich nicht vorliegt. 

In der englischen Hausindustrie zu Anfang des 19. Jahrhunderts 
dauert freilich die Arbeitszeit 16, ja teilweise 18 Stunden ?), was zum Teil 
eine Verlängerung bedeutet; dagegen beträgt der längste Arbeitstag, den 
wir im maschinenmäßigen Fabrikbetrieb finden, nicht über 80 Stunden 
wöchentlich, die Ruhepausen eingerechnet, d. i. 14 Stunden täglich, also 
nicht mehr als nach dem Gesetz der Elisabeth. Und zwar existiert ein 
solcher Arbeitstag nur in Baumwollwebereien um 1814, d. i. in einer 
Let, wo die Kraftstühle noch überaus wenig Verbreitung gefunden 
haben, während schon um 1830, wo die Handarbeit auch in der 
Weberei bedeutend verdrüngt war und man grófitenteils auf Maschinen 
arbeitete, der Weber nur 72 Stunden wöchentlich beschäftigt war. 
In den Spinnereien dauerte die Arbeit auch um 1804, zu Beginn 
der mechanischen Produktionsweise, 74—80 Stunden wöchentlich, 
und überstieg bereits um 1814 keine 74 Stunden. In den 20er 
Jahren und um 1830 wird in den Spinnereien wöchentlich 69—70 
Stunden gearbeitet, d. i. 12 Stunden pro Tag‘). Gegenüber dem 
heutigen Acht- und Neunstundentag in England sind natürlich 
12 Stunden sehr viel, im Verhältnis mit den vorhergehenden Jahr- 
hunderten ist jedoch darin ein erheblicher Fortschritt, den schon die 
Xer Jahre aufweisen, nicht zu verkennen. 

Nach der Revolution ist der Arbeitstag französischer Bauarbeiter 
auf 12 Stunden inkl. 2 Stunden Ruhepause, also 10 Stunden effek- 
tiver Arbeit herabgesetzt, während früher der effektive Arbeitstag der- 
selben 12 Stunden, betrug. Was die Textilindustrie betrifft, so arbeitete 
auch hier der Handweber als Heimarbeiter 14—17 Stunden, der 
Fabrikarbeiter in den nördlichen Distrikten ungefähr ebenso lange 
als früher, 13—15 Stunden; dagegen betrug der Arbeitstag in den 
Fabriken des südlichen Frankreichs nicht über 12—13 Stunden 9). 

In der Aachener Industrie hat der hausindustrielle Betrieb — 
mach Thun — eine kürzere Arbeitszeit gehabt als später der fabrik- 
mäßige (12 Stunden statt 14); in Elberfeld und Barmen wurde 


— 
1) Godart, L'ouvrier en soie, p. 136. 
2) Hauser, Les ouvriers du temps passé. Paris 1899, p. 80. 
3) Held, S. 455. 
4) Schulze- Gaevernitz, Grofbetrieb, S. 58, 118, 148. 
5) Levasseur, I, p. 359, I, p. 178—179. 


176 Josef Kulischer, 


dagegen — wie ebenfalls Thun anführt — die Arbeitszeit von 
15 Stunden bloß aus dem Handbetriebe in die Fabriken herüber- 
genommen). Und im sächsichen Voigtlande betrug die Arbeitszeit 
der Maschinenspinner auch 1827 nicht über 12 Stunden ?). In der 
St. Gallener Baumwollspinnerei wird die ursprünglich 15- und 14- 
stündige Arbeitszeit um 1830 auf 13 Stunden herabgesetzt, später 
auf 12 Stunden; in der Weberei betrug sie seit Einführung der 
Maschine 13 Stunden, in der Stickerei 12, in der Färberei sogar nur 
11— 12 Stunden. Dagegen arbeiteten die Handweber oft bis 16 Stun- 
den des Tages’). Wäre jedoch die Maschinenarbeit auch viel länger, 
so bliebe doch noch ein bedeutender Unterschied von den 18 Stunden 
bestehen, welche — wie Gothein berichtet — die hausindustriellen 
Landweber in Oesterreich zu Ende des 18. Jahrhunderts 5) oder - 
nach Godart — die Seidenweber in Lyon sich am Webstuhl abplagen 
mußten. 

Der Arbeitstag ist zu Anfang des 19. Jahrhunderts nicht ver- 
längert worden, später im Gegenteil verkürzt. Auch die Geldlöhne, 


die in Fabriken gezahlt wurden — und nur sie drücken ja den An- 
teil des Arbeiters am Ertrag aus?) — sind im allgemeinen nicht ge- 


fallen sondern teilweise sogar gestiegen, denn ebenso wie der Arbeits- 
tag nicht weiter ausgedehnt werden konnte, so war auch ein weiterer 
Lohnfall angesichts der damaligen erheblichen Steigerung der Getreide- 
preise eine völlige Unmöglichkeit. 

In England stand der Lohn während der ganzen zweiten Hälfte 
des 18. Jahrhunderts auf 1!/,—2 sh. pro Tag, in der Spinnerei 
und Weberei betrug er durchschnittlich 9 sh. die Woche, und war 
vielleicht etwas geringer in der ersten Hälfte desselben Jahrhunderts. 
Zu Ende des 18. Jahrhunderts erfuhr er jedoch eine teilweise Erhöhung, 
welche sich zu Anfang des 19. Jahrhunderts in noch höherem Maße 
fortsetzte, so daß der Arbeitslohn gewerblicher Arbeiter um 75 Proz. 
stieg). Die Baumwollspinner erhielten 32 !/,—36 !/, sh. die Woche 
im Jahre 1804, während ihr Verdienst in der zweiten Hälfte des 
18. Jahrhunderts nicht über 1'/, (selten bis 2 sh.) täglich ausmachte. 
Im Jahre 1814 betrug ihr Lohn noch mehr als ein Jahrzehnt zuvor, 
nämlich 44 '/,— 60 sh., um 1823 sank er auf 33 ?/,—42 /, sh., stand 
jedoch auch so erheblich über dem Lohn von 1804 und in den 
nächsten Jahren desselben wie des folgenden Jahrzehnts hoben sich 
die Spinnerlöhne wiederum. So betrug der durchschnittliche Jahres- 
verdienst pro Arbeiter 26 £ 13 sh. um 1819—21, jedoch 25 Jahre 
später (1844— 1846) 28 £ 12 sh. und 32 £ 10 sh. in den Jahren 
1859—18617). Während des ganzen 18. Jahrhunderts dagegen konnte 


1) Thun, Bd. T, S. 177, Bd. II, S. 210. 

2) Bein, S. 278. 

3) Wartmann, S. 500, 502, 542, 569, 586. - 

4) Gothein, Wirtschaftsgeschichte des Schwarzwaldes, Bd. 1, Straßburg 1892 
S. 758. 

5) S. darüber weiter unten S. 179 ff. 

6) Rogers, S. 314 ff., 319—321, 389—390. 

7) Schulze-Gaevernitz, S. 58, 132. 


Zur Entwickelungsgeschichte des Kapitalzinses. 177 


es der gewerbliche Arbeiter — nach Rogers Berechnungen — im besten 
Falle, d. h. wenn er volle 52 Wochen arbeitete, nur auf 15 £ 13 sh. 
bringen‘). In der englischen Baumwollweberei beträgt das Jahres- 
einkommen des Arbeiters — nach Ellison — 20 £ 18 sh. um 
1819-1821, 19 £ 8 sh. in den Jahren 1829—1831, steigt dann 
1844—1846 auf 24 £ 10 sh. und 1859—1861 auf 30 £ 15 sh. Die 
Abnahme der Jahresverdienste zwischen 1820 und 1830 beruht auf 
dem Niedergang der Hausweberei in dieser Periode, welche in den 
Zahlen mitenthalten ist?) Die Handweberei hat in der Tat von 
der Einführung der Maschine viel gelitten, obwohl auch in den vorher- 
gehenden Jahrzehnten ihre Lage eine traurige war?). In der mecha- 
. nischen Wollspinnerei sind — nach Baines — die Löhne zwischen 
1195 und 1805 bedeutend gestiegen (von 16 sh. 9 d. auf 24 sh. 8 d.), 
von 1805 bis 1815 setzt sich die Steigerung weiter fort (auf 31 sh. 
8 d.), dann tritt bis 1825 eine Verminderung ein (20 sh. 1 d.) und 
um 1835 kehren die Löhne auf den Stand von 1805 zurück (25 sh.) 
(Wolldistrikt von Leeds)*). Eine Vergrößerung des dem Unter- 
nehmer zufallenden Quantums des Mehrprodukts auf Kosten des 
Arbeitslohnes ist also in der Fabrik nicht eingetreten, und der Vorwurf, 
der den Maschinen gemacht wird, als müßten sie eine Erhöhung des 
Gewinnes durch Kürzung des Lohnes hervorrufen, erweist sich damit 
als unbegründet. Zwar sind die Stücklöhne herabgesetzt worden, 
aber durch die erhebliche Steigerung des Produktionsquantums in- 
folge der Benutzung von Maschinen wird jene Verminderung pro Stück 
mehr als ersetzt und der Arbeiter kann mehr als früher verdienen. 
Was die zeitweilige Lohnherabsetzung der Fabrikarbeiterlöhne zwischen 
1815 und 1825 betrifft, so fand dieselbe nicht bloß in der Woll- 
spinnerei statt, wo die Maschinen in dieser Zeit eingeführt wurden, 
sondern auch in der Baumwollspinnerei und Wollweberei, wo die 
Einführung der mechanischen Produktionsweise in eine viel frühere 
bezw. spätere Periode fällt, da in der Baumwollspinnerei der fabrik- 
mäßige Betrieb bereits zu Ende des 18. Jahrhunderts der herrschende 
war, in der Wollweberei dagegen bis 1825, von verschwindenden 
Ausnahmen abgesehen, gar keine Maschinen vorhanden waren b). 
Jenes Herabgehen der Löhne in Fabriken im Jahrzehnt 1815—1825 
war also nicht durch die Anwendung von Maschinen verursacht. Es 
steht vielmehr mit einem gleichzeitigen Sinken der Getreidepreise 
in Zusammenhang. Daß die Maschinen daran nicht schuld sind, 
folgt auch daraus, daß „auch die Handwerkerlöhne in Klein- 
betrieben, ebenso wie die Feldarbeiterlöhne, zwischen 1770 und 1815 
m England bedeutend stiegen und darauf eine Falltendenz zu zeigen 


1) Rogers, S. 314, 316. 
2) Schulze-Gaevernitz, S. 149. 
3) Ibid., S. 41. 
4) Edward Baines in Thomas Baines, Yorkshire. Past and Present. London 1871, 
T.I, p. 651. Steffen, II, p. 24—25. 
5) S. auch oben S. 160, 164, 166. 
Dritte Folge Bd. XXV (LXXX). 12 


178 Josef Kulischer. 


begannen“). In der Hausindustrie dagegen, soweit sie mit der 
Fabrik zu konkurrieren hatte fand eine bedeutende Lohnherabsetzung 
statt, die nicht bloß zeitweilig war, sondern bereits seit Ende des 
18. Jahrhunderts begann und sich auch nach 1825 fortsetzte. Hier 
war sie in der Tat durch die Einführung der Maschinen und die 
Konkurrenz der Fabriken hervorgerufen. 

In Sachsen fand in den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts, wo 
die voigtländische Baumwollmanufaktur durch die englische Kon- 
kurrenz hart bedrängt wurde, eine Lohnherabsetzung statt, während 
der Kontinentalsperre jedoch, als die Lage der Industrie sich wieder 
besserte, erreichten die Löhne das frühere Niveau und standen seit- 
dem zwar mit bedeutenden Schwankungen auf ziemlich gleicher Höhe 
bis in die 30er Jahre hinein, wo mit dem allgemeinen wirtschaft- 
lichen Aufschwung und mit der Einführung der Maschinen auch der 
Arbeitslohn eine bedeutende Steigerung erfuhr. Der Handweber in 
der Baumwollweberei, der 1790—1793 1?/,—1°/, Reichstaler er- 
hielt, hatte im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts im Durch- 
schnitt 1!/, Rtlr.; in den Jahren 1816/1817 1!/,,, im Jahre 1819 
1!/, Rtlr. Wochenverdienst, in den 30er Jahren brachte er es je- 
doch in der Woche auf 2 Rtlr. und darüber. Dagegen betrug der 
Wochenlohn des Maschinenspinners schon in den ersten Jahren des 
19. Jahrhunderts 1'/,—2 Rtlr, im Jahre 1819 2—3 Rtlr., um 1827 
fällt er zwar auf 1';, Rtlr., steigt aber dann ebenfalls beim Auf- 
schwunge der 30er Jahre ?). 

In der St. Gallener Textilindustrie wurden die hausindustriellen 
Spinner zu Ende des 18. Jahrhunderts mit 9—10 Kr. pro Tag be- 
zahlt. In der ersten mechanischen Spinnerei standen dagegen die 
Lóhne im Jahre 1803 auf 56 Kr. tüglich für Münner bei den Spindel- 
Vorspinnmaschinen und 24 und 26 Kr. für Spulerinnen bezw. Hasple- 
rinnen. In den folgenden Jahrzehnten scheinen die Lóhne teilweise 
herabgegangen zu sein (um 1816 beträgt der Spinnerlohn 40 Kr.) 
waren jedoch auch damals noch bedeutend hóher als im 18. Jahr- 
hundert. Später, um 1830, erreichen sie die frühere Höhe von 1803 
und steigen um 1832—1835, insbesondere seit 1835 in erheblichem 
Umfange, welche Bewegung erst 1841 anhält. Die Jahre 1856— 1857 
bringen wieder eine allgemeine Lohnerhóhung, welche schon in den 
Jahren 1859 —1860 von einer zweiten und nochmals in den Jahren 
1864—1865 von einer dritten gefolgt wird, so daß in der Periode 
von 1835—1865 eine Verdoppelung der Lóhne stattfindet ?). 

In Frankreich endlich ist wührend der Revolutionszeit sowohl 
bei den lündlichen Tagelóhnern als beim Gesinde und den gewerb- 
lichen Arbeitern in den Städten eine erhebliche Lohnsteigerung zu 
verzeichnen. Zur Zeit des Konsulats und des Kaiserreichs setzt sich 
dieselbe fort, ebenso wie in der folgenden Periode der Restauration, 


1) Steffen, Bd. IL, S. 10—15. 
2) Bein, S. 207—-209, 277—279. 
3) Wartmann, S. 154, 312, 502. 


Zur Entwickelungsgeschichte des Kapitalzinses. 179 


gerade wo die Maschinen am meisten zur Anwendung gelangten, die 
Handarbeit in den wichtigsten Produktionszweigen zu ersetzen hatten. 
Auch später, in den Jahren 1827— 1847, fand eine 10-proz. Lohn- 
steigerung statt. Die schlimmen Prophezeiungen der Gegner des 
Maschinenbetriebes sollten sich eben als unbegründet erweisen !). 


VI. 

Wenn trotzdem die Lage des Arbeiterstandes zu Anfang des 
19. Jahrhunderts nicht bloß eine traurige war, sondern sich (ins- 
besondere in England) sogar noch schlimmer gestaltete als ein halbes 
Jahrhundert zuvor, so liegt der Grund hauptsüchlich in den hohen 
Kornpreisen, die wir in jener Periode finden und die zu den hóchsten 
gehóren, welche in den letzten Jahrhunderten vorkamen. Der Real- 
lohn des Arbeiters hängt bekanntlich von zweierlei Faktoren ab: ein- 
mal vom Geldlohne, den der Unternehmer zahlt und andererseits von 
der Preishóhe der vom Arbeiter konsumierten Artikel, darunter haupt- 
sächlich — mit Ausnahme der letzten Jahrzehnte sogar fast ausschließ- 
lich — des Getreides. Der Arbeitgeber bestimmt nur den ersten Faktor, 
für hohe Getreidepreise kann er aber nicht verantwortlich gemacht 
werden. Wenn er für ein gleiches vom Arbeiter geschaffenes Pro- 
duktionsquantum keinen niedrigeren Geldlohn zahlte — was wir oben 
gezeigt haben —- so war offenbar das Mehrprodukt, das ihm der 
Arbeiter lieferte, nicht größer geworden als es früher gewesen. Nur 
in einem Falle würde ein gleicher Geldlohn einen geringeren Anteil 
am Produzierten bedeuten, wenn nämlich eine Wertverminderung der 
Umlaufsmittel stattgefunden hätte. Wenn sämtliche Waren eine 
Preissteigerung erfahren hätten, nur der Arbeitslohn unverändert 
bliebe, oder kein entsprechendes Steigen aufweisen würde, so wäre 
damit der Anteil des Arbeiters am Ertrage als verkürzt zu betrachten. 
Eine solche Aenderung in der Arbeiterlage, wo bei allgemeiner Preis- 
erhöhung nur der Arbeitslohn zurückgeblieben war, konnten wir zur 
Zeit der Preisrevolution im 16. und 17. Jahrhundert beobachten. Doch 
ist die vorliegende Periode von jener Zeit ganz verschieden. Zwar hat 
man auch in Bezug auf die Periode von 1790 bis 1815 behauptet, 
es sei eine Wertverminderung der edlen Metalle eingetreten, welche 
dann seit 1815 wiederum einer Werterhöhung Platz gemacht habe. 
Doch hat schon Helferich nachgewiesen, „daß von einer allgemeinen 
Depreziation des europäischen Zirkulationsmediums in den Jahren 
1797—1814 nicht die Rede sein kann“. „Daß das europäische Zirku- 
lationsmedium während dieser Epoche in stärkerem Maße anwuchs 
als unmittelbar vor derselben, ist richtig; doch betrug das Ver- 
mehrungsverhältnis, soweit es sich aus den gegebenen Datis mit 
Wahrscheinlichkeit bestimmen läßt, zu keiner Zeit mehr als 12 Proz., 
wenn man auch die durch das Papiergeld abgelösten Barsummen 
mit der von den Bergwerken gewonnenen Metallmenge zusammen- 

1) Levasseur, Histoire des classes ouvrières depuis 1789 jusqu'à nos jours. Paris 
1867, T. I, p. 222, 358—359, 477. T. II, p. 177 suiv. 

12* 


150 Josef Kulischer, 


nimmt. Dagegen muß der höhere Gebrauchswert in Anschlag kommen, 
den das Bargeld durch die Unsicherheit des Rechtsschutzes jener 
Zeit (1793—1815 Kriegszeit) und den langsameren Umlauf des Zirku- 
lationsmediums erhielt^ Was die einzelnen Warenarten betrifft, 
so kann zwar der Preisniedergang der Fabrikate weder für noch 
gegen die Annahme einer Wertverminderung des Geldes sprechen, 
da wegen der Fortschritte in der Produktionstechnik ein Preisfall 
sowohl bei unveründertem Geldwerte eintreten konnte als auch dann, 
wenn der Geldwert abnahm; nämlich in dem Falle, wenn die 
von den Aenderungen in der Produktionsweise hervorgerufene 
Tendenz zur Preisverminderung der Fabrikate stürker war als die 
entgegengesetzte aus der Verbilligung des Geldwertes herrührende 
Strömung, so daß die Preisherabsetzung nur aufgehalten, nicht ganz 
beseitigt werden konnte. Dagegen können die Handelswaren den 
Schluß bestätigen, der aus der Betrachtung des Zirkulationsmediums 
folgt. „Die Handelswaren“ — sagt Helferich — „erleiden allerdings 
eine bedeutende Preissteigerung, aber doch keine größere, als durch 
die hohen Frachtkosten (während des Krieges) erklärt werden kann. 
Und auch dieses Steigen ist keineswegs allgemein; namentlich stehen 
einige Produkte, wie Spezereien, Zimt und Pfeffer, Tabak, Fisch- 
bein u. a. m. während der ganzen Periode auf dem Londoner Markt 
viel niedriger im Preise als vorher und nachher, und selbst Zucker und 
Kaffee, zumal wenn man die zugestandene Depreziation des englischen 
Geldes in Anschlag bringt (Notenemission!), wohlfeiler als vorher 
und wenigstens nicht teurer als nachher“ 2). 


Nur die Getreidepreise sind erheblich gestiegen, aber aus der 
Preissteigerung einer Warenart darf man noch nicht den Schluß 
ziehen, daß eine Wertverminderung des Geldes stattgefunden hat, 
vielmehr muß es spezielle Ursachen geben, die zur Erhöhung der 
betreffenden Preise geführt haben, auch abgesehen davon, daß 
„dieses Steigen keineswegs allgemein war, indem in Frankreich und 
in jenen Gegenden, wo die Zeitereignisse weniger einwirkten, sich 
Preise finden, welche denen früherer Perioden durchaus ähnlich sind“ 
und daß „die Preise des Getreides auf den Märkten des Kontinents 
in der zweiten Hälfte der Periode, nämlich von 1807—1813, ent- 
schieden niedriger stehen als in der ersten Hälfte von 1797—1806, 
und dadurch der Annahme einer Depreziation des allgemeinen Um- 
laufsmediums widersprechen, da dieselbe, wenn sie überhaupt statt- 
gefunden hätte, gerade in den letzten Jahren am fühlbarsten hätte 
sein müssen“ 3). In der Tat sind es spezielle Ursachen, durch welche 
die Preissteigerung des Getreides hervorgerufen war, nämlich un- 


1) Helferich, Von den periodischen Schwankungen im Wert der edlen Metalle von 
der Entdeckung Amerikas bis zum Jahr 1830. Nürnberg 1843, S. 233.  Vergl. Tooke- 
Newmarch, History of Prices. (Uebers. von Asher. Bd. I, Abt. IV, Kap. I—VIII, 
XX—XXH, Bd. II, Anh. 2. 

2) Helferieh, S. 234. Tooke-Newmarch, T. I, Tab. XV—XXVI. 

3) Helferich, S. 234. 


Zur Entwickelungsgeschichte des Kapitalzinses. 181 


günstige, teilweise sogar sehr ungünstige Ernten, ferner Kriegs- 
ereignisse, welche der Transportierung des Getreides aus anderen 
Ländern große Hindernisse setzten (Kontinentalsperre!), endlich zoll- 
politische Maßnahmen, die in den einen Ländern die Kornausfuhr 
hemmten, in den anderen, getreidebedürftigen Ländern, die Korn- 
einfuhr erschwerten, angeblich im Interesse der eigenen Land- 
wirtschaft. Der gleiche Arbeitslohn mußte aber unter diesen Um- 
ständen durchaus an Kaufkraft verlieren; der Arbeiter konnte nicht 
mehr die gleichen Güter in gleicher Quantität konsumieren, obwohl 
er keinen geringeren Anteil als früher an der von ihm produzierten 
Ware erhielt. Die Schuld an der Notlage des Arbeiters kann viel- 
leicht auf den Staat oder auf die Klasse der Grundbesitzer fallen, 
nämlich soweit die Teuerung künstlich infolge des Agrarschutzes 
hervorgerufen war, jedenfalls aber nicht auf den Kapitalisten-Unter- 
nehmer, dem der Arbeiter mit seiner Tagesarbeit nicht mehr Pro- 
dukte als früher herstellte, der dem Arbeiter jedoch eher einen 
höheren als einen geringeren Lohn zahlte als es früher der Fall 
war, somit sich aus der physischen Arbeit keinen größeren Mehrwert 
als vorher aneignen konnte. 

„Als sich in den Jahren 1744 und 1745 die Löhne in England zu 
heben anfıngen* — sagt Rogers!) — „galt ein Quarter Weizen 21 
und 22 sh., nach 1780 stand der Preis selten unter 50 sh. und stieg 
gr gegen Ende des Jahrhunderts auf das Doppelte“; trotz der 
weiteren Steigerung der Geldlöhne konnte daher der Arbeiter ohne 
Zuschüsse des Kirchspiels nicht auskommen. Obgleich es sich er- 
wiesen hatte, daß die englische Landwirtschaft dem Bedarfe an Getreide 
nicht nachzukommen vermochte, daher Zuflucht zu den Kornkammern 
des Auslandes notwendig war, wurde dennoch im Jahre 1791 ein Korn- 
gesetz durchgeführt, um die Zufuhr von Korn zu hemmen, indem be- 
stimmt wurde, daß die Einfuhr desselben erst bei dem hohen Preise 
von 55 sh. pro Quarter zu gestatten sei; im Jahre 1804 wurde dieser 
Preis auf 61 sh. heraufgebracht und erreichte seine höchste Grenze 
im Jahre 1815, als die Einfuhr von Weizen bis zum Preise von 
80 sh. gänzlich verboten wurde. Es ist klar, daß bei einem solchen 
System von Begünstigung der Grundbesitzer die Arbeiterlage eine 
traurige sein mußte und in den Jahren, wo noch ungünstige Ernten 
hinzukamen, wie insbesondere 1800—1801, 1809 - 1813, 1816 — 1817 
geradezu Hungersnóte ausbrechen mußten. Armenunterstützung 
mußte wiederum in erheblichem Umfange zu Hilfe kommen, Millionen 
wurden zu diesem Zwecke aufgebracht, trotzdem der Lohn auf 
1 Proz. gestiegen war und in den schlimmsten Jahren die größte 
Höhe erreichte?). In den 20er Jahren waren die Getreidepreise 
bedeutend niedriger geworden: während der Durchschnittspreis des 
Quarters Weizen in England von 1800—1819 94 sh. 3 d. betrug 


1) Rogers, S. 320. 
2) Rogers, S. 320 ff., 389 ff. Helferich, S. 208, 220—221, 249 ff, Tooke-New- 
March, History of Prices. T. I, Abt. IV, Cap. IV—-VIII u. Tab. XI, p. 800. 


182 ‘ Josef Kulischer, 


war er 1820—1827 nur- 57 sh. gleich‘). Doch auch später, in 
den 20er wie in den 30er Jahren standen in England die Korn- 
preise viel hóher als auf dem Kontinent und fanden erhebliche Preis- 
schwankungen statt; erst die Abschaffung der Korngesetze konnte die 
Zustünde bessern und insbesondere die Kaufkraft des Arbeitslohnes 
wieder erhóhen?) Ebenso war auch in Sachsen der Geldlohn nicht 
gefallen, dagegen waren auch hier die Getreidepreise erheblich ge- 
stiegen: während sie in den 80er und 90er Jahren des 18. Jahr- 
hunderts nicht über 3-4 Reichstaler pro Scheffel Roggen und 
4—5 Reichstaler pro Scheffel Weizen betragen hatten, stiegen sie 
im Jahre 1805 auf 7—8 !/, Reichstaler pro Scheffel Roggen und auf 
12 Reichstaler pro Scheffel Weizen, im Jahre 1806 sogar auf 10!/, 
bis 11 !/, Reichstaler bezw. 13 Reichstaler, so daß eine wahre Hungers- 
not ausbrach, welche sich in den Jahren 1816 — 1817, wo Mifiwachs 
auf einem großen Teil der Erde verbreitet war, noch einmal wieder- 
holte, indem der Scheffel Weizen in Sachsen 13 Reichstaler kostete. 
In den folgenden Jahrzehnten sanken die Getreidepreise auch hier 
auf die frühere Hóhe, die sie vor der Kornteuerung eingenommen 
hatten ?). 

Natürlich braucht eine derartige Preissteigerung wichtiger Kon- 
sumtionsartikel nicht notwendig eine Verschlechterung der Arbeiter- 
lage nach sich zu ziehen, sondern sie kann von einer entsprechenden 
Erhöhung der Löhne begleitet sein, so daß der Reallohn keine 
Aenderung erfährt. Nur darf man nicht außer acht lassen, daß 
dann die Preissteigerung der Konsumtionsartikel auf den Unter- 
nehmer abgewälzt wird, daß das Mehrprodukt, den er vom Arbeiter 
erhält, entsprechend geringer werden muß. In England konnte dies 
freilich damals nicht geschehen, weil eine überaus schnelle Volks- 
vermehrung stattgefunden hatte. „Bis 1751 - sagt Toynbee — war 
die höchste Ziffer der Bevölkerungszunahme — soweit man dies aus 
dem vorhandenen nur wenig genügenden Material schließen darf — 
nicht über 3 Proz. pro Jahrzehnt. Dagegen betrug in jedem der folgen- 
den drei Jahrzehnte die Zunahme 6 Proz., im Jahrzehnt 1781—1791 
war sie 9 Proz., 1791—1801 = 11 Proz., 1801—1811 — 14 Proz., 
1811—1821 = 18 Proz. Dies ist die höchste Ziffer, die England 
jemals erreichte, da seit 1815 die Bevölkerungsvermehrung durch 
eine große Auswanderung gehemmt wurde.“ Dabei nimmt seit Ende 
des 18. Jahrhunderts die landwirtschaftliche Bevölkerung sowohl 
relativ wie absolut bedeutend ab, so daß jene Steigerung auf die 
gewerbliche Bevölkerung fällt, wie dies z. B. auch aus der Ver- 
größerung der Arbeiterzahl in der Baumwollindustrie von 40000 
um 1760 auf 380000 im Jahre 1840 ersichtlich ist; sie führt zur 
Entstehung zahlreicher Großstädte, in denen sich die Industrie 


1) Helferich, S. 257. 

2) Vergl. H. Levy, Die Not der englischen Landwirte zur Zeit der hohen Getreide- 
zölle. Stuttzart und Berlin 1902, passim. 

3) Bein, Tabelle TIL. 


Zur Entwickelungsgeschichte des Kapitalzinses. 183 


konzentriert). Für eine Lohnsteigerung entsprechend den ge- 
stiegenen Getreidepreisen war offenbar eine solche Bevölkerungs- 
vermehrung wenig günstig, zumal unter den damaligen Vertrags- 
verhültnissen, wo dem schwachen Arbeiter der müchtige Unternehmer 
gegenüberstand. 

Anders lagen die Verhältnisse in Frankreich. „Eine wichtige 
Ursache jenes Umstandes, daß die Löhne nicht bloß keine Verminde- 
rung erfuhren (während des Konsulats und des Kaiserreichs) — sagt 
Levasseur — sondern sogar sich steigerten, bildete die Aushebung 
des Heeres. Sie machte eine heftige Konkurrenz den Werkstätten. 
dieselben der anwachsenden Bevölkerung beraubend, die sie zu 
Soldaten machte und seit 1808 dem Gewerbe nicht mehr wiedergab. 
Zuerst wurde die Bevölkerung, die im Alter von 20—25 Jahren 
stand, genommen, dann auch die jüngere Generation bis 13 Jahre 
und noch darüber hinaus“ ?). Bei einer solchen Sachlage, wo der 
Krieg einen großen Teil der Bevölkerung in Anspruch nahm, konnte 
der Arbeitslohn eine Steigerung erfahren, und er ist in der Tat noch 
mehr gestiegen, als die Preise der Nahrungmittel. Im Verhältnis zur 
Arbeiterlage um die Mitte des 18. Jahrhunderts tritt zu Ende dieses 
Jahrhunderts und zu Anfang des 19. eine Besserung ein, weil die 
zwar bedeutende Preissteigerung der Lebensmittel von der gleich- 
zeitigen Lohnerhóhung übertroffen wird?) Im nächsten Jahrzehnt 
1518—1828 setzt sich die Steigerung des Brotpreises fort, doch wird 
sie wiederum von einer weiteren Erhöhung der Arbeitslóhne be- 
gleitet, wie auch von einer gleichzeitigen Preisverminderung der übrigen 
Nahrungsmittel, weswegen wichtige Bedürfnisse, die bis dahin un- 
befriedigt bleiben mußten, nun zur Befriedigung gelangen konnten; 
insbesondere war der Fleischgenuß viel reichlicher geworden. Während 
also in England die Arbeiterlage sich verschlimmert hatte ohne daß 
der Unternehmer dadurch etwas gewonnen hätte, war in Frankreich 
das Mehrprodukt, den der Arbeiter lieferte, schon im ersten Viertel 
des 19. Jahrhunderts geringer geworden. Im zweiten Viertel setzt 
sich die Bewegung fort, indem der Lohn in der Periode 1827—1847 
wiederum steigt und zwar um 10 Proz. Zugleich hórt auch die Er- 
höhung der Getreidepreise auf, so daß trotz der inzwischen gestiegenen 
Preise der übrigen Lebensmittel, wie Fleisch, Butter, Eier, der hóhere 
Geldohn auch ein größeres Einkommen bedeutete. Obwohl auch 
jetzt noch in vielen Fällen das Budget des Arbeiters nur mit einem 
Defizit geschlossen werden konnte, wie ein Jahrhundert zuvor, so 


- 1) Toynbee, Lectures on the Industrial Revolution in England. London 1894, 
lap. VIII. 

2) Levasseur, Bd. 1, p. 360. 

3) In den Jahren großen Mißwachses, wo derselbe überall eintrat, standen sich 
“uch hier die Arbeiter recht schlecht, aber es waren dies vorzüglich Handarbeiter, 
nicht Fabrikarbeiter, welche davon betroffen wurden. In den Jahren 1812—1813 
brach in Paris Hungersnot aus, wegen hoher Getreidepreise, die mit Arbeitslosig- 
keit verbunden waren. Von ca. 67 000 Arbeitern der Stadt waren 30 000 arbeitslos: 


zwei Drittel der Kunsttischler, drei Viertel der Juweliere und Goldschmiede. (Levasseur, I, 
I. 362.) 


184 Josef Kulischer, 


genügte doch — nach Levasseur — der durchschnittliche Arbeits- 
lohn zur Befriedigung der notwendigsten Lebensbedürfnisse des 
Fabrikarbeiters und ließ sogar noch einen gewissen Spielraum dar- 
über hinaus, wenn auch länger andauernde Krankheit den Arbeiter 
in großes Elend stürzen mußte !). 


VII. 

Die Anwendung der Maschine in der Industrie soll das aus der 
physischen (ausführenden) Arbeit stammende Mehrprodukt auch da- 
durch vergrößert haben, daß sie die Anstellung minderwertiger Arbeits- 
krüfte, die Benutzung von Frauen- und Kinderarbeit ermóglichte. 
„Der Fabrikant — sagt Rogers — konnte seinen Gewinn noch da- 
durch steigern, daß er Arbeiten, die bisher Erwachsene verrichtet, 
von Kindern tun liefi^?), Nicht bloß Marx und Engels, sondern auch 
er sieht die Frauen- und Kinderarbeit als eine vollstándig neue Er- 
scheinung an, die früher ganz unbekannt war und erst seit Ende 
des 18. Jahrhunderts mit dem Aufkommen der mechanischen Produk- 
tionsweise ans Licht trat. Und doch beweisen die Tatsachen etwas 
ganz anderes. 

„Die Winderei, Spulerei, Kettenschererei, das Noppen und Zu- 


sammenlegen, die Appretur und zum Teil auch die Weberei — sagt 
Thun — sind stets Kinder- und Frauenarbeit gewesen; das deutsche 


Weib wird am Rocken verherrlicht, später war es in der Spinnstube 
und an der Spindel beschäftigt, sein Kind wuchs am Spulrade auf“). 
Eine ausgiebigere Benutzung der weiblichen Arbeitskraft erfolgt je- 
doch erst mit der Entstehung des hausindustriellen Verlagssystems. 
Dadurch daß der kaufmännische Unternehmer Frauen in ihren Woh- 
nungen beschäftigte, wandte er eine starke Waffe gegen das zünftige 
Monopol an. Ueberall daher, wo wir eine entwickeltere für einen 
weiteren Kundenkreis produzierende Hausindustrie antreffen, bilden 
die Frauen zugleich einen bedeutenden Teil der im Gewerbe tätigen 
Arbeitermasse *). 

Zu gleicher Zeit, im 17. und 18. Jahrhundert, wird die Be- 
schüftigung der Kinder zu einem der erstrebenswertesten Ziele ge- 
macht. „Es sind durchweg die Besten jener Generation — sagt 
Gothein — die eifrigsten Philanthropen, die in diesem Fahrwasser 
steuern“ 5), die Kinderarbeit mit allen Mitteln zu fördern suchen. 
.Wie sehr man sich in jenen Zeiten freute — üuflert sich Herkner 


1) Levasseur, Histoire des classes ouvrières depuis 1789 jusqu'à nos jours. T. I, 
p. 358—359, 477—478. T. II, p. 177 suiv. 182, 430. 

2) Rogers, S. 391. 

3) Thun, I, S. 172. 

4) Vergl. z. B. Defoe, III, S. 144—146. Rogers, S. 320. Herkner, 8. 62—63, 
116. Stieda, Die deutsche Hausindustrie, Bd. 1, Leipzig 1889, S. 190 ff., 123 ff., 126 ff. 
Zimmermann, S. 117 ff. Schmoller, Umrisse und Untersuchungen ete., S. 551, 554—557. 
Derselbe, in seinem Jahrbuch (Wirtschaftspolitik Friedrich des Großen), Bd. 11, S. 808. 
Geering, S. 261 u. öfters. Gothein, Wirtschaftsgeschichte des Schwarzwaldes, Bd. 1, 
S. 522, 526, 549, 554—55, 753. 

5) Gothein, S. 712—713. 


Zur Entwickelungsgeschichte des Kapitalzinses. 185 


— Kinder möglichst frühe so nützlich beschäftigen zu können, er- 
hellt zur Genüge daraus, daß der Friedenskongreß von Rastatt (vom 
Jahre 1714) die Errichtung einer Spinnschule für die Armenkinder 
des Ortes als das edelste, würdigste Denkmal betrachtete, das er 
sich überhaupt stiften könnte“ !). In den deutschen Ländern wie in 
Oesterreich wurden überall Spinnschulen angelegt, in denen Kinder 
von den frühesten Jahren an gelehrt wurden, um später in der 
Hausindustrie Arbeit zu finden. Schon das G-jährige Kind werde 
dabei seinen Unterhalt finden — lautete das übliche Lockmittel, 
womit die Verleger den Nutzen ihrer Industrie rühmten, wenn sie 
sich Privilegien von der Regierung zu beschaffen suchten 2). „Die 
Ausdehnung der Arbeitszeit — sagt Wiedfeldt über die Berliner 
Industrie des 18. Jahrhunderts — wurde begünstigt, die Einführung 
der billigen Frauen- und Kinderarbeit durchaus nicht ungern ge- 
sehen“). Und Friedrich der Große hält die Kinderbeschäftigung für 
so wichtig, daß er bei seiner Anwesenheit in Hirschberg in Schlesien 
im Jahre 1766 den Kaufleuten eine Sendung von 1000 Kindern im 
Alter von 10—12 Jahren anbietet, um sie zum Spinnen zu ver- 
wenden; die Ablehnung dieses Angebots erweckt sein höchstes Miß- 
fallen‘). In Oesterreich werden unter Maria Theresia Schulen für 
Flachs-, Hanf-, Baumwollen- und Wollspinnerei wie Weberei errichtet. 
Nicht nur die müssigen und armen Kinder, sowie Waisen, sondern 
auch die Kinder von Handwerkern von 7—15 Jahren sollen in die 
Schule „gestellt“ werden; wenn wiederholte Ermahnung nicht helfen 
oder keinen Erfolg erzielen, sollen die Eltern oder Vormünder mit 
einem bürgerlichen Arrest von 2—3 Tagen und bei weiterer Wider- 
spenstigkeit mit schärferer Strafe belegt werden. „Ausgelernte Kinder“ 
seien dann von den Eltern oder Vormündern zu Hause zur Spinnerei 
anzueifern ). Auch in England „wurde die Kinderarbeit in den 
Zeiten der Hausindustrie meist ganz naiv als eine Verbesserung der 
Erwerbsverhültnisse des Volkes gerühmt“ %). Im 17. und 18. Jahr- 
hundert berufen sich auch hier schutzzollbegehrende Industrielle 
darauf, daß die Industrie Kindern und Weibern Erwerb verschaffe 7). 
In der Tat wurden in der englischen Segeltuchmacherei um 1736 
Kinder von 7 Jahren, in der Seidenindustrie Hunderte von Kindern 
unter 6 Jahren beschäftigt, in der Barchentweberei im Anfang des 
18. Jahrhunderts 5-jährige Kinder*). In Manchester verdienten schon 
1650 Kinder selbst ihren Unterhalt °), in Norwich erwarben im 17. Jahr- 


1) Gothein, Wirtschaftsgeschichte des Schwarzwaldes, Bd. 1, Straßburg 1892, 
8. 713 (vergl. auch S. 733). Herkner, S. 63. 

2) Vergl. Gothein, S. 728, 742. 

3) Wiedfeldt, Statistische Studien zur Entwickelungsgeschichte der Berliner Industrie 
leipzig 1896, S. 64. 

1) Zimmermann, S. 117. 

5) Ad. Beer, Studien zur Geschichte der ósterreichischen "Volkswirtschaft unter 
Maria Theresia, T. I, Wien 1894, S. 55 ff. 

6) Held, S. 557. 

7) Held, S. 558, 561, 592. 

8) Ibid., S. 557, 558, 562. 

9) Ibid., S. 561—562. 


186 Josef Kulischer,| 


hundert die 6— 10-jährigen Kinder mit Strumpfstricken einen Reich- 
tum, der jährlich 12000 £ über ihren eigenen Unterhalt hinaus be- 
tragen haben soll!). Daniel Defoe, dessen Beschreibungen des Wohl- 
standes der Weber in Halifax zu Anfang des 18. Jahrhunderts zu 
den idyllischen Schilderungen der alten guten Zeit, wo die haus- 
industrielle Betriebsweise noch herrschte, Anlaß gegeben haben, 
preist den Gewerbefleiß der Halifaxer Bevölkerung folgendermaßen: 
„Die Frauen und Kinder kardeten und spannen; alle von den 
jüngsten bis zu den ältesten waren tätig; kaum einer über 5 Jahre 
war unfähig, mit seinen eigenen Händen für seinen Unterhalt zu 
sorgen“ ?). 

Die Beschäftigung von Waisenkindern, Pfarrlehrlingen war der 
Hausindustrie ebenfalls nicht unbekannt. Um die Findelkinder los- 
zuwerden, werden dieselben in Frankreich bei Landleuten, Hand- 
werkern und Kaufleuten gegen einen bestimmten Pensionsbetrag 
untergebracht, wobei die Zahlung des Pflegegeldes in der Regel bis 
zum zurückgelegten 16. Lebensjahre dauerte?) In England diente 
ein derartiges System ebenfalls zur Erleichterung der auf der Pfarrei 
ruhenden Armenlast und seit dem Armengesetze der Elisabeth vom 
Jahre 1601 wurden Waisenkinder als Lehrlinge an die einzelnen 
Meister abgegeben: die Armenaufseher des Kirchspiels hatten die 
Pflicht, die Knaben bis zum 24., die Mädchen bis zum 21. Jahre 
als Lehrlinge auszutun®). Die Strumpfwirkermeister beschäftigten 
zu Anfang des 18. Jahrhunderts Lehrlinge in unbeschränkter Zahl, 
oft im Verhältnis von 10 und mehr Lehrlingen zu einem Arbeiter, 
trotzdem dies nach dem Lehrlingsgesetz verboten war, ja ein Mann 
wird angeführt, der 30 Jahre lang stets ungefähr 25 Lehrlinge und 
nur einen Arbeiter beschäftigte. Ein besonderer Anreiz zu der Be- 
schäftigung der Lehrlinge an Stelle der ausgelernten Arbeiter waren 
hierbei, abgesehen von dem geringen Lohn, den ein Lehrling erhielt, 
die Prämien, oft in dem Betrag von 5 £ welche die Pfarreien 
für jeden Jungen, den man ihrer Armenkasse abnahm, bezahlten ?). 

Auf die Beschäftigung dieser Arten minderwertiger Arbeit, in 
wie großem Umfange sie auch vorgenommen wurde, mußte sich die 
Hausindustrie beschränken. Viel weiter war dagegen der Spielraum 
für die zentralisierte Manufaktur. Sträflinge, Vagabunden, Blinde, 
Taubstumme, Irren — alle diese Bevölkerungselemente konnten zur 
Arbeit angehalten werden, um dadurch die eignen Unterhaltskosten 
zu decken und noch darüber hinaus dem Unternehmer einen Gewinn 
abzuwerfen. Während dieselben bei den hausindustriellen Meistern 
nicht unterzubringen waren, blieb es eine leichte Sache, ihnen in 
1) Macaulay, History of England, Chap. 3. 

2) Defoe, A tour through the whole Island of Great Britain. 1769, T. III, S. 145. 
3) Reitzenstein, Die Armengesetzgebung Frankreichs in den Grundzügen ihrer 
historischen Entwiekelung. Sehmollers Jahrbuch, Bd. 5, 1881, S. 605. 

4) Toynbee, Industrial Revolution, Chap. IX. Aschrott, Armengesetzgebung in 
Großbritannien. Handwörterb, 2. Aufl, Bd. 1, S. 1136. 

5) Felkin, History of the machine-wrought Hosiery and Lace manufactures. London 
1867, p. 73. Zit. bei Brentano. Ueber die Ursachen der heutigen sozialen Not, Leipzig 
1889, S. 36—37, Anm. 12. 


Zur Entwickelungsgeschichte des Kapitalzinses. 187 


den Anstalten, wo sie sich befanden, auch eine Beschäftigung zu 
geben. Auch die Waisen- und Findelkinder wurden vielfach in Werk- 
stätten beschäftigt, und zwar waren diese Anstalten häufig mit 
Zucht- und Irrenhäusern verbunden, so daß die Manufakturarbeiter 
ein buntes Durcheinander von Verbrechern, Krüppeln und armen 
Kindern repräsentierten. So war die berühmte Pforzheimer Waisen- 
anstalt, in welcher Spinnerei getrieben wurde, mit dem Irren- und 
Zuchthaus vereinigt. Es war Blinden-, Taubstummen-, Idiotenanstalt, 
Säuglingsstation und Zuchthaus zugleich !). In Basel wurde eben- 
falls ein Zucht- und Waisenhaus errichtet, dessen Insassen für ihren 
Unterhalt textile Arbeiten verrichten mußten. Als die Zünftigen, 
welche diese Konkurrenz ungern sahen, gegen die Inspektoren des 
Waisenhauses wegen der Tuchfabrik remonstrierten, erhielten sie 
zur Antwort: wenn der Staat etwas ad pias causas vornehme, so 
sollte das den Zünften billig den Mund verschließen ?). So begann 
das Manufaktursystem mit der Arbeit in Zwangsarbeitshäusern, weil 
die Privatmanufakturen mit den Zünften zu kämpfen hatten, die ihre 
Privilegien geltend machten, auch wohl durch diese Streitigkeiten 
ganz verhindert wurden. Die Anstalten wurden dagegen vom Staate 
errichtet und ihr Betrieb Privatunternehmern übergeben. Im Herzog- 
tum Baden wurden auf diese Weise sämtliche Zucht- und Arbeits- 
häuser von Unternehmern in Pacht genommen’). In dem Zuchthaus 
in Breisach wird eine Hanf- und Leinenspinnerei eingerichtet); in 
Magdeburg müssen die Züchtlinge die Wolle streichen, kämmen, 
kratzen und spinnen), in Berlin werden die Insassen des Arbeits- 
hauses (Bettler, Vagabunden, „in der Charité kurierte Weibspersonen“, 
Bettelkinder) mit Wollspinnen beschäftigt; im Jahre 1785 belief sich 
ihre Anzahl auf 192 Männer, 300 Weiber, 42 Knaben und 71 Mädchen *). 

Aehnliche Versuche, das Manufaktursystem mittels Beschäftigung 
von Zwangsarbeitern in zentralisierten Werkstätten einzuführen, 
finden wir auch in anderen Ländern. Um die Mitte der 60er Jahre 
des 18. Jahrhunderts bestanden in acht österreichischen Städten Ar- 
beitshäuser, in denen Textilmanufakturen eingerichtet waren; in 
Schlesien, Kärnten und Mähren wurden Spinnhäuser errichtet; da- 
neben wurde Züchtlingen Spinnen, Weben und Sticken gelehrt; 
Arrestanten, Waisenkinder, Vagabunden — alles wurde zur Arbeit 
angezogen ). Zur Zeit Colberts, wie noch früher zu Anfang des 
17. Jahrhunderts, wurden die Insassen der französischen Zucht- und 
Waisenhäuser mit Strumpfstricken wie mit Spinnen beschäftigt. Alle 
arbeitsfähigen Armen sollten in Spitälern untergebracht und zur Ar- 


1) Gothein, S. 699. 
. . 2) Geering, Basels Handel und Industrie bis zum 17. Jahrhundert. Basel 1886, 
5. 608—609. 
3) Gothein, S. 721. 
1) Ibid., S. 756. 
. 5) Schmoller, Studien über die wirtschaftliche Politik Friedrichs des Großen und 
PieuBens überhaupt von 1680—1786. Jahrbuch für Gesetzgebung cete., Bd. 11, S. 819. 
6) Wiedfeldt, S. 64. 
1) Beer, Gesch. d. österr. Volkswirtsch., I, S. 62. 


188 Josef Kulischer, 


beit angehalten werden’). „Den. arbeitsfähigen Armen — lautet das 
englische Gesetz vom Jahre 1601 — soll Arbeit verschafft werden, 
und es sollen zu diesem Zwecke Vorräte an Flachs, Hanf, Wolle, 
Zwirn, Eisen und anderen Waren und Stoffen angeschafft werden“ ?). 
1682 wurde in Amsterdam das Seidenwindhaus gegründet, in dem 
Kinder von 7—12 Jahren Seide haspeln sollten. In Middelburg 
schloß die Armenverwaltung mit einem Franzosen einen Vertrag, 
damit in dessen Tuchweberei eine Anzahl Waisenkinder beschäftigt 
werden sollten. Wo Unternehmer fehlten, ging die niederländische 
Armenverwaltung selbst mit der industriellen Beschäftigung von 
Kindern vor, damit die Erhaltung derselben ihr nicht zur Last falle °). 

So war das ganze Manufaktursystem auf billiger Zwangsarbeit 
basiert. Die Unternehmer ließen sich Sträflinge, Vagabunden, Waisen- 
kinder etc. übergeben und beschäftigten dieselben in den betreffenden 
Anstalten, um aus ihrer Arbeit möglichst viel Gewinn herauszu- 
schlagen. Wurden doch ihnen jene Insassen vollständig zur Aus- 
beutung überlassen und konnten ja die Hungerlöhne, die denselben 
gezahlt wurden, bei jeder günstigen Gelegenheit noch mehr gekürzt 
werden. Ein Teil der Schuld daran, daß derartige Arbeitselemente 
die Stütze der neuen Industrie zu bilden hatten, lag zweifellos 
auch auf Seiten der freien Bevölkerung, welche um keinen Preis 
die Manufakturräume betreten wollte, die ihr als Inbegriff aller Laster 
galten, häufig den ihnen zugeschriebenen Charakter auch wirklich 
besaßen, da ja dieselben gewöhnlich mit Zwangsarbeitshäusern ver- 
bunden waren; so daß ein Mangel an besseren Arbeitskräften sich 
in der Tat fühlbar machte. Doch der Unternehmer sah es für sich 
als vorteilhafter an, die Leute unter seiner eigenen Aufsicht und 
Leitung arbeiten zu lassen, anstatt ihnen das Material nach Hause 
zur Verarbeitung zu geben. Er konnte auf diese Weise an Mittels- 
personen sparen, die jenes Material unter den Hausindustriellen 
verteilten und das Produzierte einsammelten; er glaubte dadurch 
auch die Unterschlagung des Rohstoffs, die in der Hausindustrie so 
große Dimensionen angenommen hatte, einschränken zu können, 
vielleicht ganz zu beseitigen. Unter diesen Umständen hatten die 
Arbeiter keine Wahl mehr: wohl oder übel mußten sie sich dem 
Wunsche des Unternehmers fügen, sie mußten, da derselbe ihnen 
nach Hause keine Arbeit mehr geben wollte, ihre Wohnungen ver- 
lassen, in die Stadt ziehen und dort in den dem Unternehmer ge- 
hörigen Räumen die Arbeit vornehmen: sie mußten auch ihre Frauen 
und Kinder in jene Werkstätten schicken. 

So sehen wir denn neben Manufakturen mit Zwangsarbeitern 
auch solche auftauchen, wo freie Bevölkerungselemente, wo erwachsene 
Männer, zugleich aber auch minderwertige Arbeitskräfte, Frauen, 


1) Levasseur, Histoire des classes ouvrières et de l’industrie avant 1789, Bd. 2, 
S. 256. Reitzenstein, Schmollers Jahrbuch, Bd. 5, S. 561, 567. 

2) Aschrott im Handwörterb. der Staatswiss., Bd. II (Armenwesen — Armengesetz- 
gebung in England). 

3) Pringsheim, Beiträge zur wirtsch. Entwickelungsgesch. d. vereinigten Nieder- 
lande im 17. und 18. Jahrhundert. Leipzig 1890, S. 55. 


Zur Entwickelungsgeschichte des Kapitalzinses. 189 


Knaben und Mädchen Beschäftigung finden. Im Jahre 1686 eröffnet 
z. B. Abraham Valery eine Tuchfabrik (Manufaktur) in Halle, die im 
nächsten Jahre über 50 Arbeiter und 300 Spinnerinnen beschäftigt !). 
Die von Christian Zug zu Lichterwörth bei Wiener-Neustadt um 1750 
gegründete Nähnadel- und Drahtzugsmanufaktur wurde vom Staate 
unterstützt, „um diese Manufaktur, welche insonderheit der armen 
Jugend viel Nahrung verschafft, emporzubringen“ ?). Johann Baptist 
Falzorger, der um dieselbe Zeit eine Kreisflormanufaktur anlegte, 
erbat sich von der österreichischen Regierung ein- für allemal für 
jeden Jungen oder jedes Mädchen, die er anstellte, 25 fl. Remune- 
ration. „Die Genehmigung erfolgte mit der Weisung, von Zeit zu 
Zeit nachzusehen, daß Landeskinder männlichen oder weiblichen Ge- 
schlechts, vorzüglich Weibspersonen, in die Lehre genommen und 
wohl unterrichtet werden 3). Es wurde also gewerblicher Unterricht 
mit der Arbeit für den Unternehmer verbunden. Insbesondere 
wurde eine derartige Methode in der Spinnerei eingeführt, Spinn- 
schulen mit Manufakturen verbunden, wie dies in Oesterreich sowohl 
als in Baden‘) und in anderen deutschen Staaten der Fall war. In 
der Spitzenfabrikation, die Colbert aus Venedig einführen ließ, wurden 
Hunderte von Frauen in zentralisierten Manufakturen beschäftigt, 
obwohl viele von ihnen die Werkstätten bald wieder verließen und 
sich zurück aufs Land begaben 5). In der Strumpfstrickerei arbeiteten 
Kinder von 10 Jahren in den Manufakturen ®) und Colbert versprach 
den Eltern Belohnungen, wenn sie ihre Kinder in die Manufakturen 
schicken wollten 7). In den Niederlanden wird die Frauen- und 
Kinderarbeit in den Manufakturen seit den letzten Dezennien des 
17. Jahrhunderts allgemein, und zwar arbeiteten Frauen auch in 
schweren und ungesunden Gewerben, wie beim Salzsieden (der kgl. 
preußische Bergrat Eversmann fand hier 1792 ausschließlich Weiber 
beschäftigt), beim Lumpenzerreißen in Papierfabriken, in Ziegeleien 5). 
In England finden wir schon in den ersten Manufakturen, die im 
16. Jahrhundert vereinzelt verkommen, Frauen, junge Mädchen und 
Kinder neben erwachsenen Männern arbeiten, wie z. B. in den be- 
rühmten Werkstätten des Jacques de Newbury in Norwich 100 Frauen, 
200 junge Mädchen und 150 Kinder beschäftigt worden sein sollen °). 
Aus der späteren Zeit des Manufakturbetriebs sei die von Arthur 
Young beschriebene Seidenmanufaktur in Sheffield angeführt, welche 
152 Arbeiter zählte, darunter Frauen und Kinder °). 


1) Stieda, Fabrik. Handwört. d. Staatswiss, 2. Aufl, Dd. 3, S. 778. 

2) Beer, Gesch. d. ósterr. Volkswirtsch., I, S. 107. 

3) Beer, Ibid., I, S. 117. 

4) Gothein, S. 712 ff. 

5) Levasseur, Hist. des classes ouvr. avant 1789, Bd. Il, p. 246—252. 

6) Ibid., Bd. II, p. 212. 
i 7) Farnam, Die innere französische Gewerbepolitik von Colbert bis Turgot. Leipzig 
878, 8. 15. 

8) Pringsheim, Beiträge zur wirtschaftlichen Entwickelungsgeschichte der ver- 
einigten Niederlande im 17. und 18. Jahrhundert. Leipzig 1890, S. 54—55. 

9) Cunningham, The Growth of English Industrie and Commerce. T. I, p. 513 
Dechesne, p. 30. 

10) Toynbee, Chap. IV. 


190 Josef Kulischer, 


Wenn also eine zentralisierte Betriebsweise auch vor Einführung 
der Maschinen vorhanden war, so bildeten doch außerhalb jener An- 
stalten geschaffene Manufakturen im 17. und 18. Jahrhundert mehr 
Ausnahmefälle. Die herrschende Betriebsform war Hausindustrie, 
wo sowohl erwachsene Männer als Frauen und Kinder beschäftigt 
wurden, und daneben eine auf Zwangsarbeit beruhende zentralisierte 
Manufaktur. Erst mit dem Aufkommen der Maschinerie hat sich der 
seit dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts begonnene Prozeß voll- 
zogen, der auf die Verlegung der Produktion aus den Wohnhäusern 
der Arbeiter in die dem Unternehmer gehörenden Werkstätten hinzielte. 
Erst seit dieser Zeit hatte sich in der Tat die zentralisierte Betriebs- 
weise Bahn gebrochen und der Arbeiter sich allmählich daran ge- 
wöhnt, daß die Betriebsstätte außerhalb der Wohnung zu liegen hatte. 
Es ist aber durchaus begreiflich, daß auch in die Fabriken, wie früher 
in die wenigen Manufakturen, nicht bloß erwachsene Männer, sondern 
auch Frauen und Kinder wanderten: es waren dieselben Arbeits- 
kräfte, welche bisher in der Hausindustrie beschäftigt waren und 
welche jetzt auch die unfreien Arbeitskräfte der Manufaktur zu er- 
setzen hatten. Die Beschäftigung von Zwangsarbeitern, von Sträf- 
lingen und Vagabunden, von Stummen und Irren seitens der Unter- 
nehmer hatte nämlich allmählich aufgehört und an Stelle derselben 
traten rechtlich freie Arbeiter, insbesondere aber ihre Frauen und 
Kinder. Nur Waisenkinder wurden in England auch vom Fabrik- 
system anfangs beibehalten, doch schon seit Anfang des 19. Jahr- 
hunderts hört ihre Beschäftigung zum größten Teile auf. In der 
Hausindustrie dagegen und zwar insbesondere in jenen Zweigen der- 
selben, welche jetzt ebenso wie früher hausindustriell betrieben wurden, 
hat sich diese Gewohnheit auch später erhalten. 

Wenn wir also Frauen- und Kinderarbeit im Anfange des Fabrik- 
wesens so zahlreich vertreten sehen, so war dies absolut, an und 
für sich betrachtet, ein nicht zu verkennendes Uebel, im Verhältnis zu 
den vorhergehenden Zuständen jedoch gar nichts Neues; nichts 
Neues jedenfalls in wirtschaftlicher Beziehung, weil die Hausindustrie 
dasselbe seit Jahrhunderten aufzuweisen hatte und weil im zentra- 


lisierten Betrieb — denn die Fabrik war an Stelle beider Unter- 
nehmungsformen getreten — bloß Zwangsarbeiter durch rechtlich 


freie Arbeiter ersetzt waren. Daraus folgt aber, daß die Anwendung 
minderwertiger Arbeitskräfte in den Fabriken eine zuschüssige Güter- 
quantität im Verhältnis zu der bei der früheren Betriebsweise re- 
sultierenden dem Unternehmer nicht zuführen konnte !). 


1) Selbst die in ethisch-moralischer Hinsicht eingetretenen, insbesondere durch 
Verlegung der Betriebsstätte aus dem Hause in die Fabrik hervorgerufenen Schäden 
darf man nicht überschätzen. So wird z. B. oft angeführt, daß in den Schlafstätten 
einiger Fabriken Nordenglands die Betten nicht kalt wurden, da, sobald die am Tage 
arbeitenden Kinder dieselben verlassen, sie von den Kindern der Nachtschicht ein- 
genommen wurden; oder daß nach diesen Fabriken des Nordens Tausende von Kindern 
im Alter von 7—13 Jahren aus den Armenhäusern von London und Birmingham ge- 
schiekt wurden, um nicht der Armenkasse zur Last zu fallen. Dabei sollte man aber 
uicht vergessen, daß z. B. im Strumpfwirkergewerbe „die Ueberfüllung des Gewerbes 
mit brotlosen ausgelernten Pfarrlehrlingen dieselben in den Jahren 1740—1750 — von 


— m {nn 


Zur Entwickelungsgeschichte des Kapitalzinses, 191 


„Je genauer wir die Geschichte der Vergangenheit untersuchen 
— konnte Macaulay mit Recht sagen — desto mehr Grund finden 
wir, die Ansicht derer zu verwerfen, die unser Zeitalter für fruchtbar 
an neuen sozialen Uebeln halten. Das, was neu ist, ist die Intelligenz, 
die die Uebel entdeckt, und die Humanität, die sie heilt“ ). Wäh- 
rend die Philanthropen des 18. Jahrhunderts für die Kinderarbeit 
geschwärmt hatten, die großen Monarchen in der Förderung der- 
selben das erstrebenswerteste Ziel gesehen, war das Streben der besten 
Männer im 19. Jahrhundert auf die Einschränkung und Beseitigung 
der Kinderarbeit gerichtet, sahen sich die Staaten genötigt, auf legis- 
laivem Wege gegen dieselbe vorzugehen. Die öffentliche Meinung 
hatte sich eben geändert, und dieser veränderten Anschauung ist 
die Fabrikgesetzeebung zu verdanken, die bald nach Entstehen der 
Fabrikindustrie ihren Anfang nahm. 
Aus dem in diesem und den beiden vorhergehenden Kapiteln 
Dargelegten ergibt sich, daß das Mehrprodukt, das sowohl aus er- 


Maschinen war damals noch nicht die Rede — dem Hungertode nahe brachte, indem 
(t nur ein Rock in einer Werkstätte vorhanden war, der von jedem abwechselnd ge- 
tragen wurde, wenn er ihre Räume verließ“ (Felkin, History of the machine-wrought 
Hosiery and Lace manufactures, London 1867, p. 82. Zitiert bei Brentano, Ueber die 
Ursachen der heutigen sozialen Not, Leipzig 1889, S. 37, Anm. 12); daß in Frankreich 
noch vor der Einführung von Maschinen, im 17. Jahrhundert, in Bezug auf die Be- 
handlung der Findelkinder die traurigsten Mißbräuche bestanden: es wird berichtet, 
daß dieselben für einen Taxpreis von 20 sous an Bettler, Gaukler, Wahrsager u. s. w. 
verkauft zu werden pflegten, welche sie für ihre Zwecke abrichteten und nicht selten 
verstimmelten, um sie für den Behuf des Almosensuchens mit Erfolg zu benutzen. 
Als später das Hôpital des enfants trouvés zur öffentlichen Anstalt erhoben wurde, 
wurden Kinder aus allen Landesteilen, Auvergne, Bretagne, Flandern, Lothringen u. s. w. 
nach Paris transportiert, so daß ein großer Teil der Kinder entweder unterwegs starb 
oder in einem Zustande ankam, der den Tod in den nächsten Tagen nach der Ankunft 
zur Folge hatte.“ Unter Necker wurde dies dahin geändert, daß die Kinder bei Land- 
leuten, Handwerkern, Kaufleuten gegen Entgelt untergebracht wurden, später, nach dem 
Dekret von 1811, als Fabriken aufgekommen waren, auch den Fabrikanten zur Be- 
schäftigung übergeben. (Reitzenstein, Die Armengesetzgebung Frankreichs. Schmollers 
Jahrbuch, 1881, Bd. V, S. 603, 605, 609). Daß die in der ersten Periode des Fabrik- 
wesens vorhandenen Schäden nur zum geringeren Teile durch die neue Betriebsweise 
hervorgerufen waren, erhellt auch daraus, daß in jenen Produktionssphüren, wo auch 
jetzt wie früher der hausindustrielle Betrieb herrschte (also keine Konkurrenz der 
Fabrik mit der Hausindustrie stattfand), die Zustände nicht besser, sondern eher 
schlechter waren. Die Aerzte geben zu (Enqueten der 20er und 30er Jahre), daß viele 
englische Industrien, die nicht fabrikmäßig betrieben werden, wie Töpferei, Nadel- 
erzeugung, Bergwerke weit gesundheitsschädlicher für jugendliche Arbeiter sind als die 
fabrikmäßige GroBindustrie (Plener, Die englische Fahrikgesetzgebung, Wien 1871, S. 11, 
Anm. 21. Auch später bieten die sog. freien Gewerbe, wo noch keine Fabrikgesetzgebung 
vorhanden, „ein weit traurigeres Bild als die fabrikmäßig organisierte große Industrie und 
die ungeregelte lange Kinderarbeit in ihnen wirkte wie eine Prämie für gewinnsüchtige 
Eltern, welche es vorzogen, ihre Kinder im frühesten Alter in diesen Industrien zu be- 
schäftigen und sie erst später in die großen Fabriken zu schicken“. In den Nagel-, 
Nadel-, Spitzen-, Wirkwaren-, Tabakmanufakturen ete., wo nur Handarbeit vorhanden 
war, begannen Kinder oft mit 4, 5, 6 und 7 Jahren zu arbeiten. Es war eben ganz 
dasselbe, was wir noch im 17. und 18. Jahrhundert beobachtet hatten. Die Zustände 
in der Hausindustrie hatten sich nicht geändert. Beim Aufkommen der Fabriken wurden sie 
auch in dieselben mit herübergenommen, später jedoch durch die Gesetzgebung abgeschafft 
(Plener, 8.25). Vergl. auch Plener, S. 55—60, 63, 67, 75, 77, 87—88 und Engels 
Die Lage der arbeitenden Klasse in England. 2. Aufl. Stuttgart 1892. S. 191— 215. 
1) Macaulay, History of England, Chap. 3. 


192 Josef Kulischer, Zur Entwickelungsgeschichte des Kapitalzinses. 


wachsener männlicher Arbeit, wie aus Frauen- und Kinderarbeit 
sowie anderer minderwertiger Arbeit resultierte, im 19. Jahrhundert 
nicht größer war als in den vorhergehenden Jahrhunderten. Da aber 
noch das andere Mehrprodukt hinzukam, das die Maschine dem Unter- 
nehmer produzierte, so war trotzdem der Ueberschuß an Gütern, 
den der Fabrikant erhielt, in dieser Periode viel größer als es früher 
der Fall war. Jedoch wurde nicht die ganze Masse an Mehrprodukt, 
welche schöpferische und ausführende Arbeit erzeugte, in Kapitalgewinn 
verwandelt. Denn da jener Teil der vom ausführenden Arbeiter pro- 
duziert wurde, bei allen Unternehmern in der Fabrik wie in der Haus- 
industrie annähernd gleich war, so setzten schon die ersten Fabri- 
kanten, um Hausindustrie und Manufaktur konkurrenzunfähig zu 
machen und den Markt zu erobern, den Preis um soviel herab, daß 
ein großer Teil des Mehrprodukts, so groß, als er in der Hausindustrie 
und Manufaktur vom Lohnarbeiter produziert wurde, verloren ging, nicht 
mehr wie zuvor den Mehrwert bildete. Sie begnügten sich mit dem 
anderen Teile des erheblich gewachsenen Mehrprodukts, den sie auch 
wirklich in Mehrwert verwandelten und der recht lange noch größer 
war als der Mehrwert, der in den vorhergehenden Jahrhunderten aus- 
schließlich vom Arbeiter herrührte. Dies hatte eben der bedeutende 
Preisfall der Fabrikate zu bedeutent der schon kurz nach Einführung 
der Maschinen zu verzeichnen war!); dadurch wurde aber zugleich der 
hausındustrielle Verleger gezwungen, durch Lohnherabsetzung (wie 
wir oben gesehen) das vom Arbeiter geschaffene Mehrprodukt zu ver- 
größern, um wenigstens diesen Teil des vom Arbeiter stammenden 
Mehrprodukts, der die vom Fabrikarbeiter geschaffene Quantität 
Mehrprodukt überstieg, in Mehrwert verwandeln zu können; so daß 
die Lage des Hausindustriellen Arbeiters sich schlimmer gestalten 
mußte, als die des Fabrikarbeiters. 

Trotzdem würde es gewagt sein zu behaupten, daß der Fabrikant 
eben jenen Teil des Mehrprodukts dem Konsumenten in Form herab- 
gesetzter Preise auszahlte, den der ausführende Arbeiter ihm lieferte, 
und gerade den vom Erfinder geschaffenen für sich als Kapitalgewinn 
behielt. Vielmehr wird man nur sagen können, daß der Uuternehmer 
aus dem Mehrprodukt, das eine Mischung aus den beiden Arbeitsarten 
darstellte, einen Teil dem Konsumenten übergab, der anfangs und 
noch lange späterhin nur der Größe des von der ausführenden 
Arbeit des Lohnarbeiters stammenden Mehrprodukts entsprach, die 
Frage jedoch, ob es gerade dieses Mehrprodukt war oder nur der 
Quantität nach ihm gleichkam, als eine nicht zu entscheidende dahin- 
gestellt lassen. Und für die folgende Periode wird man jedenfalls 
nur dann den Beweis erbracht haben, daß der Arbeiter den ganzen 
von ihm produzierten Ertrag erhält, wenn zuvor klargelegt ist, daß 
das in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vom Arbeiter her- 
rührende Mehrprodukt, ob es nun dem Unternehmer oder dem Kon- 
sumenten zufiel, dem Arbeiter auch wirklich zurückgegeben ist. 


1) Vergl. S. 164. 
(Fortsetzung folgt.) 


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Julius Wolf, Studien zur Fleischteuerung 1902/03. 193 


Nachdruck verboten. 


IV. 
Studien zur Fleischteuerung 1902/03. 


Von 
Julius Wolf (Breslau) !). 


Inhalt: I. Einleitung (S. 193). II. Die bisherige Preisentwickelung auf dem 
Flisehmarkt (S. 195). III. Die Bedeutung der Preissteigerung für den Haushalt der 
Bevölkerung (S. 199). IV. Der Zwischenhandel (die Fleischer u. s. w.) und die Fleisch- 
tenerung (S. 204). V. Die Grenzsperren und die Fleischteuerung (S. 211). VI. „Natür- 
liche“ Faktoren (S. 216). VII. Die Vergleichbarkeit der Erscheinungen von 1902 mit 
jenen von 1890 (S. 219). VIII. Die Aussichten der Zukunft (S. 223). — Anlagen: 
l. Zur Geschichte der Fleischpreise in Deutschland im Vergleich mit österreichischen 
Plätzen und mit England. II. Ueber die dem Konsumrückgang des Jahres 1902 vor- 
angegangene Entwickelung des Fleischkonsums in Berlin im Vergleich mit der Konsum- 
entwickelung in französischen Städten. 


I. Einleitung. 


Den Erscheinungen, die vermöge ihrer Erheblichkeit und der 
kontroversen Deutung, welche sie erfuhren, die Aufmerksamkeit des 
Volkswirts in letzter Zeit fesseln durften, gehört die sogenannte 
„Fleischnot“ an. Von den wirtschaftlichen, wie von den politischen 
Parteien, die in diesem oder jenem Sinne an der Fleischnot interessiert 
sind, hat sich im Laufe der letzten Monate jede über sie geäußert, 


1) Ich hatte mich in meiner Arbeit, die, nachdem ich mich bisher in einer An- 
zahl Schriften ausschließlich auf dem Boden der Getreideproduktion, bezw. des Getreide- 
marktes bewegt hatte, mich den Verhältnissen der Viehproduktion und des Vieh- und 
Fleischmarktes näher bringen sollte, der Unterstützung einer Anzahl sachkundiger 
Herren zu erfreuen. Die Herren Geh. Rat Prof. Dr. Bóckh und Dr. Meinerich 
vom Statistischen Bureau der Stadt Berlin, weiters Hofrat Prof. Dr. v. Juraschek, 
bei der K. K. Statistischen Zentralkommission in Wien, haben mir bei Sammlung 
der statistischen Daten hilfreich zur Seite gestanden; meinem Kollegen Prof. Dr. Holde- 
!leiss in Breslau, sowie Herren Oekonomierat Hausburg, früherem Direktor des 
Berliner Vieh- und Schlachthofes, und Herrn Ludwig Messing in Wien, einem be- 

nten österreichischen Fachmann, verdanke ich noch anderes Material. Auch der 
„Bund der Landwirte“ war so freundlich, mir eine Anzahl von ihm veranlaßter und 
anderweitiger Arbeiten über die Fleischteuerung zur Verfügung zu stellen. Ich muß 
das umso dankbarer quittieren, als ich mir den Standpunkt des „Bundes“ in meiner 
Schrift mehrfach nicht anzueignen vermochte. 


Dritte Folge Bd, XXV (LXXX). 18 


194 Julius Wolt, 


jede dabei in anderem Sinne, und jede abweichend von der anderen 
ebensowohl bei Feststellung des Tatbestands, wie der Momente, 
welche ihn geschaffen haben sollen. 

Als solche Parteien sind zu unterscheiden: 


1) Vertreter des Produktionsinteresses, Vertreter der 
Vieh produzierenden Stände, damit des offenen Landes, Agrarier; 

2) Vertreter des Konsumtionsinteresses, d. h. hier 
„Städtevertreter“, die Parteien links; 

3) Vertreter des Zwischenhandelsinteresses, eine Gruppe 
nicht politischen Charakters, die Fleischer. 

Von seiten der Vertreter der viehzüchtenden Landwirtschaft 
ist wiederholt die Erklärung abgegeben, es gebe keine Fleisch- 
not, die Fleischnot sei im wesentlichen „Mache“, die Preis- 
steigerungen erfolgen, um einen Druck auf die Regierung, in der 
Richtung einer Aufhebung der Viehsperren, auszuüben; soweit ihnen 
aber eine — an sich unbedeutende — Knappheit an Vieh zu Grunde 
liege, seien sie durch natürliche Verhältnisse, die eine Beseitigung 
durch keinerlei Gesetzgebung zulassen, herbeigeführt und durch die 
Zwischenhändler, Fleischer, „Händlerringe“ wucherisch ausgebeutet. 
Von den Vertretern des Konsumtionsinteresses wird demgegen- 
über erklärt, die Fleischnot sei eine Kalamität allereinschnei- 
dendster Art, mit der notwendigen Folge einer „Unterernährung“ des 
Volkes. Zurückzuführen sei sie auf die nur zu offenbare „Not an Vieh“, 
d. h. da die einheimische Landwirtschaft nicht Vieh genug zu liefern ver- 
möge, auf die „Grenzsperren“. Die Fleischer, als dritte Partei, 
nehmen Stellung näher zu den Vertretern des Konsumtionsinteresses, 
schon darum, weil diese die Erhóhung, welche die Fleischpreise er- 
fahren haben, nicht ihnen zuschieben, sondern durch die Erhóhung 
des Viehpreises, die „Fleischnot“, vollauf gerechtfertigt erklären. 

Aus diesem Streit der Meinungen ergibt sich als Aufgabe wissen- 
schaftlicher Behandlung 

1) die Feststellung des äußeren Tatbestandes, d. h. die Unter- 
suchung, ob, eventuell in welchem Maße eine Fleischteuerung vor- 
liegt, sowie anschließend daran 

2) die Würdigung ihrer Bedeutung für den Lebenshaushalt des 
Volkes; sodann 

3) die Frage nach den Ursachen, ob nämlich, wie von der einen 
Seite behauptet, der Zwischenhandel schuld an ihr trägt, oder, wie 
von der anderen Seite ausgesprochen, 

4) die „Grenzsperren“, oder 

5) die sogenannten „natürlichen“ Verhältnisse. 

Das hier gewonnene Resultat kann auch die Möglichkeit ergeben 

6) eine Prognose für die nächste Zukunft zu stellen und 

7) wenn diese unbefriedigend, Fingerzeige liefern mit Bezug auf 
die Mittel, die zur Behebung des etwa nachgewiesenen Notstandes 
vorhanden sind. | 


Auch die kürzlich im Reichstag eingebrachten Interpellationen 


— _ 
ne 


Studien zur Fleischteuerung 1902/03. 195 


(Albrecht und Genossen und Müller [Sagan]-Barth) fragen diesen 
Mitteln nach. Die erste lautet: 
„Welche Maßregeln gedenkt der Herr Reichskanzler zu ergreifen, 
um der Steigerung der Fleischpreise, die seit geraumer Zeit ein- 
getreten ist und in steigendem Maße eine Kalamität für immer 
weitere Schichten der Bevölkerung wird, entgegenzuwirken ?“ 
Und die zweite: 
„Welche Maßnahmen gedenkt der Herr Reichskanzler bezw. die ver- 
bündeten Regierungen angesichts der herrschenden Fleischteuerung 
zu treffen, insbesondere in Bezug auf die Grenzsperre und die 
schleunige Beseitigung oder Herabsetzung von Futtermittelzöllen ?* 


II. Die bisherige Preisentwickelung auf dem 
Fleischmarkt 


Die folgende Untersuchung wird sich nicht auf alle Fleischarten 
erstrecken, vielmehr sich auf die Darstellung der Entwickelung des 
Rind- und Schweinefleischpreises beschränken, ganz besonderes Ge- 
wicht aber auf letzteren legen, darum, weil Schweinefleisch 1) die 
bevorzugte Fleischnahrung der minder bemittelten Klassen bildet 1), 
2) über Fleischnot bezw. Fleischteuerung vornehmlich beim Schweine- 
feisch geklagt wird. 

Nach Daten, welche das Preußische Statistische Bureau letzthin 
geliefert hat, ist der Durchschnittspreis pro Kilogramm Schweine- 
fleisch in Mark und Pfennigen gewesen: 

im Durchschnitt im Jahre im August 


1892—1901 1901 1902 
im Mittel 23 preußischer Städte 1,33 1,41 1,52 
in Berlin 1,33 1,42 1,51 


Es geht aus diesen Daten zunächst die bemerkenswerte Tatsache 
hervor, daß.der Berliner Preis für Schweinefleisch, auf längere 
Zeitperioden berechnet, mit dem durchschnittlichen in Preußen 
zusammenfällt. 


1) Im Königreich Sachsen hat der verhältnismäßige Verbrauch je von Rind- und 
Schweinefleisch folgende Entwickelung genommen: 
Der Verbrauch betrug in Kilogramm pro Kopf 


Rindfleisch Schweinefleisch Rindfleisch Schweinefleisch 
1850 7,1 11,8 1880 11,1 18,1 
1860 9,0 13,2 1890 14,0 20,6 


1870 9,0 13,6 1900 15,2 27,9 

Vom Verbrauch an Rind- und Schweinefleich zusammen entfielen also bereits 1850 
62 Proz., 1900 65 Proz., also fast ?/, auf Schweinefleisch. Aehnlich werden die Verhält- 
nisse im übrigen Deutschland liegen. Vgl. die Bemerkung O. Gerlachs in seinem Ar- 
tikel „Fleischkonsum und Fleichpreise“ im Handwörterb. d. Staatswissensch., 2. Aufl., 
Bd. 3, p. 1101: „In der geschichtlichen Entwickelung des deutschen Konsums zeigt 
sich eine erhebliche Zunahme in der Bedeutung des Schweinefleichverbrauches auf Kosten 
des Hammelfleisches, teilweise auch auf Kosten des Kaibfleisches und des Rindfleisches.“ 
Uebrigens ist das nur eine Rückkehr zu früheren Konsumgewohnheiten. Im Mittelalter 
war das frische Schweinefleisch noch eine beliebte Speise bei den Vornehmen, nur all- 
mählich wurde es mehr zu Rauchware benutzt und von frischem Rind- und Schaf- 
fleisch verdrängt (Kraffts Landwirtschaftslexikon, 3. Aufl., S. 746). 


13* 


196 Julius Wolf, 


Dabei ist aber der Preis über Preußen hin nichts weniger als 
ausgeglichen. Paderborn hatte im August 1902 einen Preis für 
Schweinefleisch von 1,25 M. also 27 Pfg. unter dem Durchschnitt. 
Aachen einen von 1,80 M., also 28 Pfg. über dem Durchschnitt. 
Das waren von den überhaupt nachgewiesenen Plätzen die des 
niedrigsten und höchsten Preises. Allerdings ist die Vergleichbarkeit 
von Markt zu Markt notorisch nur eine bedingte, angesichts der 
verschiedenen Fleischqualitäten und der verschiedenen Methoden, 
nach denen Ermittelung der Durchschnitte erfolgt. 

Die Steigerung des Schweinefleischpreises war nach den oben 
mitgeteilten Daten für Preußen von 1892/1901 auf August 1902 19 Pig. 
pro Kilogramm, gleich 14,3 Proz. Indes ist diese Verhältniszahl von 
zweifelhafter Brauchbarkeit angesichts des Umstandes, daß das Jahr 
1901, welches in die Durchschnittsberechnung 1892/1901 eingeschlossen 
ist, bereits ein Jahr höherer als normaler Preise war, nämlich mit ihm 
die gegenwärtige Preissteigerung, die durch die Verhältniszahl erst 
beleuchtet werden soll, begann. Ein untadelhafteres Bild gibt die 
folgende Ziffernreihe, den Berliner Preis betr effend, deren Angaben 
für die Zeit bis 1901 dem Statistischen Jahrbuch deutscher Städte 
übereinstimmend mit den Angaben des Berliner Polizeipräsidiums 
und für 1902 den monatlich veröffentlichten Zusammenstellungen des 
Statistischen Amts der Stadt Berlin entnommen sind. 

Der Kleinverkaufspreis von Schweinefleisch ist in Berlin in Mark 
pro Kilogramm gewesen: 


1879 1,20 1884 1,20 1889 1,30 
1880 1,23 1885 1,21 1890 1,44 
1881 1,20 1586 1,31 1891 r,36 
1882 1,20 1887 1,20 1892 1,37 
1883 1,21 1888 1,16 (niedrigster Preis) 1893 1,32 

1804 1,99 1900 1,34 

1895 1,25 1901 1,43 

1896 1,28 Aug. 1902 1,51 

1897 1,30 Sept. 1902 1,57 (höchster Preis)!) 

1898 1,40 Dez. 1902 1,55 

1899 1,36 1902 ea. 1,52°) 

Jan. 1903 1,55°) 


Diesen Daten ist zu entnehmen, daß der Preisstand in der Tat 
im zweiten Halbjahr 1902 ein hoher war und heute noch ist. Gegen 
den 10-jährigen Zeitraum 1879/88, während dessen der Preis bei einem 
Durchschnitt von 1,22 M., überaus geringen Schwankungen unterlag, 
so daß man annehmen darf, daß ihm während dieser Jahre ver- 
gleichsweise „normale“ Verhältnisse zu Grunde lagen, bedeutet der 
Preis des September 1902 eine Steigerung um 35 Pfg., gleich rund 
30 Proz. 

Legt man aber nicht den Preis des Jahrzehnts 1879/88, sondern 
den des näheren 1889/98 der Ver gleichung zu Grunde, was sich unter 


1) Nach der „Stat. Correspondenz“ 1,55. 
2) Nach der „Stat. Correspondenz“ 1,50. 
3) Nach der „Stat. Correspondenz''. 


Studien zur Fleischteuerung 1902/03. 197 


dem anderen Gesichtspunkte empfehlen mag, daß das frühere Jahr- 
zehnt 1879/88 noch unter der Herrschaft anderer legislativer Normen 
stand als dieses spätere, so daß die Vergleichbarkeit mit den Preisen 
von heute eine beschränkte ist, so ergibt sich bei einem Durch- 
schnittspreis in 1889/98 von 1,32 M. eine Steigerung um 25 Pfg. 
gleich 20 Proz. 

Das ist auch ziemlich die Verhältniszahl, die sich bei einem 
Vergleich des Septemberpreises 1902 mit dem Preis nur von 1900 
ergibt, ein Vergleich, der dem Publikum näher liegt, als der mit 
einer ganzen und in ihren ersten Jahren bereits der Vergessenheit 
anheimgefallenen Dekade. Der mittlere Preis des Jahres 1900 ist 
nämlich, wie vorhin ausgewiesen, 1,34 M. gewesen und differiert 
damit nur um ein geringes von den 1,32 M. Durchschnittspreis des 
Jahrzehnts 1889/98. Auch der Preissprung von 1900 zum September 
1902 ist also rund 20 Proz. 

Das gilt vom Schweinefleisch. 

Neben der Preisentwickelung des Schweinefleisches soll die des 
Rindfleisches Gegenstand der Untersuchung sein. Der Preis von 
Rindfleisch in Berlin ist Mark pro Kilogramm gewesen: 


Keule Bauch Keule Bauch Keule Bauch 
1879 1,34 1,10 1884 1,25 1,10 1889 1,23 1,05 
1880 1,35 1,10 1885 1,25 1,09 1890 1,36 1,15 
1881 1,29 1,08 1886 1,23 1,08 1891 1,41 1,17 
1882 1,26 1,11 1887 1,22 1,00 1892 1,39 1,17 
1883 1,25 1,10 1888 1,21 1,00 1893 1,39 1,11 

Keule Bauch Keule Bauch 
1894 1,40 1,10 1899 1,40 1,09 
1895 1,39 1,07 1900 1,40 1,11 
1896 1,38 1,06 1901 1,44 1,14 
1897 1,36 1,11 Sept. 1902 1,58 1,27 
1898 1,40 1,11 Dez. 1902 1,57 1,26 ^ 


Die Ziffern pro September 1902 sind móglicherweise nach dem 
Maßstabe der den anderen Preisen zu Grunde liegenden Qualitäten 
und Berechnungen um 1 bis 3 Pfg. zu hoch angesetzt!. Unter 
Berücksichtigung dessen ergibt sich summarisch mit Bezug auf die 
Entwiekelung des Rindfleischpreises folgendes Bild. Der Durch- 
schnittspreis war in Mark pro Kilogramm: 

für Keule für Bauch 


1879/88 1,28 1,08 
1889/98 1,37 1,10 
gegen September 1902 1,58 1,27 
Der Preis des September 1902 stellt sonach eine Erhöhung dar: 
für Keule für Bauch 


gegen 1879/88 um 24 Proz. um 18 Proz. 

gegen 1889/98 um 15 Proz. um 15 Proz. 

1) Die „Statist. Correspondenz“ nennt gemeinhin niedrigere Preise, so für Sept. 

1902 1,50 und 1,33, für Dez. 1902 1,50 und 1,20. Den Durchschnitt 1902 setzt sie 

mit 1,45 und 1,23 an, und Januar 1903 hat nach ihr auch hier den gleichen 
Preis wieder vorangegangene Dezember. 


198 Julius Wolf, 


Auch bei Rindfleisch ist der Preis des Jahres 1900 ziemlich 
der des Jahrzehntes 1889/98 gewesen, nämlich 1,40 und 1,11 M. 
gegen 1,37 und 1,10 M. Auch hier haben darum die Verhältnis- 
ziffern, die mit Bezug auf den September 1902 gegen 1889/98 ge- 
funden worden sind, ohne weiteres, d. h. ohne daß der Fehler ein 
irgend erheblicher würde, für das Verhältnis des September 1902 zum 
Jahr 1900 Geltung. 

Für Schweine- und Rindfleisch ist also eine Teuerung um 20 
bezw. 15 Proz. festgestellt). Die Frage ist nun, ob diese Er- 
höhung des Preises als eine exorbitante zu gelten hat 
oder nicht. Als exorbitant, als „enorm“, wird sie in der Regel 
auf Seite der das Konsuminteresse vertretenden Parteien bezeichnet. 

Dem steht indes gegenüber, daß ähnliche Preisentwickelungen 
und Preissprünge auch früher des öfteren vorgekommen sind; um 
von weiter zurückliegenden Perioden nicht zu reden, auch während 
der letzten 15 Jahre zweimal, nämlich von 1888 auf 1890 und von 
1896 auf 1898. Von 1583 auf 1890 stieg der Preis von Schweine- 
tleisch von 1,16 auf 1,44 M., d. h. um 28 Pfg., gleich rund 24 Proz., 
und von 1896 auf 1898 von 1,20 auf 1,40 M., d. h. um 20 Pfg., 
gleich nahezu 17 Proz. Die Preissteigerung bei Schwein e- 
fleisch von 1888 auf 1890 ist also noch wesentlich 
größer gewesen als heute. Bei Rindfleisch (Keule und Bauch) 
war die Preissteigerung von 1888 auf 1890 15 Pfg., d. i. 12,5 und 
15 Proz. gegen 15 Proz. für beide Sorten in letzter Zeit. 

Diese Steigerungsraten ergeben sich bei einem Vergleich von 
Jahr zu Jahr. Bei Feststellung der gegenwürtigen Preissteigerung 
wurde jedoch nicht das Jahr 1902 dem Jahr 1900 und dem Dezen- 
nium 1889/98 gegenüber gestellt, sondern der September 1902. 
Wollte man das ,Jahr* 1902 mit dem Jahr 1900 vergleichen, so 
würde die Preissteigerung sich als wesentlich kleiner erweisen, da 
die Preise der letzten Monate des Jahres 1902 ,exzeptionelle* ge- 
wesen sind, d. h. die erste Jahreshälfte niedrigere Preise hatte. 

Wenn nach dem zuletzt Gesagten also der Preissprung heute 
sicher nicht als unerhórt bezeichnet werden kann, so ist auf der 
anderen Seite doch auszusprechen, daß der Preis, der für Schweine- 
und Rindfleisch heute bezahlt wird, nicht zurücksteht hinter den 
hóchsten bisher seit Jahrhundertsfrist im Kónigreich und 
in Berlin gezahlten Preisen. 

Die höchsten Preise in Berlin bisher haben 1889 und 1890 ge- 
habt. In den Monaten Juli bis November 1890 war nach vom Kgl. 
Preuß. Statistischen Bureau erhobenen Daten der Höchstpreis von 
Rind-.und von Schweinefleisch 1,80 M. pro kg. Die gleiche Höhe 
hatte er bei Rindfleisch vom Juli, bei Schweinefleisch vom August 
1902 an. Jedoch war gleichzeitig der niedrigste Preis von Schweine- 


1) In Süddeutschland ist sie geringer: Nach den Erhebungen der offiziellen 
bayrisehen Enquete in der Zeit 1900 bis August 1902 für Bayern bei Rindfleisch nur 
3, bei Schweinefleisch knapp 14 Proz. 


Studien zur Fleischteuerung 1902/03. 199 


fleisch in den erwähnten und anderen Monaten des Jahres 1902 mit 
1,30 M., etwas höher als der (sich auf 1,20 M. beziffernde) in 1890. 
Durchschnittlich war also der Preis in 1902 höher als 
in 1890 und damit der höchste bisher überhaupt er- 


lebte. 
Die genaueren Daten 1902 gegen 1890 und 1889 sind: 


1889 1890 
Rindfleisch | Schweinefl. | Rindfleisch | Schweinefl. 


1902 
Rindfleisch | Schweinefl. 


D 
Monat. keet. | niedr. höchst. | niedr. |höchst. | niedr. höchst. | niedr. [höchst, |niedr. !höchst.| niedr. 
Pig. pro kg | Pfg. pro kg | Pfg. pro kg | Pfg. pro kg | Pfg. pro kg | Pfg. pro kg 
Jan. | 140 80 140 90 150 90 | 180 120 | 170 | roo 170 | 130 
Feb, | 140 80 140 90 150 90 | 180 120 | 160 100 | 170 | 130 
März | 140 80 140 90 150 80 | 160 120 | 160 100 | 170 | 130 
April | 140 80 140 90 160 80 | 160 120 | 160 100 | 170 | 130 
Ma 140 80 160 | 100 160 90 | 170 Ilo | 160 100 | 160 | 130 
Jui | 150 80 160 | 100 160 90 | 160 110 | 160 100 | 160 | 120 
Juli | 150 80 160 | 100 180 100 | 180 120 | 180 100 | 160 | 120 


Aug. | 160 | oo 180 | 100 180 100 | 180 | 120 | 180 100 | 180 | 130 
Sept. | 150 90 180 | 100 180 100 | 180 120 | 180 | 110 | 180 | 130 
Okt. | 150 80 180 | 120 180 100 | 180 120 | 180 110 | 180 | 130 
Nov. | 150 80 | 180 | 120 180 100 | 180 120 | 180 110 | 180 | 130 
Dez, | 150 90 | 180 | 120 160 110 | 160 Hol 180 110 | 180 | 130 


Für größere Zeiträume zusammengefaßt und bei Berücksichtigung 
der weiter zurückliegenden Perioden gewährt die Entwickelung des 
Rind- und Schweinefleischpreises folgendes Bild !): 

für Berlin 


Rindfleisch Schweinefleisch 
M. pro Kilogramm 


1821—1830 0,61 0,56 
1831—1840 0,64 0,66 
1841—1850 0,71 0,79 
1851—1860 0,85 1,06 
1861—1870 1,00 1,08 
1871—1880 1,25 1,27 
1881—1890 1,17 1,24 
1891—1900 1,25 13,2 
September 1902 1,43 1,57 
Durchschnitt 1902 ca. 1,38 ca. 1,52 


Il. Die Bedeutung der Preissteigerung für den 
Haushalt der Bevölkerung. 


Die Teuerung des Fleisches bedeutet für weite Kreise eine Herab- 
setzung des „standard of life“. Jedoch ist nicht zu übersehen, daß 


1) Für die Würdigung der Preisentwickelung durch längere Zeit hin ist nicht 
außer acht zu lassen, daß die Qualität des Fleisches im Laufe des Jahrhunderts zweifel- 
ls eine nicht geringe Besserung erfahren hat. Was beispielsweise der österreichische 
Fachmann Ludwig Messing in: „Die Wiener Fleischfrage mit Ausblicken auf Pro- 
duktion, Gewerbe- und Konsumverhältnisse“, Wien 1899, S. 44 für österreichische und 
ungarische Verhältnisse feststellt: „Was die Höchstpreise für Qualitätsware betrifft, so 
Sind dieselben seit Anfang der 70er Jahre derart hinaufgerückt, daß sie weit über den 
Höchstnotierungen in der Zeit von 1848 bis 1870 stehen. Das erklärt sich aber damit, 


200 Julius Wolf, 


die Schuld an einer etwa statistisch nachweisbaren Verminderung des 
Fleischkonsums, wie die Umstände liegen, nicht der höhere Fleisch- 
preis allein, ja vielleicht nicht einmal vorwiegend trägt, sondern der 
Rückgang ebensosehr durch die allgemeine wirtschaftliche Konjunktur 
verschuldet sein kann. 

Um von den Berliner Daten wieder auszugehen, so sind hier 
in den ersten 9 Monaten 1902 gegen die gleiche Zeit des Vorjahres 
geschlachtet worden: 


1902 1901 Minus 
Rinder 122 600 138 400 II Proz. 
Schweine 122 600 128 800 [ET 


Kälber 561 200 606 300 SENT 


Im Oktober 1902 gegen 1901 waren die Schlachtungen des 
städtischen Schlachthofes Berlin: 


1902 1901 Minus 
Rinder 13 170 17 870 26 Proz. 
Kälber 10 660 12 185 IX ji 
Schweine 69 120 69 510 — 


Die zuletzt mitgeteilten Daten zeigen, im Zusammenhalt mit 
den früheren, daß den Ziffern eines Monats, entgegen der geläufigen 
Annahme, mit Bezug auf das Maß der eingetretenen Konsumver- 
minderung nichts irgend Zuverlässiges entnommen werden kann. 
Sie sind Zufälligkeiten verschiedener Art viel zu sehr unterworfen, 
um Schlüsse zu gestatten. Anders steht es um Ziffern, wie die an 
erster Stelle mitgeteilten, die sich auf ?/, Jahre beziehen. Sie be- 
sagen, daß die Zahl der Schlachtungen in Berlin sich von 1901 auf 
1902 bei Rindern um 11 Proz., bei Schweinen um 8 Proz. ver- 
mindert hat. 

Durchschnittlich kann wohl ausgesprochen werden, daß das Jahr 
1902 gegen 1901 einen Rückgang der Schlachtungen um 10—12 Proz. 
oder etwas mehr gebracht hat. Eine vor einigen Monaten bei 80 
deutschen Schlachthöfen stattgefundene Umfrage hat ergeben, daß 
im ersten Halbjahre 1902 die Schweineschlachtungen um 11!|, Proz. 
zurückgegangen sind. Der Rückgang außerhalb Berlins scheint also 
größer gewesen zu sein, als der in Berlin !). 

Es liegt nahe, aus diesen Ziffern der Schlachtungen ohne 
weiteres das Minus des Konsums von Fleisch zu berechnen. Dabei 


daß die Qualität des auf den Wiener Viehmarkt gelangenden Mastviehes sich während 
der beiden letzten Jahrzehnte bedeutend gehoben hat. Die Mastweise ist eine ungleich 
rationellere geworden‘, gilt zweifellos ganz ebenso für Deutschland. 

1) Aus Bayern teilt der (seitdem bekannt gewordene) Enquetebericht folgende 
Ziffern mit. In den Schlachthäusern von 20 größeren Städten des Landes wurden im 
monatlichen Durchschnitt geschlachtet: 

Rinder Schweine 
1901 16 371 50 797 
1902 16 151 45 703 
Das würde einen Rückgang bei den Rindern bloß um etwas über 1 Proz., bei 
Schweinen um rund 10 Proz. bedeuten. Bis in welche Monate des Jahres 1902 hinein 
der Monatsdurchschnitt ermittelt ist, wird nicht gesagt. 


ER 


Studien zur Fleischteuerung 1902/03, 201 


würde aber übersehen 1) daß das Durchschnittsgewicht der Tiere 
in verschiedenen Jahren ein verschiedenes ist, 2) daß neben den 
Schlachtungen die Zu (und Ab-)fuhr von geschlachtetem Fleisch 
in Betracht kommt. Das Durchschnittsgewicht der geschlachteten 
Tiere ist 1902 nach allgemeiner Aussage geringer als 1901 ge- 
wesen, die Fleischzufuhr, auch abgesehen vom Grenzverkehr (der 
große Mengen nach Deutschland herein gebracht zu haben scheint), 
größer als 1901. Es ergibt sich daraus, daß diese beiden Momente 
bis zu gewissem Grade einander kompensierten. Es ist aber sicher, 
daß der aus dem Mindergewicht sich ergebende Ausfall an Fleisch 
größer war, als das Plus der Fleischeinfuhr. 

Durchschnittlich ist das Schlachtgewicht der Rinder in Berlin in 
den letzten Jahren 235 kg und das der Schweine 80 kg gewesen. 
Diese Ziffern bedeuten einen Rückgang gegen frühere Jahre. So 
war 1886, allerdings in einem Vorzugsjahre,. das Durchschnittsgewicht 
288 bezw. 100 kg. Für 1902 ist ein Rückgang auch gegen die letzten 
Jahre konstatiert, dessen Maß aber nicht bekannt ist. Dasselbe auf 
5—10 Proz. angesetzt, würde den Schluß auf einen Rückgang des 
Konsums um ungefähr 15—20 Proz. gestatten !). 

Das wäre der Rückgang des Gesamtkonsums. Da die Be- 
völkerung gewachsen ist, ist der Konsum pro Kopf noch stärker 
gesunken. Man wird der Wirklichkeit nahe kommen, wenn man 
den Konsumrückgang pro Kopf rundweg mit 20 Proz. 
beziffert. 

Nun wurde aber schon oben bemerkt, daß dieser Rückgang nicht 
als durch die Fleischteuerung allein verschuldet gelten kann. Daß 
wird auch durch Erfahrungen aus früherer Zeit bestätigt. Als von 
1896 auf 1898 mindestens für Schweinefleisch eine verhältnis- 
mäßig nicht geringere Preissteigerung eintrat als die heutige, 
wurde der Fleischkonsum dadurch fast nicht affiziert. Der 
Fleischkonsum pro Kopf war in Berlin im Normaljahr 1896 
165/, im Teuerungsjahr 1898 75 kg. Das war ein Rückgang um 
nur etwas über 2 Proz., und im folgenden Jahre war der Konsum, 
trotzdem der Schweinefleischpreis sich nur unwesentlich ermäßigt 
hatte (von 1,10 M. auf 1,36 M.), schon wieder 76?/, kg. Jene 
Teuerung des Schweinefleisches fiel in eine Zeit günstiger wirtschaft- 


1) In Amerika hat — unter, wie man sehen wird, ähnlichen Verhältnissen wie in 
Deutschland — das Schlachtgewicht von Rindvieh eine Herabsetzung im Ausmaße der 
folgenden Ziffern erfahren (nach Fred. C. Croxton, Beef Prices, im Bulletin of the 
Department of Labor, No. 41, July 1902). 

Das mittlere Gewicht des in Chieago aufgetriebenen Rindviehs war in Pfunden: 

Jan. Febr. März April Mai Juni 
1900 1097 1104 1096 1088 1061 1068 
1901 1096 (os 108r 1041 1036 1000 
1902 1014 1007 1005 940 957 964 

Das wäre ein Rückgang, speziell von 1901 auf 1902 im April, wo die Differenz 
am größten, von fast 10, im Juni, wo sie am geringsten war, von 3,6 Proz. Ich führe 
diese Ziffern nur beiläufig an, ohne ihnen selbstverständlich, trotz der vorhin hervor- 
gehobenen Verwandtschaft der Verhältnisse, unmittelbar Beweiskruft für Deutschland zu- 
erkennen zu wollen. 


202 Julius Wolf, 


licher Konjunktur (und allerdings auch günstiger Verhältnisse auf 
dem Rindfleischmarkte; hier war eine Teuerung nicht eingetreten !). 
Die heutige Teuerung fällt in eine Zeit ungünstiger Konjunktur, 
Es leidet keinen Zweifel, daß auf Rechnung dieser ein wesentlicher 
Teil des Rückgangs kommt. Genaueres darüber, inwieweit die 
Steigerung des Preises, inwieweit wirtschaftliche Depression an dem 
Rückgang des Konsums beteiligt ist, läßt sich selbstredend nicht 
sagen. 

Bei Würdigung des Rückganges des Konsums ist jedoch nicht zu 
vergessen, 

1) daß ihm Jahrzehnte hindurch eine Steigerung vorangegangen ist, 

2) daß speziell das Jahr 1901, mit welchem der Vergleich hier 
erfolgt, ein Jahr bemerkenswert hohen Konsums war, 

3) ein gewisser, wenn auch inhaltlich nicht gleichwertiger Ersatz 
von Fleisch temporär möglich ist, wenn der Preis der Ersatzstofie 
gleichzeitig eine Herabsetzung erfährt. 

Genauere Feststellungen mit Bezug auf die Entwickelung des 
Konsums durch die Jahrzehnte hin ermöglicht die sächsische Schlacht- 
steuer für den Bereich des Königreichs. Es darf angenommen werden, 
daß die Entwickelung in Deutschland jener in Sachsen ähnlich 
war, so daß die sächsischen Ziffern eine allgemeinere Verwendung 
gestatten, wenn auch mit den naturgemäßen Vorbehalten, die sich 
daraus ergeben, daß die landwirtschaftliche Bevölkerung immer er- 
heblich weniger Fleisch als die industrielle konsumiert, und die 
absolute Ziffer des Verbrauchs in Deutschland also viel ge- 
ringer ist, als die des industriellen Sachsen. In Sachsen hat der 
jährliche Verbrauch von Rind- und Schweinefleisch betragen: 


insgesamt pro Kopf 

im Durchschnitt Millionen kg kg 
1835/44 26,7 15,8 
1845/54 32,0 16,8 
1855/64 45,3 20,9 
1865/74 62,6 25,0 
1875/84 87,5 29,8 
1885/94 118,9 34.6 
1895 139,9 37,2 
1896 155,7 40,6 
1897 159,8 40,7 
1898 163,4 40,9 
1899 176,0 43,8 
1900 179,7 43,1 


Der Fleischkonsum ist also während des letzten halben Jahr- 
hunderts in ständiger Steigerung begriffen gewesen, und binnen 
40 Jahren hat er sich mehr als verdoppelt. Daß diese Erscheinung 
aber nicht bloß für Sachsen, sondern auch für Deutschland Geltung 
hat, geht unter anderem aus den Berechnungen Huckerts über den 
Fleischkonsum im Deutschen Reiche (Zeitschr. f. Sozialwissenschaft, 
III.) hervor. Danach hätte von 1873—1892 der Fleischkonsum pro 
Kopf in Deutschland sich um 43 Proz. gehoben. Ganz besonders 
stark ist in Sachsen die Steigerung in der allerletzten Zeit gewesen. 


ne 


Studien zur Fleischteuerung 1902/03. 203 


Nachdem ein halbes Jahrhundert hindurch das jährliche 
: Verbrauchsmehr pro Kopf nicht über */,,—!/, kg betragen hatte, 
war zuletzt das des Jahrfünfts 1895/99 mehr als 1 kg. Es ist klar, 
daß unter solchen Umständen eine zeitweilige Reduktion des Fleisch- 
konsums eher ertragen werden kann und anders zu beurteilen ist, 
als wenn der Zeit der Reduktion etwa ein Stillstand des Konsums 
vorangegangen wäre. 

1900, stellenweise auch 1901, waren Jahre exzeptionell hohen 
Konsums, wie auch die Ziffern des Auftriebs auf die Schlachthöfe 
aus ganz Deutschland zeigen. Der Auftrieb auf 22 der größten 
Schlachthöfe ist nämlich gewesen: 


Rinder Schweine 
1892 469 000 1 574 000 
1895 531 000 2 047 000 
1898 591 000 2 179 000 
1899 616 000 2 483 000 
1900 660 000 2 776 000 
1901 675 000 2 541 000 


Von 1898 auf 1901 war also eine Vermehrung der Schlachtungen 
bei Rindern um 14 Proz. eingetreten, bei Schweinen um über 16 Proz. 
Mit dieser Steigerung des Verbrauchs ist der Rückgang, den der 
Konsum im Jahre 1902 gegen 1901 erfahren hat, zu vergleichen. 

Noch wurde darauf hingewiesen, daß eine Fleischteuerung bezw. 
die mit ihr zusammenhängende Einschränkung des Fleischkonsums 
bei niedrigerem Preisstand der anderen Nahrungsmittel minder 
ungünstig beurteilt zu werden vermag. Ein solcher niedrigerer Preis- 
stand der anderen Nahrungsmittel ist jedoch mit Ausnahme der 
Kartoffel nicht nachzuweisen. 


Man bezahlte in Berlin 
Durchschnitt Durchschnitt Durchschnitt 


1900 1901 1902 
für Roggenbrot pro kg. Pf. 24,0 24,2 24.2 
» Weizenbrot ,, jv VW 41,8 41,4 41,7 
» Kartoffeln ,, 100 ,, M. 5,96 6,01 5,29 
„ Butter a "Ha 4e 28 1,17 1,19 1,6 


Es ist also nicht zu verkennen, daß die Fleischteuerung 
eine Beeinträchtigurg der Lebenshaltung des deutschen 
Volkes nach sich gezogen hat. Der Jahreskonsum an Fleisch 
pro Kopf der Bevülkerung wurde für 1900 auf 33,7 kg berechnet (vgl. 
„Ueber die Fleischversorgung des deutschen Volkes“, herausgegeben 
vom Verein zur Wahrung der gemeinsamen Interessen des deutschen 
Handels und der Industrie von Fleisch- und Fettwaren). Das ergibt 
pro Tag und Kopf einen durchschnittlichen Verbrauch von noch nicht 
100 Gramm und bei einem Preise gegenwärtig von rund 150 Pfg. 
pro Kilogramm eine durchschnittliche Tagesausgabe für Fleisch von 
knapp 15 Pfg. Vor Eintritt der Teuerung waren die Kosten der 
gleichen Fleischmenge bei einem Preise von 130 Pfg. pro Kilogramm 
13 Dis, das Plus der Ausgabe wäre also unter Zugrundelegung des 
Verbrauchs von 1901 pro Kopf 2 Pfg. täglich und für die Familie 
von 5 Köpfen 10 Pfg. Auf das Jahr berechnet sich die Mehraus- 


204 Julius Wolf, 


gabe der Familie auf 34 M., und zur Abwendung dieser Mehrausgabe 
bedarf es eines jährlichen Minderkonsums in der Familie von 22?/, kg 
(oder etwas über 4 kg pro Kopf), d. h. einer Einschrünkung des 
Konsums um (än, Proz. Diese Ziffer bezeichnet also die Einbuße, 
welche die Bevólkerung in ihrem Lebensstande durch die Erhóhung 
des Fleischpreises erfährt, wenn der gegenwärtige hohe Preis ein 
Jahr hindurch festgehalten werden sollte. 

Für die individuelle Würdigung auch dieser Ziffern ist übrigens 
nicht außer acht zu lassen, daß der Fleischkonsum in den Städten 
betrüchtlich hóher, auf dem Lande entsprechend niedriger als im 
Durchschnitt ist. So ist der Fleischkonsum in Berlin pro Kopf zu- 
letzt für 1899 auf 76,64 berechnet zu einer Zeit, wo der Reichs- 
durchschnitt nahe an 34 kg war. 


IV. Der Zwischenhandel und die Fleischteuerung. 


Wie schon eingangs erwühnt, werden die Gründe der Teuerung 
von den verschiedenen Seiten sehr verschieden beurteilt, dieselben 
teils im Zwischenhandel, teils in den Grenzsperren, teils in „natür- 
lichen“ Verhältnissen gefunden. Die Vertreter des Produktions- 
interesses sehen den Zwischenhandel und natürliche Verhältnisse als 
Schuldige an. 

Den Zwischenhandel betreffend ist demgegenüber zu konstatieren, 
daß Untersuchungen, die im Laufe der letzten Jahrzehnte öfter an- 
gestellt worden sind, regelmäßig zu Ergebnissen geführt haben, die 
eine solche preisverteuernde Wirkung des Zwischenhandels, mindestens 
insoweit der Fleischer in Betracht kommt, nicht wahrscheinlich machen. 
Es wurde festgestellt 1) daß der Fleischpreis im ganzen und großen 
den Viehpreisen folgt, 2) daß allerdings bei sinkenden Viehpreisen 
der Fleischpreis nur zögernd herabgesetzt wird, viel- 
leicht bei einer Aufwärtsbewegung des Viehpreises diesem rascher 
folgt als bei einer Abwärtsbewegung, 3) es im ganzen aber das Be- 
streben der Fleischer ist, die Hebungen und Senkungen des Fleisch- 
preises nicht so groß wie die des Viehpreises werden zu lassen, so 
daß der Gang des Fleischpreises ein viel gleichmäßigerer ist als der 
des Viehpreises, und sonach 4) der Zwischenhandelsgewinn des 
Fleischers Anlaß zu berechtigten Aussetzungen nicht gibt, d. h. im 
allgemeinen als unangemessen nicht bezeichnet werden kann. 

Auch bei einer Prüfung der Preisentwickelung der letzten 
Zeit kommt man zu diesen Resultaten. Der Preis ist in Berlin 
gewesen Pfennige pro Pfund 

im Durchschnitt im September 


1900 1901 1902 
für Rindvieh I. Qualität (Schlachtgewicht) 64,63 63,79 69,50 
„ Rindfleisch, Keule 71 72 7 
5 d Bauch 56 57 64 
„ Schweine (fleischige) (Lebendgewicht 
abzüglich 20 Proz.) 47,11 56 62 
» Schweinefleisch, Rücken 76 80 89 
M ge Schulter und Bauch 60 63 72 


I 
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Studien zur Fleischteuerung 1902/03. 205 


Die Preissteigerung für Rindvieh war also von 1900 bis Sep- 
tember 1902 8 Proz., die für Rindfleisch 12!/, Proz.!), die Preis- 
steigerung für Schweine 30 Proz., die des Schweinefleisches 
20 Proz. Rindfleisch ist rund um die Hälfte mehr im Preise ge- 
stiegen als Rindvieh, dafür ist die Steigerung des Schweinefleisch- 
preises gegen die Steigerung des Schweinepreises um ein Drittel 
zurückgeblieben. Die Fleischer sind also beim Schweinefleisch 
der Steigerung des Schweinepreises nur unvollständig gefolgt und 
haben sich beim Rindfleisch schadlos gehalten. Die Schadloshaltung 
ist aber eine unvollkommene gewesen, da bei Schweinen die Steige- 
rung des Fleischpreises um ca. 6 Pfg. pro Pfund hinter jener des 
Schweinepreises zurückblieb, dagegen die Steigerung des Rindfleisch- 
preises nur um 2—3 Pfg. über die des Rindviehpreises hinausging, 
wobei noch zu berücksichtigen ist, daß mehr Schweine- als Rindfleisch 
verkauft wird. 

Den Fleischern kann die Schuld an der Teuerung des Fleisches 
in Sinne der Herbeiführung derselben jedenfalls nicht beigemessen 


werden ?) 3), 


1) Weiter oben ist von 15 Proz. Erhóhung die Rede gewesen. Die Differenz er- 
giebt sich 1) aus Differenzen des vorliegenden amtlichen Materials, 2) aus dem Um- 
stand, daß oben das Jahrzehnt 1889/98 mit September 1902 in Vergleich gestellt 
war und die Preise von 1902 nur ungefähr mit denen jenes Jahrzehntes überein- 
stimmen. 

2) Auch die bayerische Enquete kommt zu dem Ergebnis, daß im Durchschnitt 
der Städte „der Fleischpreis nicht mehr als der Viehpreis gestiegen ist“. 

Uebrigens verdient erwähnt zu werden, daß bei geringerem Konsum, ein- 
gschränktem Absatz, die Kosten, welche den Fleischern auf die Gewichtseinheit 
ihres Absatzes erwachsen, größere sind, da die Generalausgaben keine ebenmäßige 
Verminderung erfahren, die Fleischer also bei gestiegenen Viehpreisen, insofern diese 
eine Einschränkung des Konsums zur Folge haben, berechtigt wären, ihren Aufschlag 
etwas höher zu halten als in den Zeiten niedrigerer Viehpreise mit entsprechend größerem 
Konsum. Demgegenüber kommt allerdings kostenmindernd die im Fleischergewerbe 
vorhandene Tendenz des Uebergangs aus kleineren zu größeren Handwerksbetrieben (vgl. 
zuletzt Schomerus, Das Kleingewerbe, insonderheit das Bäcker-, Konditor- und 
Fleischergewerbe, 1902 und A. Rothe, Das deutsche Fleischergewerbe, 1902) und die Tat- 
sache, daß die Verwertung aller Nebenprodukte, wie sie jetzt stattfindet, gleichfalls die 
Differenz zwischen Vieh- und Fleischpreis herabsetzen sollte, in Betracht. Speziell zu 
letzterem Punkte meint auch der früher erwähnte amerikanische Berichterstatter: „The 
great packers of the country in developing their business have been able to utilize all 
the by-produets, so that no part is really lost. Developing this branch of their business 
has of course enabled them to reduce to some extent the margin between the price of 
live cattle and of dressed beef." Immerhin handelt es sich hier zum Teil um Ent- 
wiekelungen, die erst im Laufe längerer Zeit wahr werden und denen mit entgegen- 
gesetztem Erfolge wieder die Steigerung der Löhne und Mieten gegenübersteht. Vgl. 
Georg Adler, Fleischergewerbe, im Handwörterbuch der Staatswissenschaften, und die 
daselbst angeführte reiche Literatur, sowie Wirminghaus, Fleischergewerbe, in Elsters 
Volkswirtschaftlichem Wörterbuch. — Bemerkenswert ist auch eine jüngste Aeußerung 
des sächsischen Landeskulturrats, wo davon die Rede ist, daß die Gewinnberechnung 
der Fleischer einerseits nicht gerade bescheiden sei und daß andererseits, namentlich in 
den Großstädten, ein wahrer Luxus mit den Verkaufsläden getrieben werde. Dazu 
kämen die hohen Spesen, welche den Fleischern dadurch erwüchsen, daß sie heutzutage 

womöglich jedes halbe Pfund Fleisch bis an das äußerste Ende der Stadt schicken 
müßten. Das Publikum sei in dieser Hinsicht verwöhnt worden, und was früher eine 
Gefälligkeit gewesen sei, werde jetzt verlangt. 

3) Das Vorgesagte war geschrieben, bevor der Viehpreis wieder den Weg nach 


206 Julius Wolf, 


Indes ist mit den Fleischern der Begriff des Zwischenhandels 
im Fleischergewerbe nicht erschópft. Auch gelten die gegen den 
Zwischenhandel gerichteten Angriffe in vielen Fällen nicht den 
Fleischern, sondern dem Viehhandel, d. h. jenen Personen, welche 
das Vieh aufkaufen und den Fleischern liefern!). Es wird ausge- 
sprochen: „Großhändler und Schlachter beeinflussen die Preise viel 
stärker als die Viehproduzenten“, oder: „Händler halten gekauftes 
Vieh zurück“. Von „Händlerringen“ ist öfter die Rede. Das wird 
dahin erläutert, daß die Kleinhündler und Fleischer von den Groß- 


abwärts zu nehmen begonnen hatte. Das ist jetzt (nach weiter unten mitgeteilten Daten) 
der Fall. Trotzdem suchen die Fleischer den Fleischpreis zu halten. 
Haben sie sonach auch die Teuerung von 1902 sicher nicht herbeigeführt, so ko mnt 
ihnen zweifellos eine Schuld zu an den hohen Preisen, mit denen das 
Jahr 1903 begonnen hat und bisher festhült. Ueber die mögliche Rolle der „Händler“ 
vergl. die folgende Anmerkung. 

1) Für die Rolle der Händler auf dem deutschen Zentralviehmarkte vergl. die Fest- 
stellung Rothes, Das Fleischergewerbe, 1902, S. 52 nach der „Deutschen Fleischer- 
zeitung“ für Berlin: „Von den eingesandten Tieren gehören etwa 95 Proz. Händleru 
und nur 5 Proz. Landwirten.“ Im übrigen weiß Rothe von den Händlern zu melden: 
„Die Händler reisen im ganzen Lande umher, um Vieh aufzukaufen. Die Lieferanten 
sind die großen Mastanstalten und die Landwirte, denen die Händler, um sie in Ab- 
hängigkeit zu erhalten, nicht selten Barvorschüsse gewähren.“ Was die Rolle der 
Kommissionäre betrifft, so sind nach Rothe (S. 55) kapitallose Händler vollständig von 
ihnen abhängig, während sie auf solche, die über genügende Barmittel verfügen, nicht 
im geringsten einen Einfluß besitzen. Wie mit den Händlern, steht es auch mit den 
Fleischern. In den meisten größeren Städten hatte sich früher ein Abhüngigkeits- 
verhältnis der kleinen Meister von den Kommissionüren oder Händlern infolge der 
Borgwirtschaft herausgebildet. Man borgte die neue Ware und bezahlte die alte, wo- 
durch man immer mehr von einem bestimmten Händler abhängig wurde. So liegen 
die Verhältnisse noch in vielen Orten Deutschlands. Von einem Handel ist hier nicht 
mehr die Rede. Der Käufer ist gezwungen, das zu nehmen, was ihm angeboten wird. 
Ihm kommt ein Sinken des Preises bei Vermehrung des Angebots zunächst nicht zu 
statten, während ein anderer bedeutenden Vorteil daraus zieht. Das gilt von den 
mittellosen Fleischern. Die Fleischer dagegen, so teilt Rothe mit (S. 59), die den 
Händler oder Kommissionär immer bar bezahlen, d. h. jederzeit über genügende Bar- 
mittel verfügen, kaufen in der Regel günstig ein. Sie benutzen auch oft geschickt die 
ungünstige Lage des Händlers am Schlusse des Marktes. 

Die Händler betreffend, kommt übrigens Einnahmen mindernd auch das große 
Risiko, das sie in der Krediterteilung laufen, in Betracht. Wie beträchtlich unter Um- 
ständen die ihnen daraus erwachsenden Verluste sind, schildert beispielsweise der Bericht 
der Aeltesten der Kaufmannschaft von Berlin für 1894 folgendermaßen : „Obwohl der 
Viehhandel durch die Veterinärmaßregeln, durch wiederholte Sperrung der Reichs- 
grenzen, auch durch Ausfuhrsperren vielfach gestört wurde, hatte er doch im Jahre 
1894 manche günstige Momente. Die Mißernte in verschiedenen Bezirken des Reiches 
im Jahre 1893 hatte zur Verminderung der Viehbestände genötigt: eine Menge noch 
unreifer Tiere wurde damals geschlachtet. Die Lücken in den Ställen mußten unter 
der Gunst des reichen Futterjahres 1894 möglichst schnell durch Einfuhr vom Aus- 
lande ersetzt werden, und so hob sich letztere erheblich, den Umsatz der Händler ver- 
mehrend. Weniger günstig freilich erwiesen sich diese Verhältnisse den Schlächtern 
der Großstädte, insbesondere Berlins. Die Fleischpreise konnten den Marktpreisen für 
Vieh unter der Konkurrenz grosser Einfuhren geschlachteten Fleisches nicht folgen. 
Insbesondere litten darunter die Berliner Großschlächter, welche im günstigsten Falle 
mit ungenügendem Gewinn, in vielen Fällen aber ohne Gewinn und sogar mit Verlust 
arbeiteten, — Zahlungsstockungen und sogar Zahlungseinstellungen blieben nicht aus, 
deren Folgen meist die Viehkommissionshandlungen zu tragen hatten, welche den 
Schlächtern die Tiere auf Kredit zu liefern pflegen.“ 


Studien zur Fleischteuerung 1902/03. 207 


lieferanten vielfach stark abhängig sind (als Schuldner) und darum 
genötigt, die von diesen diktierten Preise zu bezahlen. „Den Schaden 
davon aber haben die Konsumenten.“ 


Bezüglich der Händler ist eine Kontrolle an der Hand von 
Ziffern nicht in der Weise möglich, wie bei den Fleischern. Hier 
läßt sich bloß aussprechen, 1) daß von sachverständiger Seite eine 
Schuld der Händler ebenso sehr geleugnet, wie von der anderen be- 
hauptet wird, 2) daß Material, welches ihre Schuld wahrscheinlich 
machen würde, nicht in entfernt ausreichendem Maße beigebracht zu 
werden vermochte. Die Möglichkeit preissteigernder Manipulationen 
auf Seite der Händler ist sicher nicht ausgeschlossen. Aus solchen 
sind denselben in letzter Zeit zweifellos öfter „Supergewinne“ er- 
wachsen, wo der „legitime“ Gewinn gerade schon groß genug war. 
Ein Weiteres läßt sich aber nicht sagen, und eine Zurückführung 
der Teuerung auf ihr Eingreifen kann nur als naiv bezeichnet werden. 


Gelegentlich wurde auch den Schlachthäusern die Schuld 
oder ein Teil der Schuld an der Preissteigerung des Fleisches 
zugeschoben. „Durch die Schlachthäuser, die sich mit 8 Proz. ver- 
zinsen dürfen, sei das Fleisch verteuert worden“, wurde u. a. vom 
Landwirtschaftsminister erklärt. In der Tat ist die Einhebung von 
Gebühren in einer Höhe, „daß durch ihr jährliches Aufkommen die 
Kosten der Unterhaltung der Schlachthausanlage und des Betriebes, 
sowie ein Betrag von 8 Proz. des Anlagekapitals und der etwa ge- 
zahlten Entschädigungssumme gedeckt werden“, den Schlachthäusern 
durch das Kommunalabgabengesetz von 1893 gestattet!). Die Ueber- 
schüsse erreichen auch absolut beträchtliche Beträge. So war der 
Ueberschuß des Berliner städtischen Viehhofes im Etatsjahr 1901 
1607500 M.?. Trotzdem ist schon seit längerem der Nachweis 
geführt, daß den Schlachthöfen eine Wirkung in der Richtung der 
Verteuerung des Fleisches nicht zukommt, indem die Erleichterungen, 
welche sie bieten, schwerer ins Gewicht fallen als die von ihnen 
erhobenen Gebühren ë), unter allen Umständen aber auf die Gewichts- 


1) Eine Zusammenstellung der Gebühren deutscher Schlachthöfe liefert G. Hirsch- 
berg im Statistischen Jahrbuch deutscher Städte, 9. Jahrg., S. 299 ff. 

2) Die Detaillierung fehlt noch. Genauere Ziffern liegen für 1900 vor. Für 
dieses Jahr teilt der Bericht über den städtischen Vieh- und Schlachthof mit: „Das 
finanzielle Resultat der Bewirtschaftung des städtischen Vieh- und Schlachthofs ist 
das günstigste seit seinem Bestehen. Der Viehhof ergab nach Abzug der Zinsen 
und Tilgungsraten sowie einer Abzahlung zum Reservefonds von 100000 M. einen 
Reinüberschuß von 710388 M., der Schlachthof von 290506 M. Die zusammen 
1100894 M. UeberschuB — einschließlich der Dotierung des Reservefonds — er- 
gaben, wenn die 337656 M. Tilgungsquote und 546690 M. gezahlter Zinsen hinzu- 
gerechnet werden, einen Ueberschuß über die Betriebskosten von 1985240 M. 
Es ergibt sich eine Verzinsung des gesamten noch nicht amortisierten Baukapitals mit 
12,8 v. H. 

3) Das ist heute die Ueberzeugung aller mit den Verhältnissen des Fleischer- 
gewerbes vertrauten Kreise. Als die Schlachthäuser errichtet wurden, war die Befürch- 
tung allgemein, daß sie eine Verteuerung des Fleisches nach sich ziehen würden. „Aber“, 
sagt Rothe, a. a. O., S. 94: „wie in Berlin, so ist auch in anderen Städten die so 


208 Julius Wolf, 


einheit Fleisch berechnet diese Gebühren irgendwelche Bedeutung 
nicht besitzen. Woher auch die plötzliche Fleischteuerung 1902, wo 
doch die Gebühren schon seit Jahren erhoben werden! 

Auch hier ist die Schuldfrage also zu verneinen. Von agrarischer 
Seite wurde weiter der amerikanische Fleischtrust als Mit- oder 
Hauptschuldiger angeklagt. Auch über ihn muß darum mit einigen 
Worten gesprochen werden. 

Ueber die Rolle des amerikanischen Fleischtrusts in 
der gegenwärtigen (und künftigen) Schweinepreissteigerung ließ 
sich ein Flugblatt des Bundes der Landwirte wie folgt aus: „Die 
gleichen Verhältnisse wie im Rindermarkt liegen im internationalen 
Schweinemarkt vor. Daß gegenwärtig die Preise einen normalen, 
die Kosten der Fütterung deckenden Stand erreicht haben, liegt nicht 
in spezifisch deutschen Verhältnissen begründet, sondern die deutsche 
Landwirtschaft verdankt dies der Tatsache, daß die den Welt- 
markt diktierenden Herren Armour und Konsorten in 
Chicago seit 2 Jahren beständig à la hausse gegangen 
sind, nachdem sie vorher, um die Herrschaft über den maßgebenden 
amerikanischen Markt zu erringen, jahrelang die entgegengesetzte 
Tendenz verfolgt haben. Wir haben in früheren Veröffentlichungen 
schon wiederholt darauf hingewiesen, daß die jahrelangen enormen 
Kapitalaufwendungen der amerikanischen Großspekulanten nicht etwa, 
wie viele Konsumentenvertreter damals glaubten, die dauernde Ver- 
billigung des Fleischkonsums zum Ziele hatten. Durch die provi- 
sorische Herabdrückung der Preise sollte nur das dieser Konkurrenz 
nicht gewachsene selbständige Fleischergewerbe ruiniert und die un- 
mittelbare Konsumversorgung in die Hände abhängiger Fleisch- 


oft prophezeite Preissteigerung ausgeblieben.“ Sie hat sich, wie die Veröffentlichungen 
des Kaiserl. Gesundheitsamtes, Bd. 21, 1897, S. 649, also eine offizielle Quelle mit- 
teilen, in mehr als 300 Schlachthöfen in Preußen nicht bestätigt. 

Zuletzt ist auch nicht zu vergessen, daß die Berliner Erfahrungen eine Verall- 
gemeinerung nicht ohne weiteres zulassen. Im Jahre 1598 hat nach Hirschberg der 
Ueberschuß deutscher Schlacht- und Viehhófe in Prozenten des Anlagekapitals betragen: in 


Duisburg 13,32 Proz. Krefeld 2,70 Proz. 
Freiburg 6,37 ñ München ads "ou 
Wiesbaden 5,70. Liegnitz 1,97 
Magdeburg 5,68 , Aachen 1,88 
Düsseldorf 5,43 , Mannheim 1,80 
Lübeck 5,23 yi Barmen 1,62 . 
Leipzig 5,04 n Braunschweig 13] , 
Frankfurt a. M. 491 ^» FS WO i 
Erfurt 470 „ Frankfurt a. O. 0/19. 5 
Straßburg 449 , Bochum 0,87 u 
Hamburg 4,21 , Görlitz 0,38 u 
Yres]: Hannover 013 „ 
Königsberg 3,81 y 

Dortmund 3,85 u 


Danzig 3,60  ,, 


Studien zur Fleischteuerung 1902/03. 209 


verkäufer geleitet werden, denen die großkapitalistischen Unternehmer 
dann nach Belieben die Preise vorschreiben würden. 

„Diese Entwickelung hat sich nun seit 2 Jahren in Amerika voll- 
zogen, und das Resultat ist zunächst die Erhöhung der Preise auf 
den jetzigen Stand. Aber man wird hierbei nicht stehen bleiben. 
Vor einigen Tagen gelangte die Nachricht hierher, daß der Zusammen- 
schluß der Chicagoer Großfirmen Armour, Swift, Moris und Kon- 
sorten zu einem einzigen Unternehmen nunmehr Tatsache geworden 
ist. Allein die erstgenannten drei Firmen hatten im letzten Jahre 
einen Reingewinn von zusammen 75 Mill.M. Das Gründungskapital 
der neuen gemeinsamen Firma beträgt 2 Milliarden M. An die bis- 
herige Preishebung wird sich nun der Fleischwucher schließen.“ 

Soweit das agrarische Flugblatt. Die völlig entgegengesetzte 
Auffassung zeigen folgende zwei Aeußerungen, die, beide aus ver- 
schiedenen Lagern kommend, beide genau das Gleiche besagen. 
Der „Getreidemarkt“, herausgegeben von Professor Ruhland, zitiert 
in seiner Nummer vom 30. April 1902 als eine Aeußerung aus 
amerikanischen Farmerkreisen die folgende: „Daß an der Er- 
höhung der Preise für Rindvieh und frisches Rindfleisch die Ver- 
einigung der großen Schlächtereifirmen, der sog. „bis seven“, ihren 
Anteil hat, unterliegt keinem Zweifel. In dieser Saison jedoch haben 
hierzu auch andere, und zwar stärkere Faktoren mitgewirkt, und 
man kann ruhig sagen, daß diePreise niemals mehr als 
jetzt durch das Verhältnis von Angebot und Nachfrage 
bestimmt werden.“ Es wird nun eine Erörterung der Verhält- 
nisse von Angebot und Nachfrage geboten und zum Schluß gesagt: 
„Die gegenwärtige Aufbesserung der Viehpreise ist also wohl nicht 
einseitig auf das Konto von „Preistreibereien des ‚Beef Trust‘ zu 
setzen“. — Ganz ähnlich schreibt der englische Konsul in Chicago 
in einem im September erstatteten Bericht „Cattle and meat trade 
of the United States": „A great deal has been written lately 
about the meat packers having formed or being about to form a 
Trust or Combine so as to enable them to do away with all competition 
and raise the price of meat. That such a Combine is likely to come, 
is nearly certain, but it is highly improbable that the 
price of meat will be raised, in fact the opposite is 
more likely. The price of meat is regulated by the demand, and 
if the price rises, the demand falls off.“ 

Die Verweisung auf den Fleischtrust als Schuldigen erweist sich 
also als nicht stichhaltig. — 

Von Händlern, Landwirten und sonstigen Sachverständigen ist 
schließlich öfter der Meinung Ausdruck gegeben worden, einfach die 
höheren Schweinefett- und Speckpreise hätten die Steigerung des 
Schweinepreises hervorgebracht. Nur auf diese Weise schien Vielen 
die auffällige Erscheinung steigenden Schweinepreises trotz 
vermehrten Angebots (oder trotz reduzierten Konsums) erklärt 
werden zu können. In dem Bericht über den Berliner Vieh- und 
Schlachthof für 1900 wird ausgesprochen: „Auffallend ist aber die 

Dritte Folge Bd. XXV (LXXX). 14 


210 Julius Wolf, 


Steigerung der Schweinpreise trotz des großen Angebots und der um 
13 v. H. gesteigerten Schlachtungen. Die besten Schweine sind von 
47,98 M. des Vorjahres auf 53,00 M. oder um 10,5 v. H., die gerin- 
geren von 41,30 M. des Vorjahres auf 45,32 M. oder um 9,7 v. H. 
gestiegen. Die Steigerung begann erst im Juli 1900 und betrug im 
Dezember 1900 für beste Schweine gegenüber dem Dezember des 
Vorjahres 12,1 v. H., für geringere fast 19,5 v. H. Und alles dies 
bei anscheinender Ueberfüllung des Marktes!“ In pri- 
vaten Aeußerungen an den Verfasser wurde der Ueberzeugung Aus- 
druck gegeben: „Die eigentümliche Erscheinung, daß auf dem Schweine- 
markte trotz der vermehrten Zufuhr hóhere Preise wie 
in den Vorjahren notiert wurden, hat ihre Begründung in den 
derzeit stark erhöhten Schweinefett- und Speckpreisen*. 

Was ist dazu zu sagen? Die entscheidende Frage ist offenbar 
die, ob der Schweinepreis den Preis von Schweineschmalz oder um- 
gekehrt der Preis von Schweineschmalz den Schweinepreis bestimmt! 
Die Annahme liegt vielleicht nahe, daß, da das Schwein das Primäre, 
das Schmalz das Sekundäre, aus dem Preis des Schweines jener des 
Schmalzes hervorgeht. Der Volkswirt wird geneigt sein, eine Wechsel- 
wirkung anzunehmen. Die Kosten der Schweineproduktion 
kommen auf der einen Seite für die Höhe des Schmalzpreises in 
Betracht, und was 1) der Konsument für Schweineschmalz zu 
zahlen bereit ist, 2) der Konsument für Schweinefleisch zu zahlen 
bereit ist, kommt bei der Höhe des Schweinepreises rückwirkend auf 
diesen gleichfalls in Betracht. Im allgemeinen sind aber die Pro- 
duktionskosten das den Preis stärker beeinflussende 
Moment, wenn nämlich nach Lage der Dinge der Konsument 
nicht geneigt oder gezwungen ist, bei steigenden Preisen den Kon- 
sum aufzugeben. 

Schon aus dieser Darstellung geht hervor, daß in Aeußerungen, 
wie den oben angeführten, die Bedeutung des Schmalzpreises für 
den Schwein- und Schweinefleischpreis überschätzt sein dürfte. Be- 
stätigt wird diese Annahme durch die Erfahrung des Marktes. 

Nach Daten, welche der „Verein zur Wahrung der gemeinsamen 
Interessen des deutschen Handels und der Industrie von Fleisch- und 
Fettwaren“ in einer Denkschrift „Ueber die Fleischversorgung des 
deutschen Volkes“ zusammengestellt hat, war der Preis von 


amerikanischem Schmalz Schweinen 
verzollt in deutschen Seehäfen in Berlin 
Mark 
100 kg 50 kg 

1898 63 56 
1899 60 42 
1900 80 42 
1901 88 60 
1902 erste Hälfte 106 67 


Die Diskongruenz ist in der Tat eine auffallende. 
Die Schwankungen drücken sich nach der gleichen Quelle 
in folgenden Prozentziffern aus: 


Studien zur Fleischteuerung 1902/03. 211 


Amerikanisches Schmalz Schweinepreis 
verzollt in Berlin 
1898/99 5 Proz. Baisse 20 Proz. Baisse 
1899/1900 33 » Hausse unver. 
1900/01 IO o S 42 Proz. Hausse 
1901/02 20. .5 e 10. 34 a 
von 1898—1900 27. -y Se 25 , Baisse 
von 1898—1902 68 d 20 ,„ Hausse 


Die Abhängigkeit des deutschen Schweinepreises vom amerika- 
nischen Schmalzpreis ist also sicher keine vollständige. Sie ist in 
den Ziffern schwer wahrzunehmen; ihnen zufolge wäre ein 
Zusammenhang überhaupt kaum vorhanden. 

Wie steht es aber um das Verhältnis des Schweinepreises zum 
einheimischen Schmalzpreis? Darüber bietet die vorerwähnte 
Schrift folgende Daten: 


Einheimisches Schmalz Schweinepreis 
in Preußen in Berlin 
Mark 
100 kg 50 kg 
1898 159 56 
1899 156 42 
1900 155 42 
1901 164 60 
1902 erste Hälfte 172 67 
Die Schwankungen betrugen: 
Einheimisches Schmalz Schweinepreis 
in Preußen in Berlin 
1898/99 2 Proz. Baisse 20 Proz. Baisse 
1899/1900 Y c5 » unver. 
1900/01 6 „ Hause 42 Proz. Hausse 
1901/02 CR » IO , FA 
von 1898—1900 3 » Baisse 25 ,„ Baisse 
von 1898—1902 9 ,  Hausse 20 ,, Hausse 


Hier ist ein Zusammenhang nachweisbar. Immerhin ist 
aber deutlich, daß der Preis einheimischen Schmalzes den 
Schweinepreis nicht in seinen Bann zwingt. Zweifellos ist ferner 
ein gewisser — wenn auch erstaunlich lockerer — Zusammenhang 
zwischen den Preisen amerikanischen Schmalzes und einheimischen 
Schmalzes, und durch das Mittel des Preises deutschen Schmalzes 
wirkt der amerikanische Schmalzpreis auch auf den deutschen 
Schmalzpreis ein. Klar ist aber nach dem Vorgesagten, daß die 
Erhóhung, die der Schweine- und Schweinefleisch- 
preis in Deutschland erfahren hat, durch den Gang 
des Schmalzpreises nicht bestimmt worden sein kann. 


V. Die Grenzsperren und die Fleischteuerung. 


Von Seite der Vertreter des Konsums ist den für Vieh und 
Fleisch gegenwärtig bestehenden Grenzsperren die Schuld an der 
Fleischteuerung gegeben. 

. Dem scheint entgegenzustehen 1) daß, trotzdem die Grenzsperren 
im gegenwürtigen Umfange seit 1896 bestehen, es auch schon vor 
14* 


212 Julius Wolf, 


1396 Preisbewegungen ganz ähnlich der gegenwärtigen gegeben hat; 
man vergleiche den gegen heute nicht geringeren, sondern (für 
Schweinefleisch) größeren Preissprung von 1888 auf 1890; 2), daß, 
trotzdem die Grenzsperre jenes Datum 1596 trägt, die sog. Fleisch- 
not allerjüngsten Datums ist, d. h. hinter 1902, frühestens 1901 nicht 
zurückgeht. Man sollte denken, daß, wenn der einheimische Vieh- 
stand ungenügend ist, die Grenzsperre schon viel früher zu einer 
Kalamität gleich der heutigen hätte führen müssen. Auch daß, wie 
noch zu zeigen sein wird, 3) die Preissteigerung außerhalb Deutsch- 
lands dort, wo Grenzsperren gleich den deutschen nicht bestehen, 
vielfach nicht kleiner war als hier, läßt es als unwahrscheinlich er- 
scheinen, daß die Grenzsperren die einzige oder vorwiegende 
Schuld an der Teuerung tragen. 

Dagegen ist auf der anderen Seite zuzugeben, daß der Viehpreis 
in einigen Ländern ohne Grenzsperren und zwar gerade in solchen, 
aus denen Deutschland sonst Vieh bezieht und auch diesmal hätte 
Vieh beziehen können, wenn die Grenzsperren nicht beständen, nicht 
so stark gestiegen ist wie hier. 

Welches Urteil ist unter solchen Umständen über die Wirkung 
der Grenzsperren zu fällen? 

Um das eben Gesagte zunächst näher auszuführen, so ist fol- 
gendes zu bemerken. 

Auch vor der Zeit der Grenzsperren ist der Preis in Steigerung 
begriffen gewesen. Wie früher gezeigt, geht diese Preissteigerung 
bis auf 1820 zurück, und sie hat betragen für Schweinefleisch (pro kg) 


aus dem Jahrzehnt 1821/30 in das Jahrzehnt 1831/40 IO Pig. 
Lp A En P 1831/40 , , 3 1841/50 13 6 
jf i m 1841/50 , , 5 1851/60 22 u 
Di. s à: 1851/60 u » 1861/70 2 7 

ER Ap ^ 1861/70 p p n 1871/80 21 e 
D D " (1871/80... j, o 1881/90 minus 3 ,, ) 
» D » 1881/90 „p  , Fr 1591,00 8 % 
» en ù 1891/00 „ „ Jahr 1902 ca. 20% 4 


Eine Steigerung, wie sie sich gegenwärtig gegen den Durchschnitts- 
preis von 1891/1900 mit 20 Pfg. ergiebt, ist also schon dagewesen. 
Sie würde an sich nicht gestatten, den Grenzsperren eine Schuld, 
sei es anch nur als Mitschuld, an dem gegenwärtigen Preisstand 
zuzuwälzen, wiese nicht die Preisentwickelung in einigen außer- 
deutschen Gebieten darauf hin, daß die Grenzsperren, wenn sie auch 
nicht die Preisentwickelung und den gegenwärtigen Preisstand ge- 
schaffen haben, doch den Preis immer um ein gewisses höher halten 
als er sonst wäre. Am lehrreichsten in dieser Richtung ist der 
Vergleich mit der Entwickelung der Preise in Oesterreich. Auf 
dem maßgebenden Wiener Markte war der Preis 

(Siehe Tabelle auf S. 213.) 

Hier also von 1900 bis Ende Oktober 1902 eine Preissteiverung 
um 7,5—13—17—18 Proz., im Mittel knapp 15 Proz. gegen 30 Proz. 
in Preußen. 


Studien zur Fleischteuerung 1902/03. 213 


für Fleischschweine für Fettschweine 
Durchschnitt Heller pro kg Lebendgewicht 

1898 64 —102 76 — 92 

1899 72 — 94 72 — 86 

1900 60 — Bei 73 — 93 

1901 59!|,— 88 66',— 86 
31. Oktober 1898 70 — 90 76 — 91 ( 92) 

31. = 1899 64 — 82 70 — 76 
31. E 1900 60 — Bo 77 — 90 ( 92) 
31.  , — 1901 66 — 86 66 — 82 ( 83) 
31. e 1902 70 — 92 86 —105 (106) 


Es ist danach zweifellos, daß eine Oeffnung der Grenzen gegen 
Oesterreich die Aufwärtsbewegung des Schweinepreises etwas ver- 
mindert hätte. Infolge der Grenzsperren ist der Preis in Deutschland 
etwas höher, als er sonst wäre. Zur Erklärung des gegenwärtigen 
Preises reichen trotzdem, selbst eine gewisse preiserhöhende Wirkung 
der Grenzsperren zugegeben, diese entfernt nicht aus. Das 
ergibt sich unter anderm daraus, daß andere Länder ohne Grenz- 
sperren, auch richtige Viehproduktions- und Exportländer, keine ge- 
ringere Preissteigerung gehabt haben wie Deutschland! Vor allem 
gilt das für Nordamerika, ähnlich für Dänemark. 

Eine etwas nach Mitte 1902 aufgenommene, mir nur nach in- 
direkten Quellen zugängliche internationale Preisstatistik hat ergeben, 
daß der Schweinepreis zur Zeit, wo er in Berlin um 23 Proz. sich 
erhöht hatte, in Chicago um 32 Proz., in Kopenhagen um 35 Proz. 
gestiegen war! 

Für Rindfleisch stehen aus Amerika folgende Ziffern aus Crax- 
tons Bericht (im Bulletin of the Department Labor, Nr. 41, Juli 1902) 
zur Verfügung, deren Vergleich mit denen der Entwickelung des Preises 
in Deutschland sich als recht instruktiv erweist. Der Preis ist gewesen 


in Berlin in Boston in Chicago 
Keule Bauch tindfleisch erster Qualität 

Durchschnitt Mark pro 100 kg Dollars pro 100 Pfund 
1890 1,36 1,15 1. Juni 1890 6,374 4,724 
1891 1,41 1,17 1 » 1891 9,25 5,70 
1592 1,39 1,17 1$ 7 1899 6,75 4,311 
1593 1,39 1,11 1 » 1893 7,621 5,62} 
1894 1,40 1,10 1. , 1894 6,374 4,174 
1895 1,39 1,07 LG ;, 1895 9,50 5,574 
1896 1,38 1,06 1. e 1896 7,574 4,10 
1897 1,36 1,11 f. 3 1897 8,00 5,021 
1898 1,40 I,11 1. , 1898 8,75 4,90 
1899 1,40 1,09 l; en A800 8,00 5,30 
1900 1,40 1,11 1 5: 1900 7,15 5,374 
1901 1,44 1,14 1 » 1901 7,624 5,75 
Sept. 1902 1,58 1,27 1. An 1902 9,124 7,16 


Der Preissteigerung in Berlin von 1900 bis September 1902 um 
rund 15 Proz. steht also eine solche in Boston und Chicago vom 
1. Juni 1900 bis 1. Juni 1902 um rund 18 und 32 Proz. gegenüber !). 


1) Infolgedessen kann Craxton auch konstatieren: , During the last few months per- 
haps no subject has been more discussed by the press and the publie than has the advance 
in the price of fresh beef."  Vergl. auch Cattle and Meat Trade of the United States 
in den englischen „Diplomatie and Consular Reports“, No. 581, Miscellaneous series, 1902. 


214 Julius Wolf, 


Für Dänemark ist vor kurzem eine Zusammenstellung ver- 
öffentlicht worden, wonach der Preis für 100 Pfund Schlachtgewicht 
von Extraklasseschweinen der großen Genossenschaftsschlächterei im 
Amt Aalborg betragen hat Ende September in den Jahren 


1899 32 Kronen 
1900 41 

1901 45 

1902 50 D 


Es wurde hinzugefügt: „Die Schweinepreise sind gegenwärtig 
höher als jemals. Berechnet man das Schlachtgewicht eines Schweines 
auf 130 Pfd., so beträgt der Preis jetzt 65 Kr. gegen nur 41,60 Kr. 
im Jahre 1899. Der Bauer nimmt also für ein Schwein jetzt 23,40 Kr. 
mehr ein als vor 3 Jahren. Der dänische Landwirtschaftsminister 
hatte danach guten Grund zu sagen: die Landwirtschaft habe nie 
so gute Zeiten gehabt als gerade jetzt.“ — Auch hier also die Preis- 
steigerung stürker als in Deutschland! 

Andere Gebiete freilich haben eine gleich starke Erhóhung wie 
Deutschland nicht erfahren. Für Oesterreich wurde das bereits ge- 
zeigt. In Paris stieg der Preis von Schweinefleisch in der Periode, 
während welcher er in Berlin um 23 Proz. hinaufging, nur um 17 Proz, 
und nach einzelnen Berichten zu schließen, ist die Preiserhöhung 
auch in Rußland gegen die in Deutschland wesentlich zurückgeblieben. 

Die Eindrücke, die man aus diesem Tatsachenmaterial empfüngt, 
sind diese: Die Grenzsperren haben den Fleischpreis in Deutschland 
gegen früher in etwas erhóht. Die Prüfung der Preistabellen legt 
die Vermutung nahe, daß, wenn der Normalpreis der Jahre seit 
1896 etwa bei 1,35 M. war, dagegen der Normalpreis der 80er Jahre 
bei 1,20 M, ein Teil des Plus dieser letzten Zeit auf 
Rechnung des durch die Grenzsperren eingeschränkten 
Angebots geht. 

Gleichzeitig ist aber zu betonen, daß, wie gerade die internatio- 
nale Preisvergleichung ausweist, bei der letzten Teuerung andere 
Momente entscheidend gewesen sein müssen. 

Von den Vertretern des Konsumtionsinteresses wird der Be- 
weis, daß die Grenzsperren an allem schuld seien, mit Vorliebe in der 
Tatsache gesehen, daß — zuletzt hat Bebel im Reichstag bei Beratung 
der Viehzölle so argumentiert — seit Erlaß der Grenzsperren im 
Jahre 1896 die Schweineeinfuhr nach Deutschland außerordentlich 
gesunken sei. Dieses Sinken habe die Preise steigen machen und 
verschulde auch die heutige Situation. 

Der Rückgang der Einfuhren ist eine Tatsache. Die Schweine- 
einfuhr (nach Abzug der Ausfuhr) nach Deutschland hat betragen: 


1886 279 000 Stück 1894 706 000 Stück 
1887 90 000 5 1895 315 000 » 
1888 Plus der Ausfuhr(!) 73000  , 1896 90000  ,, 
1889 318000  , 1897 85000 „ 
1890 592000  , 1898 71 000 n 
1891 730000  , 1899 66000  ,, 
1892 856000  , 1900 65000  , 


1893 797000  , 1901 75 000 


Studien zur Fleischteuerung 1902/03. 215 


Der Rückgang ist also in der Tat vorhanden. Der Versuch, den 
angestrebten Beweis auf diesen Rückgang der Einfuhren zu stützen, 
ist trotzdem verfehlt. Aus dem Rückgang der Schweineeinfuhr wird 
ohne weiteres auf Verminderung des Schweineangebots geschlossen. 
Es ist aber zu bemerken, daß — zweifellos mit infolge der Grenz- 
sperren — gleichzeitig mit dem Sinken der Einfuhren die 
Schweineproduktion in Deutschland überaus gestiegen ist. 
Der Schweinebestand in Deutschland ist gewesen: 


1. Dezember 1892 12 175 000 Stück 
l. e 1897 14 275 000 » 
t£ 3; 1900 16807000  ,, 


Diese Steigerung der Viehbestände!) sagt dem Laien allerdings 
nicht viel. Sie gibt nàmlich in keiner Weise Auskunft über die 
jährlich zur Schlachtung kommenden Mengen. An sich wäre nicht 
unmöglich, daß trotz des gestiegenen Viehbestandes die zurück- 
gegangenen Einfuhren immer noch durch die Inlandsproduktion 
nicht wett gemacht wären. Das ist offenbar auch die Meinung des 
vorgenannten Abgeordneten und anderer Vertreter des Konsumtions- 
interesses. Diese Auffassung ist jedoch falsch. Und zwar darum, 
weil regelmäßig 100 Proz., unter Umständen auch mehr, des zu 
einer bestimmten Zeit gezählten Schweinebestandes während eines 
Jahres zur Schlachtung kommen ?)! 

Man hätte also in der zweiten Hälfte der 90er Jahre infolge 
der Grenzsperre wohl ein regelmäßiges Minus der Einfuhr um 
200000 bis nahe an 800 000, durchschnittlich also um 500 000 Stück 
gehabt, gleichzeitigabereinjährlichesPlusderSchlachtungen 
einheimischer Schweine um rund 2!/, Millionen, also in summa doch 
ein Plusan Schlachtungen gegen die Zeit vorder Grenz- 
sperre um fast 2 Millionen, und zwar ein Plus, das gerade 
als solches zweifellos auch den Grenzsperren zu danken ist, indem 
diese durch die leichte Steigerung des Preises, die von ihnen aus- 
ging auch zu der Steigerung der inlündischen Schweineproduktion 
in den Dimensionen, in denen sie sich vollzogen hat, beigetragen 
haben dürften! 


1) Das Statistische Amt der Stadt Karlsruhe versandte, wie die Korrespondenz des 
Handelsvertragsvereins unterm 28. November 1902 mitteilt, vor kurzem einen Aufsatz 
über die Entwickelung der badischen Rindvieh- und Schweinezucht seit 1871. Hier- 
nach wurden in Baden 

Schweine: 


geschlachtet gezählt 
1596 489 492 Stück im Dezember 1895 442 237 Stück 
1897 487659 „ Pr y 1896 442782  , 
1898 486425 „ 5 i 1897 411253  , 
1899 — 524444 » » ^» 1898 453399 » 
1900 561000 „ e " 1899 514399  , 


Das Statistische Amt erklärt daraufhin: „Das ergibt ein Vorratdefizit von durchschnitt- 
lich jährlich 56 991 Stück oder 11 Proz.“ Wie die obigen Darlegungen zeigen, lassen 
diese Ziffern auch eine andere Deutung zu. 

2) Vgl. darüber u.a. Huckert, Zur Geschichte und Statistik des Fleischkonsums, 
Zeitschr. f. Sozialwissenschaft, III (1900), S. 109 ff. 


216 Julius Wolf, 


Das für Schlachtzwecke zur Verfügung stehende Vieh hat sich 
also, absolut gemessen (und auch relativ im Verhältnis zur Be- 
völkerung) trotz verminderter Einfuhren nicht vermindert, sondern, 
und zwar nicht ohne Zutun der Grenzsperren, überaus stark, so 
stark wie wahrscheinlich nie zuvor in gleicher Zeit, vermehrt! Daß 
die Grenzsperren allein die heutige Konstellation geschaffen haben, 
wird also immer unwahrscheinlicher und kann selbst dann 
nicht behauptet werden, wenn man der Auffassung ist, 1) daß ohne 
sie das Angebot aus der in- und ausländischen Fleischproduktion zu- 
sammen mindestens zeitweise stärker gewesen wäre als es war, daß 
darum 2) auf ihre Rechnung ein Teil der Preissteigerung der Jahre 
oder wenigstens einiger Jahre seit 1896 zu setzen ist, und auch 
3) in letzter Zeit bei einer Oeffnung der Grenzen gegen Süden (und 
Osten?) der Fleischpreis eine gewisse Erniedrigung erfahren hätte. 


VI. ,Natürliche* Faktoren und die Fleischteuerung. 


Nach dem Vorgesagten trifft also den Zwischenhandel nicht, die 
Grenzsperren nur zu geringem Teile die Schuld an dem Preisstand 
des Fleisches. Noch ist aber in der öffentlichen Diskussion ein 
Drittes als möglicherweise schuldtragend hervorgetreten, „natür- 
liche Faktoren“. 


Dies wurde in der Regel so erläutert, daß die Preisentwickelung 
alljährlich ähnlich verlaufe wie gegenwärtig, nämlich die Viehpreise 
im Herbst in der Regel steigen, nach Weihnachten dagegen wieder 
zurückgehen. „In den Monaten Juli, August und September trete 
regelmäßig eine mehr oder weniger erhebliche Erhöhung der Schlacht- 
viehpreise ein, weil gegen den Sommer hin die Vorräte an den für 
Mastzwecke erforderlichen Mitteln erschöpft seien, die Mästung in der 
warmen Jahreszeit überhaupt mit einem größeren Risiko verbunden 
sei und dadurch die Rentabilität derselben leicht in Frage gestellt 
werde“. Mit beginnendem Winter seien diese Schwierigkeiten behoben. 

Das sind „natürliche Faktoren“. Die Annahme, daß sie die 
Schuld an der Preissteigerung tragen, ist gelegentlich wieder auch 
amtlich vertreten worden. Sie kann jedoch auf Glauben darum 
nicht Anspruch machen, weil diese „alljährlich wiederkehrende“ Ent- 
wickelung bisher nicht „alljährlich“ die diesjährigen Folgen gezeitigt 
hat. Trüge sie die Schuld, so müßte nach dem Gesagten in jedem 
Jahr die gleiche Erscheinung einer Teuerung, wie wir sie jetzt 
gehabt haben, sich einstellen. Da das nicht der Fall ist, können auf 
den normalen Verlaufeiner „normalen Erscheinung“ die gegen- 
wärtigen Preise jedenfalls nicht zurückgeführt werden. 


Es müssen demnach andere, wenn auch vielleicht immer noch 
„natürliche“ Faktoren sein, welche die Situation hervorgebracht haben. 
Eine gelegentliche Erwähnung haben in der Tat noch solche andere 
Faktoren auch in der gegenwärtigen Diskussion gefunden. Sie wurden 
nebenbei angeführt, traten aber gegen die angebliche Schuld sei es 


Studien zur Fleischteuerung 1902/03. 217 


des Zwischenhandels, sei es der Grenzsperren schon darum voll- 
ständig zurück, weil man einen „Sündenbock“ und die Möglichkeit 
legislativer Gegenmaßnahmen suchte. Meines Erachtens sind sie die 
entscheidenden. 

Es handelt sich um folgendes: 1) Infolge Futternot haben 
sich im Jahre 1901, um das Vieh nicht durchfüttern zu müssen, die 
Landwirte eines großen Teiles ihres Viehbestandes entäußert. 
2) Bei Schweinen war 1900 ein Ausverkauf infolge beson- 
ders hohen Konsums vorausgegangen. In das Jahr 1902 
trat man infolgedessen mit geringeren Viehbeständen ein. 3) 1902 
war die Futterernte eine sehr gute; Vieh wurde infolgedessen mehr 
als sonst zurückgehalten, um aufgezogen und gemästet zu 
werden. — 

Um dies zu belegen, so erhellt zunächst aus der Auftriebstatistik, 
daß die Ziffern des Schweineverkaufs im Jahre 1900 ungewöhnlich 
hohe waren. Der Auftrieb auf Vieh- (nicht Schlacht-) Höfe von 22 
deutschen Städten (Augsburg, Berlin, Bremen, Breslau, Chemnitz, 
Dortmund, Dresden, Düsseldorf, Frankfurt a.M., Hamburg, Hannover, 
Cassel, Karlsruhe, Cöln, Leipzig, Lübeck, Mannheim, Metz, München, 
Nürnberg, Straßburg, Stuttgart) hat betragen 


Rinder Schweine 
1891 657.000 2 174 000 
1892 697 000 2 062 000 
1893 835 000 2.056 000 
1894 836 ooo 2 233 000 
1895 768 000 2 545 000 
1896 805 000 2 845 000 
1897 861 000 2 780 000 
1898 884 000 2 714 000 
1899 900 000 3 094 000 
1900 965 000 3 363 000 
1901 1009 000 3 066 000 


Der Auftrieb hat sich bei Rindern binnen 10 Jabren von 657 000 
auf über 1 Million Stück vermehrt, bei Schweinen binnen nur 7 Jahren 
von 2056000 auf 3363000. Die deutschen Schweinebestände waren 
infolgedessen schon 1900 „dezimiert“. Ein „Glück“ in gewissem Sinn 
war der Konsumrückgang infolge der geschäftlichen Depression 1902, 
teilweise auch schon 1901, sonst wäre die Teuerung eine noch 
größere gewesen. Immerhin war auch noch die Auftriebsziffer des 
Jahres 1901 eine hohe. 

Ein weit wesentlicheres, Not an .Vieh in 1902, verursachendes 
Moment war dann die Futternot von 1901, und sie war potenziert 
in ihrer Wirkung durch den Futterreichtum von 1902. 

Wohl brachte 1901 eine gute Kartoffelernte; aber, wie von sach- 
kundiger Seite ausgeführt worden ist, die Roggen-, Weizen- und Heu- 
ernte, sowie der Ernteertrag an sonstigen Futtermitteln fiel meist 
ungünstiger aus als in den Vorjahren. Dazu kam der ungünstige 
Ertrag der Maisernte in den Vereinigten Staaten von Amerika, wo- 
durch der Preis von Mais, der zu einem unentbehrlichen Futtermittel 


218 Julius Wolf, 


unserer Landwirtschaft geworden ist, maßlos in die Höhe getrieben 
wurde. Noch zu Anfang des Jahres 1901 hatte in Hamburg der 
Preis für gemischten amerikanischen Mais, unverzollt, 86 bis 87 M 
pro Tonne betragen, nach der Ernte schnellte er in raschen Sprüngen 
hinauf und stellte sich schon im November auf 121 M. Unter diesen 
Verhältnissen zogen viele Landwirte vor, statt in größerer Masse Futter 
zuzukaufen, ihr Vieh zur Schlachtung aufzutreiben. Bei den hohen 
Futterpreisen war es schwierig, die Mast fortzusetzen, während auf 
der anderen Seite die hohen Viehpreise zum Verkauf lockten. 
Wesentlich anders aber lagen die Verhältnisse im Jahre 1902. 
Nicht nur die Getreide-, auch die Futterernte war reichlicher ausge- 
fallen als seit langem, und so hielt der Landwirt, der Großgrund- 
besitzer wie der Bauer, sein Vieh, welches er reichlich Mittel hatte 
zu mästen, zurück. Der verringerte Umtrieb bei allerdings auch ver- 
ringerten Beständen mußte eine Preissteigerung hervorrufen !). 
Dasansich zufällige Zusammentreffen einer Futter- 
mißernte in vielen Teilen Europas, mit einer Maismiß- 
ernte jenseits des Ozeans erklärt also die Kalamität 
und ihren weltwirtschaftlichen Charakter. Sie wurde 
in Europa in ihren Wirkungen verschürft und gedieh 
zu ihrem Umfang dadurch, daß 1902 eine besonders 
günstigeFutterernte der ungünstigen von 1901 folgte. 
Die Weltmaisernte ist (nach englisch-amerikanischen Quellen) 
1901 rund 240 Mill. Quarters gewesen gegen 320 Mill. Quarters im 
Mittel der Jahre 1896/1900. Das Minus war also ein enormes; noch 
größer aber als im Weltdurchschnitt war es in der Union. Die 
nordamerikanische Maisernte von 1901 betrug nur 65 Proz. 
des Durchschnitts. Wie knapp das Futtermittel in manchen Staaten 
geworden war, läßt sich daraus entnehmen, daß nach Mitteilungen 
des ,Getreidemarkt" in Kansas gelegentlich Mais um 1 Cent pro 
Bushel teurer notierte als Weizen. Die Farmer waren infolgedessen 
nicht in der Lage, ihre Schweine bis zur vollen Mastreife durch- 
zufüttern?). Sie fanden sich gern bereit, sie vorzeitig auf den 


1) Vgl. hierzu die Darstellung des „Vorwärts“ vom 26. Sept. 1902. 

2) Wie der Maispreis, war infolge der Dürre im zentralen Westen auch der Heupreis 
und der Preis der anderen Futtermittel hinaufgegangen. Craxton, im Bulletin of the 
Department of Labor, Nr. 41, Juli 1902 theilt darüber folgende Ziffern mit. Der Preis 
war in Chicago 


1. Januar 1. Juni 1. Januar 1. Juni 
pro Bushel Mais Nr. 2 pro Tonne Heu 
Dollars. 

1895 0,45 0,51 4 10,75 9,75 
1596 0,25 À 0,27 Éy 11,75 11,50 
1897 0,23 5 0,23 3 8,25 9,00 
1898 0,26 11 033 $ 8,25 9,75 
1899 0,36 } 0,33 4 7,75 10,25 
1900 0,31 À 0,37 A 10,75 11,00 
1901 0,36 de 0,43 HÌ 12,50 12,25 
1902 0,63 44 0,61 Ze 13,00 13,75 


Der Maispreis von 1902 war also ein enormer: fast das Dreifache jenes von 1897, 
als Januarpreis auch fast das Doppelte jenes der nächsten Jahre zuvor; aber auch der 


Studien-zur Fleischteuerung 1902/03. 219 


Markt zu bringen, da der Preis ein guter war. Die Schweineherden 
in der Union sind infolgedessen reduziert. Nach einer Mitteilung 
des „Cineinnati Price Current“ vom 28. August 1902 waren zu dieser 
Zeit die Bestände von Schweinen in den westlichen Staaten um 
18 Proz. geringer als in der gleichen Zeit des Vorjahres. 

Aehnlich waren die Verhältnisse in Europa, mit Ausschluß nur 
etwa des europäischen Südostens, der unter einem günstigen Stern 
stand. 1901 fehlte es an Futter und Streumitteln im zentralen, wie 
im westlichen Europa!) Die Folge war, daß Tiere viel weniger zur 
Mast eingestellt wurden als sonst. Dies geschah, trotzdem die Be- 
stände schon durch den starken Verbrauch der vorangegangenen Zeit, 
mindestens bei Schweinen, etwas reduziert worden waren. Als 1902 die 
Futter- und Streuernte eine gute wurde, traf sie eine kleinere Zahl 
Tiere an. Umsomehr sollten wenigstens diese gemästet werden, um 
die Ernte zu nützen. Ein Zurückbleiben des Angebots hinter der 
Nachfrage war die notwendige Folge. 

Das also die natürlichen Faktoren, welche die Preisbildung für 
Fleisch in letzter Zeit vorwiegend verschuldet haben. Es verdient 
bemerkt zu werden, daß „natürliche Faktoren“ die ausschlaggebenden 
gewesen sind. Insofern hat die Erklärung der agrarischen Parteien 
Recht behalten. 


VII. Die Verwandtschaft und Vergleichbarkeit der Er- 
scheinungen von 1902 mit jenen von 1890. 


Zu einem vollen Verständnis der gegenwärtigen Lage und auch 
ihrer Aussichten wird man gelangen, wenn man sich erinnert, daß 
wir eine Fleischteuerung ganz ähnlichen Charakters wie die gegen- 
wärtige vor 12 Jahren durchgemacht haben. 

Unsere Zeit lebt rasch, und so scheint auch das Gedächtnis für 
das, was vor jetzt nur 12 Jahren vorging, schon vollständig ver- 
wischt zu sein. In der Lektüre der politischen und Fachzeitungen, 
wie in den Debatten der Parlamentskommissionen und Parlamente 
bin ich dem Hinweis, daß es sich in der Fleischteuerung von 1902 
fast in alle Einzelheiten hinein um eine getreue Wiederholung von 
Vorgängen handelt, die jetzt nur wenig über ein Jahrzehnt zurück- 


Heupreis von außerordentlicher Höhe! Man begreift, wenn unter solchen Umständen 
(nach den Worten eines englischen Berichts) die Farmer es profitabler fanden, den Mais 
zu verkaufen statt ihn zu verfütt@rn. Welcher Art die Folgen waren, sagt der gleiche 
Bericht an anderer Stelle: , The average weight of the hogs in the United States has 
run about 10 lbs. lower than usual in this year and many underfed hogs have been 
sent forward." Cattle and meat trade of the United States. Diplomatic and consular 
reports, Nr. 581 Miscellaneous Series. 

1) Die Futternot des Jahres 1901 schilderte seiner Zeit ein Bericht aus dem Re- 
gierungsbezirk Liegnitz folgendermaßen : „Fast im ganzen Bezirke herrschte schon seit 
Frühjahr großer Futtermangel, der zahlreiche kleinere Landwirte bereits zu Viehverkäufen, 
zum Theil mit 50 Proz. Verlust genötigt hat. Stellenweise ist es vorgekommen, daß 
grünes Getreide an das Zugvieh verfüttert worden war, und da die Ernte nur einen 
geringen Strohertrag versprach, fehlte es auch an Streu. 


220 Julius Wolf, 


liegen, niemals begegnet. Und doch verdiente die Erscheinung auch 
um deswillen bemerkt zu werden, weil, was heute vorgeht, nicht nur 
im Tatsächlichen, in dem Verhältnis von Angebot und Nachfrage 
auf dem Fleischmarkte, in den Ursachen wie in den Wirkungen, eine 
verblüffend gelungene „Kopie“ früherer Entwickelungen ist, sondern 
ebenso die politischen Begleiterscheinungen, die Agitation, die 
Debatten, der Kampf in der Presse und in den Vertretungskörpern, 
eine Wiederholung darstellt. 

Auch vor den Reichstag war der Gegenstand damals so wie heute 
gebracht; Abgeordneter Barth und Genossen hatten den Antrag ge- 
stellt: ,den Herrn Reichskanzler zu ersuchen, die Aufhebung des 
Schweineeinfuhrverbots an der dänischen Grenze zu veranlassen", 
und kein Geringerer als Virchow begründete ihn. „Es ist ein 
absolutes Bedürfnis", erklärte Virchow, „dem Import wieder 
die Wege zu bahnen und den Markt mit dem erforderlichen 
Quantum von Fleisch zu versorgen.“ Von der Regierungsbank 
wurde das Bedürfnis geleugnet. Staatssekretär von Bötticher 
führte aus: 

„Die Steigerung der Preise ist keineswegs eine in Deutschland 
allein bemerkbar gewordene Tatsache, auch hat Berlin nicht etwa die 
höchsten Preise zu verzeichnen. In London kostete der amerikanische 
Schinken im April 62—66, und stieg im August auf 70—74, der 
dänische Speck kostete in London 47—53 im April, im August 
65—71 Pfg., in Paris stellten sich die Fleischpreise für Fettsch weine 
(Rufe: Während der Ausstellung!) im April. wo bekanntlich die 
Ausstellung noch nicht eröffnet war, auf 1—1,1x, im August auf 
1,25— 1,64; in Amsterdam kostete ein Kilo Schweinefleisch im April 
0,86—0,10, im August 0,47—0,53, in Berlin kostete im April Schweine- 
fleisch 38-—43, im August 53—60 Pfr. Für 100 Pfd. Lebendgewicht 
macht das eine Verteuerung von 20 Proz. Daraus schließe ich, daß 
keineswegs das Einfuhrverbot der ausschließliche Grund für die 
Erhöhung der Fleischpreise gewesen ist, und daß allgemeine Ursachen 
diese Erhöhung der Fleischpreise herbeigeführt haben.“ 

v. Bötticher fuhr fort: 

„Man hat behauptet, wir seien auf die Schweineeinfuhr ange- 
wiesen. Das ist nicht richtig. 1888 sind 292000 Schweine eingeführt 
und 365600 Schweine von uns ausgeführt worden. Deutschland ist 
also wohl im stande, für seinen Schweinebedarf zu sorgen, nament- 
lich wenn man erwägt, daß ein Ersatz bei den Schweinen sich un- 
gemein leicht vollzieht. Das Schwein ist*bekanntlich in Bezug auf 
die Produktion das ergiebigste Tier (Heiterkeit). Eine Vermehrung 
für jedes weibliche Schwein um 16—20 Stück pro Jahr ist gar nichts 
Seltenes. Ich bin überzeugt, daß sehr bald unsere deutsche Land- 
wirtschaft für den Import aus Oesterreich-Ungarn Ersatz bieten 
wird, und daß die Schweinepreise wieder billiger werden. Solange 
aber in Dänemark die gefährliche Seuche nicht vollständig erloschen 
ist, können wir nicht dazu raten, das Einfuhrverbot gegen Däne- 
mark aufzuheben.“ 


Studien zur Fleischteuerung 1902/03. 291 


Es blieb also bei dem Verbot. Immerhin war es 1890 zu 
einem Antrag der Regierungen von Bayern und Sachsen auf wesent- 
liche Erleichterung der Einfuhr gekommen. Der Antrag Bayerns 
beim Bundesrat lautete: „Der Bundesrat wolle unter teilweiser Ab- 
änderung des Beschlusses vom 27. Juni 1879 beschließen, daß die 
Landesregierungen ermächtigt werden, die Einfuhr von lebendem 
Rindvieh aus Oesterreich-Ungarn in größere Städte, welche öffent- 
liche Schlachthäuser besitzen, unter der Bedingung zu gestatten, daß 
die Tiere a) an der Grenze mit Ursprungs- und Gesundheitszeug- 
nissen versehen sein müssen, b) beim Eintritt in das deutsche Gebiet 
durch beamtete Tierärzte untersucht und gesund befunden worden 
sind, c) direkt und ohne Umladung bis zu ihrem Bestimmungsorte 
mit der Eisenbahn übergeführt, d) daselbst alsbald geschlachtet, bis 
dahin aber von anderem Vieh getrennt gehalten werden und aus dem 
Schlachthofe nicht lebend entfernt werden dürfen.“ 

In der Begründung hierzu war unter anderem gesagt: „Die 
hohen Fleischpreise im ganzen Lande, insbesondere in den größeren 
Städten, haben schon vor einiger Zeit Veranlassung gegeben, 
über die für die Volksernährung hochwichtige Frage der Fleisch- 
teuerung und über die eine Ermäßigung der Fleischpreise ermög- 
lichenden Maßnahmen eingehende Erhebungen zu pflegen. Inzwischen 
ist vielfach eine weitere Steigerung der Fleischpreise eingetreten. 
Diese hart empfundenen Verhältnisse lassen für absehbare Zeit eine 
Besserung kaum erwarten, da die schlechten Futterernten der Jahre 
1887 und 1883 die Landwirte gezwungen haben, ihren Viehbestand 
beträchtlich zu verringern, und da in den letzten Jahren noch nicht 
so viel Vieh nachgeschafft werden konnte, um den bestehenden Be- 
darf an Schlachtvieh decken zu können. Hierzu kommt, daß auch 
schon in den früheren Jahren mit besseren Futterernten mehrfach 
über Mangel an Schlachtvieh geklagt wurde und an die Regierung 
Wünsche gelangten, daß Schlachtvieh aus Oesterreich-Ungarn in die 
größeren Städte eingeführt werden dürfe. Diese Wünsche haben 
sich in neuerer Zeit so vielfach wiederholt und so dringend geltend 
gemacht, daß sich die bayerische Regierung der Verpflichtung nicht 
entschlagen kann, auf baldige Abhilfe Bedacht zu nehmen. Auch 
mag in Betracht kommen, daß infolge der allgemeinen Steigerung 
der Fleischpreise insbesondere in den niedrigen Volksschichten eine 
Unzufriedenheit zu Tage tritt, der zu steuern sie dringend veranlaßt 
erscheint.“ 

Der Antrag Sachsens» deckte sich im Wesen mit jenem Bayerns. 
Was diese Länder damals verlangten, ist seitdem in Deutschland 
Wirklichkeit geworden. Die Einfuhr österreichischen Rindviehs ist 
weit über 100 städtischen Schlachthöfen über ganz Deutschland hin 
gestattet. 

Zunächst allerdings fanden die Anträge Bayerns und Sachsens 
entschiedene Gegnerschaft im Bundesrat. Der preußische Land- 
wirtschaftsminister Dr. v. Lucius trat gegen sie auf, und mit ihm war 
die Mehrheit der Stimmen. Auf Dr. v. Lucius wurde ein Artikel 


222 Julius Wolf, 


zurückgeführt, den der „Reichsanzeiger“ gleichzeitig über die Fleisch- 
not brachte und in welchem auseinandergesetzt wurde: 

„Die hohen Fleischpreise der Gegenwart werden von der Tages- 
presse vielfach ausschließlich als eine Folge der Fleischzölle und der 
Vieheinfuhrverbote dargestellt. Es ist daher von Interesse, zu unter- 
suchen, ob und inwieweit diese Behauptung, welche auf den ersten 
-Blick sehr wahrscheinlich erscheint, zutrifft.“ 

Es wurden nunmehr Ziffern genannt und dann als ihr Ergebnis 
ausgesprochen: 

„Diese Zahlen ergeben, daß ein Einfluß des Fleischzolles auf die 
Preisbewegung nicht erkennbar ist; denn dieser betrug vom 1. Ok- 
tober 1870 ab für 100 kg brutto 3 M., vom 25. Juli 1879 ab für 
100 kg netto 12 M. und vom 1. Juli 1885 ab 20 M. Die 1885 er- 
folgte Erhöhung der Zölle ist bis zum Jahre 1838 im allgemeinen 
von einem stetigen Fallen der Fleischpreise begleitet gewesen. 
Es müssen daher für die Bewegung der Fleischpreise andere Ur- 
sachen maßgebend gewesen sein.“ 

Neben den Viehzöllen waren, wie auch jetzt, die Grenzsperren 
als Ursache der Teuerung genannt. Der Artikel stellte diesbezüg- 
lich fest: 

„Beachtet man die Zeiten des Inkrafttretens der einzelnen Ein- 
fuhrverbote etc. und vergleicht sie mit der Bewegung der Fleisch- 
preise, so findet man, daß dieselben das allmähliche Fallen der Preise 
auf den sehr niedrigen Stand vom Jahre 1888 nicht verhindert haben. 
Es darf hieraus gefolgert werden, daß diese Verbote auch keine aus- 
schlaggebende Veranlassung zum stetigen Steigen der Preise seit 
August des Jahres 1889 gegeben haben können.“ 

Beiläufig darf bemerkt werden, daß die offizielle Beweisführung 
hier weder in dem ersten, noch im zweiten Punkte schlüssig war. 
Es konnten andere Umstände ein Herabgehen der Viehpreise in 
einem Umfange bewirkt haben, daß durch sie die Wirkung der Vieh- 
zölle und der Sperre mehr als aufgehoben wurde. Es war nicht 
ausgeschlossen, daß ohne letztere der Viehpreis noch wesentlich 
niedriger gestanden hätte. Der Beweis, daß sie nicht preiserhöhend 
wirkten, war aus der bloßen Vergleichung der Preise früher und 
später niemals zu führen. Der Artikel fuhr aber, nachdem er Vieh- 
zölle und Sperren als preissteigernde Faktoren, wie gezeigt, zurück- 
gewiesen hatte, fort: 

„Die Gründe für diese Preissteigerung sind bei unbefangener 
Erwägung unschwer in anderen Umständen zu finden. Notorisch war 
das Ergebnis der Ernte in Süddeutschland im Jahre 1888, in Nord- 
deutschland im Jahre 1889 ein recht dürftiges, insbesondere bezüg- 
lich der Futtermittel. Die notwendige Folge trat darin zur Er- 
scheinung, daß die Landwirte ihre Viehbestände verringern mußten. 
Das Angebot von Schlachttieren wuchs daher auf den Märkten und 
drückte die Fleischpreise bis zur Mitte des vorigen Jahres herunter. 
Dann kam der Rückschlag. Als im laufenden Jahre die Ernte einen 
reichlichen Ertrag in Aussicht stellte und auch brachte, suchten die 


— 


Studien zur Fleischteuerung 1902/03. 293 


Landwirte ihre Viehbestände zur Verwertung der in außergewöhn- 
lichen Mengen gewonnenen Futtermittel zu erhalten und zu vermehren. 
Daraus erklärt sich der bisher zunehmende Mangel an Angebot von 
Schlachtware, wie andererseits auch daraus notwendig gefolgert 
werden muß, daß das Angebot sich stark vermehren und einen Rück- 
gang der Fleischpreise herbeiführen wird, sobald die aufgestellten 
Masttiere, Rinder, Schweine und Schafe, die Mastreife erreicht haben 
werden. In Deutschland benachbarten Ländern haben übrigens ähn- 
liche Verhältnisse im laufenden Jahre gleichfalls sehr erhebliche 
Preissteigerungen hervorgebracht.“ 

Die Erklärung, die der „Reichsanzeiger“ gab, wurde auch von 
anderer Seite aufgenommen und gelegentlich noch näher ausgeführt. 
Sie stimmt, wie man sieht, in weitgehendem Maße mit der 
Erklärung, die der gegenwärtigen Fleischteuerung 
zu geben ist, überein. 

Im Anschluß an sie ist es von Interesse, den Gang der Fleisch- 
preise nach 1890 kennen zu lernen. Ich gebe aus schon mitge- 
teilten Tabellen folgende Ziffern wieder. Der Preis war 

in Berlin 


für Schweinefleisch für Rindfleisch 
Keule Bauch 
Mark pro Kilogramm 


1888 1,16 1,21 1,00 
1889 1,30 1,23 1,05 
1890 1,44 1,36 1,15 
1891 1,36 1,41 1,17 
1892 1,37 1,39 1,17 
1893 1,32 1,39 1,11 
1894 1,29 1,40 1,10 
1895 1,25 1,39 1,07 
1896 1,20 1,38 1,06 


Aus diesen Daten geht hervor, daß Rindfleisch erster Qualität 
(Keule) seit jenem Teuerungsjahr überhaupt nicht wieder billiger 
wurde. Mindere Qualitäten schlugen zunächst auch nicht, dann 
aber von 1893 an einen leichten Rückgang ein. Der Preis von 
Schweinefleisch war dagegen schon 1891 etwas niedriger, 1893 folgte 
eine weitere Herabsetzung und bis 1896 schritt dieselbe fort. Auch 
hier aber ist die Abschwächung des Preises eine überaus lang- 
same gewesen. 


VIII. Die Aussichten der Zukunft. 


Auch in der Beurteilung der Zukunft des Fleischmarktes liegen, 
wie eingangs angedeutet, zwei Auffassungen miteinander im Streite. 

Amtlich wurden unterm 11. Juli v. J. die städtischen Körper- 
schaften von Königsberg in diesem Sinne beschieden: „In den letzten 
Monaten sind die Schweinepreise bereits erheblich zurückgegangen ; 
es ist zu erwarten, daß sie infolge der vermehrten Schweinehaltung 
in nicht ferner Zeit wieder einen normalen Stand erreichen werden.“ 
Aehnlieh wurde später, im September, von parlamentarischer Seite 


224 Julius Wolf, 


„im Laufe von wenigen Monaten eine starke Ueberproduktion von 
Schweinen, also ein Sinken der Preise“ in Aussicht gestellt. Aus 
der Mitte der Landwirtschaftskammern wurde im September geäußert: 
„Wir betrachten die Erhöhung der Viehpreise als nicht exorbitant 
und als voraussichtlich bald vorübergehend.* 

Dagegen erklärte die „Korrespondenz des Handelsvertragsvereins* 
unterm 29. August 1902: „Die deutsche Landwirtschaft kann wirk- 
lich anscheinend den Fleischbedarf des deutschen Volkes nicht decken. 
Seit 2 Jahren steigen die Schweinepreise, seit einem Jahre sind sie 
unsinnig hoch und trotzdem haben die deutschen Landwirte die 
Schweineproduktion, die am raschesten gesteigert werden kann, nicht 
auf die ausreichende Höhe zu bringen gewußt. Welche Wahrschein- 
liehkeit spricht dafür, dali sie es nun mit einem Male fertig bringen 
werden ? * 

Aehnlich meinte Anfang Oktober der Obermeister der Fleischer- 
innung zu Potsdam: ,Wir haben kein den berechtigten Ansprüchen 
genügendes Schlachtvieh, und in absehbarer Zeit ist an eine 
Besserung dieses Zustandes nicht zu denken. Im Gegen- 
teil! Die Landwirte gestehen selbst ein, daß sie nicht im stande 
sind, das nötige Vieh zu liefern. Erklärt doch ein hervorragender 
Landwirt und Züchter, daß zur Deckung des Bedarfs in Deutschland 
noch 300000 Rinder und 1000000 Schweine erforderlich sind. Der- 
selbe befürwortet im Interesse der deutschen Landwirtschaft eine 
vermehrte Einfuhr von Schlachtvieh aus dem Auslande, damit die 
deutschen Landwirte erst ihr Vieh zur Schlachtbank reif mästen 
kónnen.* 

Von diesen Aeufterungen ist keine später als im ersten Oktober- 
drittel gefallen. Sie hatten schon seitdem Zeit sich einigermaßen zu 
erproben. Mit dem zweiten Oktoberdrittel, also unmittelbar nach- 
dem z. B. jene hoffnungslose Aeufterung des Innungsmeisters ge- 
fallen war, hat zunächst in Amerika ein Sinken des Schweinepreises 
eingesetzt. Am 8. Oktober notierten Schweine in Chicago 7,40/45 
Cents pro Pfund, bereits am 15. Oktober war der Preis 6,90/7,00 
Cents, am 15. November 6,10/15 Cents. 

Der amerikanische Schweinepreis ist also in der kurzen Zeit 
eines Monats um 20 Proz. zurückgegangen. Seitdem ist er wieder 
etwas gestiegen. 

Der deutsche Schweinepreis ist dem amerikanischen nur zögernd 
gefolgt. Er ist in Pfennigen pro Pfund (Mark pro 50 kg) gewesen: 


1900 August 11. Februar 
Durchschnitt 1902 1903 
a) vollfleischige Schweine feiner Rassen 49,92 63—66 56 
b) für fleischige Schweine 47,11 61—65 53—55 
c) „ gering entwickelte Schweine 44,88 57—03 50—52 
d) „ Sauen 44—54 58—63 51—53 


Auch hier also zuletzt ein Rückgang um rund 15 Proz. Das Sinken 
des Preises in Amerika hängt mit der enormen Maisernte, welche 
die Union in diesem Jahr einbringt, zusammen. Es ist die größte, die 


Studien zur Fleischteuerung 1902. 295 


Amerika je eingeheimst hat. Ihr Ertrag ist auf 2540 Mill. Bushel 
geschätzt, während die letzten guten Ernten erbracht hatten: 


1900 2105 Millionen Bushel 1897 1903 Millionen Bushel 
1899 2078 » d 1896 2284 5 s 
1898 1924 i e 1895 1151 » » 


Der guten Ernte entsprechend, ist auch der Preis des Maises 
in Amerika gefallen!). Mais notierte im Oktober 1902 in Chicago 
noch bis 60 Cents pro Bushel; schon im November 1902 war er 
pro Mai nächsten Jahres mit 45 Cents und darunter notiert. Gegen- 
wärtig notiert er noch etwas darunter. 

Die Verhültnisse des Viehmarkts haben also bereits eine Besse- 
rung erfahren, und ebenso lassen die Aussichten der weiteren Zu- 
kunft eine günstige Beurteilung zu. 

Ebenso ist unzweifelhaft, daß sie sich in nicht zu langer Zeit 
auch auf den Fleischmarkt übertragen werden, wenn auch gegen- 
wärtig die Fleischer für das Minus an Gewinn, das in der Zeit der 
Viehteuerung für sie zu realisieren war (so oben), durch ein 
Plus des Aufschlags, das reichlich bemessen ist, sich 
iu erholen suchen. 

Es dürfte ähnlich gehen wie in den Jahren zunächst nach 1890 
und weiter hin in den Jahren 1897—1900. Ein Preis von 1,35 bis 
höchstens 1,40 M. für Schweinefleisch also der Preis, den man 
sich allgemach gewóhnt hat, als normalen zu betrachten, dürfte 
an Stelle des vor kurzem in Geltung gestandenen und wohl noch 
heute vielfach geforderten von 1,50 bis 1,60 M. allgemach in Geltung 
treten ?). 

Diese Entwickelung ist unter anderen auch darum vorauszu- 
zusehen, weil die Schweineproduktion eine verhältnismäßig rasche 
Deckung von Defiziten zuläßt. Auf dem Gebiet des Rindviehmarktes 
war die Not aber von vornherein eine viel geringere °). 


1) Es verdient hier bemerkt zu werden, daß ähnlich wie auf dem Gebiete der 
Baumwolle und noch mehr als dort die amerikanische Ernte ziemlich die Ernte der Welt 
ist. Nach dem Corn Trade Years Book 1901—1902 entfielen: E 


1901 von den 241 Mill. Quart. der Welternte 170 Mill. auf d. amerik. Union 
1900 „n , 321 , "oon D 263 » »» » D 
1889 , „ 312 Sk » " " 260 D on » » 

Diesen Ziffern zufolge stellt die amerikanische Maisernte 70—80 Proz. und darüber 
der Welternte dar! 

2) Auf die Erhöhung der Vieh- und Futtermittelzölle, die selbstverständlich auch 
fleischpreissteigernd wirken muß, ist dabei — als in ihren Sätzen nicht definitiv — keine 
Rücksicht genommen. 

3) Bereits nach den Ziffern der Zählung von 1879 hatte die deutsche Schweine- 
produktion in der Schweineproduktion der Welt einen hervorragenden Platz. Mit seinen 
14 275000 Schweinen (welche seitdem bis 1900 übrigens auf 16 807 000 gestiegen sind) 
hatte Deutschland weitaus die meisten Schweine unter allen europäischen Staaten, mehr 
als Rußland, und überaus viel mehr als Frankreich oder Großbritannien, wo allerdings 
die weit größeren Schafbestände einen gewissen Ausgleich schaffen, aber auch mehr als 
Oesterreich-Ungarn. Kaum ungünstiger repräsentierte sich die Rindviehproduktion, nur 
daß Deutschland hier nicht den ersten Platz in Europa innehat, sondern (mindestens der 
Zahl der Viebstücken nach) Rußland. Vgl. hierzu die Ziffern der Beilage. 

Dritte Folge Bd. XXV (LXXX). 15 


226 Julius Wolf, 


á 


Zur Geschichte der Fleischpreise in Deutschland im 
Vergleich mit österreichischen Plätzen und mit 
England. 


I. Rindfleisch. 


In Preußen war nach Angaben des königl. preuß. statistischen 
Bureaus der Preis für Rindfleisch: 


Durchschnitt 1862—70 88 Pf. pro kg 


h 1871—80 KES. oe c» Je 
Se 1881—90 DÄ a 45 Ca 
z 1891—00 125.55. "wo 
35 1901 127- 4 Gi mg 


In Berlin nach Angaben des kónigl. Polizeipräsidiums (bezw. 
soweit Angaben des preuf. statist. Bureaus zur Verfügung stehen, 
nach diesen): 

Durchschnitt 1861—70 100 Pf. pro kg 


ve 1871—80: 1295. 4, 5; 5 
is 1881—90 117 , »„ »„ (preuB. statist. Bureau für 1882 90 116,1) 
$5 1891—00 125 , » » n ái i » 1891/00 125,8) 


LL 1901 132 » LL LL » » » 1901 132 ) 


Die vorstehenden Ziffern weisen die bekannte Tendenz zum Steigen 
der Fleischpreise aus. 

1861—70 mufte Fleisch in Berlin noch um ca. 12 Pfg. hóher 
als im Durchschnitt des Landes gezahlt werden, im Jahrzehnt 1811 
bis 1880 war der Unterschied nur noch 10 Pfg., im folgenden Jahr- 
zehnt 1881— 1890 kamen Berliner- und Landpreise zusammen und 
blieben so auch 1891/1900. Daß das einzelne Jahr 1901 andere Ver- 
hältnisse zeigt, will gegenüber den vorausgegangenen 2 Jahrzehnten 
kaum etwas besagen. Daß der Berliner Preis dem Durchschnittspreis 
des Landes immer näher gekommen ist, führt sich selbstverständ- 
lich auf die steigende Leichtigkeit der Versorgung der Brennpunkte 
des Verkehrs zurück. 

In Wien war nach Daten, welche für die Jahre 1850—90 in 
den vom k. k. Finanzministerium herausgegebenen „Statistischen 
Tabellen zur Währungsfrage der österreichisch-ungarischen Monarchie“ 
(Wien 1892), für 1891—1901 in dem von der k. k. statistischen 
Zentralkommission herausgegebenen österreichischen statistischen 
Handbuch (wobei den Daten für 1850—99 Nachweisungen der poli- 
tischen Landesbehörden über die Marktpreise überhaupt, den Daten 
für 1900 und 1901 Nachweisungen des k. k. Landesversicherungs- 
Ministeriums in Betreff der Marktpreise der Verpflegungsgegenstände 
des Heeres zu Grunde liegen) mitgeteilt sind, der mittlere Preis von 
Rindfleisch: 

Durchschnitt 1850—59 80 Heller pro kg 


» 1860 —69 94 n n » 
" 1870—79 122 » CT ui 
» 1880—89 152 n HI » 
D 1890—99 138 » n » 
” 1900 136 » » ” 


» 1901 145 LL » " 


Studien zur Fleischteuerung 1902. 227 


Die Steigerung des Preises ist in Wien also größer gewesen als in 
Berlin. Während sie in Berlin von 1861/70 bis 1901 32 Proz. be- 
trug, war sie in Wien von 1860/69 bis 1901 volle 54 Proz. Die 
Gründe für diese Differenz dürften ähnliche sein, wie jene, welche 
die Steigerung des preußischen Durchschnitts größer werden ließen 
als die Steigerung des mittleren Preises in Berlin. Wien lag von 
Anfang an näher den Produktionszentren als Berlin. In den 60er 
Jahren war der Wiener Preis 75 Pfg. gegen 100 Pfg. in Berlin. 1901 
berechnet er sich mit 116 Pfg. gegen 132 Pfg. in Berlin. Die Differenz 
ist also von 25 auf 16 Pfg. zurückgegangen und darum die Steigerung 
des Wiener Preises größer. Immer aber ist der Wiener Preis noch 
niedriger als der Berliner, trotzdem Fleisch in Wien größere Lasten 
tragen dürfte als in Berlin. 

Ein Produktionszentrum, das als solches längere Zeit ebensowohl 
für Wien, wie für Teile Deutschlands in Betracht kam, ist Galizien. 
Wir stellen darum der Entwickelung des Preises in Wien jene 
in Lemberg gegenüber (nach den gleichen Quellen): 


Durchschnitt 1850—57 38 Heller pro kg 
a 1867—69 — 64 ,„ 
A 1870—79 81 „ 
E 1880-—89 104 
ji 1890—99 122 
Sei 1900 123 p» 
n 1901 118 


Die Entwickelung Wien gegen Lemberg ist keine andere als 
die Entwickelung Berlin gegen Landesdurchschnitt. In den 50er 
Jahren ist der Lemberger Preis ca. die Hälfte des Wiener Preises, 
in den ersten 50er Jahren. wie aus den in der Anmerkung!) wieder- 
gegebenen Ziffern erhellt, sogar noch erheblich weniger, in den 90er 
Jahren ist die Differenz auf ungefähr !/, zusammengeschmolzen. 

Aus allen diesen Daten geht gleichzeitig hervor, 
wieungünstig die Entwickelung des Fleischpreisesin 
den Bevölkerungszentren hätte sein müssen, wenn ihr 
die Herabsetzung der Transportkosten nicht zu Hilfe 
gekommen wäre. Wäre die Differenz zwischen dem Wiener 
und dem Lemberger Preis aus den 50er Jahren in die 90er Jahre 
die gleiche geblieben, so wäre der Preis des Kilo- 
gramms Fleisch in Wien 1901 nicht 145, sondern 236 
Heller gewesen! 


Andere Verhältnisse als Deutschland und Oesterreich zeigt 
England. 


1) Der Preis in Wien und Lemberg war in der ersten Hälfte der 50er Jahre: 


Wien Lemberg 
1850 74 30 
1851 74 30 
1852 76 32 
1853 74 34 
1854 82 36 


15* 


298 Julius Wolf, 


In London war (nach Sauerbeck) der Preis für Rindfleisch i 


Durchschnitt 1861—70 112 Pfg. pro kg!) d 
„ 1871—80 131 » HI n e 
» 1881—90 112 ,, » » E 
^S 1891—00 99 5, » » 
5 1901 106 ,, 


Während in Berlin der Preis von 100 auf 132 Pfg. hinauf- 
ging, ist er in England also von 112 auf 106 Pfg. herabgegangeı. 


Dort ein Steigen um 32, hier ein Rückgang um 5 Proz. Der Unter- E 
schied der Entwickelung zu Gunsten Englands beziffert sich also mit SI 
37 Proz. Allerdings war 1861—70 der Preis in London noch wesent- ä 


lich höher als in Berlin gewesen: 112 gegen 100 Pfg.; auch 
1870—80 war der Londoner Preis noch höher: 131 gegen 125 Die. 
wenn auch die Differenz von 12 auf 6 Pfg. zurückgegangen war; 
1881/90 war der Londoner Preis niedriger: 112 gegen 117 Die, 
Daß diese Entwickelung ihre besonderen Gründe hat, ist von 
vornherein klar. Sie ist in der Tat nur daraus, daß Nordamerika in 
der hier in Frage stehenden Periode das agrikole Hinterland Eng- H 
lands wurde, zu verstehen. Ohne dieses Hinterland hätte der Lon- Là 
doner Fleischpreis selbstverstündlich niemals die Entwickelung nach | 
unten genommen. Bis in die 70er Jahre kannte man eine Einfluß- 
nahme des amerikanischen Preises auf die englischen fast gar 
nicht. Damals war noch Mitteleuropa im Punkte des Angebots land- 
wirtschaftlicher Produkte England gegenüber bevorzugtes Gebiet. 
Erst seitdem hat sich England unter den Einfluß des nordamerika- 
nischen Preises gestellt. 
Auch in Nordamerika ist der Preis im Gegensatz zur Entwicke- 
lung des mitteleuropäischen von den 80er Jahren in die 90er ge- 
fallen. Rindfleisch „extra mess“ notierte an der New Yorker 
Produktenbörse: 


1880--89 10,25 Doll. pro Barrel 
1890—99 8,02 ,„ $ en 
Nach dem von Gerlach (im Handwörterbuch, III, S. 1106) ange- 
gegebenen Umrechnungsschlüssel waren das 
1880—89 47 Pf. pro kg 
1890—99 37. x ud 
Der Rückgang war also ein volles Fünftel. 


II. Schweinefleisch. 
In Preußen war nach Angaben des kónigl. preuß. statistischen 
Bureaus der Preis für Schweinefleisch: 
Durchschnitt 1862—70 105 Die, pro kg 


3 1871—80 125. .3 » » 
ji 1881 —90 124 ,, n n 
> 1891—00 129,5 „ nn 
a 1901 138 p n » 


1) Die Notierung erfolgt in England in Pence pro 8 Pfd. Für die Verte Cé 
wurde der von Gerlach a. a. O. gebrauchte Schlüssel 1 d pro 8 lbs. = 2,346 Pig. 
pro Kilogramm benützt. 


Studien zur Fleischteuerung 1902. 229 


In Berlin nach Angaben des königl. Polizeipräsidiums (bezw. 
soweit Angaben des preuß. statistischen Bureaus zur Verfügung 
stehen, nach diesen): 

Durchschnitt 1861—70 108 Pfg. pro kg 
» 1871—80 127 , p 


n 


d 1881—90 124 ,, ,,  , (preuB. statist. Bureau für 1882/90 121,4) 
D 1891—00 132 » » n n n ” » 1891/00 133,8) 
H 1901 134 mm HI » D 1901 141 ) 


Die Entwickelung des Schweinefleischpreises in Berlin gegen 
jenein Preußen zeigt die gleichen Verhältnisse wie die des Rindfleisch- 
preises, nur daß der Unterschied zwischen dem Landes- und dem Ber- 
liner Preis von vornherein wesentlich geringer war als bei Rindfleisch; 
bei diesem nämlich in den 60er und 70er Jahren 12 und 10, bei Schweine- 
fleisch nur 3 und 2 Pio Auch bei Schweinefleisch gelangt der 
Berliner Preis in den 80er Jahren, dank dem Fortschritt der Ver- 
bindungen und der Verbilligung der Frachten auf (oder sogar unter) 
das Niveau des Landesdurchschnitts, in den 90er Jahren ist er da- 
gegen wieder 2,5—4,3 Pie, höher. 

Aus Oesterreich liegen Ermittelungen gleich jenen für Rind- 
fleisch nieht vor. Durchschnittspreise fehlen mit Ausnahme der Jahre 
1900 und 1901 vollständig. In diesen zwei Jahren war der Preis von 
Schweinefleisch in Hellern pro Kilogramm (nach der obengenannten 
Quelle) : 


in Wien in Lemberg 
1900 150 127 
1901 143 104 
oder in Pfennigen pro kg. 1901 114 83 


Wie man sieht, ist auch hier der Wiener Preis niedriger als der 
Berliner Preis, und die Differenz zu Gunsten Wiens sogar größer: 
1901 20 Pfg. gegen 13 Pfg. bei Rindfleisch. 

Mit Bezug auf den Preis von Schweinefleisch in England liegen 
folgende Ziffern vor. Der Preis war in London (nach Sauerbeck): 
Durchschnitt 1861—70 120 Pfg. pro kg 
K 1871—80 Kär: ën, 
A 1881—90 108 , „ 
D 1891 — 00 90 4 

S 1901 Bet e None 

Wieder also in London ein Rückgang des Preises gegen eine 
Steigerung in Berlin. Der Unterschied gegen Berlin ist hier aber 
viel größer als beim Rindfleisch. Der Steigerung des Schweine- 
fleischpreises in Berlin um 26 Pfg., steht in London ein Rückgang 
um 33 Pfg. gegenüber, ein Unterschied der Entwickelung um nicht 
weniger als 59 Pfg. liegt also vor. 1901 war der Unterschied zwischen 
Berliner und Londoner Preis 47 Pfg. 

Die Gründe sind keine anderen als die beim Rindfleisch ange- 
führten: die amerikanische Konkurrenz, d. h. 1) die erleich- 
terte Verbindung mit Amerika; 2) das Sinken der Fleischpreise 
daselbst. 

Schweinefleisch notierte an der New Yorker Produktenbörse: 


1880—89 14,79 Doll. pro Barrel 
1890 —99 11,66 a vw 


" 


» 


Di » 


» 


230 Julius Wolf, 


Das heißt nach dem schon früher erwähnten Umrechnungskoeffi- 
zienten: 

1880—89 67 Pie, pro kg 

1890-9 54 , nn 

Ueber die dem Konsumrückgang des Jahres 1902 
vorangegangene Entwickelung des Fleischkonsums in 
Berlin im Vergleich mit der Konsumentwickelung in 
französischen Städten. 


Nach persönlicher Mitteilung aus dem Statistischen Amt der Stadt 
Berlin berechnet sich der Fleischkonsum in Berlin für 1901 mit 
80,3 kg pro Kopf gegen 76,3 kg im Jahre 1899 (die Ziffer für 1900 
ist noch nicht verlautbart) und 


75,05 kg in 1898 70,86 kg in 1893 
75,85 ,, » 1897 71,19 o o 1892 
76,775, z 1896 69,88 ,, „ 1891 
75:98 , » 1895 69,35 n» 1890 


75,32 ‘» „ 1894 

(Vergl. Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 26. Jahrg., 1900). 
Diese Entwickelung ist auffällig und erfreulich zu nennen angesichts 
der bekannten Tatsache, daß im allgemeinen auch bei steigendem 
Wohlstand der Fleischkonsum der Städte pro Kopf die Neigung hat 
zurückzugehen mit Rücksicht auf die Einwanderung vom Land her, 
die einen sehr niedrigen Lebensstandard mitbringt und mit ihren 
Konsumgewohnheiten den städtischen Durchschnitt stetig herabdrückt. 
In der Tat ist weiter zurück der Kopfkonsum in Berlin höher als 
gegenwärtig gewesen: 

1889 — 80!/, kg 

1888 851/, , 

1887  86!/, , 
(Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 18. Jahrg.) Doch sind 
diese Ziffern unsicher, und die Quelle, das Statistische Jahrbuch der 
Stadt Berlin, weist für diese Jahre auch andere Ziffern aus, so im 
15. Jahrgang für 


1888 76,9 kg 
1887 740 » 
1856 73,8 5 
1855 70,9 „ 
1884 79,9 „ 


mit der Bemerkung gleichzeitig, daß die gefundenen Zahlen für die 
letzten Jahre immer noch zu hoch sein dürften ! 

Im 10. Jahrgang des Statistischen Jahrbuchs der Stadt Berlin 
trifft man dann wieder folgende Ziffern an: 


Konsum 1881 55,74 kg Konsum 1878 75,55 kg 
5 1880 71,61 „ y 1877 67,28 „ 
e 1879 73,04 „ V 1876 67,51 „ 


Diesen Ziffern ist die Bemerkung beigegeben, daß vor der 1855 
begonnenen Einführung des Schlachtzwangs unkontrollierbare Mengen 
Vieh den einzelnen Schlachtern direkt zugetrieben wurden und die 


Studien zur Fleischteuerung 1902. 231 


Ziffern eine gewisse (wenn auch offenbar immer noch fragwürdige) 
Sicherheit also erst von da an gewinnen! 

Zur Würdigung dieser im ganzen nicht ungünstigen Konsum- 
entwickelung, vgl. u. a. den Artikel von P. Nivard „L’approvision- 
nement et la consommation de la viande à Paris“ im „Economiste 
français“ vom 8. März 1902, wo u. a. gesagt wird: „Ganz entgegen 
der Annahme, die man geneigt sein wird zu hegen, geht der Kon- 
sum in Paris, auf den Kopf berechnet, nicht hinauf, sondern zurück. 


Er betrug 
1896—01 73,0 kg 
1891—96 74,2 » 
1886—91 78,4 „ 
1881—86 77,8. 3 
Man sieht aus diesen Ziffern, daß Berlin eher einen höheren 
Konsum pro Kopf hat als das reiche Paris. Nivard stellt die 
Erscheinung des Konsumrückgangs auch für andere Städte Frankreichs 
fest. Mit einziger Ausnahme Nantes, sei der Konsum, wenn man 
die Periode 1896—1901 mit 1881— 1886 vergleiche, überall zurück- 
gegangen. So sei er pro Kopf gewesen 
in Marseille 1896—01 62,1 kg 
1881—86 73,7 
in Rouen 1896—01 55,9 
1881—86 63,5 
in Bordeaux 1896—01 67,0 
1881—86 75,0 
in Toulouse 1896—01 79,0 
1881—86 88,7 


232 Miszellen. 


Nachdruck verboten. 


Miszellen. 


II. 


Ueber die gegenwártige Lage der Landwirtschaft 
und die agrarische Bewegung in Italien‘). 
Von Dr. jur. et phil. Adolf W eb er» Bonn. 


Italiens Volkswirtschaft macht scheinbar glänzende Fortschritte. 
Im Jahre 1901 erreichte und überschritt die 5-proz. (in Wirklichkeit 
4-proz.) italienische Rente zum ersten Male den Parikurs, und stolzer 
Optimismus klang aus fast allen Reden, die im Mai dieses Jahres bei 
Beratung über die Ausgabe neuer, 3 !/,-proz. Schuldverschreibungen 
auf dem Monte Citorio gehalten wurden. In der That haben in den 
letzten Jahren in Italien die Staatseinnahmen die Ausgaben stets sehr 
wesentlich überstiegen; das Plus stieg im Jahre 1900/01 sogar auf 
68 Mill. Lire, obwohl an außerordentlichen Ausgaben unter anderem 
15 Mill. L. für das Chinaunternehmen zu decken waren. Ebenso er- 
freulich erscheint prima facie der Umstand, daß Italien seit einer Reihe 
von Jahren immer weniger an Zinsen für seine Staatsschulden an das 
Ausland zu zahlen hat, im Jahre 1893 mußte man noch 197 Mill L. 
dafür ausgeben, im Jahre 1900 nur noch 64 Mill?) Damit scheint 
im Einklang zu stehen eine verhältnismäßig sehr starke Steigerung des 
italienischen auswürtigen Handels; rechnet man Einfuhr und Ausfuhr 
zusammen, so zeigt sich für die Jahre 1890—1901 eine Vermehrung 
von 199 Proz.; Italien steht unter allen Kulturstaaten an zweiter Stelle, 
es folgt gleich hinter den Vereinigten Staaten, deren gesamter Handels- 
zuwachs 208 Proz. betrug, und läßt Deutschland mit 177 Proz. in 


1) Der Aufsatz stützt sich vorzugsweise auf die neuere italienische Literatur, die 
im Texte an geeigneter Stelle namhaft gemacht ist. Hier sei nur aufmerksam gemacht 
auf die betreffenden Abschnitte in den Arbeiten von P. D. Fischer: ‚Italien und die 
Italiener, 2. Aufl, Berlin 1901, S. 198 ff. und von King-Okey: Italy To day, London 
1901. Ueber soziale Wohlfahrtseinriehtungen in Italien unterrichtet wohl am besten 
die von Musée Sociale angeregte Schrift: La Prévoyance sociale en Italie, 1898. Als 
neueste Arbeit sei erwähnt ein Aufsatz von G. E. Frankenstein über „das ökonomische 
Erwachen‘ Italiens in der russischen „Viestnik Yevropui‘ (August 1902). 

2) Nuova Antologia, 16. Juli 1902, S. 379. 


Miszellen. 233 


ziemlich weitem Abstande hinter sich?) Aber darf man diesen ver- 
schiedenen Zahlen so viel Wert beilegen, wie man wohl auf den ersten 
Blick zu thun bereit ist? Gewiß nicht! 

Das starke prozentuale Anwachsen des auswärtigen Handels von 
1890—1901 will deswegen wenig bedeuten, weil es sich nur um relative 
Zahlen handelt, wobei zu berücksichtigen ist, daß die Daten pro 1890 
stark beeinflußt sind durch den damals zwischen Italien und Frankreich 
herrschenden Handelskrieg. Was das Zurückströmen italienischer Schuld- 
verschreibungen in die Heimat anlangt, so hat dies ganz unzweifelhaft 
auch seine große Schattenseiten. Einer der scharfsinnigsten und weit- 
blickendsten Volkswirte Italiens, Maggiorino Ferraris, urteilt meines 
Erachtens ganz richtig, wenn er sagt, daß die „Heimkehr“ der italienischen 
Staatsschuld einerseits zwar auf eine wachsende Sparkraft im Lande 
hindeute, daß sie aber auf der anderen Seite einen traurigen Mangel 
an Initiative, Vertrauen und Betriebsamkeit enthülle, „falls diese Be- 
wegung in den nächsten Jabren fortdauert, wie es den Anschein hat, 
dann wird Italien zwar die Genugtuung haben, seine Staatsschuld vom 
Auslande eingelöst zu haben, aber gleichzeitig wird die ökonomische 
Depression und die Unzufriedenheit mit all ihren Konsequenzen sich 
verschärfen...“ So bliebe denn nur noch die „glänzende Bilanz“. 
Ihr gegenüber wird man sich aber daran eriunern müssen — abgesehen 
von allem anderen — daß unvernünftige Sparsamkeit ebenso verderb- 
lich für ein Land sein kann als Verschwendung. Vor einigen Jahren 
konstatierte ein Redner auf einem nationalen Agrarkongresse in Rom, 
daß die italienische Regierung pro Kopf der Bevölkerung 13 L. aus- 
gebe für Heer und Flotte, dagegen kaum 25 cent. zum Wohle der 
Landwirtschaft). Heute ist das Verhältnis zwar nicht mehr so sehr 
ungünstig, aber doch noch bedenklich genug. Es hat jedenfalls sehr 
viel Wahres in sich, was einmal der Graf Stephano Jacini, bekannt als 
Leiter der „Enquete über die Lage der Landwirtschaft“ vom Jahre 1877, 
sagte: L'Italia agricola & stata dissanguata dall’ Italia politica, das 
landwirtschaftliche Italien ist aufgesaugt worden von dem politischen. 
Italiens Staatsmänner haben nicht in gleicher Weise gesorgt für die Land- 
wirtschaft — für Italien geradezu der Pfeiler des Staates — wie für 
alles das, was Italien den Rang einer Großmacht sichern soll. 

Italien ist ein Agrarstaat und muß es auf absehbare Zeit bleiben !). 
Die für die Industrie wichtigsten Rohstoffe, Kohle und Eisen, muß es 
fast ganz aus dem Auslande beziehen, seine Wasserkräfte sind im 
großen und ganzen keineswegs bedeutend und endlich eignet sich im 
allgemeinen der Italiener wohl nicht besonders für Industrie- speciell 
Fabrikarbeit. Freilich, die Not lehrt alles; es fehlt der italienischen 


1) Journal des Economistes, 15. Juli 1902, S. 6. 

2) Vergl. Virgilii, Il problema agricolo e l'avvenire sociale. 2* ed. Mailand- 
Palermo 1900, S. 29. 

3) Anderer Ansicht scheinen King-Okey (a. a. O. S. 150) zu sein: „It seems pro- 
pable that Italy will soon become a very considerable competitor in the international 
market in all kinds of yarns and textiles, in electrical machinery, in motorengines and 
boilem, perhaps in chemicals and furniture". 


234 Miszellen. 


Verarbeitungsindustrie, die namentlich in Oberitalien immerhin nicht 
unbedeutend ist, durchaus nicht an Arbeitskräften, im Gegenteil in 
überreichem Maße zu billigsten Preisen bieten sie sich an. In diesen 
niedrigen Löhnen liegt — darin wird man v. d. Hellen beistimmen 
können — das ganze, gewiß recht traurige Geheimnis des Erfolges der 
italienischen Industrie ?). 

Muß nun Italien seine Zukunft auf die Landwirtschaft bauen, so 
wäre es Pflicht der Staatsregierung gewesen, nicht nur durch umfang- 
reiche Enqueten das festzustellen, was längst jedermann wußte, die Not 
der italienischen Landwirtschaft, sondern auch tatkräftig zu helfen. 

Derjenige allerdings, der behauptet, dies sei nicht geschehen, setzt 
sich der Gefahr aus, daß ihn ein überzeugungstreuer Agrarier von heute 
mit Lügen straft. Haben doch die italienischen Agrarier schon seit 
Jahren das Ziel erreicht, das ihren Kollegen in Deutschland Erlösung 
von allem Uebel zu sein scheint — einen hohen Kornschutzzoll. Vor 
dem Jahre 1887 war die Einfuhr fremden Kornes nur mit einem Finanz- 
zoll von 1,40 L. pro dz belastet, dann ging man zum Schutzzoll über, 
der von 3 L. im Jahre 1887 (Tarif vom 14. Juli) auf 5 L. im Jahre 
1888, auf 7 L. im Jahre 1894 gesteigert wurde. Seit 1896 beträgt 
der Zoll für Weizen und Mais 71/, L. (Roggen-, Gerste- und Hafer- 
einfuhr haben für Italien nur untergeordnete Bedeutung); da der Zoll 
in Gold bezahlt werden mul, erhöht er sich effektiv je nach dem Kurs- 
stande noch mehr oder weniger beträchtlich. 

Was waren die Folgen dieser Schutzmaßregel? Cavour hat Recht 
behalten; der Schutzzoll hat sich auch hier als ein „bequemes Schlaf- 
kissen“ bewiesen !). 

Ein Hauptargument für Einfübrung bezw. Erhöhung des Korn- 
zolles war die Forderung der „Unabhängigkeit vom Auslande hinsicht- 
lich der Nahrungszufuhr*. Diese Unabhängigkeit ist aber nicht nur 
keineswegs erreicht, sondern im Gegenteil die Abhängigkeit nur noch 
wesentlich größer geworden. 

Die Getreideeinfuhr betrug von 1874— 1886 durchschnittlich 3,7Mill. dz, 
1887—1899 durchschnittlich 6,8 Mill. dz; in den letzten Jahren 1890 
und 1901 stieg sie auf über 9 Mill. dz. Von der durch die Tatsachen 
für Italien unanfechtbaren Voraussetzung ausgehend, daß der Kornzoll 
von den Konsumenten getragen werden muß und unter Annahme, dab 
eine italienische Arbeiterfamilie — deren Fleischkonsum bekanntlich 
außerordentlich gering ist — täglich 2 kg an Brot bedarf, berechnet 
Giretti, daß diese durchschnittlich 54,75 L. pro Jahr für den Korn- 
schutz ausgeben müsse, das mache bei einer armen Familie, die nur 2 L. 
pro Tag verdiene, 10 Proz. des Lohnes pro Jahr aus?). Gewif ist diese Be- 


1) E. v. d. Hellen, Italiens Volkswirtschaft. Ein Vortrag. Freiburg in B. 1899. 
1) „La protezione doganale ® un guanciale molto comodo per dormirvi sopra sonni 
tranquilli. Citiert nach: Ed. Giretti, Per la libertà del pane. Turin-Rom 1901, S. 19. 
2) Giornale degli Economisti, 1902, S. 303 ff. Giretti macht dabei darauf auf- 
merksam, daß die unteren Klassen Italiens auch ohne Kornzoll ihr Brot verhältnis- 
mäßig recht teuer bezahlen müssen, weil sie sich meist in wirtschaftlicher Abhängigkeit 
von ihren Bückern befinden. Er führt an, daß die Bäckereien in Italien überwiegend 


Miszellen. 235 


rechnung allzu „summarisch“, um ihr einen entscheidenden Wert beizu- 
legen. Aber sicher ist jedenfalls, daß der Kornzoll, der übrigens — wie 
in Deutschland — nur einer verhältnismälig sehr geringen Zahl von 
Landeigentümern zu gute kommt, Giretti schätzt sie auf 50000, schwer 
auf der italienischen Bevölkeruug lastet. Das zeigt vor allem die Kon- 
sumstatistik: Nach den amtlichen Berechnungen !) betrug der Getreide- 
konsum in den Jahren 1884—1887 pro Kopf der Bevölkerung durch- 
schnittlich 128 kg, nach Einführung des Getreidezolles sinkt er daun 
sofort sehr stark, im Jahre 1898, das letzte Jahr, für welches mir 
genaue Daten vorliegen, betrug er trotz günstiger Getreideernte nur 
noch 109 kg. Gleichzeitig ging auch der Konsum in allen Geuul- 
mitteln, wie Bier, Kaffee, Zucker, Tabak, sehr stark zurück. 

Daß das Jahr 1887 für Italiens Volkswirtschaft einen Wendepunkt 
bedeutet, zeigen auch andere Zahlen deutlich genug, so betrug die Zahl 
der Eheschliefungen 1881/87 durchschnittlich pro 1000 Einwohner 8,04, 
1891/97 dagegen nur noch 7,54. Ebenso bietet Italien für das Ver- 
hältnis zwischen Getreidepreis und Kriminalität sehr interessante Daten. 
Während im Jahre 1887 z. B. pro 100000 Einwohner nur 305 wegen 
Diebstahls bestraft wurden, gab es deren 1889 bereits 352, 1895: 378, 
1897: 414; die entsprechenden Zahlen für das Verbrechen des Betrugs 
(truffe ed altre frodi) waren: 1887: 49, 1889: 52, 1895: 62, 1897: 74. 

Es kann hier nicht meine Aufgabe sein, zu untersuchen, ob und 
inwiefern das „post hoc“ auch ein „propter hoc“ bedeutet. Es genügt 
mir, die Tatsachen zu konstatieren; sie reichen vollkommen hin, um 
in Italien jede ernsthafte Bewegung für weitere Erhöhung des Korn- 
zolles unmöglich zu machen. Es giebt allerdings auch in Italien eine 
beachtenswerte und, soweit ich urteilen kann, ständig lebhafter werdende 
Kornzollagitation, aber sie bezweckt nicht Erhöhung, sondern völlige 
Aufhebung des Kornzolles ?) So hat der italienische Bauer in dieser 
Hinsicht nichts mehr zu hoffen, „die Schraube ohne Ende“ hat schließ- 
lich für Italien doch ein Ende gehabt. Die frohe Zollhoffnung der 
Vergangenheit macht jetzt einer Zollsorge Platz; die Furcht ist tat- 


kleinste Zwergbetriebe seien, während in Paris auf 1287 Einwohner 1 Bäcker komme, 
komme in Neapel z. B. schon ein solcher auf 154 Einwohner. Diese Kleinbäcker liefern 
nun ihren Kunden auf Kredit unter der Bedingung, daß deren Lohn ganz oder fast 
gleich nach der Auszahlung an den Bäcker abgeführt wird, mit anderen Worten: „Il 
panettiere fa il banchiere, dicasi pure, se si vuole, l’usurajo.“ 

1) Vergl. Annuario statistico italiano, 1900. Diesem sind auch im folgenden, so- 
weit nicht anders bemerkt, die Zahlenangaben entnommen. Eine neue Ausgabe des 
Annuario war zur Zeit der Abfassung dieser Arbeit (Juli 1902) noch nieht erschienen. 

2) Als Führer der freihündlerischen Agitation darf man wohl Giretti bezeichnen. 
Er versuchte nach dem Muster der Anti-Corn-Law-League eine „Lega per l'abolizione 
del dazio sul grano“ zu gründen; das trug ihm aber eine Anklage ein wegen An- 
stachelung zum Klassenhaß! Zum Glück für ihn wurde diese Anklage aber infolge 
der bei Gelegenheit der Thronbesteigung Victor Emanuels II. erklürten Amnestie nieder- 
geschlagen. Außer Giretti tritt eine Reihe hervorragender italienischer National- 
Ökonomen für den Freihandel ein, besonders auch A. Loria, der eine meines Erachtens 
sehr bedenkliche stufenweise Abschaffung des Kornzolles vorschlägt. Ich mache hier 
aufmerksam auf die hochinteressante wissenschaftliche Fehde zwischen Loria und Ferraris 
in der ,Rivista popolare" vom 15. Juli, 15. Aug., 15. Sept. und 30. Sept. 1901. 


236 Miszellen. 


sächlich nicht unbegründet, daß die Bewegung für Aufhebung des Korn- 
zolles, angesichts des Fiaskos, das er gemacht hat, nicht schließlich 
doch einen Erfolg erzielt. Und das wird sicher auch der zugeben, der 
im Kornzoll nicht die Panacee für die Bedürfnisse der Landwirtschaft 
sieht, daß die Aufhebung des Zolles wahrscheinlich weit mehr schaden 
wird als die Einführung genützt hat. 

Welche Bedeutung in der Gegenwart für die italienische Land- 
wirtschaft der Getreidebau hat, mag etwa aus folgenden Zahlen ersicht- 
lich werden: 

Nach amtlichen Schätzungen betrug Ende des vorigen Jahrzehnts 
der mittlere Jahreswert des in Italien produzierten 


Weizen 859,2 Mill. L. Reis 62,3 Mill. L. 
.Wein 7423 „p , Hanf $84 4 $ 
Mais ZORAT d. 4 Sauerfrüchte (agrumi) 54,8 „ » 


Olivenöl 193,8 ,, » 


Man könnte nun daran denken, den italienischen Weizen- und 
Maisbauern den Rat zu geben, weniger Getreide und mehr Produkte 
zu bauen, für die der italienische Boden besondere natürliche Vorteile 
besitzt; vor allem wäre dabei vielleicht auf den Weinbau zu verweisen. 
In der Tat stützen auch die italienischen Freihändler ihre Forde- 
rungen zum Teil darauf, daß ein Schaden für die Landwirtschaft gar 
nicht entstehe, sondern lediglich ein Uebergang von einer Kulturart 
zu einer anderen, nationalókonomisch vorteilhafteren, bewirkt werde!) 
Abgesehen jedoch davon, daß ein solcher ,Uebergang' praktisch unter 
allen Umständen fast immer auf große Schwierigkeiten stößt, in Italien 
insbesondere giebt es kaum einen Zweig der Landwirtschaft, für den 
eine größere inländische Konkurrenz wünschenswert wäre. 

Von den verschiedenen „Krisen“, welche Ursache der gegenwärtigen 
Notlage der italienischen Landwirtschaft sind, ist eine der ärgsten die 
„Weinbaukrisis“. Fontana-Russo macht in seinem kürzlich erschienenen 
Werke über die „Handelsverträge und die nationale Volkswirtschaft“ 
zwei Umstände dafür verantwortlich, einmal die wachsende Konkurrenz 
des Auslandes und sodann die in Italien überaus verheerend wirkende 
Phylloxera ?). Von letzterer wurden betroffen im Jahre 1879: 24 ha; 
1853: 387 ha; 1888: 34 474 ha; 1893: 200 125 ha; 1899: 351033 ha; 
Die Zahl der in Mitleidenschaft gezogenen Gemeinden betrug 1896: 
625, 1897: 672, 1898: 816 und 1899: 908. 

Bekanntlich eignen sich große Teile des italienischen Bodens vor- 
züglich zur Olivenkultur; aber auch hier ein entschiedener Rückschritt! 
Während Anfang der 80er Jahre nach Eheberg?) die mittlere Jahres- 
produktion noch 3,3 Mill. hl Oel betrug, sank sie in den Jahren 
1897/99 auf durchschnittlich 1,7 Mill. hl, das Minus betrug also über 
50 Proz.! Auch hier ist es wieder die auswärtige Konkurrenz, der 
man die ganze Verantwortung aufbürden will. In erster Linie ist es 


1) Dagegen besonders Ferraris in der „Rivista popolare“ a. a. O., ferner „Rivista 
internationale“, April 1902, S. 639 ff. 

2) I trattati di commereio e l’economia nazionale. Rom 1902, 8. 211 ft. 

3) Agrarische Zustände in Italien. Leipzig 1886, S. 12. 


Miszellen. 237 


Spanien, dann aber auch Tunis und Algier, die für den italienischen 
Olivenbau gefährlich geworden sind. 

Vor einigen Jahren gab es doch wenigstens noch ein Teilgebiet 
der Landwirtschaft Italiens, wo man bemerkenswerte Fortschritte fest- 
stellen durfte. Es war dies der Anbau der unter dem Namen „agrumi“ 
zusammengefaßten Baumfrüchte, Orangen und Citronen in ihren ver- 
schiedenen Arten. Die Stückzahl der Bäume war von 1870—1896 von 
ca. 101/, Mill. auf 16 !|, Mill, d. h. um 55 Proz. gestiegen !). Mittler- 
weile hat sich jedoch eine traurige Aenderung vollzogen. Vor allem 
hat Italien sehr viel dadurch verloren, daß die stetig zunehmende Zucht 
namentlich von Orangenbäumen in Kalifornien und Florida die früher 
sehr große Ausfuhr nach den Vereinigten Staaten stark beeinflußt. Der 
Orangenexport sank von 1668000 $ Wert im Jahre 1890/91 auf 
229000 $ im Jahre 1898/99. Der Preis der agrumi stellte sich 1862 
auf durchschnittlich 40 Lire pro Doppelzentner, 1879 auf 27, 1888/92 
auf 18 und 1901 auf 7 Lire?)! Dazu kommt, daß wohl auf keinem 
Gebiete der italienischen Volkswirtschaft der Zwischenhandel so reich 
gegliedert ist, wie auf dem hier in Rede stehenden. In einem Auf- 
satze in der Nuova Antologia wies ein gründlicher Sachkenner nach, 
daß nicht weniger als 8 Personen, das was der Konsument für die 
agrumi zahlt, unter sich teilen, mit der Wirkung, daß dieser 5—6mal 
so viel bezahlen muß, als die Orangen und Citronen auf dem Baume 
kosten 3). 

Zurückgegangen ist ferner in Italien der Ertrag des Reisbaues, 
ebenso wie derjenige der Seidenraupenzucht, die man dort als zur Land- 
wirtschaft gehörig zu betrachten pflegt. Die Reisproduktion wird von 
der „Generaldirektion der Landwirtschaft“ geschätzt auf durchschnitt- 
lich 9,8 Mill. hl für die Zeit von 1870 —74 auf 7,3 Mill. hl für 1879— 83, 
auf 7,9 Mill. hi für 1884—87 und auf 5,6 Mill. hl für 1894—1898. 
Während 1881/89 durchschnittlich pro Jahr 1432000 Unzen Eier 
(à 27 g) zur Seidenraupenzucht verwendet wurden, waren es 1891/99 
nur noch 944 000 Unzen. 

Hinsichtlich der Tierzucht fehlen ganz zuverlässige Angaben. Eine 
genaue Zählung der Pferde und Maulesel fand zuletzt 1876, eine solche 
des übrigen Viehbestandes zuletzt im Jahre 1881 statt. Dagegen wurden 
1890 Schätzungen veranstaltet, die wenigstens in etwas einen Anhalt 
bieten. Vergleichen wir mit den dadurch gewonnenen Resultaten die- 
jenigen von 1876 bezw. 1881, so ergiebt sich, daß beträchtlich zuge- 
nommen haben nur die Esel; in sehr geringem Maße auch die Pferde, 
Maulesel und Rinder. Zurückgegangen sind dagegen die Stückzahlen 
für Schafe, Ziegen und Schweine. Der letzteren wurden 1881 gezählt 
2064000; 1890 konnten sie nur noch auf 1800000 geschätzt werden. 
Dieser verhältnismäßig starke Rückgang ist besonders zu bedauern. 
Eheberg t) berichtete in seiner bereits erwähnten Schrift: „Vielen 


1) v. d. Hellen a. a. O., S. 22. 

2) Cf. Rivista popolare, 15. Juni 1902. La erisi degli agrumi. 

3) Savastano, Nuovi tempi e nuovi agrumicoltori. Nuova Antologia, 1. April 1900, 
S. 507 ff, 

4) A. a. O., S. 51. 


238 Miszellen. 


Bauern trägt die Schweinezucht eine nicht zu verschmähende Rente 
neben ihrem kleinen Einkommen aus der eigenen Landwirtschaft, indem 
sie junge Schweine selbst aufziehen und kaufen, mästen und auf den 
benachbarten Markt bringen oder selbst schlachten, einpökeln und 
räuchern und so verkaufen. Auch für den Konsum der Familie sind 
sie vom höchsten Wert; das selbst geschlachtete Schwein bietet oft das 
einzige Fleisch, das der kleine Bauer und Tagelöhner während des 
Jahres ißt.“ Inzwischen ist jedoch der Gebrauch der Weiden vielfach 
eingeschränkt worden, zahlreiche Eichenwälder sind niedergehauen, auch 
fehlt den kleinen Leuten häufig sogar das kleine Kapital, das nötig ist 
zum Ankauf und Mästen eines Schweines. 

Es wäre ungerecht, wollte man für die geschilderten überaus trau- 
rigen Zustände lediglich das moderne Italien verantwortlich machen, 
aber auf ihm lastet doch der schwere Vorwurf, daß der italienischen 
Landwirtschaft die drei Stützen fehlen, welche für jede europäische 
Landwirtschaft eine conditio sine qua non sind: Kenntnis der öko- 
nomischen und technischen Errungenschaften der Neuzeit, Kapital und 
Organisation. 

Vor einigen Jahren, im Juni 1899, las ich im „Hamburgischen 
Korrespondent“ einen, wie es schien, vortrefflich instruierten Artikel 
über das landwirtschaftliche Unterrichtswesen Italiens. Viel Rühmens- 
wertes wußte der Autor über sein Thema zu erzählen, aber das günstige 
Vorurteil, was er dadurch bei dem Leser wachrief, wird wohl bei jedem 
bald schwinden, wenn er sich einmal selbst genauer umsieht, wie es mit 
dem landwirtschaftlichen Unterricht in Italien bestellt ist. Die amtliche 
Statistik berichtet nur von zwei landwirtschaftlichen Hochschulen (Scuole 
superiori di agricoltura), je eine in Mailand und Portici. Die Zahl der 
Schüler betrug für das Jahrzehnt 1877—1887 durchschnittlich pro Jahr 
117; im Jahrzehnt 1887—1896 durchschnittlich 891). Dagegen haben 
die Universitätsstudenten in Italien stetig und zwar recht stark zuge- 
nommen, von ca. 15000 Mitte der 80er Jahre auf 22500 im Jahre 
1897/98. Auch die niederen landwirtschaftiichen Schulen haben nur 
sehr geringe Erfolge aufzuweisen, etwas besser steht es mit der Insti- 
tution der Wanderlehrer (Cattedre d’ambulanti agricoltura), bemerkens- 
werte Fortschritte zeigen sich jedoch hier erst seit 1897 ?). Im ganzen 
hat E. Loscalzo recht, wenn er meint, daß die agrarischen Studien in 
Italien nicht nur unbeachtet und vernachlässigt blieben, sondern sich 
auch in einem noch ganz unentwickelten Zustande befänden ®). Darin 
liegt auch der tiefere Grund datür, daß man nicht mit der Zeit vor- 
wärts zu gehen versteht, daß man der auswärtigen Konkurrenz ohn- 
mächtig gegenübersteht, daß die Reblaus und andere Schädlinge gerade 
in Italien so verheerend wirken. Aber nicht nur das allein; es feblt 


1) Außer den beiden genannten giebt es noch eine Art landwirtschaftlicher Hoch- 
schule in Verbindung mit der Universität Pisa. Neuerdings geht das Bestreben viel- 
fach dahin, eine agrarische „Fakultät“ im Anschlusse an die Universitäten zu gründen. 
Ein Versuch in dieser Hinsicht ist vor einigen Jahren nicht ohne Erfolg in Turin 
gemacht worden. 

2) Cf. Virgilii, a. a. O., S. 236 ff. 

3) E. Loscalzo, Legislazione agraria-sociale. Neapel 1901, S. 9. 


Miszellen. 239 
in Italien, weil es an einer höheren landwirtschaftlichen Bildung fehlt, 
auch an Männern, die hier ein maßgebendes und verständiges Urteil ab-. 
geben können. Es ist kaum glaublich, wie wenig selbst volkswirtschaft- 
lich gebildete Italiener über die Lage der Landwirtschaft und ihre Be- 
dürfnisse unterrichtet sind. So äußerte sich Di Rudini in einer Ver- 
sammlung in Palermo vor etlichen Jahren allen Ernstes „pochi paesi 
sono coltivati meglio del nostro“ „wenige Länder sind besser kultiviert 
als das unsere!“ Von Sizilien, also demjenigen Teile des Königreiches, 
wo es vielleicht am traurigsten aussieht, meinte derselbe Staatsmann, 
man müsse zwar weiter auf Fortschritte bedacht sein, aber wahr sei es 
doch, daß man in gewissen Teilen der Insel so sehr fortgeschritten sei, 
daß man wieder rückwärts gehen müsse!). Noch im Jahre 1900 war 
der italienische Landwirtschaftsminister Salandra optimistisch genug zu 
erklären „Der Fortschritt der italienischen Landwirtschaft ist glücklicher- 
weise eine Tatsache“ *). Recht mangelhaft werden im allgemeinen auch 
die Interessen der Landwirtschaft im italienischen Parlament wahrge- 
nommen, dort befinden sich unter 488 Deputierten nur 35 Landwirte, 
welche zudem ausschließlich Großgrundbesitzer sind, daneben aber z. B. 
197 Advokaten! 

Um so mehr muß anerkannt werden, daß in Italien dennoch von 
Einzelnen in der Theorie und Praxis der Landwirtschaft Hervorragendes 
geleistet worden ist; es fehlt namentlich auch nicht an (natürlich pri- 
vaten) Musterbetrieben. Ich erinnere nur an das, was französische 
Trappisten in der alten „Abbadia delle Tre Fontane“ an ‘der Via Lau- 
rentina unmittelbar vor den Thoren Roms seit Jahrzehnten geleistet 
haben und noch leisten; viel genannt wird in Italien auch das Gut des 
Dr. Angelo Motti in der Provinz Reggio Emilia, wo das Verfahren von 
Albert Schultz-Lupitz angewandt wird; in Oberitalien giebt als Muster 
eines intensiven Betriebes das mit allen Errungenschaften der modernen 
Technik ausgestattete, an 1000 ha große Besitztum des Grafen De Asarta 
in Venetien. Aber das sind eben nur Ausnahmen, man braucht nur auf 
die Felder hinaus zu gehen, um sofort wahrzunehmen, wie primitiv die 
Landwirtschaft betrieben wird; nicht selten wird man noch den ein- 
fachen Hackenpflug, welcher bekanntlich nur den Boden aufwühlt, ohne 
ihn gleichzeitig zu wenden und zu mischen, in Gebrauch finden. Meist 
irrationell ist auch der Weinbau und besonders die Weinbereitung; man 
ist da, wie es jüngst in einer italienischen Zeitschrift hieß, noch nicht 
weiter gekommen, als Noah seiner Zeit war). Wie vor Jahrzehnten, 
so dient auch heute noch als Kelterstätte ein „zementierter, gegen die 
Mitte geneigter Platz mit einer durch Weidengeflecht überdeckten Grube, 
in der der Most zusammenläuft. Die Mostung geschieht durch Menschen 
mit beschlagenen Schuhen an den Füßen“ 4). Aehnliche beklagenswerte 


1) Wörtlich hieß es in der Rede Di Rudini’s: „Ma pur ? vero come in certe re- 
gioni dell'isola si ® tanto progredito, che oggi occorre invece indietreggiare“. Cit. nach 
Virgilii, a. a. O., S. 62. 

2) Dazu vergleiche man etwa das, was Colajanni über Sizilien sagt in seiner 
Schrift: Gli avvenimenti di Sicilia e le loro cause. Palermo 1894. 

3) „Rassegna Nazionale“, 16. April 1902, S. 616. 

4) Eheberg, a. a. O., S. 29. 


240 Miszellen. 

Rückständigkeit läßt sich für alle anderen Zweige der Landwirtschaft 
konstatieren. Außer der Gleichgiltigkeit und Unkenntnis der italieni- 
schen Bauern, ist dafür zweifellos der Umstand verantwortlich zu machen, 
daß es fast überall an dem nötigen Kapital fehlt. 

In ganz Italien giebt es zur Zeit nur fünf Hypothekenbanken, je 
eine in Rom, Siena, Bologna, Turin und Mailand; wie man sieht, keine 
einzige in Süditalien und auf den Inseln!) Und auch diese wenigen 
Institute beleihen aus erklärlichen Gründen lieber städtisches als länd- 
liches Grundeigentum, für letzteres stellen sie meist sehr drückende 
Bedingungen ?). Die Zunahme der auf ländliches Grundeigentum einge- 
tragenen Hypotheken betrug von 1886—1890 durchschnittlich pro Jahr 
208,6 Mill. L., 1891—1898 dagegen nur 141,3 Mill. L. Aus diesen 
Zahlen scheint sich mir übrigens auch zu ergeben, wie vorsichtig man 
sein muß, wenn man in der Zu- oder Abnahme der Hypothekenschulden 
einen Maßstab für die Lage der Landwirtschaft sehen will; Zunahme 
der ländlichen Verschuldung ist durchaus nicht immer vom Uebel. 

Sehr viel bleibt ferner in Italien noch zu thun übrig für den land- 
wirtschaftlichen Personalkredit. Zwar hat L. Luzzatti bereits seit 1863 
banche popolari nach dem System von Schulze-Delitzsch und Wollen- 
borg 1883 Raiffeisensche Darlehnskassen unter dem Namen casse rurali 
eingeführt, aber von einer wirklichen „Bewegung“ zur Gründung solcher 
Kassen kann man doch erst in den allerletzten Jahren reden. Vorläufig 
blüht noch fast überall der „Wucher auf dem Lande“; vielfach gilt 
ein Zinsfu von 25 Proz. noch als sehr milde, so versichert wenigstens 
Gatti 3). Man wird jedenfalls das Urteil Fontana-Russos nicht zu pessi- 
mistisch finden, wenn er sagt, daß die außerordentlich drückende 
Lage der italienischen Landwirte nicht gebessert werde durch eine zweck- 
mäßige Organisation des Kredits, mit der anderswo so günstige Resul- 
tate erzielt worden seien *). 

Welche große Bedeutung die genossenschaftliche Organisation hin- 
sichtlich des Kredits, der Produktion, der Absatzverhältnisse für die 
italienischen Landwirte hat, erkannte namentlich auch M. Ferraris. 
Schon 1890 forderte er in einem begeisterten Aufruf, der die Ueber- 
schrift trug „La nostra fede", Italiens Landwirtschaft zur Gründung von 
Genossenschaften auf, und er war es wiederum, der in einem am 
16. November 1899 in der Nuova Antologia veröffentlichten Aufsatze 
„Riforma agraria“ von neuem den Eifer für Gründung genossenschaft- 
licher Institutionen zu entfachen wußte; die ganze italienische Presse 
besprach den genannten Aufsatz auf das eingehendste, und kein geringerer 
als der alte Luzatti meinte mit Bezug auf ihn, daß er „ein mit Freuden 


1) Die Baneo di Napoli und die Banco di Sicilia befinden sich in Liquidation. 

2) G. Valenti sagt in seiner Schrift: L’agricoltura nella Legislazione, S. 203: 
„Gli istituti di credito fondiario, per le condizioni gravose a cui si contraggono i mutui, 
non giovano in aleun modo all'agricoltura e non servono che alla consolidazione delle 
passività patrimonali dei proprietari“. 

3) A. a. O., S. 148. 

4) A. a. O., S. 220. Es kann nicht meine Aufgabe sein, auf die ziemlich verwickelte 
landwirtschaftliche Kreditorganisation Italiens des näheren einzugehen; ich verweise auf 
die klare Darstellung bei Carlo F. Ferraris, Prineipii di scienza bancaria. Mailand 1892, 
S. 351 ff. 


Miszellen. 241 


zu begrüßendes nationales Ereignis“ sei. Lassen wir daher hier einmal 
die Kritik schweigen und begnügen uns einer Hoffnung Ausdruck zu 
geben mit den Worten Enea Cavalieri's: „So bescheiden auch noch 
die genossenschaftliche Bewegung sein mag, sie bedeutet doch den Aus- 
gangspunkt einer neuen Phase..., ihr verdanken wir es, daß sich schon 
zu verwirklichen beginnen die Prophezeiungen von einer italienischen 
Landwirtschaft, die, reich und blühend, jeder anderen ebenbürtig ist“ 1). 

Doch was nützt schließlich alle Selbsthilfe, wenn der Staat nicht 
nur nicht mithilft, sondern mitschadet. Es ist kaum übertrieben, wenn 
jüngst ein Schriftsteller sagt, daß die italienischen Landeigentümer, be- 
sonders die kleinen und mittleren, fast erdrückt würden von dem italieni- 
schen Fiskus, dem „schrecklichen Vampir“ ?). In der Gazetta del Po- 
polo wurde vor einiger Zeit (20. August 1901) berechnet, daß die auf 
dem Grundeigentum lastenden Steuern nicht weniger als 25— 30 Proz. 
des Rohertrages ausmachten. Maggiore-Perni?) behauptet, daß an Staats- 
steuern vom Hektar Land in Italien durchschnittlich 6,48 L. zu zahlen 
seien, 5,09 L. mehr als in Preußen und gar 5,59 L. mehr als in England. 
Dabei ist wohl zu berücksichtigen, daß der Druck, den die übermäßigen 
Grundsteuern ausüben, immer stärker und stärker empfunden wird wegen 
des andauernden Rückganges der Grundrente; so ist das gegenwärtige 
Steuersystem in der Tat „ein Hindernis für den Aufschwung der Land- 
wirtschaft und für die Besserung der ökonomischen Lage der landwirt- 
schaftlichen Bevölkerung Italiens“ ist 4). 

Es ist wohl kaum nötig, noch ausdrücklich zu betonen, daß die 
Lage der Landwirtschaft im ganzen Lande nicht gleichmäßig schlecht 
ist, es giebt beträchtliche Unterschiede, wenn freilich auch die Gebiete, 
wo man nicht zu klagen berechtigt ist, weder groß noch zahlreich sind. 
Ich versuchte ein ungeführes Bild von der durchschnittlichen 
Lage zu geben; zun Beweise dafür, daß ich diese nicht zu düster ge- 
schildert habe, will ıch hier noch einige Zahlen folgen lassen über die 
Wirkungen der Agrarkrisis in einem einzelnen Distrikt, in Apulien 5): 


Durchschnitts- Produktion pro 


produktion 1900 | Verlust 

| We | Wert pro 1900 

bl | L. p | L. Wert L. 
Getreide 1 016 000 | 19 192 000| 515 000 | 9 680 000! 9 512 000 
Wein I 700 000 | 45 900 000| 150000 | 4050 000! 41 850 000 


Olivenöl 350 000 | 35 000 000, 100 000 


| | 
| |100 092 ooo] i23 730 000| 76 362 000 


10 000 000| 25 000 000 


1) Am Schlusse seines Aufsatzes: „I consorzi agrari in Italia“. Nuova Antologia, 
1900, 16. Juli, S. 273 ff. 
2) Rivista popolare, 1902, S. 147. 
3) F. Maggiore-Perni, Il movimento economico e sociale in Italia. Palermo 1893, S. 13. 
4) G. Valenti in seiner Schrift: Il sistema tributario italiano in relazione al- 
l'esercizio dell’ agricoltura. Rom 1901, cit. nach Fontana-Russo, a. a. O., S. 220. 
5) Nach Paul Ghio: Les dernières crises agraires en Italie. Journ. des Écono- 
mistes, Sept. 1901, S. 392. 
Dritte Folge Bd, XXV (LXXX). 16 


242 Miszellen. 


Ursache dieses außerordentlich ungünstigen Ergebnisses sind be- 
sonders Pflanzenkrankheiten verschiedener Art, deren Ausbreitung aber, 
wie von verschiedener Seite ausdrücklich hervorgehoben wird, auf die 
mangelnde Einsicht und die Indolenz der Landwirte selbst zum großen 
Teile zurückzuführen ist. 

Im allgemeinen ist die wirtschaftliche Lage Süditaliens überhaupt 
ungünstiger als diejenige des Nordens. Kapital, Unterricht und Organi- 
sation fehlen dem Süden noch in weit höherem Male als den nördlichen 
und mittleren Provinzen, die Absatzverhältnisse sind ungünstiger wegen 
des Fehlens jeder Industrie und wegen der durchaus ungenügenden 
Verkehrsmittel, daher sind denn auch die Steuerlasten hier ganz beson- 
ders drückend. In den Jahren 1893—1899 gingen 108092 Landeigen- 
tümer in Italien ihres Eigentumes verlustig, weil sie die Steuern nicht 
bezahlen konnten, davon entfielen nicht weniger als 101821, d. h. über 
93 Proz. auf den italienischen Süden (einschließlich Sicilien und Sardinien) !)! 
Weil die Grundrente im Süden besonders stark zurückgegangen ist, 
wird es ferner für einen immer größer werdenden Teil der dortigen 
Eigentümer unmóglieh, die Zinsen der Hypotheken zu zahlen, die vor 
Jahren und Jahrzehnten unter günstigeren Verhältnissen aufgenommen 
wurden; eine tief einschneidende Reform des Hypothekenwesens ist da- 
her besonders für den Süden unerläßlich ?). 

Aber wenn auch die südlichen Landwirte in noch schlimmeren 
Verhältnissen leben als die nördlichen, sie scheinen dies doch weniger 
zu empfinden, weil sie stumpfsinniger und weniger aufgeklärt sind $). Ab- 
gesehen von dem Einflusse der Industrie, des stärkeren Fremdenverkehrs, 
der großen modernen Städte, ist die größere geistige Regsamkeit der 
Bewohner der nördlichen und mittleren Provinzen meines Erachtens 
hauptsächlich zurückzuführen auf die sogenannte zeitweise Auswande- 
rung. Viele Italiener verlassen bekanntlich für kürzere Zeit ihr Vater- 
land, um in Frankreich, der Schweiz, Deutschland u. s. w. etwas zu ver- 
dienen und mit einer kleinen Summe, vielfach auch mit neuen Ideen — 
guten und schlechten — in die Heimat zurückzukehren. Diese „zeitweise 
Auswanderung“ ist nun im Süden weit weniger häufig als im Norden. 

Im Jahre 1897 — jüngere Daten liegen mir nicht vor — belief 
sich die Zahl 


in den Distrikten der zeitweisen Ausw. der Bevölkerung 
Piemont 11 938 3 381 000 
Norditalien Lombardei 1I 118 4 107 800 
| Venetien 84 860 3 137 100 
Apulien 710 1 910 000 
ER al: — 55 500 
Süditalien SE UE 3 11$ : us ion 
Sardinien 29 766 ooo 


1) La Patria (Rom), 4. Mai 1902, No. 122. 

2) Vergl. den Artikel „I credito fondiario nelle provincie meridionali“ in der 
Tribuna vom 14. Mai 1902; ferner die Rede Luzzatti's über die Lage des Südens, in 
SC gehalten am 27. April 1902, Bericht darüber in derselben Zeitung, 28. April 1902, 
No. 118, 

3) Nicht mit Unrecht nennen King-Okey a. a. O. S. 111 Italien ein Land ‚where 
wo stages of civilization coerist in the same State“, 


Miszellen. 243 


So ist denn auch vorwiegend — wenigstens vorläufig noch — der 
Norden Hauptschauplatz der „Bauernstreiks“, die besonders in den 
letzten Jahren in und außerhalb Italiens so großes Aufsehen erregt 
haben. Bevor ich jedoch darauf etwas näher eingehe, erscheint es not- 
wendig wenigstens in aller Kürze, die landwirtschaftliche Besitzver- 
teilung und die Gruppierung der landwirtschaftlichen Bevölkerung zu 
erörtern. 

Der bereits oben erwähnte Graf Jacini nennt Italien das Land des 
Kleineigentums „per eccelentia“ Will er damit sagen, daß 
dort das Kleineigentum besonders zersplittert ist — man kann hier 
thatsächlich häufig von einer „Pulverisierung“ reden — daß ein mittel- 
großes Grundeigentum in Italien so gut wie gar nicht existiert, dann 
hat er nicht unrecht. Aber die Gefahr liegt nahe, daß in nicht allzu 
ferner Zeit — eben weil Jacini in diesem Sinne recht hat — Italien 
das Land des Latifundienbesitzes „per eccelentia“ wird. 
Italien hatte ja ausgedehnte Latifundien von jeher, und der unzweck- 
mäßige Verkauf von Gütern der Kirchengesellschaften und des Staates 
seit 1867 hat das Seinige mit dazu beigetragen, daß der vorhandene 
Latifundienbesitz vermehrt wurde, aber er ist doch zu keiner Zeit so 
augenscheinlich angewachsen wie im letzten Jahrzehnt, die Notlage der 
kleinen Bauern, die bereits in manchen Gegenden anfangen, ihr Besitz- 
tum ohne weiteres preiszugeben, bietet ja auch eine zu günstige Ge- 
legenheit zum „Arrondieren“. 

Wie die englischen Landlords, halten es die italienischen „gentiluo- 
mini campagnuoli“ meist für nicht ihrer Würde entsprechend, selbst 
ihren Grundbesitz zu verwalten, der Absentismus mit allen seinen üblen 
Folgen ist in Italien mehr verbreitet als in irgend einem anderen Lande. 
Besonders verhängnisvoll ist für einige Teile Italiens das Zwischen- 
pachtwesen geworden; die Großgrundbesitzer verpachten ihr ganzes 
Landeigentum oder größere Massen desselben an einen Spekulanten, der 
dann seinerseits den Grundbesitz in kleinen Teilen zu Afterpacht oder 
Teilbau weitergiebt. Seit Jahrzehnten sind ja die sicilianischen „gabe- 
lotti“ bekannt, aber in neuerer Zeit scheint sich die in Rede stehende 
Art der Verpachtung auch beträchtlich auszudehnen in den Provinzen 
des Festlandes, besonders im Süden, im Latium und in dem Gebiete 
von Verona und Mantua 1). 

Prof. Gatti schätzt die Zahl der Eigentümer landwirtschaftlichen 
Bodens auf 4860000 für das Jahr 1899 gegen 4500000 im Jahre 
1892 und 3 500 000 im Jahre 1882?). Trotzdem die Grundsteuern auller- 
ordentlich hoch sind — wie wir oben sahen — bezahlen nur 130 000 
Landeigentümer mehr als 40 L. Grundsteuern einschließlich Gemeinde- 
und Provinzialzuschlag; es ergiebt sich daher von selbst, daß die große 
Mehrzahl der „Eigentümer“ lediglich ganz kleine Bauern sind, die zwar 
einige meist ererbte Stücke Land haben, die aber von ihrem eigenen 


& diu EE Gatti, a. a. O., S. 467 f. und La rassegna nazionale, April 1902, 


2) A. a. O., S. 445. 
16* 


244 Miszellen. 


Lande unmóglich leben kónnen, sie müssen entweder im Wege der Pacht 
oder des Teilbaues anderes hinzuzubekommen suchen, oder als Tage- 
lóhner sich ihren Unterhalt verdienen. Manchmal mag ihnen dabei ihr , Eigen- 
. tum* eine nur zu làstige Fessel sein, von der sie sich gerne befreien 
möchten, wenn sie jemand fänden, der ihnen ihr Land abkaufte. Häufiger 
werden die Fülle, wo die Bauern einfach ihr Besitztum im Stiche lassen 
und weiterziehen; aber es wird auch berichtet, daß in großen Versamm- 
lungen die kleinen Eigentümer mit der Losung ,Abbasso la nostra pro- 
prietà^, „Nieder mit unserem Eigentum“ für die sozialistische Bewegung 
eintreten, ja, daß einige Bessergestellte von ihnen sogar ihr Besitztum 
mit einer Hypothek belasteten, um die „agrarische Bewegung“ auch 
materiell unterstützen zu können 1). 

Wenig unterscheidet sich von dem kleinen Eigentümer der kleine 
Pächter, auch seine Lage ist fast stets eine überaus ungünstige, um 
den Pachtschilling an den Besitzer oder Zwischenpächter bezahlen und 
seine bescheidenen Bedürfnisse befriedigen zu können, ist er manchmal 
gezwungen, noch nebenbei — ähnlich wie der kleine Eigentümer — 
Tagelöhnerarbeit zu verrichten. Uebrigens ist die Zahl der Pächter nicht 
sehr groß, in einer vor etwa 10 Jahren erschienenen Schrift wurde sie 
einschließlich Familienangehörige auf 400000 angegeben, wobei die 
Kinder unter 8 Jahren jedoch außer Betracht blieben ?). 

Sehr bedeutend ist vor wie nach der Teilbau in Italien. Am zu- 
treffendsten definiert man wohl den Teilbauvertrag, wie es H. Dietzel 
in seinem eingehenden und geistreichen Aufsatze „Ueber das Wesen 
und Bedeutung des Teilbaues in Italien“ 3) gethan hat als „einen Ver- 
trag, mittels dessen, der Eigentümer (oder ein durch einen anderen 
Rechtstitel befugtes Rechtssubjekt) eine Familie ländlicher Arbeiter 
verpflichtet zur Verrichtung der — für die Dauer des Kontrakts — 
notwendigen, regelmäßigen Kultivationsarbeiten auf einem ein wirtschaft- 
liches Ganzes bildenden Grundstück, derselben aber als Lohn dieser 
Arbeit eine bestimmte Quote des Rohertrages verspricht.“ Näher auf 
das juristische Wesen des Teilbauvertrages in seinen verschiedenen 
Nebenarten einzugehen, liegt nicht in meiner Absicht; ich verweise auf 
Dietzels Arbeit. Hinsichtlich der ökonomischen Bedeutung des Teil- 
baues gehen die Ansichten weit auseinander. In Italien wird er nament- 
lich von den Sozialisten bekämpft, sie warfen ihm vor, daß er den 
ökonomischen Fortschritt der Landwirtschaft hindere, daß er die Ar- 
beiter ausbeute und ihr Emporkommen mehr als andere Formen des 
Arbeitsvertrages erschwere. Die übrigen Parteien, insbesondere auch die 
Katholisch-Sozialen, deren Einfluß in Italien nicht unterschätzt werden 


1) Vergl. den Aufsatz „Piccoli proprietari“ in der Critica sociale (Mailand) vom, 
1. Mai 1902, S. 136 ff. 

2) Spandoni, Della mezzadria in relazione con gli interessi dell' agricoltura, 1893! 
cit. nach Gatti a. a. O., S. 471. 

3) In der Zeitschrift für die ges. Staatswissenschaft 1884 und 1885. Gleichzeitig 
möchte ich hier aufmerksam machen auf das vom italienischen Ackerbauministerium 
1891 herausgegebene Werk „I contratti agrari", sowie auf das kleine Schriftchen von 
Rabbeno: „Manuale pratico della mezzeria“, Mailand 1895. Ueber die ländlichen 
Arbeitsverträge in Süditalien berichte Nitti im Economie Review, Juli 1893. 


Miszellen, 245 


darf, stehen dagegen dem Teilbauvertrage im allgemeinen sehr sympathisch 
gegenüber. Nicht zu leugnen ist es, daß die Teilbauern durchweg besser 
stehen als die gewöhnlichen Tagelöhner, meist besser auch als die kleinen 
Eigentümer und Pächter; sie leisten meistens auch der sozialistischen 
Bewegung Widerstand — ob das noch lange dauern wird, ist indessen 
eine andere Frage — und da, wo der Teilbau überwiegt, waren 
die Bauernstrikes meist weniger bedeutend als in anderen Bezirken. 
Ueber den Umfang der Teilbauwirtschaft lassen sich genaue Daten 
nicht beibringen, schon deshalb nicht, weil die Begriffe nicht feststehen ; 
soviel läßt sich jedoch sagen, daß der Teilbauvertrag (mezzadria, mez- 
zeria u. s. w.) auch heute noch „der klassische Agrarkontrakt“ Italiens 
ist, die Zahl der Teilbauern ist z. B. sicher 3—4mal so groß als 
diejenige der Pächter. Auf Grund amtlicher Publikationen kommt 
Rabbeno in seiner oben genannten Schrift zu dem Ergebnis, daß 
die Teilbauwirtschaft überwiegt in Toskana, Emilia, Sicilien, Ligu- 
rien, Marken, Umbrien und Piemont, daß sie aber auch in den übrigen 
Landschaften mit Ausnahme von Neapel und Sardinien, sehr häufig ist. 
Rabbeno behauptet damit zum Teil genau das Gegenteil von dem, was 
Eheberg etwa ein Jahrzehnt früher (a. a. O., S. 125) über die Ausdeh- 
nung des Teilbaues schrieb: „Am wenigsten Teilbauer befinden sich in 
Piemont“, heißt es z. B. in seiner Schrift; das ist jedenfalls durchaus 
wrichtig. Eheberg stützt sich bei seinen Behauptungen zwar offenbar 
auf Dietzel, hat aber dabei wohl nicht genügend beachtet, daß dieser 
nach kritischer Würdigung des statistischen Materials „selbst eine ober- 
flächliche Schätzung der räumlichen Ausdehnung der Wirtschaftsformen 
des Selbstbetriebes, des Teilbaues und der Pacht“ für untunlich hielt. 
Aber selbst wenn man genaue Zahlen angeben könnte, es wäre damit 
doch wenig gewonnen, weil „Teilbau“ ein Sammelbegriff für eine ganze 
Anzahl verschiedener Kontrakte ist; tatsächlich hat ein neuerer Schrift- 
steller nicht so unrecht, wenn er meint, daß es so viel verschieden- 
artige landwirtschaftliche Kontrakte in Italien geben als Parteien, die 
sie abschlössen !). 

Ebenso wenig wie über die Anzahl der Pächter und Teilbauern, läßt 
sich über diejenige der Tagelöhner etwas Bestimmtes sagen. Wir sahen 
schon, daß manche kleine Eigentümer und Pächter, zuweilen übrigens 
auch Teilbauern, gleichzeitig Tagelöhner sind, so daß es zweifelhaft 
wird, welcher Kategorie man sie unterordnen soll. Die reinen Tage- 
löhner sind zahlreich in der oberitalienischen Tiefebene, in der Lom- 
bardei, Venetien und Emilia, namentlich zu beiden Seiten des Po, wo 
große Gutswirtschaften bestehen. Man hat dort zu unterscheiden zwi- 
schen salariati oder obligati und contadini aventizi oder giornalieri, 
braccianti. Die ersteren, vorwiegend für das Vieh angestellt, sind für 
längere Zeit verpflichtet, sie erhalten vielfach außer einem geringen 
Geldlohn, ca. 1/, L. pro Tag, 1/,—1], des Ertrages eines von ihneı 
bebauten Hektar Landes, 1/,, des vonihnen gedroschenen Getreides u. dgl., 
sind also auch wieder eine Art Teilbauern, die aventizi werden dagegen 


1) Vergl. Rassegna nazionale a. a. O., S. 621, 


246 Miszellen. 


nur für bestimmte Arbeiten, wie Hacken, Pflügen, Mähen, Ernten her- 
angezogen; sie sind durchschnittlich nur 6—7 Monate beschäftigt, und, 
um in dieser Zeit móglichst viel zu verdienen, sind sie gezwungen, auch 
die kleinsten Kräfte zur Arbeit heranzuziehen. P. Ghio berichtet aus 
der Gegend von Mantua, wo er sich eine Zeitlang aufhielt, daß dort 
zur Zeit der Getreideernte die Frauen und Kinder von morgens 6 Uhr 
bis abends 6 Uhr bei einer Stunde Pause tätig sind, dafür erhalten 
Kinder von 7—9 Jahren 40 cent, von 9—12 Jahren 50—60 cent, die 
Frauen 60—70 cent. Kaum mehr als die Frauen verdienen die Männer. 
Der Lohn erhóht sich um nur weuige centesimi zur Zeit der Reisernte, 
dabei müssen aber die Arbeiter 8—10 km zurücklegen ehe sie an dem 
Arbeitsfelde angekommen sind. Nachts um 2 Uhr pflegt man aufzu- 
brechen, um gegen Mittag, wenn die Sonnenhitze zu groß wird — die 
Arbeiten werden gegen Mitte Mai bis Mitte Juli ausgeführt — wieder 
nach Hause zu ziehen; in den ungesunden, feuchtheißen Sumpfgegen- 
den, wo der Reis hauptsáchlich gebaut wird, darf man sich nur so 
lange aufhalten als unumgänglich nötig ist!) Ueber Nahrung, Woh- 
nung, Kleidung, Gesundheitsverhültnisse der italienischen Landarbeiter 
will ich hier nicht sprechen; sie sind häufig genug, auch von deutschen 
Schriftstellern geschildert, und jedermann weiß, daß sie meist menschen- 
unwürdig sind ?). 

Vor etwa 20 Jahren verglich ein „Augenzeuge“, G. Bernardi aus 
Pegli, die bäuerlichen Zustände Irlands mit denjenigen Italiens. „In 
Italien“, so sagte er, sind die Zustände auf dem Lande, ist die Ver- 
fassung des Grundeigentums, das Pachtwesen, ist vor allem die Lage 
desjenigen Teiles der Bevölkerung, der als Tagelöhner oder Kleinpächter 
die eigentliche landwirtschaftliche Arbeit thut, kaum besser, vielleicht 
noch schlimmer. Die irischen Bauern morden und brennen, die italie- 
nischen hungern, leiden und sterben, wenn sie nicht vorher auswanderen 
und ihr Elend auf fremder Erde schneller ausleben.“ Aber, so fragt 
der Autor, „wenn nun fanatische Aufwiegler ... die Unzufriedenheit 
anfachten, die noch ein Traumleben führenden Massen erweckten ? Die 
Folgen würden furchtbar sein“ 3)! Das neue Jahrhundert scheint dieses 
Erwachen verwirklicht zu sehen, aber ich bin optimistisch genug, der 
Hoffnung Ausdruck zu geben, daß die Folgen nicht „furchtbar“, sondern 
erfreulich sein mögen. 

Die Societä degli agricoltori italiani hat sich der verdienstlichen 
Aufgabe unterzogen, eine Enquete zu veranstalten über die jüngsten 
agrarischen Strikes in Italien und ihre wirtschaftlichen Folgen. Das 
Resultat ist vor kurzem veröffentlicht worden 4) Zunächst einige 
Bemerkungen über den wissenschaitlichen Wert der Enquete. Die 


1) P. Ghio a. a. O., S. 385. 

2) Vergl. neuerdings den Artikel „Aus Italien“, Beilage der „Allgemeinen Zei- 
tung“ vom 4. Aug. 1902, S. 233 ff. 

3) Schmoller's Jahrbuch, 1882, S. 663. 

4) In einem Supplementbande zum Heft 6 des „Bollettino quindicinale Società 
degli agricoltori italiani“ 1902. Ein Auszug daraus erschien unter dem Titel: I recenti 
scioperi agrari in Italia, Rom 1902. Nach letzterem wird im folgenden citiert. 


Miszellen. 247 


»Gesellschaft der italienischen Landwirte“, welche die Enquete unter 
Leitung einer Kommission von 3 Mitgliedern veranstaltete, zählt zu 
ihren Mitgliedern hauptsächlich Grofigrundbesitzer; schon deshalb, weil 
der Mitgliedsbeitrag — 20 Lire — verhältnismäßig hoch ist, können 
Sich kleinere Eigentümer nur ausnahmsweise beteiligen, doch gehören 
er Gesellschaft auch eine Reihe angesehener Vertreter der Wissen- 
schaft an. Man muß zugeben, daß die Veranstalter redlich bemüht 
Dion, ein wirklich objektives Bild von der tatsächlichen Lage der 
Inge zu erhalten und der Oeffentlichkeit mitzuteilen. Der Hauptfehler 
der Enquete liegt wohl darin, daß sie ausschließlich schriftlich war. 
Immerhin darf man doch annehmen, daß die Antworten auf die ge- 
stellten 13 Fragen nach bestem Wissen und Gewissen abgegeben wurden, 
weil vorher ausdrücklich bekannt gemacht worden war, daß alle Ant- 
worten unter Angabe des für dieselben verantwortlichen Namens ver- 
öffentlicht werden würden. Fragebogen wurden abgesandt an Land- 
eigentümer und Vereinigungen von solchen, an die Wanderlehrer, die 
praktischen Landwirtschaftsschulen, ebenso aber auch an die Vertreter 
der Interessen der landwirtschaftlichen Arbeiter und endlich an eine 
Anzahl von Firmen, die mit der Landwirtschaft durch Vertrieb von 
Maschinen, künstlicher Düngemittel etc. in Verbindung stehen. Es gingen 
im ganzen 288 Fragebogen beantwortet ein, davon stammten 53 von 
Landarbeitern bezw. Landarbeitervereinigungen, 34 von den erwähnten 
kaufmännischen Geschäften, der Rest von Eigentümern, Gelehrten, 
Wanderlehrern etc. Wahrscheinlich würden zahlreichere Antworten ein- 
gegangen sein, wenn man die Enquete nicht so sehr beschleunigt hätte, 
im Januar 1902 wurden die Fragebogen verschickt, im Mai lag das 
Ergebnis bereits gedruckt vor. 

Wie schon gelegentlich erwähnt wurde, waren die Streiks besonders 
zahlreich in Oberitalien, namentlich in den Provinzen Novara, Mantua, 
Ferrara und dem in der Tiefebene gelegenen Teile der Provinz Verona, 
nächstdem aber auch in den Provinzen Bergamo, Brescia, Mailand (hier 
besonders in der Gegend von Monza), Pavia, Parma, Piacenza, Modena. 
Fast gar keine Strikes gab es in den Provinzen Turin, Alessandria und 
Cuneo in der Landschaft Piemont, die Enquete gibt als Gründe dafür 
an, daß dort der Teilbau vorherrsche und die steigende Auswanderung 
die Arbeitskräfte rar mache!). Ebenso blieb Ligurien von Streiks ver- 
schont, weil hier der Teilbau und das kleine selbständige Eigentum 
überwiegt?) Dasselbe gilt für die Provinz Sondrio, wo ?/,, der Be- 
vôlkerung Teilbauern sind, für die mittelitalienischen Landschaften 
Toskana, Marken und Umbrien 3), In Süditalien kamen Streiks vor in 
den Provinzen Bari und Foggia (Landschaft Apulien) sowie in einigen 
Orten der Landschaft Basilicata $). Ueber nur wenige Streiks konnte 
aus Sicilien berichtet werden, doch machen einige Berichte aufmerksam 
auf die in verschiedenen Teilen der Insel herrschende lebhafte agrarische 
Agitation 5). 


1) Enq. S. 25 u. S. 9. 2) Enq. 8.57. 3) Enq. 8. 46 u. S. 17. 4) Enq. S. 102 ff. 
5) Eng. S. 104 ff. 


248 Miszellen. 


Die Streikenden waren in der großen Mehrzahl Tagelöhner, salariati 
und giornalieri, dazu kamen aber auch hier und da kleine Eigentümer, 
die ja zuweilen, wie wir wissen, Tagelöhnerdienste verrichten, und 
schließlich doch in verschiedenen Gegenden Teilbauern, so in den Pro- 
vinzen Bergamo, Brescia, Cremona, wo sie größere Quoten von Reinertrag 
für sich verlangen! in der Provinz Bologna, wo sie Reduzierung der 
„onoranze“ fordern, es waren dies ursprünglich aus freien Stücken ge- 
gebene Geschenke, welche zu Festtagen (Ostern, Weihnachten) dem 
Herrn dargebracht wurden, dann aber gewohnheitsrechtlich sich fixierten ?). 

Ueber die Ursachen der Streikbewegung unter den Tagelöhnern 
braucht man eigentlich kaum ein Wort zu verlieren, sie sind selbst- 
verstándlich. Man forderte Vermehrung des Lohnes, Verminderung der 
Stundenzahl, Beseitigung der Accordarbeit u. dergl. Daneben wurde 
aber auch vielfach eine gesichertere Rechtsstellung verlangt. In Sicilien 
wurde an einigen Orten Ersetzung des Pacht- bezw. Afterpachtvertrages 
durch den Teilbauvertrag gewünscht 3). 

Die oberitalienische Bewegung ist bis jetzt unter Berücksichtigung 
der leidenschaftlichen Natur des Italieners und der großen Entbehrungen, 
die man sich auferlegen mußte, um die Streiks durchzuführen, im ganzen 
ruhig und würdig verlaufen. Sie wird gut charakterisiert durch folgende 
Erzählung: Ein italienischer Journalist fragte einen Führer der Bewegung 
nach dem Charakter derselben, worauf er folgende Antwort erhielt: 
„Als ich im Jahre 1884 verhaftet wurde (auch damals war eine leiden- 
schaftliche, aber nicht sehr umfangreiche Landarbeiterbewegung in Italien), 
wußte weder ich noch meine Genossen, warum wir eigentlich revol- 
tierten; wir ließen uns mehr von unserem Magen als von unserem 
Kopfe leiten. Heute ist das anders, wir wissen, daß uns Ruhe und 
Klugheit not tut“ 4). 

Die Grundbesitzer klagen vielfach darüber, daß die Schürer des 
Aufstandes von auswärts gekommene Sozialisten gewesen seien. Sie 
sind tatsächlich hervorragend beteiligt — direkt oder indirekt — an 
den Arbeiterkoalitionen, den Leghe di resistenza, welche den Krieg erklären 
und Frieden schließen. Freilich behauptete der italienische Minister des 
Innern im italienischen Senate, daß diese „Ligen“ nur ökonomische 
Ziele verfolgten, und daß daher auch die ganze Bewegung lediglich 
einen ökonomischen, keinen politischen Charakter trage. In dieser All- 
gemeinheit ist dies sicher falsch und wurde übrigens auch von mehreren 
Senatoren entschieden bestritten 5). In verschiedenen Distrikten ist die 
Bewegung eine entschieden sozialistisch-revolutionäre, so besonders in 
der Provinz Ferrara 5. Ueberall aber sind die Sozialisten überaus emsig 
an der Arbeit, neuerdings besonders auch im Süden und auf Sicilien. 

Infolge des zwar ruhigen, aber doch energischen Vorgehens der 
„Ligen“, die meist die gesamten Landarbeiter geschlossen hinter sich 


1) Enq. S. 30 ff. 2) Enq. S. 58, vergl. auch Dietzel a. a. O. (1884) S. 252. 
3) Enq. S. 18. 

4) Ghio a. a. O. S. 390. 

5) Sitzung vom 24. April 1902, nach dem Berichte des Corriere della sera. 

6) Enq. S. 61 ff. 


Miszellen. 249 


hatten, und des Umstandes, daß die Arbeitsniederlegung für die Grund- 
besitzer vielfach ganz unerwartet, zur Zeit, wo sie am dringendsten 
Arbeitskräfte bedurften, erfolgte, hatten die Streiks durchweg ein für 
die beteiligten Arbeiter sehr günstiges Ergebnis, wenn auch nicht alle 
“orderungen durchgesetzt wurden. 48 Mill. L. soll die Lohnverbesserung 
ìm ganzen betragen haben, so behauptete Giolitti im italienischen Parla- 
pente, Der Lohn wurde durchschnittlich um 20—30 Proz. erhöht und 
Ve jetzt z. B. für giornalieri in der Provinz Mantua 1,20 L. im 
Inter und 2,50 L. im Sommer, die obligati erhalten durchschnittlich 
900 L. pro Jahr!) Aus mehreren Orten wird Ausdehnung des Quotal- 
lohnsvstems gemeldet, in Rovigo wurde sogar den giornalieri außer 
einem Geldlohn von 1,20—1,60 L. Anteil am Ertrage des Mais- und 
Hanfbaues zugebilligt *). Abgesehen von den Lohnerhóhungen erreichten 
freilich die Tagelóhner nur wenig von dem, was sie forderten, vor allem 
ist auch die tägliche Arbeitszeit — außer in wenigen Distrikten — 
nicht vermindert worden, ebensowenig ist in der rechtlichen Stellung 
der Tagelöhner zum „padrone“ eine bemerkenswerte Aenderung ein- 
getreten. Nur vereinzelt wurde der bis dahin geltende mündliche Ver- 
trag durah einen schriftlichen ersetzt; in den Provinzen Verona, Venezia, 
Rovigo, Ferrara?) weigert man sich, einen schriftlichen Vertrag auf 
Grund der erlangten Vorteile einzugehen, weil man sie noch nicht für 
genügend erachtet; dort hat man also vorläufig nur einen Waffenstill- 
stand geschlossen. 

Die Teilbauern haben fast alle ihre Forderungen durchgesetzt, 
beachtenswert ist, daß sich ihnen gegenüber in einigen Gegenden die 
Besitzer verpflichten mußten, nicht nur ihren eigenen Anteil am Ertrage, 
sondern auch denjenigen der Teilbauern gegen Hagel versichern zu 
lassen t). 

Die großen Mehrausgaben, welche den Grundeigentümern durch die 
erfolgreichen Strikes entstehen, treffen sie um so härter, weil sie selbst 
ebenfalls durchaus nicht auf Rosen gebettet sind. Ueberall macht sich 
jetzt unter ihnen das Bestreben geltend, móglichst viele von den un- 
bequem gewordenen Arbeitern überflüssig zu machen. Die Enquete 
berichtet, daß dies auf zweierlei Weise versucht wird, entweder führt 
man Maschinen ein, oder man geht, und das ist die Regel, zu einem 
extensiveren Betriebe über. Vereinzelt, so z. B. aus Mantua, wird mit- 
geteilt, daß man die Männer durch Frauen zu ersetzen sucht, stellen- 
weise haben die Besitzer überhaupt die Bewirtschaftung aufgegeben 
und lassen das Land öde da liegen, häufiger scheint dies in der Land- 
schaft Emilia vorgekommen zu sein. 

Endlich noch ein Wort über die Wirkungen der Streiks im Hinblick 
auf die bis jetzt noch nicht zu offenem Widerstande übergegangenen 
Landarbeiter. Sie hören selbstverständlich von den Ertolgen ihrer Ge- 
nossen und sozialistische Agitatoren sind überall redlich bemüht, sie 
ihnen so glänzend wie möglich zu schildern, sie fangen an, auch über 

ihre Lage nachzudenken, und da, wo bis jetzt noch leidliche Zufrieden- 


1) Enq. S. 38. 2) Enq. S. 48. 3) Enq. S. 48, 53, 54, 61. 4) Enq. S. 33. 


250 Miszellen. 


heit herrschte, fäugt man an, der Unzufriedenheit offen Ausdruck zu 
geben. Ein Beispiel: Die Enquete hebt rühmend hervor, daf man in 
der Landschaft Toscana, wo der Teilbau durchaus vorherrschend ist, 
durchweg ruhig und zufrieden sei!) Nun hatte ich aber am 18. Mai d. J. 
Gelegenheit, in Florenz dem „l. Kongresse toskanischer Landarbeiter* 
beizuwohnen, und war nicht wenig erstaunt, auch hier eine allgemeine 
lebhafte Unzufriedenheit zu bemerken, obwohl einige Redner deutlich 
genug zum Ausdrucke brachten, daß sie mit dem Sozialismus nichts zu 
thun haben wollten; man forderte Revision und Reform des Teilbau- 
vertrages, außerdem aber auch auf das Referat eines Arztes hin freie 
ärztliche Behandlung bezw. unentgeltliche Aufnahme in ein Hospital und 
ferner Uebernahme der Apotheken durch die Gemeinden. Für die Be- 
schlüsse der Konferenz sollte sowohl von Person zu Person wie auch 
in größeren Versammlungen tatkräftig Propaganda gemacht werden. 

Besonders bedenklich wäre es — was aber meines Erachtens un- 
vermeidlich ist — wenn die Streikbewegung in Süditalien und auf 
Sicilien einen größeren Umfang annehmen würde. Die Gefahr, daß man 
sich dort nicht auf den bloßen Ausstand beschränkt, sondern bald zu 
Gewalttätigkeiten schreitet, ist aus Gründen, die bereits angedeutet 
sind, sehr groß; das betont übrigens auch die Enquete ?) nachdrücklich. 

Unter den Fragen, welche auf dem Fragebogen der Enquete standen, 
betraf auch eine die Mittel, welche anzuwenden seien, um die zwischen 
Arbeitgebern und Arbeitern befindliche Kluft zu überbrücken. Die 
Antworten darauf waren meist recht ungenügend, die große Mehrzahl 
begnügte sich, auf ein Schiedsgericht hinzuweisen. Die meines Erachtens 
einzig richtige Antwort wurde von verschiedenen Arbeitervereinigungen 
gegeben, indem sie forderten, daß die Grundbesitzer angehalten werden 
müßten, ihr Land intensiver und unter Berücksichtigung aller Fort- 
schritte der Wissenschaft zu bebauen, und daß das Recht der Arbeit 
in den italienischen Gesetzen ebenso sicher zu stellen sei wie das des 
Kapitals. 

Es ist noch zu früh ein endgültiges Urteil über die Landarbeiter- 
bewegung in Italien zu fällen, vorläufig stehe ich ihr, wie schon ange- 
deutet, nicht unsympatisch gegenüber ?). 

Jedenfalls weiß sich der Verfasser mit den Lesern dieser anspruchs- 
losen Skizze einig in der Hoffnung, daß die Landwirtschaft für das 
Land, was der Fremde so gerne den Garten der Kultur nennt, und zu 
dem namentlich der Deutsche, der einmal dort war, durch eine Art 
Heimweh sich hingezogen fühlt, wieder das werden möge, was sie sein 
mub, wenn der Staat nicht zu Grunde gehen soll. Dazu bedarf es 
freilich eines Aufwachens nicht nur der Arbeitnehmer, sondern auch 
der Arbeitgeber und der verantwortlichen Staatsmänner. 


1) Enq. S. 16. 2) S. 23 u. S. 102 ff. 

3) Angelo Bertolini meint im Hinblicke auf die Bewegung: ,.....agli occhi 
miei, cio® di un economista individualista, quest’ è opera benefica, poiche è una delle 
vie per raggiungere quel miglioramento economico e morale delle avvilite plebi rurale, 
che dev, essere l'aspirazione d'ogni buon citadino“ Giornale degli Economisti 1900, S. 396. 


—X = nn ——À 


Miszellen, 251 


Nachdruck verboten. 


III. 


Ein paar Bemerkungen betreffend die Lehre von der 
Mortalitát. 


Von Harald Westergaard. 


In einer übrigens wohlwollenden Besprechung meines obengenannten 
Werkes hat Herr kais. Regierungsrat Dr. Zahn in den Jahrb. (III. F., 
24. Bd, S. 846) einige Einwendungen gemacht, die ich beantworten 
möchte. 

Gemäß dem Plan meines Werkes habe ich das 1. Kapitel einer 
propädeutischen Einleitung gewidmet, worin ich selbstverständlich 
manches sagen mußte, was dem geschulten Statistiker überflüssig er- 
scheinen würde. Ein vieljähriges Studium der einschlägigen medizinal- 
statistischen Literatur hat mich davon überzeugt, daß eine solche Ein- 
leitung nicht unnützlich sein würde. Mit aller Anerkennung der Selbst- 
verständlichkeit des Satzes, daß „man die Ursachen der Sterblichkeit 
nur dann voll erkennt, wenn man auf das Alter Rücksicht nimmt“, 
konnte ich es mir doch erlauben, in einem 700 Seiten starken Bande 
ein paar Seiten auf diese Frage zu verwenden. Uebrigens handelt es 
sich hier weniger um dieses Problem, wie um das entgegengesetzte: 
in welchem Grade und unter welchen Bedingungen kann man vom 
Alter hinwegsehen? Daß man dieses häufig tun kann, wo man mit all- 
gemeinen Bevölkerungen arbeitet, hat z. B. G. Sundbärg nachgewiesen ; 
mein aus der englischen offiziellen Statistik herausgegriffenes Beispiel 
beleuchtet die Tatsache, daß dieses in der Berufsstatistik meistens un- 
möglich ist. 

Ferner opponiert Dr. Z. gegen ein zweites Beispiel in der Ein- 
leitung, welches die Jahresschwankungen in der Sterblichkeit betrifft, 
und sagt, daß der Schluß kaum zu verstehen ist. Trotz der ausge- 
zeichneten Hilfe meines sprachlichen Revisors hat vielleicht der Um- 
stand, daß ich mit einer mir fremden Sprache arbeitete, dazu beige- 
tragen, daß ein an und für sich klarer Gedanke einen unklaren Aus- 
«druck erhalten hat. In der Regel erlaubt man sich auf diesem Gebiete 

er Statistik nur mit absoluten Zahlen zu rechnen (nachdem man vor- 

erst die verschiedene Länge der Monate berücksichtigt hat), ohne die 


959 Miszellen. 


Veründerungen der Volkszahl heranzuziehen. Wenn aber beispielsweise 
in einer stark zunehmenden Großstadt die Sterbezahlen im Januar und 
im Dezember gleich sind, dann bedeutet dies tatsáchlich, daf der Ge- 
sundheitszustand im letzteren Monat günstiger war als im Januar; der 
betreffende Fehler kann auf mehrere Prozent steigen; hierauf aufmerk- 
sam zu machen, ist nicht überflüssig, es ist sehr selten, daß dieses in 
statistischen Arbeiten geschieht. 

Betreffend das 4. Kapitel, sagt Dr. Z., daf ich im eigenen Urteil 
über Beobachtungsfehler eine Unsicherheit verrate, und will dieses be- 
weisen, indem er auf ein en passant angeführtes Beispiel von der 
Handelsstatistik hinweist. Ich kenne selbstverständlich die betreffenden 
Elementarsätze der Handelsstatistik, die ich zum Ueberfluß in meiner 
Theorie der Statistik berührt habe; ich habe auch nicht behauptet, daß 
es sich hier nur um ungenaue Zahlen handelt, sonst hätte ich es ganz 
anders ausgedrückt, ich behaupte nur, daß aller Wahrscheinlichkeit nach 
trotz aller Korrekturen ein bedeutender Fehler bleibt, wenigstens in 
vielen Ländern, wie z. B. in meinem Vaterlande, und speziell bin ich 
der Auffassung, daß die Ausfuhrzahlen sehr häufig unsicher sind. 
Es ist ja übrigens leicht, aus der wirtschaftlichen Statistik viele andere 
Beispiele einer bedeutenden Ungenauigkeit zu schöpfen. — Hier sei nur 
bemerkt, daß ich speziell dieses Kapitel betreffend um Nachsicht bitten 
muß, da ich mich hier auf nur selten betretenen Pfaden befinde; es ist 
dieses eines der Gebiete in der Statistik, wo ich die größten zukünftigen 
wissenschaftlichen Fortschritte erwarte, indem man die Fehlerquellen 
einer allseitigen und tiefgehenden Untersuchung unterziehen wird. Ich 
glaube, daß ich ein wenig dazu beigetragen habe, teils die Grenzen der 
Fehler zu bestimmen, teils für die Behandlung der Aufgabe Propaganda 
zu machen. 

Die Zufriedenheit der Kopenhagener Näherinnen statistisch zu be- 
leuchten, nennt Dr. Z. im Schluß seiner Besprechung einen Unfug. Ich 
weiß nicht, ob ich dieses Urteil unterschreiben darf. Man kann ja nicht 
die Herzen und Nieren der Menschen statistisch behandeln, beispiels- 
weise würde eine Statistik des Glaubens ein Unding sein, nur die 
äußeren Konfessionsverhältnisse, Kirchenbesuch u. s. w. wären zugäng- 
lich. Es würde wohl aber nicht undenkbar sein, während einer langen 
Unterredung, wie dies bei den Näherinnen der Fall war, wo ein wahres 
Chaos von Fragen aufgestellt wird, auch die Frage einzuschalten, ob 
die betreffende Näherin mit ihrem Lose zufrieden sei, ganz wie man 
ihren Gesundheitszustand erforschen könnte. Tatsächlich erweisen die 
Antworten, die also nur als Nebenprodukte einer allseitigen Unter- 
suchung über die Lage der Näherinnen auftreten, eine interessante 
innere Harmonie, die auch wohl dazu berechtigen könnte, dieses als 
Beispiel heranzuziehen. Ueberhaupt glaube ich, daß auch für die 
„Moralstatistik“ die Zeit kommen wird, selbst wenn dieselbe bisher 
meistens nur eine Sammlung von Geistlosigkeiten war. Jedenfalls 
handelt es sich übrigens hier nur um eine Nebenbemerkung im Schluj- 
kapitel, und wenn Dr. Z. diese als einen „Schönheitsfehler“ bezeichnen 
will, soll ich nicht opponieren, 


Miszellen. 253 


A Ich bin mir wohl bewußt, daß ich mich in der Auffassung der 
et: Statistik auf einem anderen Standpunkte befinde als mehrere der leiten- 
den Statistiker Deutschlands, wie G. Mayr. Doch werde ich mit Dr. 
Zahn mit großer Freude eine neue deutsche Sterbetafel begrüßen, selbst 
Wenn ich betreffend der Anwendbarkeit derselben mit ihm nicht einig 
bin, Die methodologischen Fortschritte der Reichstatel 1871—81 waren 
!edenfalls so groß, daß man auch diesmal zu großen Erwartungen be- 
Schtigt ist. Und mit allem Vorbehalt, mit Rücksicht auf die Vorzüge 
les deutschen Krankenkassenmaterials, sehe ich mit Spannung einer tief- 
gehenden Bearbeitung desselben entgegen, die sich gewiß als eine Be- 
reicherung der statistischen Literatur erweisen wird. 


= Kopenhagen, Januar 1903. 


—— M 


254 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes, 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands 
und des Auslandes. 
1. Geschichte der Wissenschaft. Encyklopädisches. Lehrbücher. Spezielle 
theoretische Untersuchungen. 

Nationalökonomie der technischen Betriebskraftvon 
Dr. Gottfried Zoepfl, Handelsattaché des Auswärtigen Amtes. 
Erstes Buch: Grundlegung. — Jena, Verlag von Gustav Fischer, 1903. 

Der Verfasser hat sich die sicherlich höchst dankenswerte Aufgabe 
gestellt, der nationalökonomischen Wissenschaft ein neues Arbeitsfeld 
zuzuweisen: Die eingehende Betrachtung der technischen Betriebskraft 
in ihrem Einfluss auf das gesamte Wirtschaftsleben. Dankenswert ist 
das Unternehmen schon deshalb, weil ein gut Stück Wagemut dazu 
gehórt, sich auf das schwankende Gebiet technisch-ókonomischer Fragen 
zu begeben, ein Gebiet, auf dem kaum zwei Fachleute gleicher Meinung 
sind. — Die gesonderte Betrachtung der Betriebskraft erscheint gerecht- 
fertigt, denn gerade diese verschafft der Arbeitsmaschine ihre weite 
Verbreitung, und der Hinblick auf sie führt häufig erst zur Konstruktion 
von Arbeitsmaschinen. — Die Nationalökonomie der technischen Betriebs- 
kraft soll nach dem Wunsche des Verfassers ähnlich wie die Verkehrs- 
politik in den Handbüchern und Vorlesungen über Nationalókonomie 
künftig gesondert behandelt werden und zur Entlastung anderer Gebiete, 
vornehmlich der Abschnitte: Handelspolitik und Gewerbepolitik führen. 
Der Verfasser greitt in der Einleitung Techniker und Nationalókonomen 
scharf an, findet wenig Anerkennung für das bisher auf ähnlichem Ge- 
biet Geleistete und entwickelt für sein Werk ein umfangreiches Pro- 
gramm. Diese Vorrede spannt vielleicht die Erwartungen ein wenig zu 
hoch. — Der erste Abschnitt der Schrift gibt eine Uebersicht über die 
vorhandenen Betriebskrüfte in technischer Beziehung. Sie werden ein- 
geteilt in solche mit unmittelbarer Naturkraft: animalische Kraft, Wind-, 
Wasser-, Sonnenmotor, Betriebskräfte mit mittelbarer Naturkraft: Dampf-, 
Heifluft-, Gas-, Petroleum-, Benzin-, Spiritus, Druckluft-, Elektro- 
motoren u. s. w., endlich Betriebskräfte mit kombinierter Naturkraft: 
Wasserkraft mit Dampfreserve oder mit elektrischer Kraftübertragung. 
Parallel hiermit gehen Betrachtungen über Heizkraft der Kohlensorten, 
Kohlenpreise und anderes mehr. — Der zweite Abschnitt behandelt die 
Betriebskräfte in statistischer und sozialer Beziehung. Reichliche sta- 
tistische Angaben verschaffen einen Ueberblick über die Verteilung der 
technischen Betriebskraft auf Industrie, Gewerbe und Landwirtschaft im 
deutschen Reiche. Es folgen Betrachtungen über den Einfluf der Be- 
triebskraft auf die Entwicklung der Industrie, auf die Lohnarbeit, den 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 955 


gewerblichen Kleinbetrieb und die Landwirtschaft. Zum Schluß folgt 
ein Hinweis auf die wirtschaftspolitischen Aufgaben des Staates. — Die 
Disposition des ganzen Werkes erscheint recht geschickt, gegen die 
einzelnen Ausführungen lassen sich jedoch mancherlei Einwendungen 
Srheben. — Von rein technischen Erörterungen sehe ich hier na- 
türlich ab. . 
Zunächst muß es als methodologisch verfehlt bezeichnet werden, 
*nn in einem Buche, das Nichttechniker zu ókonomisch-technischen 
Betrachtungen anleiten will, die wichtigsten technisch-wirtschaftlichen 
Grundbegriffe: Arbeit und Leistung nicht nur recht oberflächlich be- 
handelt, sondern sogar ungenau definiert und stellenweise miteinander 
verwechselt werden. Mit wenig Worten hätte etwa gesagt werden 
können: „Arbeit“ nennt man die Ueberwindung eines Widerstandes längs 
einer Wegstrecke; die Einheit der Arbeit ist das Heben eines Kilo- 
grammgewichtes auf 1 m Höhe — 1 Meterkilogramm (1 mkg). — Der 
Kraft- und Bewegungszustand einer Maschine wird charakterisiert durch 
die sogenannte „Leistung“, das ist diejenige Arbeit, welche sie, wenn 
der Zustand konstant bleibt, in einer Sekunde zu leisten vermag. Kann 
die Maschine in 1 Sekunde 1 mkg Arbeit schaffen, so besitzt sie die 
Einheit der Leistung, 1 Sekundenmeterkilogramm (1 sec. mkg). Das 
Töfache dieser Leistung nennt man 1 Pferdestärke (1 P.S.)!). Endlich 
wird diejenige Arbeit, welche bei konstanter Leistung von 1 P. S. in 
1 Stunde verrichtet wird, (das sind also 75 . 60. 60 — 270000 mkg), eine 
Pferdekraftstunde benannt. — Hätte der Verfasser auf diese so wichtigen 
Grundbegriffe, die im Verlaufe der Betrachtungen auf fast jeder Seite 
wiedererwähnt werden, mehr Wert gelegt, so wäre ihm auch wohl kaum 
die Flüchtigkeit passiert, daß er auf Seite 30 von dem Sonnenmotor in 
Kalifornien sagt, es handele sich nicht um eine Spielerei, denn „der 
Motor hebe 5600 1 Wasser in 1 Stunde.“ Auf welche Höhe denn!? Wären 
es 50 m, so leistete der sehr ausführlich beschriebene Sonnenmotor ein 
wenig mehr als eine ganze Pferdestärke! — Die Akkumulatoren, mittels 
derer der Verfasser die Ungleichmäßigkeit der Sonnen-, Wind- und 
Wassermotoren beseitigen will, müßten auch erst erfunden werden, wenn 
der Betrieb sich einigermaßen rentieren sollte, vorläufig ist leider noch 
wenig Hoffnung dazu vorhanden. — Das vielfache Zitieren technischer 
Autoren bringt einige Unklarheiten in die Darstellung: So heißt es auf 
Seite 38 einmal in bezug auf Wasserkraftmaschinen sehr richtig: „Eine 
große Rolle spielt die jährliche Betriebsdauer, und: „dieselbe Wasser- 
kraft ändert den Wert, entsprechend der Intensität der Ausnützung“; 
es wird ferner richtig gesagt, daß der Wert einer Wasserkraft gar nicht 
allgemein, sondern nur von Fall zu Fall unter Berücksichtigung der 
örtlichen Betriebsverhältnisse angegeben werden kann — 'nichtsdesto- 
weniger hört man bald darauf, daß der Wert einer Wasser-Pferdekraft 
„in der Stadt (in günstiger Lage) 1200 M., auf dem Lande 800 M. und 
weniger“ beträgt; das sind ganz und gar bedeutungslose Zahlen. Viel 
lehrreicher wäre eine Kostenberechnung pro Pferdekraft und Stunde 


W 


1) Also nicht 75 mkg wie der Verfasser zweimal in derselben Anmerkung sagt, 
* ondern 75 sec. mkg sind gleich 1 P.S. 


256 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


für irgend einen speziellen Fall gewesen bei zahlenmàfigem Nachweise, 
daß eine Wasserkraft bei kurzer täglicher Betriebsdauer sich leicht 
teurer stellt als Dampfkraft, bei längerem Betriebe ihr gleichkommt und 
sich bei voller Ausnutzung wesentlicher billger stellt. — In dem Kapitel 
über Motoren mit mittelbarer Betriebskraft wird die Geschichte der 
Dampfmaschine bis Watt in fast 2 Seiten gegeben, die großartige 
Weiterentwickelung derselben in den folgenden 100 Jahren wird dagegen 
mit einer viertel Seite abgetan. Hier wäre ein etwas tieferes Eingehen 
wohl am Platze gewesen, auch hätte die Erfindung der „Kaltdampf- 
maschine“ erwähnt werden können. Das ist überhaupt eine Eigentüm- 
lichkeit des Werkes, daß Ausführlichkeit und Knappheit der Darstellung 
so eigenartig abwechseln, — da könnte eine spätere Neubearbeitung 
manches verbessern. Recht kurz gehalten ist auch die Erklärung der 
elektrischen Maßeinheiten, deren Wichtigkeit für ökonomische Be- 
trachtungen der Verfasser selbst betont. Hier mag jedoch die Unmög- 
lichkeit zugegeben werden, bei beschränktem Raum dem Laien eine 
einigermaßen klare Vorstellung von den Begriffen Ampere, Volt, Watt 
und Wattstunde zu geben. Im übrigen ist das Kapitel über die ver- 
schiedenen Motoren und ihre Oekonomie recht lehrreich und sachkundig 
bearbeitet. Daß sich da mancherlei Widersprüche gegen die Rentabilitäts- 
berechnungen aus Technikerkreisen erheben werden, steht zu erwarten, 
das wird aber dem Werte des Buches keinen Abbruch tun, denn jeder 
verständige Techniker weiß, wie schwer es ist, auf diesem Gebiete auch 
nur einigermaßen zuverlässige Angaben zu erhalten. 

Rein nationalökonomisch ist nun der zweite Abschnitt des Werkes 
gehalten. Die statistischen Angaben sind sehr umfangreich und bieten 
ein vortreffliches Studienmaterial. Interessant sind besonders die An- 
gaben über die Verteilung der verschiedenen Motoren auf die einzelnen 
Gewerbearten, geordnet nach den Gruppen der offiziellen Statistik. Im 
Anschluß hieran wird dann in den folgenden Kapiteln der Einfluß der 
technischen Betriebskraft auf die verschiedenen daran interessierten, gewerb- 
lichen Berufsarten behandelt. Bei diesem, für den Nationalökonomen 
eigentlich interessantesten Teile der Schrift wäre größere Ausführlichkeit 
manchmal ganz angebracht, und es erscheint nicht recht verständlich, 
wenn der Verf. bei Besprechung des Einflusses der Betriebskraft auf die 
Lohnarbeit auf Seite 173 sagt, er könne sich in der wichtigen Frage, 
ob die Arbeitsgelegenheit sich qualitativ verschlechtert habe, „dem Zweck 
unserer Arbeit entsprechend,“ nur kurz fassen. Nicht zutreffend ist 
wohl die Behauptung, daß allein der Arbeitsmaschine und nicht auch 
der Betriebskraft die Schuld beizumessen sei für gewisse Krisen auf 
dem Gebiete der Lohnarbeit. Eine getrennte Betrachtung von Betriebs- 
kraft und Arbeitsmaschine ist, wie schon eingangs gesagt, wohl ange- 
bracht, indem man nàmlich die Entwickelung der letzteren als Begleit- 
bezw. Folgeerscheinung der aufstrebenden Motorentechnik auffaßt; diese 
beiden Zweige der Technik aber als ganz unabhängig voneinander hin- 
zustellen, geht nicht an; für den Schaden, den neue Arbeitsmaschinen 
der Lohnarbeit zu Zeiten zufügen, ist die Betriebskraft indirekt mit 
verantwortlich zu machen. — In dem der Industrie gewidmeten Abschnitt 
wird die hohe Bedeutung der in elektrische Energie umgewandelten 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 257 


Wasserkraft besonders für die moderne Chemie gebührend betont In 
der Tat ermöglicht die Vielseitigkeit der Elektrochemie eine vorzügliche 
Ausnützung der Betriebskraft; nur dürfen dabei die Transportverhältnisse 
Nicht ungünstig sein. Erwähnenswert wäre hier vielleicht noch die 
ethode der Kraftverteilung durch Versand von Calcium-Carbid. In 
em Carbid schlummert ja die zur Herstellung aufgewandte Energie des 
“lektrischen Stromes; sie wird ausgelöst, wenn mittels Wasser Acetylen 
Zeugt und dieses in Gasmotoren zur explosiven Verbrennung gebracht 
ird. Wenn auf Seite 160 die Möglichkeit erwähnt wird, dereinst 
vielleicht Stickstoff auf elektrischem Wege herzustellen, so ist dabei 
wohl an das Problem gedacht, aus der atmosphärischen Luft die für 
die Fruchtbarkeit des Bodens so wertvolle Stickstoff-Sauerstoff- Verbindung 
zu gewinnen, welche zur Freude des Landmanns bei Gewitterregen 
häufig entsteht. Diese Aufgabe hat in jüngster Zeit ihre Lösung ge- 
funden; ob die hierauf begründete Herstellung von Salpeter sich rentieren 
wird, bleibt jedoch abzuwarten. Was die Verwendung der Elektrizität 
in der Landwirtschaft anbetrifft, so scheinen da — nach den bisherigen 
Erfahrungen — die Erwartungen des Verf doch etwas gar zu opti- 
mistisch zu sein. — Sehr eingehend und zutreffend wird der Einfluß 
der Motoren auf die Stellung des Kleingewerbes behandelt. Der Verf. 
kommt dabei zu dem Resultat, daß für gewisse Betriebe wie die der 
Drechsler, Polierer, Tischler u. a. der Motor, speziell der Elektromotor, 
der an eine Zentrale angeschlossen ist, große Bedeutung erlangen kann, 
daß jedoch manchen anderen Handwerkern von der Anschaffung eines 
Motors nur abgeraten werden muß, weil sie sonst in die erfolglose 
Konkurrenz mit den industriellen Großbetrieben gedrängt werden. 

Aufgabe der Wirtschaftspolitik des Staates ist es nach Ansicht des 
Vert, in erster Linie, die Wasserwirtschaft des Landes zu regeln, für 
Fassung möglichst gleichförmiger Wasserkräfte zu sorgen und unter 
Berücksichtigung der Interessen von Schiffahrt, Fischerei etc. die An- 
legung großer Kraft-Zentralen zu fördern. 

Ich hoffe, daß es mir — soweit es der enge Rahmen eines Referates 
erlaubt — gelungen ist, zu zeigen, wie viele interessante und hochbe- 
deutsame Fragen in der Zoepflschen Arbeit angeschnitten werden. Das 
Buch verdient wirklich, viel gelesen und studiert zu werden, und man 
kann ihm gern eine große Anzahl neuer Auflagen wünschen; dann 
werden voraussichtlich auch die kleinen Mängel schwinden, die ihm jetzt 
noch anhaften. Vor allen Dingen aber ist es zu wünschen, daß die 
durch das Werk gegebene Anregung auf fruchtbaren Boden fallen möge. 


Königsberg i. Pr. F. Albrecht. 


Neurath, Dr. Wilhelm, Gemeinverständliche nationalöko- 
nomische Vorträge; geschichtliche und letzte eigene Forschungen; heraus- 
gegeben von Dr. Edmund O. von Lippmann. Braunschweig, Friedrich 
Vieweg u. S., 1902. 

Die vorliegende Sammlung von Aufsätzen des viel zu früh ver- 
=Storbenen Gelehrten umfaßt — eingeleitet von einer kurz sein Leben 
und Wirken schildernden Gedenkrede — 12 Arbeiten, Vorträge, die 

Dritte Folge Bd. XXV (LXXX). 17 


958 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes, 


er im Laufe der Jahre vor einem aufmerksamen und dankbaren 
Publikum gehalten hat und die bereits früher durch den Druck ver- 
öffentlicht worden sind. Da aber diese Publikationen meist in wenig 
bekannten Zeitschriften und in der Regel auf Grund mangelhaiter 
Nachschriften erfolgt sind, war es ein guter Gedanke, eine allgemein 
zugängliche Sammelausgabe zu veranstalten und zwar um so mehr, als 
gerade diese Arbeiten in ihrer Anordnung den reichen Entwickelungs- 
gang ihres Verfassers und die Einheitlichkeit und Geschlossenheit seines 
Denkens klar zu Tage treten lassen und damit jene überzeugende Kraft 
gewinnen, welche Neuraths Hórer ihm stets nachgerühmt haben. Die 
Aufsätze sind folgende: 

1) Die volkswirtschaftliche Sittenlehre im Jugendunterricht, 

2) Der Sozialphilosoph Franz Quesnay, der Begründer des physio- 
kratischen Systems, 

3) Turgot als physiokratischer Staatsmann, 

4) Adam Smith im Lichte heutiger Staats- und Sozialauffassung, 

5) Eigentum und Gerechtigkeit, 

6) Das Recht auf Arbeit, 

7) Das Sittliche in der Volkswirtschaft, 

8) Moral und Politik, 

9) Die wahren Ursachen der Ueberproduktionskrisen, sowie der 
Erwerbs- und Arbeitslosigkeit, 

10) Das Sinken des Zinsfußes, sozialökonomisch gewürdigt, 

11) Die Wirtschaftskrisen und das Kartellwesen, 

12) Das Hauptproblem der modernen Volkswirtschaft. 

Da Referent sich in diesen Jahrbüchern bereits über das charakte- 
ristische Wesen der Neurathschen Lehren und über den Gedankengang, 
der ihnen zu Grunde liegt, geäußert hat, da es überdies nicht möglich 
wäre, im Rahmen einer Buchanzeige eine auch nur annähernd ab- 
schließende Kritik dieser Lehren zu bringen, mag es für ihn mit dem 
Hinweise auf das Erscheinen dieser Vortragssammlung und mit dem 
Ausdrucke des Wunsches genug sein, daß das hübsche Buch viel ge- 
lesen werde, die Forschung befruchte und zu sachlicher Erörterung 
in der Oeffentlichkeit reichen Anlaß gebe. Dann wird auch der Zweck 
des Herausgebers Prof. von Lippmann und der Witwe des Verblichenen, 
die dem ersteren alles Material in liebevoller Pietät zu Verfügung ge- 
stellt hat, erreicht sein, der Zweck, Neuraths Lebenswerk für die Fort- 
entwickelung der Wissenschaft und das allgemeine Wohl nutzbringend 
und förderlich zu gestalten. v. Schullern. 


Oelsner, Ludwig, Volkswirtschaftskunde. Ein Leitfaden für 
Schulen und zum Selbstunterricht. Frankfurt a/M. 1901. 

Der Verfasser vorliegenden Buchs, Professor Ludwig Oelsner, hat Jahr- 
zehnte hindurch an den Handelsklassen der Wöhlerschule zu Frankfurt a/M. 
den Unterricht in der Volkswirtschaftslehre erteilt. Er hat jetzt die 
hierbei gewonnenen pädagogischen Erfahrungen benutzt, um einen Leit- 
faden zu verfassen, der zur Belehrung für ähnliche Kreise bestimmt 
ist, wie die Schüler der Handelsabteilung genannter Schule. — Der 
Leitfaden ist nicht für Studierende bestimmt, sondern für die große 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes, 959 


Menge der Schüler an Handelsschulen, Fortbildungsschulen oder ähn- 
lichen Anstalten, zu deren Unterrichtsgegenständen eine erste, allgemeine 
rientierung über die wichtigsten Thatsachen des wirtschaftlichen Lebens 
Fehórt, Auch für Selbstunterricht ist das Büchlein geeignet und sollte, 
Me der Verfasser wünscht, volkswirtschaftliche Propädeutik zum Unter- 
“Chtsgegenstande aller Schulen gemacht werden, so würde es auch zu 
ji Sem Zwecke benutzbar sein. — In richtiger Erkenntnis dessen, was 
e derartige Lehrzwecke in erster Linie nötig, hat der Verfasser nichts 
Üh dem Stoffe geboten, der in der Regel in der sogenannten theore- 
tischen oder allgemeinen Nationalökonomie behandelt wird, sondern hat 
sich auf die Materien beschrünkt, die in der praktischen Nationalókonomie 
erórtert werden, die Lehren von der Urproduktion, dem Gewerbe und 
dem Handel. Dazu hat er noch einen kurzen Abriß der Finanzwissen- 
schaft gefügt. — Das Ziel, das sich Oelsner gesteckt hat, ist in dem 
Büchlein aufs trefflichste erreicht worden: bei sorgfältigster Auswahl 
des für den Anfänger wichtigsten Wissensstoffs, unter bester Berück- 
sichtigung der einschlägigen Litteratur und der neuesten Gesetzgebung, 
wie der jüngsten statistischen Ergebnisse hat der Verfasser eine 
vorzügliche Einführung in volkswirtschaftliche Studien geschaffen; wir 
zweifeln nicht, daß es für weite Kreise des Volks ein willkommenes 
Hilfsmittel der Belehrung bilden wird. — 

Bei einer zweiten Auflage würden kleinere Versehen, die dem 
Verfasser unterlaufen sind, zu verbessern sein; so z. B. S. 216 bei 
der preußischen Vermögenssteuer, als deren Vorzug gerühmt wird, daß 
sie auch das sogenannte Nutzvermögen, das keinen Geldertrag abwirft, 
mitbelastet. Dies ist jedoch nicht richtig: nur der Teil des Nutzver- 
mögens wird von der preußischen Steuer getroffen, der in wertvollen 
unbeweglichen ertraglosen Vermögensteilen besteht (z. B. Parks, 
Landhäuser etc.) nicht aber andere bewegliche Sachen, z. B. Bücher- 
und Bildersammlungen. — 

Königsberg i/Pr. Karl Diehl. 


Abhandlungen, volkswirtschaftliche, der Badischen Hochschulen, Bd. VII, 
1. Ergänzungsband: Hecht, Moritz (RegAssess. beim gr. bad. statistischen Landesamt), 
Die badische Landwirtschaft am Anfang des XX. Jahrhunderts. Karlsruhe, G. Braun- 
sche Hofbuchhdl., 1903. gr. 8. X—262 SS. mit 6 Taf. u. 12 Karten. M. 7.—. (Von 
der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Freiburg i. B. mit dem 
Preise der Rudolf Schleiden-Stiftung ausgezeichnet.) 
David, Ed., Sozialismus und Landwirtschaft. I. Bd.: Die Betriebsfrage. Berlin, 
Verlag der sozialistischen Monatshefte, 1903. Lex.-8. 703 SS. M. 12.—. 
Dokumente des Sozialismus. Herausgeg. von Ed. Bernstein. III. Bd., 1903 
(12 Hefte). 1. Heft. Stuttgart, J. H. W. Dietz Nachf., 1905. gr. 8. 48 SS. M. 0,75. 
Sammlung nationalökonomischer und statistischer Abhandlungen des staatswissen- 
schaftlichen Seminars zu Halle a. d. S., herausgeg. von (Prof.) Joh. Conrad. Bd. 37. 
Jena, G. Fischer, 1902. gr. 8. M. 3.—. (Inhalt: Emil Kún, Sozialhistorische Bei- 
träge zur Landarbeiterfrage in Ungarn. VIII—141 SS.) 
Sommerlad, Theo (Privdoz., Univ. Halle), Das Wirtschaftsprogramm der Kirche 
*les Mittelalters. Ein Beitrag zur Geschichte der Nationalökonomie und der Wirtschafts- 
hist des ausgehenden Altertums. Leipzig, J. J. Weber, 1903. kl. 4. XV—23 8S. 
A3 6.—. 
Thompson, William, Untersuchung über die Grundsätze der für das mensch- 
Ir he Glück dienlichsten Verteilung des Reichtums. Nach der englischen Originalaus- 
gæabe von 1824 übersetzt. I. Bd. Berlin, R. L. Prager, 1903. gr. 8. XCII—457 SS. 


17* 


260 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


M. 7,50. (A. u. d. T.: Bibliothek der Volkswirtschaftslehre und Gesellschaftswissen- 
schaft, begründet v. F. Stópel, fortgeführt von R. Prager, Bd. XVII.) 

Bibliothèque russe, Vingt ans d'expériences politiques et économiques en 
Russie, par Naoumoff Loubavitsky, 1'* fascicule. Paris, Guillaumin & C™, 1902, 12. 
70 pag. 

Bibliothèque sociologique internationale, publiée sous la direction de M. René 
Worms. Vol. XXVI: Létourneau, Ch., La condition de la femme dans les diverses 
races et civilisations. Paris, Giard & Brière, 1903. gr. in-8. XVI—508 pag. toile. 
fr. il.—. (Table des matières: Avant-propos, par M. René Worms. — Notice biogra- 
phique sur Ch. Letourneau, par G. Papillault. — La femme en Mélanésie. — La femme 
en Papouasie et en Afrique. — Condition des femmes dans l'Afrique noire. — La 
femme en Polynésie. — La condition de la femme chez les Peaux Rouges. — La femme 
chez les Indiens de l'Amérique du Sud. — La condition des femmes dans l'Amérique 
centrale, — La femme chez les Périsiniques. -— La femme au Japon et en Chine. — 
La condition sociale des femmes en Chine, — La femme chez les Périégyptiens. — La 
femme chez les Berbères. — La condition des femmes dans l'Egypte ancienne. — La 
condition des femmes chez les Sémites. — La condition des femmes dans l'Inde. — La 
condition des femmes en Grece. — La condition des femmes à Rome. — La femme 
dans l'Europe barbare et médiévale. — La femme à travers les áges.) 

Dessein, E., Galiani et la question de la monnaie au XVIII* siecle. Langres, 
impr. champenoise, 1902. 8. 196 pag. fr. 5.—. 

Kautsky, K., La politique agraire du parti socialiste, traduit par C. Polack. 
Paris, Giard & Brière, 1903. 8. 220 pag. fr. 4.—. 

Pierson, N. G., Principles of economics. Transl. from Dutch by A. A. Wotzel. 
Vol. I. London, Macmillan, 1903. 8. 634 pp. 10/.—. 

Rogers, James E. Thorold, A history of agrieulture and prices in England 
from the year after the Oxford Parliament (1259) to the commeneement of the conti- 
nental war (1793). Compiled entirely from original and contemporaneous records. Edited 
with sundry additions by one of his sons. Vol. VII, 1703—1793. 2 parts. Oxford, 
nt the Clarendon press, 1902. gr. 8. XV—599 pp. and XV, pag. 600—966, cloth. 
50/.—. (Contents of documents in part 2: Notes from the Cholmeley and Howard 
papers. — Gifts made by all souls. — Income of all souls from 1764 to 1793 94. — 
Contrast of priees 1710—1711. — Estimated produce of wool. — An account of invest- 
ments and losses in the bubbles. — A statement of wages appointed by the justices in 
the West riding of Yorkshire. — An account of the prices of labour, about 1707, from 
Mortimer's art of husbandry. — An account of the prices of labour, about 1727, from 
Edward Laurence's duty of a steward. — A statement of wages appointed by the justices 
in the counties of Kent and Gloucester. — Tables illutrating the rates of wages paid 
in various parts of England, extracted from Arthur Young's tours. — An account of 
the profits arising from the farm at Holkham, and the disbursements for management. 
— Prices of stock: South Sea Company; Bank of England; East India Company ` Con- 
solidated three per cents.) 

Bosco, Augusto, Cenno necrologico ad elenco delle pubblicazioni del (prof.) 
Angelo Messedaglia, enthalten in Annuario della r. università degli studi di Roma per 
l'anno seolastico 1901—1902. 8. Roma, tip. fratelli Pallotta, 1902. 8. 411 pp. 

Holst, H. Roland en van der Sehalk, Kapitaal en arbeid in Nederland. 
Bijdrage tot de economische geschiedenis der 19° eeuw. Amsterdam, A. B. Soep, 1903. 
8. 211 blz. fl. 1,25. (Sociale Bibliotheek, onder redactie van P. J. Troelstra en 
H. Polak, N° 2.) 

Treub, M. W. F., Het wijsgeerig-economisch stelsel van Karl Marx. Eene critische 
studie. Deel I. Amsterdam, Scheltema & Holkema, 1903. gr. 8. 16 en 395 blz. fl. 12.—. 


2. Geschichte und Darstellung der wirtschaftlichen Kultur. 
Stephani, K. G., Der älteste deutsche Wohnbau und seine Ein- 
richtung. Baugeschichtliche Studien auf Grund der Erdfunde, Arte- 
fakte, Baureste, Münzbilder, Miniaturen und Schriftquellen. 1. Band: 
Der deutsche Wohnbau und seine Einrichtung von der Urzeit bis zum 
Ende der Merovingerherrschaft. Mit 209 Textabbildungen. Leipzig 
(Baumgärtners Buchhandlung) 1902. XII und 448 SS. 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes, 961 


Der Göttinger Philologe Moriz Heyne hat im Jahre 1899 in einem 
Bande eine Darstellung des deutschen Wohnungswesens von den ältesten 
geschichtlichen Zeiten bis zum 16. Jahrhundert veröffentlicht. Der Ver- 
fasser des vorliegenden Buches hat sich die Schilderung eines kürzeren 
Zeitraums als Ziel gesteckt. Wie der bisher erschienene erste Band nur 
bis zum Ende der Merovinger reicht, so ist für den zweiten in Aus- 
sicht genommen, daß er die Periode von Karl d. Gr. bis zum Anfang 
des 11. Jahrhunderts behandelt. Unter diesen Umständen kann Ste- 
phani über manches ausführlicher berichten, als Heyne es getan. 
Es kommt hinzu, daß die Interessen des einen so wie so eine etwas 
andere Richtung zu haben scheinen als die des anderen. Auch in der 
Form besteht ein Unterschied: Heyne behandelt seinen Stoff mehr in 
der Art der Altertümer, Stephani mehr in der der geschichtlichen Dar- 
stellung. Man wird also sagen dürfen, daf beide Werke nebeneinander 
Platz haben. 

Stephani hat auf sein Buch großen Fleiß verwandt. Wenn sich 
hier und da Lücken in der Literaturbenutzung zeigen, so ist als mildernder 
Umstand hinzunehmen, daß der Verfasser, der das Amt eines Pfarrers in 
Stettin bekleidet, von einer größeren Bibliothek entfernt wohnt. An- 
erkennung verdient ferner, daß er klar und übersichtlich schreibt. Er 
glaubt sich im Vorwort entschuldigen zu müssen, dab „seine Arbeit 
keine Geschichte des deutschen Wohnbaues, sondern nur eine Zusammen- 
stellung aller der Nachrichten enthalte, welche sich aut den deutschen 
Wohnbau und seine Einrichtung beziehen“. Wir sind im Gegenteil 
der Ansicht, daß im vorliegendem Fall diese Art der Berichterstattung 
die zweckmäßige ist. Wenn das Quellenmaterial höchst lückenhaft ist 
und wir überall auf ergänzende Vermutungen angewiesen sind, empfiehlt 
sich unbedingt eine Darstellung, die den Leser in erster Linie erkennen 
läßt, was denn von Nachrichten überhaupt verhanden ist; eine Erzählung, 
die darauf ausgeht, ohne weiteres Verbindungen herzustellen, würde 
bier nur täuschen. Im übrigen gibt der Verfasser ja kein rohes Material, 
sondern hat dafür gesorgt, daß der Ueberblick nicht verloren geht. 
Nicht als letzten Vorzug des Buches haben wir die zahlreichen Illu- 
trationen zu erwähnen: sie sind von der Art, daß sie dem Leser wirk- 
lich Belehrung geben, nicht bloß einen äußerlichen Schmuck bieten. 

Diese Eigenschaften des Buches haben es bewirkt, daß es von der 
Kritik bereits sehr beifällig aufgenommen worden ist. Insbesondere 
die Kunsthistoriker haben ihm lebhaften Beifall gespendet. Aber es 
ist unsere Pflicht, doch auch auf einen erheblichen Mangel hinzuweisen. 
Diesen hat kürzlich der Philologe Edward Schröder in der Historischen 
Zeitschrift, Bd. 90, S. 111 ff. nachdrücklich hervorgehoben. Stephani 
läft nämlich die erforderliche philologische Schulung bei der Deutung 
der alten Quellen vermissen. Es zeigt sich hier wiederum, daß für die 
Erforschung der älteren deutschen Privataltertümer in erster Linie doch 
die Philologen berufen sind, weil die Quellen überwiegend von der Art 
sind, daß sie nur bei philologischer Schulung mit Erfolg gewürdigt 
werden können. Hätten wir in größerer Menge Ueberreste der Bauten 
aus der älteren deutschen Zeit, so stände die Sache anders. Nun aber 
mul man wie ein echter Philologe nicht bloß stets mühsam den Wort- 


262 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


sinn festzustellen suchen, sondern auch bei der Benutzung einer Quelle 
sich immer fragen, welche Vorlage sie gehabt hat. Schröder hat an 
mehreren Beispielen erläutert, wie verhängnisvoll es gewesen ist, dal 
Stephani nicht den Heliand mit dem Bibeltext verglichen hat. 

Um noch auf einiges einzelne einzugehen, so vermisse ich H 60 
in dem Literaturverzeichnis betreffs der Frage der Ansiedlungsformen 
der alten Germanen die sehr eindringende Kritik des Meitzenschen 
Werkes durch Henning im Anzeiger der Zeitschrift für deutsches Alter- 
tum und deutsche Literatur, Bd. 25, S. 225 ff. Hennings Ausführungen 
verdienen auch in den Kreisen der Nationalókonomie eingehende Be- 
rücksichtigung. S. 68 äußert sich Stephani in beachtenswerter Weise 
über die Tatsache, daß das Haus in älterer Zeit zur Fahrhabe ge- 
rechnet worden sei. Interessant sind auch seine Bemerkungen zu den 
Abbildungen von Wohnstätten auf der Marcussäule (S, 109 ff) In 
Bezug auf die von ihm auf S. 261 Anm. 8 besprochene Stelle der lex 
Salica mag auf Getfckens Ausgabe der lex S. 259 verwiesen werden, 
der zu demselben Resultat gelangt. S. 265 Anm. 7 meint Stephani, 
daß Rietschel dem Worte curtis die Bedeutung von Einzelhof erst von 
der Karolingischen Zeit an zuschreibe. Rietschel hat dies jedoch meines 
Erachtens nicht behauptet. — Wünschenswert wäre beim zweiten Bande 
die Beigabe eines Sachregisters. 


Tübingen. G. v. Below. 


Beiträge zur Geschichte des Niederrheins. Jahrbuch des Düsseldorfer Geschichts- 
vereins. XVII. Bd. Düsseldorf, Ed. Lintz, 1902. gr. 8. 244 SS. mit 1 Portr. und 
1 Plan. M. 5.—. (Inhalt: Der Stamm und Gau der Chattuarier, ein Beitrag zur Ge- 
schichte der fränkischen Stämme und Gaue am Niederrhein, von P. Eschbach. — Orga- 
nisation der Zentralverwaltung von Jülich-Berg im 16. Jahrh. von K. Sallmann. — 
Die Hochzeit des Herzogs Wilhelms III. von Jülich-Cleve-Berg 1546, von F. kuch 
(S. 95— 115). — Aus der Geschichte der Jülicher Vogtei in Aachen, von Emil Pauls. 
— Die Herrschaft des Abtes von Heisterbach zu Flerzheim und Neukirchen in der 
Sürst, von Ferd. Schmitz, — Napoleon I. und die Industrie des Großherzogtums Berg, 
von Otto R. Redlich. — ete.) 

Flamm, Herm., Geschichtliche Ortsbeschreibung der Stadt Freiburg i. Br. Bd. Il. 
Häuserstand 1400—1806. Freiburg, F. Wagner, 1903. gr. 8. VII, XLVI—417 SS. 
Mit 1 Plane der Stadt von 1685. M. 4.—. (A. u. d. T.: Veröffentlichungen aus dem 
Archiv der Stadt Freiburg im Breisgau, Teil IV.) 

Jahrbücher, Bonner. Jahrbücher des Vereins von Altertumsfreunden im Rhein- 
lande, Heft 108/109. Bonn, A. Markus & E. Weber, 1902. Lex.-8. III—403 SS. mit 
15 Taf. ete. M. 15.—. 

Lausitzisches Magazin, neues, Im Auftrage der Oberlausitzischen Gesellschaft der 
Wissenschaften, herausgeg. von (Prof.) Rich. Jecht. LXXVIII. Bd. Görlitz, H. Tzscha- 
schel, 1902. gr. 8. 306 SS. (Aus dem Inhalt: Eine Oberlausitzer Kleinstadt (Rothen- 


burg) um 1600, von (Pastor) Th. Stock. — Urkunden des Klosters St. Marienthal, von 
(Pfarrer) Rich. Dochler, — Die Pilzläuben, Jüden-, Rosen- und Hellegasse, von (Prof.) 
ich. Jecht. — Urkundliche Beiträge zu dem Salzmarktstreite zwischen Bautzen und 


Kamenz (1505—1507), von Paul Arras.) 

Mitteilungen aus dem Stadtarchiv und der Stadtbibliothek zu Breslau. Heft 6: 
Barthel Steins Beschreibung von Schlesien und seiner Hauptstadt Breslau, 1512/13. In 
deutscher Uebersetzung herausgeg. von H. Markgraf. Breslau, E. Morgenstern, 1902. 
gr. 8. 16 SS. M. 1.—. 

Moltke, O. (Grat, Mitglied des Hauses der Abgeordneten), Nordamerika. Bei- 
träge zum Verständnis seiner Wirtschaft und Politik. Berlin, E. S. Mittler & Sohn, 
1902. gr. 8S, 53 SS. M. 1,50. (Aus dem Inhalt: Produktion, Export und Import. — 
Die Ergebnisse des letzten Zensus. — Verkehrsentwickelung. Eisenbahnen. — Binnen- 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes, 263 


schiffahrt. Erztransporte. — Eisen- und Stahlerzeugung. Trusts. — Wirtschaftliche Lage. 
— Kanäle und GroDschiffahrtswege. — etc.) 

Müller, Willib., Urkundliche Beiträge zur Geschichte der mährischen Juden- 
schaft im 17. und 18. Jahrhundert. Olmütz, 1903. gr. 8. 199 SS. M. 5.—. 

zu Rantzau, A. L. (Gräfin), Die Chronik von Pronstorf. Ein Beitrag zur schleswig- 
holsteinschen Adels- und Kirchspielgeschichte. Lübeck, Lübcke & Nöhring, 1902. gr. 8. 
99 SS. M. 1,50. 

Schmitz, Otto, Die Bewegung der Warenpreise in Deutschland von 1851 bis 
1902. Nebst 2 Ergänzungen: Bankdiskont, Goldproduktion und Warenpreisstand. — 
Der Weizenpreis von 400 v. Chr. bis 1900. Berlin, Frz. Siemenroth, 1903. Lex.-8. 
443 SS. mit 2 Karten. M. 12.—. 

Weber, Carl O., Reise nach einer Kautschukplantage, in Columbien. Dresden, 
Steinkopff & Springer, 1902. 8. 39 SS. M. 1.—. 


Annuaire du département de la Seine-Inférieure, administratif, industriel, com- 
mercial et agricole, pour 1903. XI* année. Paris, impr. Dumoulin, 1903. 8. VIII— 
1018 pag. fr. 6.—. 

Amis, Moses Neal, Historical Raleigh from its foundation in 1792: descriptive, 
biographical, educational, industrial ete. Raleigh, M. N. Amis, 1902. 12. 236 pp., 
illustr. $ 0,50. 

Gibbins, H. de B., Economic and industrial progress of the century. London, 
Chambers, 1903. 8. 556 pp. 5/.—. (19 Century series.) 

Parker, Gilbert (Sir), Quebec; the place and the people. 2 vols, New York, 
Macmillan, 1902. 8. illustr., cloth. $ 4.—. 

Report to the Secretary for Scotland by the Crofters Commission on the social 
condition of the people of Lewis in 1901, as compared with twenty years ago. Glasgow, 
printed by Jam. Hedderwick & Son, 1902. Folio. CIV pp. and appendix 65 pp. 1./6. 
(Contents: Introductory. — Situation and extent. — Distribution and annual value of 
the land. — Burgh of Stornoway. — Population. — Education. — Maintenance of the poor 
and pauper lunatics. — Grants for public works and for miscellaneous improvements. 
— Roads and footpaths. — Telegraph and postal extensions, — Fisheries. — Land 
occupation. — Industries. — Housing and publie health. — Crime. — Social and 
domestic life. — Appendix.) 

Western Australian year-book for 1900—01. (XII edition), by Malcolm A. C. 
Fraser (Government Statistician and Registrar General of Western Australia) [in 2 vols.]. 
Volume I. Perth, Alfr. Watson printed, 1902. 8. 490 pp. with 3 maps. 

Wilson, R. R., New York, old and new : its story, streets, and landmarks. 2 vols. 
with illustrations. London, Lippincott, 1903. 8. 18/.—. 

Beker, Feder. e Leoni Giovanni, Banchi, commercio, industrie, richezze e 
sistema monetario degli stati uniti del Venezuela. Torino, tip. P. Celanza e C., 1902. 
4. 24 pp. 


3. Bevölkerungslehre und Bevölkerungspolitik. Auswanderung 
und Kolonisation. 
v. Bülow, H., Der Verlust von Oesterreichs Stellung in Deutschland vom kolo- 
nialpolitisehen Standpunkte. Berlin, W. Süsseroth, 1903. gr. 8. 78 SS. M. 1,80. 

. Hassert, Kurt (Prof. d. Geogr. an der Handelshochschule, Köln), Die neuen deut- 
schen Erwerbungen in der Südsee: Die Karolinen, Marianen und Samoainseln. Nach- 
trag zu Deutschlands Kolonien. Leipzig, Seele & C°, 1903. gr. 8. 110 38. M. 2,25. 

Seharlach, Koloniale und politische Aufsätze und Reden. Herausgeg. von Heinrich 
v. Poschinger. Berlin, E. S. Mittler & Sohn, 1903. gr. 8. V—117 SS. M. 2,50. 

Schmeisser (GehBergR.), Die nutzbaren Bodenschätze der deutschen Schutzgebiete. 
Vortrag, geh. bei Gelegenheit des deutsehen Kolonialkongresses zu Berlin am 10. X. 
1902. Leipzig, Druck des Bibliographisehen Instituts, 1002. gr. 8. 41 SS. 


Negreiros, A., L'épopée portugaise. Histoire coloniale. Paris, Challamel, 1902. 
$. 77 pag. 

Grossi, Vincenzo (prof), Politica dell’ emigrazione e delle colonie: sunto delle 
lezioni e conferenze fatte nella r. scuola diplomatico-coloniale di Roma durante l'anno 
scolastico 1902. Roma, tip. Unione cooperative editrice, 1902. 8. 168 pp. 

Kiær, A. N., Ny Bidrag til belysning af Frugtbarhedsforholdene in den Aegteskabet 


964 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


i Norge. Christiania, J. Dybwad, 1902. gr. 8. 110 pp. (Neue Untersuchungen über 
die Fruchtbarkeit der Ehen in Norwegen.) 


4. Bergbau. Land- und Forstwirtschaft. Fischereiwesen. 

Stumpfe, Dr. E., Polenfrage und Ansiedelungskommission. Berlin 
1902. 

In der vorliegenden Schrift bringt Dr. E. Stumpfe eine Darstellung 
der staatlichen Kolonisation in Posen-Westpreußen und kritische Be- 
trachtungen über ihre Erfolge. 

Der Verfasser hält die bestehenden Ansiedelungen an sich für un- 
bedingt geglückt und gedeihend, unterwirft dann aber die ganze Thätig- 
keit der Ansiedelungskommission einer scharfen Kritik. Den Grund 
der unbefriedigenden Erfolge sieht er nicht in den Personen, sondern 
in dem büreaukratischen System, welches am wenigsten bei Koloni- 
sation angebracht sei. 

Er tadelt vor allem das zu langsame Vorgehen der Kolonisation, 
besonders durch Zurückdrüngen der Stellen von 5—10 ha und die zu 
geringe Werbetütigkeit. 

Der Verfasser begründet seinen Tadel objektiv und einleuchtend 
und macht seinerseits Vorschläge, wie nach seiner Ansicht die Sache 
richtiger und erfolgreicher anzugreifen sei. Wenn man auch nicht 
allen seinen Vorschlägen beipflichten kann, so muß man doch die 
Hoffnung aussprechen, die betreffenden Behörden möchten diese Schrift 
nicht unbenutzt beiseite legen. M. C. 


Berufsgenossenschaft, landwirtschaftliche, Lothringen. (Syndicat agricole de 
la Lorraine.) Geschüftsbericht für die Jahre 1599, 1900 u. 1901. Metz, 1902. s. 35 SS. 

Forschungen auf dem Gebiete der Landwirtschaft. Festschrift zur Feier des 
70sten Geburtstages von (Prof. Adolf Kraemer. Frauenfeld, J. Huber, 1902. Lex.-8. 
404 SS. mit Abbildgn., 1 Karte, 1 Portr. u. 8 Taf. M. 8.—. (Aus dem Inhalt: Das 
Gebäudekapital in der schweizerischen Landwirtschaft, von E. Laur. — Acker oder 
Wiese (Produktionskostenberechnungen), von G. Glättli. — Die Viehzucht Westsibiriens, 
von Jos. K. Okulitsch. — Die Beziehungen des Körpergewichtes zur Futterverwertung 
beim Rindvieh, von H. Kraemer. — Die reine Graslandwirtschaft, ihre Einrichtung und 
ihr Ertrag im St. Gallischen Flachlande, von Alb. Peter. — La production et la con- 
sommation de la viande en Suisse, par Henry Nater. — Die Einzelhöfe im Kanton 
Luzern, von Hans Moos. — Dreifelder- und Egertenwirtschaft in der Schweiz, von 
Albert Volkart. — etc.) 

Handbuch der Wirtschaftskunde Deutschlands. — Herausgeg. im Auftrage des 
deutschen Verbandes für das kaufmännische Unterrichtswesen. II. Bd. Leipzig, B. G. 
Teubner, 1902. Lex.-8. 253 SS. mit 5 Karten im Text und auf Beilagen. M. 6.—. 
(Inhalt: Die land- und forstwirtschaftlichen Gewerbe: 1. Die deutsche Landwirtschaft, 
von (Privdoz.) C. Steinbrück (Halle a/S.); 2. Forstwirtschaft, von (Forstmeister) F, 
Jentsch (Hann.-Münden); 3. Die Gärtnerei, von (Dozent) E. S. Zürn (Leipzig); 4. Der 
Weinbau, von J. B. Kittel (Würzburg). — 5. Die Viehzucht, von (Privdoz.) C. Stein- 
brüek; 6. Jagd, von (ForstAss.) Japing (Hann.-Münden); 7. Die Hochseefischerei (von 
Kreuzkam (Hannover); 8. Die Binnenfischerei, von (Prof.) Wilh. Halbfass (Neuhaldens- 
leben); 9. Bienenzucht, von (Hauptlchrer) Lehzen (Hannover).) 

Hermann, E. (Ansiedler in Namtsas, früher in Kubub), Viehzucht und Boden- 
kultur in Südwestafrika, zugleich Ratgeber für Auswanderer. 2, Aufl. Berlin, Deut- 
scher Kolonialverlag, 1902. gr. 8. 116 SS. 

Jahresbericht der Landwirtsehaftskammer für den RegBez. Kassel, 1901. 
Kassel, Druck von Weber & Weidemeyer, 1902. gr. 8. 56 SS. 

Seefischereialmanach, deutscher, für 1902. Hannover, Hahn, 1902. XII— 
577 SS. geb. M. 4,50. 

Wilsing, W. (Vorsteher der Provinzial-Wiesenbauschule zu Bromberg), Wie 
sollen wir unsere Wiesen behandeln? Bromberg, A. Fromm, 1902. gr. 8. 29 SS. M. 0,50. 


— 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 265 


Rapport sur l'état de l’agriculture dans la province de Hainaut pendant l’année 
1901. Frameries, impr. Dufrane-Friart, 1902. gr. in-8. 80 pag. 

Robin, Maur., Questions agricoles. Paris, E. Bernard & C*, 1903. 8. X—168 pag. 
fr. 2.—. (Table des matières: La crise agricole et la spéculation: 1. Les caractères de 
la crise. Du droit et du devoir d'intervention de l'Etat; 2. Théorie et effets de la 
spéculation en matière agricole; 3. Histoire de la crise et de la lutte entre le parti 
„agraire et la spéculation sur les blés en Allemagne; Etude de la spéculation sur les 
blés en France. — Des retraites agricoles: 1. Necessité et justice théoriques des retraites 
agricoles. 2. La retraite gratuite. Le homestead-caisse populaire de crédit foncier. — 
Du privilège des bouilleurs de cru: 1. Fondement historique du bouilleur de cru; 
2. Fondement théorique du privilege des bouilleurs de cru; 3. Suppression indirecte du 
régime des bouilleurs de cru. La distillerie agricole. Le monopole de l'aleool. Projet 
de M. Alglave. — De l'éclairage et du chauffage par l'aleool: 1. Rôle économique de 
l'alcool; 2. Comparaison de l'éclairage et du chauffage à l'aleool avec celue obtenu par 
les autres procédés.) 

Vandervelde, E., L'exode rural et le retour aux champs. Paris, F. Alcan, 
1903. 8. fr. 6.—. 

Snyder, Wilson J., Mines and mining: a commentary on the law of mines 
and mining rights, both common law statutory. 2 vols. Chicago, T. H. Flood & C», 
1902. 8. 101; 709 pp. and 26; p. 711—1464. $ 12.—. (With appendices, cont. 
the federal statute. and the statutes of the western states and territories relating to 
mining for precious metals on the publie domain and forms for use in application for 
patent and adverse suits.) 

Webber, T. W., Forests of upper India and their inhabitants, New York, Long- 
mans Green & C^, 1902. 8. 13, 344 pp. cloth. $ 5.—. 

Falqui, Gius., Una escursione agraria in Sardegna. Salerno, tip. Migliaccio di 
G. Fruseione fu S., 1902. 8. 60 pp. 

5. Gewerbe und Industrie. 

Menzel, Adolf, Die Kartelle und die Rechtsordnung. Leipzig, 
Duncker & Humblot, 1902. 79 SS. 

Prof. Adolf Menzel in Wien gebührt das Verdienst, die Frage der 
gesetzlichen Regelung des Kartellwesens zuerst eingehend und vom 
Standpunkt des Juristen aus erórtert zu haben. Seine diesbezüglichen 
Publikationen hat er in der vorliegenden Schrift vereinigt. An erster 
Stelle steht der Vortrag, den der Verfasser auf der Wiener General- 
versammlung des Vereins für Sozialpolitik im Herbst 1894 gehalten 
hat. Daß bei einem so neuen und so im Flusse der Entwickelung 
befindlichen Gegenstande manche Erörterungen dieses vor 9 Jahren 
gehaltenen Vortrags heute veraltet und überholt sind, wird nicht 
wunder nehmen. Vieles darf jedoch auch heute noch volle Geltung 
beanspruchen, so die scharfsinnige Erörterung über das Wesen der 
Kartelle (Abschnitt I), gegenüber welcher die neuesten Ausführungen 
darüber (von Grunzel und Huber) geradezu einen Rückschritt darstellen, 
der interessante und historische Rückblick auf die alte Koalitionsgesetz- 
gebung (Abschnitt III), die Untersuchung über die Anwendbarkeit der 
gegenwärtigen Gesetze Oesterreichs und des Auslandes (Abschnit IV— 
VI. Dagegen wird die Verwerfung jeden zivilrechtlichen Vorgehens, 
an der Menzel übrigens auch heute noch festhält (s. Teil III), heute 
nicht mehr allgemein geteilt (vgl. die Ausführungen von Exc. Klein, 
Justizrat Boyens und des Verf. dieser Anzeige auf dem deutschen 
Juristentage, sowie meinen Aufsatz in diesen Jahrbüchern, Dez. 1902, 
S.797#). Von den beiden positiven Vorschlägen Menzels (Abschnitt VIII) 
ist der erste: Anzeigepflicht allgemein acceptiert, der zweite: Regelung nur 


206 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


der organisierten Kartelle von seinem Urheber selbst fallen gelassen 
worden. 

Der zweite Teil befaßt sich nach einer kurzen Vorbemerkung, in 
der Menzel sein Prioritätsrecht bezüglich des Vorschlags der Staats- 
aufsicht für die Kartelle hervorhebt, zunächst mit der Anwendbarkeit 
der $$ 138 und 826 B.G.B. Er kommt bezüglich des ersteren zu dem’ 
Ergebnis, daß „kein Hindernis besteht, einem Kartell die rechtliche 
Wirksamkeit abzusprechen, wenn dasselbe zwar nach der Absicht der 
Parteien nicht auf monopolistische Ausbeutung gerichtet war, aber diese 
Folgen doch durch die getrofienen Einrichtungen tatsächlich herbei- 
führt“ (S. 88) Dem ist zu entgegnen, daß jedes Kartell auf die Herbei- 
führung eines Monopols gerichtet ist, daß daher diese Unterscheidung 
des Reichsgerichts in seinem bekannten Urteil vom 4. Februar 1897 
unhaltbar erscheint und sich überhaupt keine allgemeine Merkmale für 
die scharfe Unterscheidung schädlicher und nicht schädlicher Kartelle 
aufstellen lassen. Ich halte es aber mit vielen anderen überhaupt für 
nicht angängig, zu behaupten, daß die Herbeiführung eines Monopols 
und selbst die Absicht dazu einen Verstoß gegen die guten Sitten be- 
deute. 

Der folgende Abschnitt behandelt dann die bisherige deutsche 
Rechtsprechung, der vierte und fünfte die zivilistische Theorie und die 
österreichische Praxis gegenüber den Kartellen. Abschnitt VI bringt 
eine kurze Besprechung der österreichischen Gesetzentwürfe, wobei 
Menzel erklärt, in dem Referentenentwurfe einen Fortschritt gegenüber 
dem Regierungsentwurfe nicht erblicken zu können. In Abschnitt VII 
setzt sich Menzel kurz mit den Meinungen anderer Autoren über die 
rechtliche Behandlung der Kartelle auseinauder. Die große neueste 
Literatur konnte natürlich hier noch nicht berücksichtigt werden. 

Der dritte Teil bringt dann das Referat Menzels auf dem 26. deutschen 
Juristentage in Berlin. Er stellte den Antrag: 

„1) Daß für eine gesetzgeberische Regelung vorerst empfohlen wird 
die Einführung óffentlicher Kartellregister und die Statuierung 
einer Auskunftspflicht gegenüber der Staatsverwaltung 
von seiten der kartellierten Unternehmer, ihrer Organe und Kommissionäre. 

2) Der deutsche Juristentag erklärt eine Reform der Gesetz- 
gebung über die wirtschaftlichen Korporationen, ins- 
besondere der Aktiengesellschaften, in der Richtung für wünschenswert, 
daß der Staatsverwaltung diesen Körperschaften gegenüber die Wahrung 
öffentlicher Interessen ermöglicht wird.“ 

Uebrigens wurde von diesem Antrage nur die Einführung öffentlicher 
Kartellregister angenommen. Von einer wirklichen Regelung will 
also auch Menzel zur Zeit noch absehen. Denn die Statuierung einer 
Auskunftspflicht und die Schaffung eines Kartellregisters wird man nicht 
wohl als eine Regelung der Kartelle bezeichnen kónnen, welche die 
Nachteile derselben zu beseitigen versucht. Diese Maßregeln haben 
nur die Aufgabe, einen tieferen Einblick zu ermöglichen. Ueber die 
Frage, was der Anzeigepflicht unterliegen soll, wurde auf dem Juristen- 
tage kein Beschluß gefaßt. Menzel stellte sich hier, im Gegensatz zu 


zi 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 967 


dem Referenten Landesberger, auf den meines Erachtens richtigen Stand- 
punkt, daß die Eintragung aller Kartellbeschlüsse unmöglich sei, und 
man sich auf die Anzeige der Statuten und deren Abänderungen be- 
schränken müsse. Die allgemeine Statuierung einer Auskunftspflicht 
der Kartelle, wie sie Menzel fordert, halte ich für überflüssig. Will 
man eine Enquete veranstalten, so lasse man sie durch Gesetz be- 
schließen und mit Vernehmungszwang ausstatten. Das sollte meiner 
Meinung nach auch für die bei uns beschlossene Enquete geschehen. 

Gegen den Absatz 2 des Menzelschen Antrags habe ich auf dem 
Juristentage gestimmt, weil er mir zu unbestimmt schien. Eine Reform 
der Gesetzgebung über die wirtschaftlichen Korporationen wird aus den 
verschiedensten Gründen und in verschiedenster Weise verlangt. Menzel 
sagt nichts Näheres darüber, wie er sich die Reform denkt, spricht 
nur „von einer Annäherung unseres Privatkorporationsrechtes an das 
Recht der öffentlichen Genossenschaften“ und will als Organ der Staats- 
aufsicht bei derselben weder einen aus Vertretern der verschiedenen 
Interessengruppen gebildeten Kartellrat, noch ein staatliches Kartell- 
amt, sondern einzelne Beamte, die als delegierte Regierungsvertreter 
an den Sitzungen der verschiedenen Korporationen teilnehmen. Dieser 
Vorschlag hat vieles für sich, er macht aber ein staatliches Kartellamt 
und einen Kartellrat nicht überflüssig, diese würden die Aufgabe 
haben, die wirtschaftspolitischen Mittel, die im konkreten Fall ange- 
wendet werden sollen, z. B. Ausdehnung des Veredlungsverkehrs und 
dergl, zu erörtern. Daß Menzel diese nicht berücksichtigt, ist ein 
großer Mangel seiner Ausführungen wie der der meisten Juristen über 
diesen Gegenstand. Allerdings heißt seine Schrift: Die Kartelle und 
die Rechtsordnung, allein rein juristisch läßt sich die Regelung des 
Kartellwesens nicht lösen. Was die „Reform des Korporationsrechts“ 
betrifft, so versagt, selbst wenn man sich über die Art derselben klar 
wäre, das Mittel gegenüber der Mannigfaltigkeit der Formen monopo- 
listischer Vereinigungen. Ja, wenn es gelänge, die juristische "Theorie 
und Systematik der Korporationen so den modernen ókonomischen Ver- 
hältnissen anzupassen, daß auch alle monopolistischen Vereinigungen, 
welcher Form auch immer, in dieselbe ohne Zwang eingereiht werden 
könnten, wäre es denkbar, daß sich hier allgemeine Normen schaffen 
ließen. Unter den heutigen Verhältnissen bleibt aber auch Menzel am 
Schlusse seines Vortrags nichts anderes übrig, als an staatliche Preis- 
regelung, dem einzigen wirklich wirksamen Mittel gegenüber den Kar- 
tellen, zu denken, wobei er in interessanter Weise die früheren Zustände 
beim preußischen Bergbau zum Vergleich heranzieht. 

Robert Liefmann. 


Arbeitszeit-Verlängerungen(Ueberstunden)imJahre 
1901 in fabrikmäßigen Betrieben. Bericht des k. k. arbeits- 
statistischen Amtes im Handelsministerium. Wien 1902, 

Nach dem Bericht wurde in Oesterreich im Jahre 1901 die elf- 
stündige Maximalarbeitszeit in 1002 (1900:890) Fällen von 545 (1900:501) 
Betrieben überschritten. Von diesen beschäftigten 290 Betriebe unter 


268 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


100, 108 Betriebe 100 bis 200 Arbeiter, so daß in ganz großen Be- 
trieben eine Verlängerung der Arbeitszeit selten war. Die Ueberschreitung 
dauerte in 318 Fällen nur bis zu 3 Tagen, in weiteren 491 Fällen 
3 Tage bis 3 Wochen; eine längere Dauer ist nur vereinzelt vor- 
gekommen, in einem Falle der Textilindustrie allerdings finden wir wie 
im Vorjahre 8 Monate angegeben. Dieser Industriezweig hat überhaupt 
den Hauptanteil mit 474 Fällen von Ueberstunden, dann folgen die 
Maschinenerzeugung mit 108, die Metallverarbeitung mit 90 und die 
graphischen Gewerbe mit 84 Fällen. Die übrigen Industrieklassen zeigen 
erheblich geringere Zahlen. Der geographischen Verbreitung nach sind 
die Ueberstunden natürlich in den industriereichen Gebieten am häufigsten. 
So entfallen auf Niederösterreich 273, auf Böhmen 269, Mähren 192 Fälle, 
dagegen z. B. auf Kärnten nur 1 Fall. Ueber die Dauer der Ueber- 
stunden ist folgende Tabelle aufgestellt: 


Tag Zahl der Fälle Zunahme + 

ET "728 1900 1901 Abnahme — 
'/, Stunde I — —— OU 
!/, Stunde 27 9 — 18 
1 Stunde 236 255 + 19 
1'/, Stunden 105 75 — 30 
2 Stunden 483 610 + 127 
3 Stunden 50 65 + 15 


Die Gesamtzahl der Ueberstunden im ganzen Jahre betrug 
2664855 — 242259 elfstündige Arbeitstage. Gegen 1900 hat die 
Stundenzahl um 664 315, gegen 1899 sogar um 1797 759 abgenommen. 
Herangezogen wurden zu diesen Ueberstunden von den in sämtlichen 
Betrieben beschäftigten 106 148 (1900:104184) Arbeitern 38371 
(1900 : 43 481), d. h. 36 Proz. (1900:42 Proz.) der Gesamtzahl. 

Diesen Angaben des Berichtes ist eine Reihe von übersichtlichen 
Tabellen beigefügt, welche die Verteilung der Ueberstunden auf die 
einzelnen Industriezweige noch genauer im Einzelnen verfolgen lassen. 

Halle a. S. Georg Brodnitz. 


Adler, Georg (Prof., Univ. Kiel), Ueber die Epochen der deutschen Handwerker- 
politik. Jena, G. Fischer, 1903. gr. 8. 106 SS. M.2,50. 

Arbeitseinstellungen und Aussperrungen in Oesterreich während des Jahres 
1901. Wien, Alfr. Holder, 1902. gr. 8. 216 SS. mit 3 Taf. graphischer Darstellungen. 
(Herausgeg. vom kgl. arbeitsstatistischen Amte im Handelsministerium.) 

Escales, Rich., Bergbau, Hüttenwesen, Metallindustrie auf der Düsseldorfer 
Ausstellung. Chemische Plaudereien. München, Th. Riedel, 1902. 8. 132 SS. M.2.—. 

Habbicht, H., Das ehrbare Töpferhandwerk zu Eisenach. Ein Beitrag zur Ge- 
schichte des Zunftwesens. Eisenach, H. Kahle, 1902. 8. VII—64 SS. M. 0,75. (Bei- 
träge zur Geschichte Eisenachs, XI.) 

Handbuch der Wirtschaftskunde Deutschlands, Band III. Leipzig, B. G. Teubner, 
1903. Lex.-8. Lieferung 1. IX—240 SS. M, 6.—. (Inhalt: Steinkohlenbergbau und 
Steinkohlenindustrie, von Schaper (kgl. Berginsp., Bochum). — Die Braunkohlenindustrie 
und ihre Erzengnisse, von G. Wermert (Charlottenburg). — Blei-, Silber-, Zinkverhüt- 
tung, von (GewerbeinspAssist.) O. Wauer (Berlin) — Eisenerzbau, von (BergR.) Pax- 
mann (Magdeburg). — Die Kupferverhüttung, von G. Wermert, — Salzbergbau und 
Salinenwesen, von (BergR.) Paxmann. — Die Gewinnung von Steinen (Steinbruchin- 
dustrie), von Paul Wildner (Schweidnitz). — Die Tonwarenindustrie, von G. Wermert, 
— Die Ziegelindustrie, von Senholdt (Weimar). — Die Porzellanindustrie, von Paul 
Wildner.) 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 269 


Kuhlo, Alfr., Die Kartellfrage mit besonderer Berücksichtigung der Interessen 
der bayerischen Industrie. München, E. Reinhardt, 1903. gr. 8. 40 SS. M. 1.—. 

Schriften der österreichischen Gesellschaft für Arbeiterschutz. Heft 1—3. Wien, 
Frz. Deuticke, 1902. gr. 8. (Inhalt. Heft 1: Die gewerbliche Nachtarbeit der Frauen 
in Oesterreich. Bericht, erstattet der internat. Vereinigung für gesetzlichen Arbeiter- 
schutz, von Ilse v. Arlt. 37 SS. M. 1.—. Heft 2: Bericht über eine einheitliche internat. 
Unfallstatistik zu Zwecken der Verhütung von Unfällen bei der Arbeit, von (RegR.) 
K. Kögler und (KommerzialR.) Pacher v. Theinburg. 22 SS. M. 0,80.—. Heft 3: 
Blei- und Phosphorvergiftungen in den gewerblichen Betrieben Oesterreiehs. Tatsachen 
und Aufgaben der Gesetzgebung. Bericht erstattet der internat. Vereinigung für gesetz- 
lichen Arbeiterschutz, von (D' med.) Ign. Kaup (k. k. Amtsarzt). 79 SS. M. 1,80.) 

Siller, Paul (RegAss. im Ministerium f. Handel u. Gewerbe), Die Grundlagen 
und Ziele der Verhältniswahl unter besonderer Berücksichtigung der Vorschläge des 
preußischen Handelsministers und ihrer Einführung bei den Gewerbegerichten. Berlin, 
C. Heymanns Verlag, 1902. gr. 8. 64 SS. 

Apprentissage. Rapport de M. Briat au nom de Ja Commission permanente. 
Enquête et documents. Paris, imprim. nationale, 1902. in-4. XLVIII—489 pag. (Pu- 
blication du Ministère du commerce, de l’industrie, des postes et des télégraphes. Conseil 
superieur du travail.) 

Baumgart, E. (administrateur de la manufacture de Sevres), La manufacture 
nationale de Sèvres à l'Exposition universelle de 1900. Mâcon, impr. Protat frères, 
1592. in-folio. 34 pag. avec gravures. 

Borderaux de salaires pour diverses catégories d'ouvriers en 1900 et 1901. Paris, 
imprim. nationale, 1902. Lex. in-8. XX—230 pag. (Publication du Ministère du com- 
merce, de l’industrie, des postes et des télégraphes. Direction du travail, Office du travail.) 

Côte, Léon, L'industrie gantière et l’ouvrier gantier à Grenoble. (Préface de 
Jean Jaurés.) Grenoble, Falque & Perrin, 1903. 8. X—299 pag. avec cartes, planches 
et fac-similé. fr. 6.—. 

Eudel, P., L'orfevrerie algérienne et tunisienne. Alger, Jourdan, 1902. in-4, 
XX—544 pag. av. nombreux dessins, chromolithogr. et cartes. 

Hache, A. (avocat à Paris), Les accidents du travail. Bar-le-Duc, imprim. bar- 
risienne, 1903. 12. 94 pag. fr. 1.—. 

Rapport sur la situation de l'industrie minérale et métallurgique dans la pro- 
vinee de Hainaut. Année 1901. Frameries, impr. Dufrane-Friart, 1902. gr. in-8. 53 pag. 

Procter, H. R., Principles of leather manufacture. London, Spon, 1903. Roy.-8. 
525 pp. 18/.—. 

Re port of the Chief Labour Correspondent of the Board of Trade on Trade Unions 
in 1901. With comparative statisties for 1892—1900. London, printed by Darling & Son, 
1902. gr. 8. LIX—178 pp. (Parliam. pap.) 

Congresso nazionale delle associazioni e gruppi industriali e commereiali tenuto 
in Palazza Vecchio a Firenze nei giorni 14—17 maggio 1902. Firenze, tip. G. Civelli, 
1902, 8. 332 pp. 1. 5.—. 

Frixione, Massimo (avvoc.), Il porto di Genova e la classe lavoratrice. Genova, 
tip. Operaia, 1902. 8. 38 pp. 1. 0,60. 

Labbro, Vittorio, I sindacati industriali dal punto di vista economico e sociale. 
Torino, tip. s. Giuseppe degli Artigianelli, 1902. 8. 108 pp. (dissertazione di laurea). 

Domela Nieuwenhuis, F., De werkloosheid, het „teeken des tijds“, Gorinchen, 
P. M. Wink, 1903. gr. 8. 16 blz. 


6. Handel und Verkehr. 

Haarmann, A., Das Eisenbahngleis. Kritischer Teil. Mit 503 
Holzschnitten. Leipzig, W. Engelmann 1902. gr. 89. 277 SS. 

Der Leiter eines großen Werkes ist der Verfasser dieses Buches. Ge- 
stützt auf eine reiche praktische Erfahrung und auf ein äußerst umfangreiches 
Tatsachenmaterial hat Haarmann bereits 1891 eine Geschichte des Eisen- 
bahngleises veröffentlicht, die durchweg eine sehr günstige Aufnahme 
gefunden hat. Nach mehr als zehnjähriger Pause ist jetzt die schon 


970 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


damals in Aussicht genommene vergleichende Kritik der in der Geschichte 
als typisch hervortretenden Systeme getolgt. Sie verwertet auch die 
seit 1891 gemachten, zum Teil sehr bedeutungsvollen Erfahrungen und 
sucht mit Hilfe kritischer Beleuchtung sowohl der älteren als auch der 
jetzt noch in Anwendung befindlichen Oberbausysteme der verschiedenen 
Länder die Anforderungen, die an einen allen Betriebsansprüchen ge- 
nügenden Oberbau zu stellen sind, und die zweckmäligsten Mittel zur 
Erfülung dieser Anforderungen ausfindig zu machen. Das sind zu- 
náchst rein technische Fragen; die technischen Kreise sind denn auch 
alsbald auf das Buch aufmerksam geworden und haben es sehr günstig 
beurteilt. Aber es handelt sich zugleich um staats- und volkswirtschatt- 
liche Fragen von hervorragender Bedeutung. Die eigentliche Gleis- 
unterhaltung (also ohne die Gleiserneuerung) erforderte 1900 auf den 
deutschen vollspurigen Bahnen einen Aufwand von 621/, Mill M. Es 
ist klar, daß eine Verminderung dieses Aufwandes wirtschaftlich durch- 
aus erwünscht ist. Rechnet man den durchschnittlichen Verschleiß des 
Schienenkopfes auf 1 mm in 3 Jahren, so werden auf den preußischen 
Staatsbahnen jährlich 2500 cbm Stahl von den Schienenkópfen herunter- 
geschlissen, so daß 19 Mill. kg Material im Wert von mindestens 2 Mill. M. 
einfach verloren gehen. In gleicher Weise verschleißen die Radreifen. 
Unter normalen Betriebsverhältnissen stellt sich hiernach für die preu- 
ßischen Staatsbahnen der reine Materialverlust schon auf rund 4 Mill. M. 
jährlich. Läßt sich durch verbesserte Oberbaukonstruktionen dieser Ver- 
schleiß vermindern, so erhöht das die Wirtschaftlichkeit des Eisenbahn- 
betriebes durch làngere Verwendungsdauer sowohl des Oberbaues als auch 
des rollenden Materials; da hierzu vielfach eine allmähliche Umgestaltung 
des zu verwendenden Oberbaumaterials erforderlich ist, so würden auch 
die Arbeits- und Erwerbsverhältnisse wichtiger Teile der deutschen 
Eisenindustrie dadurch günstig beeinfluft werden. Gleichzeitig würde 
die Betriebssicherheit zunehmen, ein Ergebnis, das bei der raschen 
Steigerung der Gleisbeanspruchung in der neuesten Zeit von großer — 
auch wirtschaftlicher — Bedeutung sein würde. Schon diese kurzen 
Andeutungen zeigen, daß der Inhalt des Buches für die Nationalókonomen 
von besonderem Interesse ist. Der enge Zusammenhang der technischen 
Fortschritte mit dem Wirtschaftsleben wird zwar im allgemeinen bereit- 
wilig anerkannt; aber die wissenschaftliche Verwertung dieses Zu- 
sammenhanges ist im ganzen noch geringfügig. Zum Teil erklärt sich 
das daraus, daf technische Fachschriften dem Nichttechniker oft schwer 
verständlich sind. Das vorliegende Buch läßt nicht nur den Zusammen- 
hang zwischen Technik und Wirtschaft auf dem wichtigsten Gebiete 
des heutigen Verkehrslebens klar hervortreten, sondern versteht es auch, 
die technischen Fragen in einer Form zu behandeln, die dem aufmerk- 
samen Leser ohne spezielle technische Fachkenntnisse einen ausreichenden 
Einblick ermöglicht. Gerade an solchen Schriften sollten die Vertreter 
der Nationalókonomie nicht vorübergehen, und deshalb darf auf das 
Haarmannsche Buch auch an dieser Stelle hingewiesen werden. 


R. van der Borght. 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes, 271 


Lehmann, Bodo, Bodenkredit und Hypothekenbanken. Berlin 
(Puttkammer & Mühlbrecht) 1901. 121 SS. 

Das Hypothekenbankwesen ist im allgemeinen für die deutsche 
nationalökonomische Litteratur ein ziemlich unbebautes Feld. Neben 
unbedeutenden Broschüren giebt es wenige Spezialwerke, die diesen 
Zweig der Wissenschaft pflegen. Solch’ entlegenes Gebiet betritt Bodo 
Lehmann mit seiner Schrift „Bodenkredit und Hypothekenbanken“. 

Wie schon der Umfang des Buches erraten läßt, erhalten wir keine 
ausführliche Schilderung des Hypothekarkredits und der Arten 
seiner Befriedigung. Der Verfasser, welcher auf den städtischen Grund- 
kredit sein Hauptaugenmerk richtet, behandelt viele Fragen recht ein- 
gehend und treffend; doch manche Probleme, die der Aufhellung be- 
dürfen, werden nur spärlich beleuchtet. 

Die Entwickelungsgeschichte der Bodenkreditorganisation eröffnet 
die Betrachtungen. Für den ländlichen Grundbesitz — besonders den 
adigen — sind die preußischen Landschaften, von Friedrich dem Grossen 
gegründet, die ersten Kreditinstitute. Doch die „Société du Credit 
Foncier“ ist die erste moderne Hypothekenbank. Sie pflegt 
hauptsächlich den städtischen Bodenkredit und emittiert Schuldver- 
schreibungen, „die auf Hypotheken radiziert und bestimmt sind, das 
in Hypotheken angelegte Kapital wieder flüssig zu machen“. Gleich 
dem Credit Mobilier in Frankreich entstanden (1852), hält das Institut 
in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts seinen Einzug in Deutsch- 
land, bald weite Verbreitung findend. 

„Der wichtigste Zweck“, den die Hypothekenbanken erfüllen sollen, 
„ist die Beschaffung der zur Herstellung von Wohnungen dienenden 
Kapitalien“. Wieweit werden nun die Banken dieser ihrer Bestimmung 
gerecht? Auf Eberstadts Berechnungen gestützt, schätzt der Verfasser 
die städtische Verschuldung in Deutschland auf 30 Milliarden M. Un- 
gefähr 1/, der Kapitalmenge — ca. 4 Milliarden M, die die Ver- 
zinsung erfordert, zugerechnet — bringen die Hypothekenbanken mit 
Hilfe der Emission von Pfandbriefen (reichlich 6!/, —6?/, Milliarden M.) 
auf. 

Die immer zunehmende Ausdehnung und wirtschaftliche Bedeutung 
der Hypothekenbanken dringen auf den Erlaß eines Reichsgesetzes. 
Nach langjährigem Warten wird die Materie in dem Reichshypotheken- 
bankgesetz vom 13. Juli 1899 geodnet; diesem folgt in kurzem Zwischen- 

raum (am 4. Dezember 1899) das Gesetz, betr. die gemeinsamen Rechte 
der Besitzer von Schuldverschreibungen. Beide Gesetze erörtert der 
Verf. ziemlich ausführlich. Besondere Aufmerksamkeit widmet er natür- 
lich dem Taxwesen, den Institutionen wie Staatsaufsicht und Treuhänder. 
(Leider vermissen wir bei diesen Auseinandersetzungen ein Wort über 
die so wichtige Frage der Behandlung des Agios und Disagios.) Die 
Kritik der gesetzlichen Bestimmungen ist maßvoll gehalten und vielfach 
begründet. Den Ausführungen über das unzulängliche Vorzugsrecht 
der Pfandbriefgläubiger im Konkurse der Hypothekenbanken können wir 
ohne Einschränkung zustimmen. Doch die Gründe für die Existenz- 
berechtigung des Treuhänders erscheinen uns nicht als stichhaltig. 


972 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes, 


Wenn man sich für die Beibehaltung der Staatsaufsicht erklärt, 
so ist Lehmanns Vorschlag nicht außer acht zu lassen. Er billigt das 
in Süddeutschland herrschende System und will demnach einen Kommissar 
mit der ständigen Revision betraut wissen. Für Hypothekenbanken 
mit einem Pfandbriefumlauf von weniger als 50 Mill. könne die Aufsicht 
nebenamtlich ausgeübt werden, für gróflere Anstalten solle ein Kommissar 
im Hauptamt fungieren. Nach des Verf. Ansicht genüge es, mehreren 
Banken einen Revisionsbeamten zu bestellen. Jedes Institut indessen, 
das mindestens 12 Mill. Grundkapital und einen Pfandbriefumlauf von 
100 Mill. habe, sei berechtigt, für sich allein einen Staatskommissar 
zu verlangen. Die Kosten müssen analog 8 4 Abs. 3 des H B.G. die 
Banken erstatten. 


Auch die neuen Organisationstypen des Hypothekarkredits — die 
öffentlichen Pfandbriefámter — erwähnt Lehmann; endlich wollen wir 
noch die treffliche Besprechung der oft genannten Voigtschen Broschüre 
„Hypothekenbanken und Beleihungsgrenze* lobend hervorheben. 


Wiewohl der Verfasser sichtlich bemüht ist, die Verhältnisse mög- 
lichst objektiv zur Darstellung zu bringen, so kann er sich doch nicht 
enthalten, unbewiesene Behauptungen aufzustellen, die in ihrer all- 
gemeinen Fassung unrichtig sind. So muß der Schluß seines Buches 
eine Uebertreibung genannt werden, wenn es da heißt: „Die das ganze 
städtische Bodenkreditwesen durchziehende Wasserpest ist die Ueber- 
beleihung, die „Diskontierung der Luftsäule des städtischen Grund und 
Bodens“, die überwiegend auf einem gefährlichen Gemisch von Leichtsinn 
und Gewinnsucht und nur zum Teil auf der Hoffnung des künftigen Ein- 


dringens des nordamerikanischen Systems des »Wolkenkratzerse in 
Deutschland beruht.“ 


Berlin. Berthold Breslauer. 


Bericht der Handelskammer in Bremen über das Jahr 1902 erstattet an den 
Kaufmannskonvent. Bremen, Druck von H. M. Hauschild, 1903. gr. 8. 85 SS. 

Bericht, vorläufiger, der Handelskammer zu Kiel über ihre Tätigkeit sowie über 
Lage und Gang des Verkehrs im Jahre 1902. Jahrg. 31. Kiel, 1903. 8. 59 SS. 

Bericht der Handelskammer zu Lübeck über das Jahr 1902, erstattet am 31. XII. 
1902. (Wirtschaftlicher Teil.) Lübeck, Druck von Gebr. Borchers, o. J. (1903). Lex-.s. 
35 SS. 

Bericht der Handels- und Gewerbekammer zu Sonneberg (Sachsen-Meiningen) 
auf das Jahr 1902. Sonneberg, Druck von Grübe & Hetzer, 1902, gr. 8. X—129 88. 

Bericht über die Ergebnisse des Betriebes der vereinigten preußischen und hessi- 
sehen Staatseisenbahnen im Rechnungsjahre 1901. Berlin, W. Moeser Buchdruckerei, 
1902. Roy.4. VI—221 SS. 

Bürgels Nachschlagebuch für Handel, Gewerbe und Industrie nebst großem Orts- 
lexikon von Deutschland. Herausgeg. von Martin Bürgel (3 Teile, Berlin, H. H. M. 
Bürgel, 1903). gr. 8. 387 SS. 1390 SS. geb. M. 12.—. (Aus dem Inhalt: Syndi- 
kate, Kartelle, Preiskonventionen und ähnliche Verbände. — Alphabetisch geordnetes 
Bezugsquellenregister. — Ortslexikon von Deutschland.) 

Grünberg, K. (Prof., Univ. Wien), Die handelspolitischen Beziehungen Oester- 
reich-Ungarns zu den Ländern an der unteren Donau. Leipzig, Duncker & Humblot, 
1902. gr. 8. VII—317 SS. M. 6,60. 

Hoernes, Herm. (Hauptm.), Die Luftschiffahrt der Gegenwart. Wien, A. Hart- 
leben, 1903. gr. 8. XV—204 SS. mit 161 Abbildgn. u. 1 Tafel, geb. M. 5.—. 

Intze (GehRegR., Prof.), Aachen, Entwickelung des Talsperrenbaues in Rheinland 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 273 


und Westfalen von 1889 bis 1903. Aachen, La Ruellesche Akzidenzdruckerei, 1903. 
gr. 8. 73 SS. mit zahlreichen Abbildgn., geb. M. 4.—. 

Jahrbuch des Handelsvertragsvereins. (Jahrg. II.) 1902. Herausgeg. von dessen 
Geschäftsführer W. Borgius. Berlin, Frz. Siemenroth, 1903. gr. 8. XII—405 SS. 
M. 4.—. (Aus dem Inhalt: Die wichtigsten Abänderungen des Zolltarifentwurfs durch 
den Antrag v. Kardorff. — Zur Geschichte des deutschen Zolltarifs. — Die Handels- 
politik der wichtigsten Auslandsstaaten während der letzten Jahrzehnte. — Die Bevor- 
zugung der Landwirtschaft in der preußischen und deutschen Gesetzgebung. — Begrün- 
dung des Gesetzentwurfs betreffend den Zolltarif des deutschen Zollgebietes 1879. — 
Handelspolitische Statistik.) 

Jahresbericht der Handelskammer zu Altona für das Jahr 1902. I. Teil: 
Bericht über das Wirtschaftsjahr und die Kammertätigkeit. Altona, Druck von H. W. 
Kóbner & C°, o. J. (1903). gr. 8. 53 SS. 

Jahresbericht der Handelskammer für den Kreis Essen, 1902. I. Teil. Essen, 
Ruhr, Druck von W. Girardet, 1903. gr.-Folio. 79 SS. 

Jahresbericht der Handelskammer zu Hannover für das Jahr 1900. Teil I: 
Wirksamkeit der Handelskammer, Ansichten und Gutachten. Hannover, Druck von 
W. Riemschneider, 1902. gr. 8. VI—93 SS. 

Jahresbericht, IIL, des sächsischen Provinzialvereins für Getreide- und Pro- 
duktenhandel. Halle, O. Hendel, 1902. gr. 8. 52 SS. M. 1.—. 

Rüthning, Gust. (Prof.), Geschichte der oldenburgischen Post. Denkschrift zur 
Eröffnung des Dienstbetriebes im neuen Reichspostgebäude. Oldenburg, G. Stalling, 
1902. gr. 8. VII—91 SS. mit Taf. u. 1 Karte, kart. M. 3.—. 

Schmidt, Albert (Architekt, Lennep), Die Wupper. Niederschlagsverhältnisse, 
WasserabfluB und seine Regulierung, sowie industrielle Benutzung. Lennep, R. Schmitz, 
1902. gr. 8. 48 SS. mit 3 Zeichnungen, 20 graphischen Darstellungen, Tabellen etc. 
M. 4,50. . 

Schwalbe, H., Deutsche Zollpolitik. Der autonome Tarif und die Vertragszölle 
und der status quo. Luxemburg, Druck von Th. Schwell, 1902. gr. 8. 28 SS. M.1.—. 

Stromgebiete, die, des Deutschen Reichs. Hydrographisch und orographisch 
dargestellt mit beschreibendem Verzeichnis der deutschen Wasserstraßen. Teil II, c: 
Gebiet der Ems. Berlin, Puttkammer & Mühlbrecht, 1902. Imp.-4. VI—92; 5 SS. 
mit Karte: Schiffbare Wasserlüufe im Gebiete der Unter-Ems. M. 2. (Statistik des Deut- 
schen Reichs, Neue Folge, Bd. 39, Teil II, Abteil. C.) 

Verzeichnis der Hamburger Schiffe 1903. Zusammengestellt von den Schiffs- 
besichtigern J. C. Toosbuy und Aug. v. Appen. Hamburg, Eckardt & Messtorff, 1902. 
quer-gr. 8. 76 SS. M. 2,60. 

Wandlungen, die, des Thorner Handels. Festschrift der Handelskammer zu 
Thorn aus Anlaß ihres 50jährigen Bestehens. Thorn, Druck der Thorner ostdeutschen 
Zeitung, 1902. gr. 8. 63 SS. 


Annales du commerce extérieur. Faits commerciaux. N^ 20: Commerce et navi- 
gation des principaux pays étrangers de 1892 à 1900—1901. Paris, imprim. nationale, 
1902. 8. 256 pag. (Publication du Ministère du commerce.) 

Compte rendu des travaux du premier congrès du Sud-Ouest navigable, tenu à 
Bordeaux les 12, 13 et 14 juin 1902. Paris, Mulo, 1902. 8. 479 pag. fr. 5.—. 

Congrès international du commerce et de l'industrie, tenu à Ostende, du 26 au 
30 aoüt 1902. Compte rendu complet des discussions. Travaux et mémoires. Sous la 
pora de MM. J. Hayem et M. Schloss. Paris, Guillaumin & C", 1903. gr. in-8. 

. 10.—. R 

Delpeuch, M., La navigation sous-marine à travers les siècles, d’après de nombreux 
documents inédits. Paris, P. Dupont, 1902. 8. XII—450 pag. av. fig. fr. 7,50. 

Leroy, René, La chambre syndicale du commerce en gros des spiritueux de 
Paris et du département de la Seine (1840—1902). Ses origines, son ocuvre. Paris, 
Guillaumin & Ci, 1903. gr. in-8. 237 pag. fr. 7,50. 
$ DEE trade almanac, 1903. Boston, American Free trade League, 1902. 8. 48 pp. 

Imperial tariff, 1903, containing the laws and regulations governing the impor- 
tation and warehousing, as well as the exportation or transhipment of all kinds of 
merchandise, by T. E. O’.Reilly (Examining Officer of customs). London, Eyre & 


Dritte Folge Bd, XXV (LXXX). 18 


274 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Spottiswoode, 1903. gr. 8. 3/.—. (with supplement containing list of countries and 
ports of world). 4/.6. 

Marvin, Winthrop L., The American merchant marine, its history and romance 
from 1620 to 1902. London, Sampson Low, 1902. gr. 8. XVI—444 pp. M. 10.—. 
(Contents: The colony ships. — The first swift growth, 1789—1800. — The merchant 


navigators. — Impressment and embargo, 1801—15. — The yankee whalemen. — Reci- 
procity on the sea, 1816—30. — A new-world Venise. — The incoming of steam, 
1831—45. — Mail ships and clippers, 1846—60. — The deep-sea fisheries. — War 
and its ruin, 1861—75. — Our coastwise carriers. — Nearing low-water mark, 1876—90. 


— The great lake fleet. — A decate of gain and loss, 1891— 1901.) 

Report from the select Committee on Steamship Subsidies; together with the 
proceedings of the Committee, minutes of evidence, appendix and index. London, Eyre 
& Spottiswoode, 1903. Folio. 3/.3. (Parl. pap.) 

Annali del consiglio delle tariffe delle strade ferrate, 1901. Roma, tip. del- 
l'Unione cooperativa editrice, 1902. 8. 529 pp. (Pubblicazione del Ministero dei lavori 
pubblici, r. ispettorato generale delle strade ferrate.) 

Ringnalda, W., De rijkstelegraaf in Nederland. Hare opkonst en ontwikkeling, 
1852—1 Decemb. 1902. Geillustreerd gedenkboek ter herinnering aan haar vijftigjarig 
bestaan. Amsterdam, Scheltema & Holkema, 1903. gr. 4. 200 blz. met 30 portr., 
20 pltn. en 7 kaarten. fl. 4,50. 


7. Finanzwesen. 


Biermer, M. (Prof., Gießen), Die Finanzen des Grofherzogtums Hessen. Eine 
staatswissenschaftliche Sylvesterbetrachtung. Gießen, J. Rickersche Verlagsbhdlg., 1903. 
gr.8. 70 SS. M. 1.—. 

Mitteilungen aus der Verwaltung der direkten Steuern im preußischen Staate. 
Statistik der preußischen Einkommensteuerveranlagung für das Jahr 1902 und der 
Ergänzungssteuerveranlagung für die Jahre 1902/1904. Im Auftrage des Herrn Finanz- 
ministers bearbeitet vom kgl. statistischen Bureau. Berlin, Verlag des Bureaus, 1902. 
Imp.-4. 

i Selbstherrschaft und Semstwos (Landstände) in Rußland. Vertrauliche Denk- 
schrift des russischen Finanzministers C. J. Witte aus dem Jahre 1899. 2. Aufl. Mit 
2 Vorreden von Peter v. Struve und Hinzufügung einer Denkschrift des russischen 
Finanzministers über die Ueberbürdung der Steuerkruft der Bevölkerung (in russischer 
Sprache). Stuttgart, J. H. W. Dietz Nachf., 1903. gr. 8. LXXII—224 SS. M. 5.—. 
(Aus Osswoboschdenje.) 

Uebersicht von den Staatseinnahmen und Ausgaben mit dem Nachweise von 
den Etatsüberschreitungen und den der nachträglichen Genehmigung bedürfenden außer- 
etatsmäßigen Ausgaben für das Etatsjahr 1901 nebst Uebersicht von den Verwaltungs- 
einnahmen- und Ausgaben der preußischen Zentralgenossenschaftskasse für das Etats- 
jahr 1901. Berlin, gedruckt in der Reichsdruckerei, 1902. Roy.-4. XXII—615 SS. 

Annuaire financier et économique du Japon. N° 2. Tokio, 1902. in-4. 130 pag. 
(Publication du Ministère des finances.) 

Compte définitif des dépenses de l’exercice 1901 du ministère des finances. Paris, 
impr. nationale, 1902. in-4. 177 pag. 

Compte en matières et en deniers de l’exploitation du monopole des tabacs pour 
l’année 1901. (Achat, fabrication et vente.) Paris, impr. nationale, 1902. in-4. XXIII— 
248 pag. (Publication de la Direction générale des manufactures de l'Etat.) 

Financial reform almanack, 1903. London, Simpkin, 1903. erown-8. 1/.—. 

Judson, F. N., A treatise on the power of taxation, state and federal, in the 
United States. St. Louis, F. H. Thomas’ law book C°, 1902. 8. 23; 868 pp. $ 6.— 


8. Geld-, Bank-, Kredit- und Versicherungswesen. 
Geschäftsbericht des Vorstandes der Landes-Versicherungsanstalt der Hanse- 
städte für die Zeit vom 1. I. bis 31. XII. 1901. Hamburg, Druck von Lütcke & Wulff, 
1902. kl. 4. 64 SS. 
Handbuch der deutschen Aktiengesellschaften. Jahrbuch der deutschen Börsen. 
Ausgabe 1902/1903. II. Band. Nebst einem Anhang: Die deutschen und ausländischen 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 975 


Staatspapiere sowie die übrigen an deutschen Börsenplätzen notierten Fonds ete. Leipzig, 
Verlag für Börsen- u. Finanzliteratur, 1903. Lex.-8. geb. M. 20.—. 

Lange, Ernst, Die finanziellen Grundlagen der deutschen Unfallversicherung 
und ihre rationelle Umgestaltung. Grunewald-Berlin, A. Troschel, 1903. gr. 8. 38 SS. 
M. 0,80. 

Neumann, J., Jahrbuch für das Versicherungswesen im Deutschen Reiche, 1903. 
L Bd.: Lebens-, Renten-, Unfall- und Haftpflichtversicherung. Herausgeg. von C. Neu- 
mann. Berlin, E. S. Mittler & Sohn, 1903. XII—740 SS. mit 2 Tab., geb. M. 10.—. 

Neumann, J., Die Versicherung mit Gewinnanteil bei den Lebensversicherungs- 
gesellschaften des Deutschen Reichs, nebst tabellarischen Uebersichten zur Vergleichung 
des Vermögens- und Geschäftsstandes Ende 1901, sowie der Prämien für die wichtigsten 
Versicherungsformen. Berlin, E. S. Mittler & Sohn, 1903. 12. V—231 SS. mit 2 Tab., 
geb. M. 2.—. 

Verhandlungen des ersten allgemeinen deutschen Bankiertages zu Frankfurt 
a. M. am 19. u. 20. IX. 1902. Berlin und Frankfurt a. M., Verlag des Zentralver- 
bands des deutschen Bank- und Bankiergewerbes, 1902. gr. 4. 150 SS. M. 3.—. 

Verwaltungsbericht des Vorstandes der Versicherungsanstalt für Niederbayern 
für das Jahr 1901. Landshut, J. F. Rietsehsche Buchdruckerei, 1902. 8. 47 SS. 

Verwaltungsbericht des Vorstandes der Versicherungsanstalt für Schwaben 
und Neuburg für das Geschäftsjahr 1901. Augsburg, Druck von Ph. J. Pfeiffer, 1902. 
gr. 8. 58 SS. 

Vorlage des Provinzialausschusses, betreffend die Verwaltung der schlesischen 
landwirtschaftlichen Berufsgeuossenschaft im Jahre 1901. Breslau, Druck von Graf, 
Barth & C°, 1902. gr. 4. 40 SS. (XLIII. Provinziallandtag, Drucksache N° 6.) 

Arnaud, E., Des sociétés d’assurances mutuelles et de secours mutuels, ou de 
la fraternité. Niort, impr. Mercier, 1902. 8. 24 pag. : 

Bonhomme, Jacq., Les retraites de la vieillesse assurées gratuitement par l’Etat 
à tous les Francais. Paris, impr. Piequoin, 1903. 24. 32 pag. 

Haguet, H., Le rachat des chemins de fer suisses et ses conséquences. Paris, 
Beranger, 1903. 8. 128 pag. fr. 3.—. 

Hamande, L. et F. Burny, Histoire, exposé des opérations et statistique des 
caisses d'épargne en Belgique. 3 vols. Louvain, E. Fonteyn, 1902. 8. 

Bourne's Insurance Directory 1903. Ed. by F. Harcourt Kitchin. London, E. 
Wilson, 1903. 8. 5/.—. 

Fire insurance laws, taxes and fees; cont. a digest of the statutory requirements 
in the United States and Canada relating to fire insurance companies and agents, with 
Many quotations from the statutes; also, a compilation of county and municipal taxes 
and fees, revised to July 15, 1903. New York, the Spectator C^, 1902. 8. 352 pp. 
$ 5—. 

Nicholson, J. Shield, Bankers’ money. A supplement to a treatise on money. 
London, Black, 1902. 8. VIII—81 pp. 

Stock exchange year-book for 1903. A careful digest of information relating to 
the origin, history, and present position of each of the publie securities and joint stock 
companies known to the markets of the United Kingdom, by Thomas Skinner. XXIX" year 
Of publication. London, 1903. LX VI—1898 pp., cloth. 31/.6. 

Warren, H., Story of the Bank of England: History of English banking, and 
a sketch of money market. London, Jordan, 1903. 8. 258 pp. 3/.6. 

van Laak, J. H., Boerenorganisatie door middel van Raiffeisenbanken. Met 
voorrede van C. F. J. Brands. Hilversum, M. Blommesteyn, 1903. 8. 44 blz. fl. 0,30. 

Vormen, de rechskundige, van spaarbanken, productieve en eredit-associaties in 
Nederland. Bewerkt door M. W. F. Treub, A. de Clereq, S. J. de Jong, A. J. Rethaan 
Macaré, D. J. van Stockum, P. Tjeenk Willink. Amsterdam, S. L. van Looy, 1903. 
gr- 8. 12; 145 en 3 blz. fl. 1.—. 


9. Soziale Frage. 

Bericht des Instituts für Gemeinwohl zu Frankfurt a. M. über das VI. Geschäfts- 
jahr 1901/02. Frankfurt a. M., 1902. 8. 9; 14 u. 20 SS. (die letzten 20 SS. enthalten: 
„Der Notstandsausschuß der Zentrale für private Fürsorge in Frankfurt a. M., Winter 
1901/02". Bericht erstattet vom Geschäftsführer der Zentrale Chr. J. Klumker). 

18* 


276 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Fürst, Mor. (Armenarzt a. D., prakt. Arzt u. Armenpfleger, Hamburg), Stellung 
und Aufgaben des Arztes in der öffentlichen Armenpflege. Jena, G. Fischer, 1903. Lex.-6. 
X—275 SS. M. 7.—. (A. u. d. T.: Handbuch der sozialen Medizin, herausgeg. von 
Moritz Fürst (Arzt, Hamburg) und F. Windscheid (Prof., Leipzig). Bd. I.) 


Condizioni, sulle, dei minorenni delinquenti: relazione presentata alla commis- 
sione per la statistica giudiziaria e notarile nella sessione del giugno 1901. Roma, tip. 
di G. Bertero & C., 1902. 8. IV—203 pp. 


10. Gesetzgebung. 

Beamtengesetz, das badische, und die Gehaltsordnung nebst Ergänzungsvor- 
schriften. 2. Aufl. Karlsruhe, J. Lang, 1902. 8. 219 SS., geb. M. 1,50. 

Brassloff, Stephan, Zur Kenntnis des Volksrechtes in den romanisierten Ost. 
provinzen des römischen Kaiserreiches. Weimar, H. Böhlau Nacht, 1902. gr. 8. IV— 
92 SS. M. 3.—. 

Entscheidungen des kgl. preußischen Oberverwaltungsgerichts. Bd. 41. Berlin, 
C. Heymanns Verlag, 1903. gr. 8. XXI—498 SS. M. 7.—. 

Entscheidungen des kgl. preußischen Oberverwaltungsgerichts in Staatssteuer- 
sachen. Bd. X. Berlin, C. Heymanns Verlag, 1903. gr. 8. XXIX—508 SS. M. 7.—, 

Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen. (Herausgeg. von den Mit- 
gliedern des Gerichtshofes und der Reichsanwaltschaft. Neue Folge I. Bd. (der ganzen 
Reih LI. Bd.). Leipzig, Veit & C^, 1903. gr. 8. XII—468 SS. M. 4.—. 

Fischer, O. (ord. ö. Prof., Breslau) und L. Schaefer (Syndikus des Senats, 
Hamburg), Die Gesetzgebung, betreffend die Zwangsvollstreckung in das unbewegliche 
Vermögen im Reiche und in Preußen, auf der Grundlage des Kommentars zur preuli- 
schen Gesetzgebung, betreffend die Zwangsvollstreckung ete. von J. Krech und O. Fischer 
bearbeitet. Berlin, J. Guttentag, 1902. gr. 8. VIII— 754 SS. M. 17,50. 

Gesetzgebung, die wirtschaftliche, des Großherzogtums Hessen im Jahre 1902: 
1. die öffentlichen Sparkassen ` 2. Die Errichtung einer Hypothekenbank; 3. Die Landes- 
kreditkasse; 4. Die Wohnungsfürsorge für Minderbemittelte. Auf Grund der amtlichen 
Materialien herausgeg. von (MinisterialR.) Braun. Darmstadt, A. Bergstrüssersche Hof- 
buchhdl., 1902. gr. 8. 214 SS. geb. M. 3.—. 

Hamm, K. (GerAdj. Der Arbeitsvertrag nach österreichischem Recht mit Anfüh- 
rung der bisher veróffentlichten Entscheidungen der Gewerbegerichte Linz-Urfahr. Wien, 
G. Szelinski, 1902. gr. 8. 40 SS. M. 0,90. 

Linekelmann, K. (Rechtsanw.) und Ernst Fleck, Das hannoversche Privat- 
recht nach dem Inkrafttreten des bürgerlichen Gesetzbuches. Hannover, Helwing, 1903. 
gr. 8. XXIV—817 SS. M. 20.—. 

v. Lutzau, H., Streifzüge auf dem Gebiete der Theorie und Praxis des provin- 
ziellen Privatrechts. Riga, Jonck & Poliewsky, 1902. 8. 232 SS. M. 6.—. 


Eyquem, A. (vice-président du tribunal de Bordeaux), Le régime dotal. Son 
histoire, son évolution et ses transformations au XIX* siecle, sous l'influence de la 
jurisprudence et du notariat. Bordeaux, impr. Gounouilhou, 1903. 8. VIII—587 pag. 
fr. 10.—. 

Toulemont, L. (avocat Du droit de propriété des offices sous la législation 
actuelle. Sarlat, imprim. Michelet, 1902. 8. 133 pag. 

Costa, J., y otros, Derecho consuctudinario y economía popular di España. 
Barcelona, Henrich & C°, 1902. 4. pes. 13.—. 

López Larrubia, y Alb. Martínez Martin, El codigo de comercio, inter- 
pretado. Tomos I y Il. Madrid, Ministerio de marina, 1902. 8. pes. 10.—. 


11. Staats- und Verwaltungsrecht. 

Bericht über die Verwaltung und den Stand der Ge- 
meindeangelegenheiten der Stadt Charlottenburg für 
das Verwaltungsjahr 1901. Charlottenburg (Kommissionsverl. 
Ulrich & Co.), November 1902. 

Ueber die wissenschaftliche Bedeutung der Verwaltungsberichte der 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 977 


größeren Städte braucht heute kein Wort mehr verloren zu werden. 
Das in ihnen enthaltene umfangreiche und wertvolle Tatsachenmaterial 
rechtfertigt vollauf ihre Berücksichtigung in allen staatswissenschaft- 
lichen Literaturberichten, um so mehr, als die wissenschaftliche Ausbeutung 
dieses Materiales lefler noch nicht so weit erfolgt, wie man es im In- 
teresse von Theorie sowohl als auch Praxis wünschen muß. 

Der vorliegende Bericht verdient die Erwähnung an dieser Stelle 
auch deshalb, weil er (ebenso wie seine vier letzten Vorgänger) manche 
Vorzüge vor ähnlichen Veróffentlichungen vieler anderer Großstädte hat. 
Er bedient sich in weitestgehendem Maße der bewährten statistischen 
Methoden und teilt die wichtigeren Zahlen in vergleichbarer Form 
inmer für mehrere (meistens die letzten 10) Jahre mit. Dabei sind 
alle die Angelegenheiten, welche die Darstellung des fortlaufenden 
Textes zu sehr unterbrechen würden, in den Anhang verwiesen. Hier- 
dureh ist der Bericht so übersichtlich geworden, daß seine Benutzung 
namentlich dem mit den einzelnen Zweigen der städtischen Verwaltung 
weniger vertrauten Leser sehr erleichtert wird. 


Bezüglich des Inhaltes des Berichtes, auf den in dieser kurzen 
Anzeige nicht näher eingegangen werden kann, sei kurz mitgeteilt, daß 
nacheinander behandelt werden Organisation der städtischen Verwaltung, 
(Gemeindegebiet und Bevölkerung, Fürsorge für Grundbesitz und Straßen, 
Unterricht, Bildung, Religionsverbände, Sparkasse, Arbeiterversicherung, 
Arbeitsnachweis, Armenpflege, öffentliche Gesundheitspflege, Rechtspflege, 
Handel und Gewerbe, Verkehrswesen, Steuern und Finanzen. Meistens 
sind auch die Ergebnisse der nichtstädtischen Verwaltung berücksichtigt. 
Besondere Beachtung verdienen die bei der Darstellung des Unter- 
richtswesens, sowie auch des Steuerwesens gegebenen finanzstatistischen 
Uebersichten. 

Aachen. Mendelson. 


Brandenburg a. d. H. Verwaltungsrecht der Stadt Brandenburg a. d. H. pro 
1. IV. 1901 bis dahin 1902. Brandenburg, a. H., J. Wiesikes Buchdruckerei, 1902. 
gr. 4. 92 SS. 

Hof- und Staatshandbuch des Königreichs Württemberg. Stuttgart, Druck von 
W. Kohlhammer, 1902. gr. 8. XL—516 SS. geb. 

Illing-Kautz, Handbuch für preußische Verwaltungsbeamte, im Dienste des 
Staates, der Kommunalverbände, der Korporationen und für Geschäftsleute, begründet 
von Illing (Wirkl. GehOberRegR.), fortgeführt von Georg Kautz (ORegR.). 8 Aufl. (in 
2 Bdn.) I. Bd. Berlin, A. Haack, 1903. gr. 8. XVIII—1286 SS. pro cplt. geb. 
M. 61,50. 

Klatt, Max, Untersuchungen über das Dienstalter der Richter. Berlin, C. Hey- 
manns Verlag, 1903. 8. 29 SS. mit 4 Tabellen. 

Krefeld. — Bericht über Verwaltung und Stand der Gemeindeangelegenheiten 
fur das Etatsjahr 1901. Krefeld, Druck von Kramer & Baum, o. J. (Dezember 1902). 
gr- d. 184 SS. 

Wiener Kommunalkalender und städtisches Jahrbuch 1903. XLI. Jahrg. Wien, 
P. Gerin, 1902. 8. 697 SS. M. 3,20. 


Wiesbaden. — Bericht über die Verwaltung der Gemeindeangelegenheiten im 
Yechnungsjahre 1901. Wiesbaden, P. Plaumsche Buchdruckerei, 1902. gr. 4. 263 SS. 
Wittenberg. — Bericht über Verwaltung und Stand der Gemeindeangelegen- 


heiten der Stadt Wittenberg in dem Rechnungsjahre 1901. Wittenberg, 1903. gr. 4. 
49 SS. 


278 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Exposé de la situation administrative de la province d’Anvers, session de 1902; 
de la province de Brabant, session de 1902, avec des annexes A—R.; de la province 
de Flandre orientale, avec des annexes 1 à 4 et I à III; de la province Flandre occi- 
dentale, session de 1902; de la province de Hainaut, session de 1902; de la province 
de Liége, session de 1902 avec deux annexes; de la province de Limbourg, session de 
1902; de la province de Luxembourg pour l'année 1901; de®la province de Namur, 
session de 1902. 9 vols. Anvers, Bruxelles, Bruges, Gent, Frameries, Liége, Hasselt, 
Arlon, Namur 1902. 8. 

Waldeck-Rousseau, Action républicaine et sociale. Paris, Fasquelle, 1903. 8, 
V—414 pag. fr. 3,50. 

Annual reports of the Department of the Interior for the fiscal year ended June 30, 
1901. I. Report of the Secretary of the Interior. — Report of the Commissioner of 
the General Land Office. CCX XIX—604 pp. — IT. Indian affairs, Part 1. Report of 
the Commissioner, and appendices. X— 806 pp. whit chart; Part 2. Commission to the 
five civilized tribes. Indian Inspector for Indian territory. Indian contracts. Board of 
Indian Commissioners. 893 pp. with 22 illustrations and 14 maps and diagrams. — 
III. Miscellaneous reports. Part 1. Contents: Reports of the Commissioner of Patents, 
of the Commissioner of Pension, of the Commissioner of Railroads, of the Director of 
the XII" Census, of the President of Howard University, of the Columbian Institution 
for the deaf and dumb, of the Architect of the United States Capitol, of the Mine In- 
spector for the Indian territory, of the Mine Inspector for the territory of New Mexico, 
ete. 744 pp. with 81 illustrations, diagrams and maps. Part 2. Governors of terri- 
tories, etc. Contents: Reports of the Governor of Alaska, of the Governor of Arizona, 
of the Governor of Hawaii, of the Governor of Oklahoma, of the Commissioner of the 
Interior for Porto Rico, of the Commissioner of Education for Porto Rico. 722 pp. with 
numerous illustrations. and maps. Zusammen 5 vols. Washington 1901 (I) — 1902 
(II & III), Government Printing Office. 

Municipal register, the, for 1902. Containing a register of the City Government, 
the rules of the Board of aldermen, common council and city council, with various 
statistics relating to the city (of Boston). Boston, Municipal Printing Office, 1902. gr. 8. 
315 pp. with 2 fig., 3 portr. and 1 map. 

Row-Fogo, J., An essay on the reform of local taxation in England. New York, 
Macmillan, 1902. 12. 11,400 pp., cloth. $ 2.—. 

Sveriges Statskalender för ar 1903. Utgifven efter Kgl. Maj'ts nädigste förordnande 
af dess Vetenskaps-Akademi. Stockholm, P. A. Norstedt & Söner, 1902. 8. 901 pp. 
& Bihang: Utdrag ur Norges Statskalender. 16 pp. 


12. Statistik. 


Deutsches Reich. 

Beiträge zur Statistik des GroDherzogtums Hessen. .Herausgeg. von der groBherz. 
Zentralstelle für die Landesstatistik. Bd. 46, Heft 2. Darmstadt, Jonghaus, 1902. 4. 
XLVIII—117 SS. (Inhalt: Alphabetisehes Verzeichnis der Wohnplätze im Großhzt. 
Hessen mit Angabe der Zahlen der Bewohner und der bewohnten Gebäude, sowie der 
Gemarkungen, Gemeinden, Bürgermeistereien, Ortsgerichte und Standesämter, Kreis- 
ümter ete, etc., zu welchen die Wohnplätze gehören. 5. völlig umgearbeitete Aufl.) 

Beiträge zur Statistik des Großherzogtums Hessen. Bd. 47. Darmstadt, G. Jong- 
haus, 1902. 4. LXXXII—453 SS. [Inhalt: Ergebnisse der Berufs. und Gewerbezäh- 
lung im Großherzogtum Hessen am 14. VI. 1895 nach Haupt- und Nebenberui, Ge- 
schlecht und Berufsstellung mit Unterscheidung der Provinzen und Ortsgrößenklassen, 
von (RegR.) L. Knöpfel (Sekret. bei der groBh. Zentralstelle für die Landesstatistik).] 

Breslauer Statistik. Bd. XIX, Heft 3: Grundbesitzwechsel, Boden- und Häuser- 
preise in Breslau während der letzten Jahrzehnte. 140 SS. mit 4 Kurventaf. u. 1 Plane. 
— Bd. XXI, Heft 2: Jahresberichte städtischer Verwaltungen für das Rechnungsjahr 
1900. 330 SS. mit 3 graph. Taf. — Bd. XXI, Heft 3: Bevölkerungswechsel, Erkran- 
kungen, Preise für Nahrungsmittel im Jahre 1900, ete. Zusammen 3 Hefte. Breslau, 
E. Morgenstern, 1902. Lex.-8. 

Handbuch, statistisches, für das Großherzogt. Hessen. Herausgeg. von der großherz. 


Zentralstelle für die Landesstatistik. I. Ausgabe. Darmstadt, Jonghaussehe Hoíbhdl., 
1903. Lex.-8. XII—318 SS. geb. 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 279 


Field, W., Die Verschiebung der Konfessionen in Bayern und Baden und ihre 
Ursachen. Riga, gedruckt in der Müllersehen Buchdruckerei, 1901. Lex.-8. 135 SS. 
M. 2.—. (Promotionsschrift.) 

Mitteilungen des statistischen Amts der Stadt Magdeburg. N’ 11: Ergebnisse 
der Magdeburger Zählung der Arbeitslosen sowie der Beschäftigten mit verkürzter Ar- 
beitszeit vom 7. XII. 1902. Im Auftrage des Magistrats der Stadt Magdeburg bearbeitet 
von X. Silbergleit (Direktor des statistischen Amts der Stadt Magdeburg). Magdeburg, 
Druck von R. Zacharias, 1903. Lex.-8. 29 SS. 

Schematismus der Diözese Würzburg mit Angabe der statistischen Verhältnisse. 
Herausgeg. für das Jahr 1903. Würzburg, V. Bauch, 1903. gr. 8. XIII—241 SS. 
M. 2,50. 

Staatskalender, großherzoglich Mecklenburg-Schwerinscher, Jahrg. 128, 1903. 
% Teile. Herausgeg. vom großherz. statistischen Amt. Schwerin, Verlag der Bären- 
sprungschen Hofbuchdruckerei, 1903. 8. (Inhalt: Teil 1. Zeitkalender und Personal- 
staat mebst den Annalen des Großherzogtums für 1902. 701 SS. — Teil 2. Statistisch- 
tepographisehes Jahrbuch, enthält u. a.: Bevölkerungsverhältnisse, Verkehrsverhältnisse, 
Wassergebiete des Landes, Namenverzeichnis der Gutsbesitzer, Ortsverzeichnis. 454 SS. 


Großbritannien. 

Brodnitz, Georg Vergleichende Studien über Betriebsstatistik 
und Betriebsformen der englischen Textilindustrie. Jena (G. Fischer) 
1902. 93 SS. 

Die kleine Studie (44 Seiten Text und 49 Seiten Tabellen) wird 
bei den Nationalökonomen auf Interesse und allseitige Beachtung rechnen 
können. Es fehlte bislang für England jede Betriebsstatistik, und die 
Frage nach der Bedeutung und Entwickelung der verschiedenen Betriebs- 
formen konnte durchaus nicht beantwortet werden, soviel Studien auch 
gerade sonst vorhanden sind, da ein amtliches Material nicht vorlag. 
Hier hat nun der Verf. diese Lücke ausgefüllt, indem er wenigstens 
für die Textilindustrie die Angaben der englischen Fabrikinspektion 
einer Bearbeitung unterzog, was bisher noch nicht geschehen war. Be- 
rücksichtigt werden konnten nur die Betriebe mit motorischer Kraft; 
doch dürften dadurch sehr erhebliche Fehlerquellen gerade im Textil- 
gewerbe nicht entstanden sein, wenn auch die Vergleichbarkeit mit 
den Ergebnissen der deutschen Betriebsstatistik etwas leidet. Ueber den 
Umfang der Hausindustrie erfahren wir allerdings nichts. Brodnitz 
gibt zuerst einen kurzen Ueberblick über die Entwickelung der englischen 
Textilindustrie (S. 5—22) und vergleicht dann die einzelnen Zweige in 
Deutschland und England nach dem Anteil der verschiedenen Größen- 
klassen. Das wichtige Ergebnis ist, daß in England der Kleinbetrieb 
überall geringer ist als in Deutschland, wo ja gerade hier die hausindustriellen 
Alleinbetriebe noch sehr stark vorhanden sind. Andererseits haben 
doch aber auch in England die Mittelbetriebe teilweise noch eine 
recht große Ausdehnung. Und wenn auch dort die Großbetriebe meist 
einen weit größeren Anteil ausmachen als bei uns, so hat doch die Ent- 
wickelung nicht zu einem Vorherrschen gerade der allergrößten geführt. 
Vielmehr weist Deutschland darin oft eine stärkere Konzentration auf. 
Keineswegs hat also der Großbetrieb die anderen Betriebsformen unter- 
drückt und aufgesaugt, sondern es zeigen sich auch in dem klassischen 
Lande des modernen Industrialismus die mannigfachsten Größenklassen 
nebeneinander. Die „Akkumulation des Kapitals“ ist also mindestens 
in dieser Industrie nicht das herrschende Prinzip geworden. 


280 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Die Ergebnisse sind geeignet, unser Urteil über die moderne Ent- 
wickelung in vielen Punkten zu modifizieren. Allerdings vermag man 
mit einer statistischen Betrachtung allein noch nicht in das Wesen der 
gewerblichen Betriebssysteme einzudringen; es kommt auf die Bedeutung, 
die Leistungsfähigkeit, vor allem aber auf die inneren Beziehungen 
und Abhängigkeitsverhältnisse der Wirtschaften an. Nur geht doch 
soviel aus der Brodnitzschen Untersuchung hervor, daß es für die Ent- 
wickelung zur Großproduktion Grenzen gibt, über die hinaus die weitere 
Zunahme durchschnittlich nicht mehr rentiert und daß die Existenz- 
fähigkeit auch kleinerer Betriebe bei voller Gewerbefreiheit und ohne 
besondere staatliche und künstliche Unterstützung sehr wohl möglich ist. 
Von den sentimental-romantisch angehauchten, im Grunde arg reaktionären 
Bestrebungen der Carlyle, Rosetti, Ruskin u. a. auf Wiederbelebung der 
Handarbeit wird man allerdings nicht viel zu halten brauchen, wenn 
auch bei dem englischen Reichtum einige Liebhaber wertvolle Stücke 
individuell herstellen lassen mögen. Man wird den weiteren Unter- 
suchungen des Verf. über das englische Kleingewerbe mit Erwartung 
entgegensehen. 

Leipzig. F. Eulenburg. 


Abstract statistical, for the several colonial and other possessions of the United 
Kingdom in each year from 1887—1901. XXXIX. number. London, Eyre & Spottis- 
woode, 1902. gr. 8. 386 pp. 1/.7. (Parl. pap.) 

Births, deaths, and marriages in Scotland. XLVI" detailed annual report of the 
Registar-General. (Abstract of 1900.) London, Eyre & Spottiswoode, 1903. 8. 2/.3. 
(Parl. pap.) 

Census of Ireland, 1901. Part I. (contents: Area, houses and population: also 
ages, civil or conjugal condition, occupations, birthplaces, religion, and education of 
the people) vols 1—4: Leinster; Munster; Ulster; Connaught. Dublin, 1902. Folio. 
With maps, diagrams, and tables, ete. (Publication of the Registrar-General of Ireland.) 

Census of Ireland, 1901. Part II: General report. With ınaps, dingrams, etc. 
Dublin 1902. Folio. . 


Oesterreich-Ungarn. 


Jahrbuch, statistisches, des k. k. Ackerbauministeriums für das Jahr 1901. 
Heft 2. Der Bergwerksbetrieb Oesterreichs im Jahre 1901. Lieferung 2: Bergwerks- 
verhältnisse (mit Ausnahme der Bergwerksproduktion). Naphtastatistik. Schlagwetter- 
statistik. Wien, k. k. Hof- und Staatsdruckerei, 1902. gr. 8. 296 SS. 

Jahrbuch, statistisches, der Stadt Wien für das Jahr 1900, Jahrg. XVIII. Be- 
arbeitet von (MagistratsR.) Stephan Sedlaczek, (MagistrSekr.) Wilh. Löwy und Magistr- 
Kommiss.) W. Hecke. Wien, W. Braumüller, 1902. Lex.-8. IX—915 SS. 

Jahrbuch, ungarisches statistisches. Neue Folge. IX. 1901. Im Auftrage des 
kgl. ungarischen Handelsministers verfaßt und herausgeg. vom kgl. ungarischen stati- 
stischen Zentralamt. Budapest, Buchdruckerei der Aktiengesellschaft Athenaeum, 1902. 
Lex.-8. XVIII—412 SS. geb. Kr. 5.—. (Amtliche Uebersetzung aus dem ungarischen 
Original.) [Inhalt: Flächeninhalt, Bevölkerung und Sanitätswesen. — Volkswirtschaft. 
— Allgemeine Bildung, Unterrichtswesen und kirchliches Leben. — Staatliches und 
munizipales Leben. — Wehrmacht. — Staatshaushalt.] 

Mitteilungen des statistischen Landesamtes des Königreiches Böhmen. Bd. IV, 
Heft 1. Prag, J. G. Calvesche Buchhdl., 1902. Lex.-8. LIV—43 SS. (Inhalt: Ernte- 
ergebnisse für das Jahr 1901 und landwirtschaftliche Industrie.) [Deutsche Ausgabe.] 

Oesterreichische Statistik. Herausgeg. von der k. k. statistischen Zentralkom- 
mission. Bd. LXII, Heft 3. Wien, C. Gerolds Sohn, 1902. Imp.-Folio. (Inhalt: Be- 
wegung der Bevölkerung der im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder im 
Jahre 1899. LXXV—269 SS. Kr. 10.—. 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 981 


Statistik der Sanitütsverhültnisse der Mannschaft des k. u. k. Heeres im Jahre 
1901. Ueber Anordnung des k. u. k. Reichskriegsministeriums bearbeitet und herausgeg. 
wn der II. Sektion des k. und k. technischen Militärkomitee. Wien, Druck der k. k. 
lbf und Staatsdruekerei, 1902. Roy.-4. IV—274 u. LII SS. 


Rußland (Finland). 


Bidrag till Finlands offieiela Statistik. I. Handel och sjöfart. N° 21. Finlands 
handel och sjöfart pá Ryssland och utrikes orter samt uppbörden (gezahlten Einfuhr- 
vient wid tullverket àr 1901. 180; 160; 40; 9 pp. XIII Post-Statistik. Ny följd. 
wv 17. — Poststyrelsens berättelse för är 1901. XLVI—63 pp. — XIV. B. Justerings- 
verket. N° 11. Berättelse för ar 1901. 17 pp. (Aichungsstatistik für 1901.) — XIX. 
Vig och vattenbyggnaderna berättelse, Ar 1900. 212 pp. (Oeffentliche Weg- und Wasser- 
hautenstatistik für das Jahr 1900. XX. Jernvägs-Statistik. N° 31. Berättelse för år 
101. 113 pp. mit 8 Beilagen gegen 400 pp. (Eisenbahnbetriebsstatistik.) — XXI. 
Fatigvärdsstatistik. B. Fattigvärdsinspektörens ärsberättelse N^ 9, är 1901. 15 pp. 
(Gebreehlichkeitsstatistik, aufgestellt nach den Berichten der Anstaltsinspektoren.) 6 Hefte. 
Helsingfors 1902. Lex.-8. 


Italien. 


Relazione medico-statistiea delle condizioni sanitarie del R. esercito nell’ anno 
1900. Compilata dall' ispettorato di sanità militare, Ufficio statistica. Roma, tipogr. 
dita Ludovico Cecchini, 1902. Lex.-8. IV—171 e allezati: tavolo I— XIII. (Sanitäts- 
statistik der italienischen Armee für das Jahr 1900.) 3 

Rubin, Marcus (directeur du Bureau de statistique de PEtat danois), Consom- 
mation de familles d'ouvriers danois. Rome, imprim. de J. Bertero & C", 1902. gr. in-8. 
“pag. (Extrait du Bulletin de l'Institut internat. de statistique, tome XIII, 3° livraison.) 


Dünemark. 
, Dan marks Statistik. Statistisk Tabelv:erk, V. Række, Litra D. N° 10. Danmarks 
Vsreindforsel og -Udforsel i Auret 1901. Kobenhavn, Gyldendal, 1902. gr. in-4. 28; 
H5 pp. (Dänische Ein- und Ausfuhrstatistik für das Jahr 1902.) 


Belgien und Holland. 

Statistique judiciaire de la Belgique. III^"* année. Bruxelles, veuve Ferd. 
Lieier, 1902, Roy. in-4. LXVI—304 pag. (Publication du Ministère de la justice. 
Table des matières: Statistique pénale, 1900. — Statistique de la justice civile et com- 
memiale, 1899—1900. — Statistique pénitentiaire, 1900. — Statistique de la mendicité 
et du vagabondage, 1900. — Statistique des graces et de la libération conditionnelle, 
In, — Statistique de la police des étrangers, 1900. — Statistique des aliénés, 1900.) 
. Bijdragen tot de statistiek van Nederland. Nieuwe volgreeks. Vol. XXI. Stati- 
stick van den loop der bevolking in Nederland over 1901. ’s Gravenhage, Gebr. 
Belinfante, 1902. Lex.-8. XVI—157 blz. 

Bijdragen tot de statistiek van Nederland. Nieuwe volgreeks (Neue Folge) 
XXII: Kiezers-statistiek benevens aanvulling der verkiezings-statistick voor de Staten- 
Genera] in 1902. "e Gravenhage, Gebr. Belinfante, 1902. Lex. in-8. XV— $0 blz. 
due der im Jahre 1892 stattgefundenen Wahlen für die holländischen General- 
Staaten, 

, Bijdragen tot de statistiek van Nederland. Nieuwe volgreeks. XXIII. Stati- 
stiek van het gevangeniswezen over het jaar 1901. ’s Gravenhage, Gebr. Belinfante, 
1902. gr. in-4. XL—129 blz. 


Schweiz. 


.. Jahrbuch, statistisches, der Schweiz. Jahrg. XI: 1902. Bern, Buchdruckerei 
Sümpfli & ©, 1902. gr. 8. 341 SS. Mit 1 graph. Taf. (Schweizerische Statistik. 
Lieferung 136. Herausgeg. vom statistischen Bureau des eidgenössischen Departements 
des Innern.) 

Schweizerische Statistik. 135. Lieferung: Die Bewegung der Bevölkerung in 
der Schweiz im Jahre 1901. Bern, A. Francke, 1902. 4. 32 SS. (Herausgeg. vom 
statistischen Bureau des eidgenöss. Departements des Innern.) 


282 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Norwegen. 


Aarbog, statistisk, for Kristiania by. Udgivet of kommuners statistiske kontor, 
XVI. aargang, 1901. Kristiania, J. Ch. Gundersens bogtrykkeri, 1902. gr. in-8. Llll— 
190 pp. (Statistisches Jahrbuch der Stadt Kristiania, herausgeg. von dem gemeinde- 
statistischen Bureau. Jahrg. XVI.) 


Bulgarien. 


Jnnsenne ua uace.ıcnuero npbs3B 1900 rozwsa. (aer II: Paxaanna, ymipawia 
H WCHHAÓM uo OKOIUM M orprsm. Coena (Sofia) 1902. 4. V—355 pp. (Bewegung der 
Bevölkerung des Fürstentums Bulgarien während des Jahres 1900. Teil II: Geburten, 
Todesfälle und Trauungen.) 


Amerika (Vereinigte Staaten). 

Census reports (SUE Census of the Unit. States, taken in the year 1900) Vol. X: 
Manufactures. Part IV: Special reports on selected industries (continued). Prepared 
under the supervision of S. N. D. North (Chief statistician for manufactures). Washington, 
United States Census Office, 1902. Roy.-4. XVI—978 pp. (Table of contents: Iron 
and steel, by Will. G. Gray. — Tin and terne plate, by W. G. Gray. — Lead, copper, 
and zinc, by Ch. Kirchhoff. — Electrical apparatus and supplies, by Th. Commeriord 
Martin. — Shipbuilding, by Alex. R. Smith. — Cars, steam railroad, by G. A. Hutchins, 
— Carriages and wagons, by James K. Dawes. — Agricultural implements, by Jos. 
D. Lewis. — Metal-working machinery, by Edw. H. Sunborn. — Sewing machines, by 
John A. Boshard. — Needles and pins, by Ch. M. Karch. — Typewriters, by Harry 
E. Barbour. — Musical instruments and materials, by Freder. S. Hall. — Watches 
and watch cases, by Will. A. Coutryman. — Pens and pencils, by Ch. M. Karch. — etc.) 

Monthly summary of commerce and finance of the United States. September 
1902. Prepared in the Bureau of Statisties, Treasury Department. Washington, Govern- 
ment Printing Office, 1902. gr. 4. p. 652—996. (N° 3. series 1902—1903.) [Contents: 


Commercial notes. — Coal trade of the United States and the world's eoal supply and 
trade. — Internal commerce. — Financial tables. — Prices of leading articles. — 
Foreign commerce of the United States. — Commerce of non contiguous territories of 


the United States. — etc.] 


Asien (China). 

China. Imperial maritime customs. I. statistical series, N° 2: Customs gazette, 
N° 134, April— June 1902, Shanghai, Kelly & Walsh, 1902. 4. 300 pp. $ 1.—. 
(Published by order of the Inspector General of Customs.) 

China. Imperial Maritime Customs. I. Statistical series: n* 3 and 4: Returns of 
trade and trade reports for the year 1901. Part 2. Reports and statisties for each port 
(43™ issue) with report on foreign trade of China (37 issue). Shanghai, Kelly & Walsh, 
and London, King & Son, 1902. 4. XVI—804 pp. $ 5.—. (Published by order of 
the Inspeetor General of Customs.) 


— (Japan). 
Mouvement de la population de l'Empire du Japon, 32* année de Meiji (1599). 
Tokio, 35* année de Meiji (1902). Imp. in-4. 458 pp. (In japanischer Sprache, mit 
französischer Kopfversion der einzelnen statistischen Tableaux.) 


Australien (Kolonie Neu-Süd-Wales). 
Results of a Census of New South Wales taken for the night of the 31" March, 
1901. Part 4: Birthplaces of the people. Population distributed in municipalities and 
counties, by T. A. Coghlan. Sydney, W. A. Gullick printed, 1903. 4. p. 267—352. 


— (Kolenie Süd-Australien). 
South Australia. Statistical register, 1901. Compiled from official records. 8 parts. 
Adelaide, C. E. Bristow-printed, 1902. gr. Folio. (Contents: Part I. Population; 
Part II. Vital statisties; Part III. Production; Part IV. International; Part V. Law, 


crime, ete; Part VI. Revenue and expediture; Part VII. Religious, Educational, and 
charitable institutions.) 


‚Die periodische Presse des Auslandes. 283 


13. Verschiedenes. 


| Bericht über die Genesungsheime der Ortskrankenkasse für kaufmännische Ge- 
| shäfte zu Hamburg, belegen in Trittau (Holstein) und in Kollow bei Schwarzenbek. 
Hamburg, Druck von Grefe & Tiedemann, 1901. gr. 8. 57 SS. 

| v. Bülow, H., Geschichte des Adels. Ursprung und Entwickelung. Berlin, W. 
| Süsserott, 1903. gr. 8. 104 SS. Mit Portr. M. 3.—. 
| Delegiertentag, allgemeiner, der nationalliberalen Partei vom 10. bis 13. X. 
| 1902 in Eisenach. Protokoll auf Grund stenographischer Auszeichnungen. 3 Teile. Zu- 

sammen 269 SS. M. 2,50. 

| Fitzner, Rud. (Privdoz. d. Erdkde., Univ. Rostock), Niederschlag und Bewöl- 
|| kung in Kleinasien. Gotha, J. Perthes, 1902. Lex.-8. 90 SS. Mit 1 Karte. M. 5.—. 
(Petermanns Mitteilungen, Ergünzungsheft 140.) 
| Hohenzollernjahrbuch. Forschungen und Abbildungen zur Geschichte der 
Hohenzollern in Brandenburg-Preußen, herausgeg. von Paul Seidel. Jahrg. VI, 1902. 
Leipzig, Giesecke & Devrient, 1903. Folio. VI—268; IX SS. mit 175 Abbildgn., 

| 48 Vollbildern und Beilagen, geb. M. 24.—. 

Karth, Joh., Das Taubstummenbildungswesen im XIX. Jahrhundert in den 
wichtigsten Staaten Europas. Ein Ueberblick über seine Entwickelung. Breslau, W. G. 
Korn, 1902. gr. 8. VIII—428 SS. M. 7,50. 

I Liebmann, Alb. (D' med., Arzt für Sprachstórungen) und (D' med.) Max Edel, 
Die Sprache der Geisteskranken nach stenographischen Aufzeichnungen. Mit Vorwort 
von (Prof. E. Mendel. Halle a/S., C. Marhold, 1903. gr. 8. 152 SS. M. 4.—. 

Regenkarte der Provinz Westfalen sowie von Waldeck, Schaumburg-Lippe, 
Lippe-Detmold und dem Kreis Rinteln. Mit erlüuterndem Text und Tabellen. Im 
amtlichen Auftrage bearbeitet von (GehRegR. Prof.) G. Hellmann. Berlin, D. Reimer, 
1903. Lex.-8. 29 SS. nebst Karte. 

Richter, Eugen (Mitglied des Reichstags u. Abgeordnetenhauses), Politisches 
ABC-Buch. Ein Lexikon parlamentarischer Zeit- und Streitfragen 10. Jahrg. Berlin, 
Verlag „Fortschritt, Aktiengesellschaft 1903. gr. S. VIII—277 SS., geb. M. 2.—. 

Sanitütswesen, das, in Bosnien und der Herzegovina 1878—1901. Sarajevo, 
Landesdruckerei, 1903. Lex.-8. VIII—439 SS. mit 2 Abbildgn. u. 2 Karten. (Heraus- 
gegeben von der Landesregierung für Bosnien und die Herzegovina.) 

(Spemann, F rz), Von der Renaissance zu Jesus. Bekenntnisse eines modernen 
Studenten. 2. Aufl. Stuttgart, J. F. Steinkopf, 1903. 8. 80 SS., kart. M. 1.—. 

Whitman, Sidney, Fürst von Bismarck., Persönliche Erinnerungen an ihn aus 
seinen letzten Lebensjahren. Stuttgart, Union, o. J. (1902). gr. 8. 241 SS. mit 1 Titel- 
bild von Frz. v. Lenbach. Eleg. geb. M. 7.—. 


| A u pays de Monaco. Son altesse la roulette dévoilée par elle-même. Dessins 
inédits. Paris, impr. de Malherbe, 1903. in-4. 222 pag. fr. 25.—. 

Craig, J. D., Real pictures of clerical life in Ireland. Cheap edit. London, 
Stock, 1902. 8. 362 pp. 3/.6. 

. Subject index of the modern works added to the library of the British Museum 
1881—-1900. Edited by G. K. Forteseue. Vol. I (A—E.). London, Longmans, Green 
& C°, 1903. Roy.-8. 30/.—. 

Arata, Jacopo, Igiene e medicina in Roma nel periodo imperiale pagano. 
Genova, tip. A. Ciminago, 1902. 8. 58 pp. 


Die periodische Presse des Auslandes. 


A. Frankreich. 

Annales des sciences politiques, 1902, Septembre: La convention et le maximum, 
par E. Levasseur. — La question du suffrage universel] en Belgique, par E. van der 
Smissen. — La politique financière de l'empire anglo-indien, par P. Lavagne (fin). — 
A la conquête d'un Isthme: la solution diplomatique; le traité Hay-Pauncefote, par 
G. Lefébure. — Les délégations financières algériennes, par E. Cleray. — Novembre: 


— 


284 Die periodische Presse des Auslandes, 


La question du rachat et la gestion financière des chemins de fer de l'Etat francais, 
par G. L. Jaray. — Le nouveau gouvernement local de l’Irlande, par G. Lecarpentier. 
— Les industries minérales et métallurgiques en Russie, par J. Wilhelm. — 

Journal de la Société de statistique de Paris. 43° année, 1902, N° 12, Décembre: 
Procès-verbal de la séance du 19 novembre 1902. — Comment nous défendre contre 
le trust de l'Océan, par G. Cadoux. — Les chemins de fer du monde. — Correspon- 
dance: Lettre adressée à M. Emile Levasseur, par (le D') Lowenthal. — Chronique des 
questions ouvrières et des assurances sur la vie, par M. Bellom. — etc. 

Journal des Economistes. Revue mensuelle. 62° année, 1903, Janvier: 1902, 
par G. de Molinari. — Le marché financier en 1902, par Arth. Raffalovich. — Mouve- 
ment colonial en 1902, par Daniel Bellet. — Revue des principales publications écono- 
miques de l'étranger, par Emile Macquart. — Les cartels industriels (à propos du mé- 
moire de M. J. Landesberger) par Raphael Georges Lévy. — Lettre des Etats-Unis, 
par George Nestler Tricoche. — Lettre de Mexique, par J. Ch. T. — Société d'écono- 
mie politique, réunion du 5 janvier 1903. Discussion: De la nouvelle baisse de l'argent, 
de ses conséquences, en particulier au point de vue d'un certain nombre de pays asiati- 
ques et américains. — Comptes rendus. — Chronique: Le peril américain ; La réhabi- 
litation de l'aleool ete., par G. de Molinari. — etc. 

Réforme sociale. Année 1902. N^ 16 à 23: Le congrès des habitations à bon 
marché et le congrès des assurances sociales à Dusseldorf, par G. Blondel. — Verriers 
champenois, par M. Deviolaine. — L'école supérieure d'agriculture d'Angers, par E. 
Vetillart. — Du profit que retire un jeune homme de l'histoire des doctrines économi- 
ques, par A. Deschamps. — Du rôle social du propriétaire foncier selon les différents 
types d'exploitation du sol, par F. Lepelletier. — Encore les retraites ouvrières, par 
H. Valleroux. — Le Congo belge et les progrès de la colonisation, par P. Verhaegen. 
— La dépopulation en France, par H. Clément. — De la corruption de nos institu- 
tions, par H. Joly. — De l'influence des habitudes sociales sur l'esprit d'initiative, par 
C. Hardy. — L'enseignement de l'histoire, par F. Funck-Brentano. — Jaunes et rouges, 
par Delcourt-Haillot. — L'instruction économique et l'éducation sociale de la jeunesse 
universitaire anglaise, par J. Bardeaux. — L'école des hautes études industrielles de 
Lille, par M. Vanlaer. 

Revue générale d'administration. Publication du Ministère de l’intérieur. XXV* 
année, 1902, Juillet, Août, Septembre et Octobre: Le règlement administratif, par Fel. 
Moreau (prof, Université d'Aix-Marseille). — La loi du 15 février 1902 sur la protec- 
tion de la santé publique, par Marcel Moye (prof, Univers. de Montpellier). — Les 
sous-préfets, par Gaston Jeze (prof., Univers. de Lille). — De la représentation juridique 
et de la défense des intérêts communaux, par Ferd. Sanlaville (avocat à la Cour d'appel) 
[art. 1, suite et fin]. — Le domaine des hospices de Paris depuis la Révolution, par 
Améd. Bonde (chef de bureau à l'administration générale de l'assistance publique de 
Paris) [art. 1 et suite 1]. — Chronique de l'administration française. — ete. 

Revue d'économie politique, XVI* année, n° 12, Décembre 1902: La lutte contre 

Paleoolisme en Suède, par Joh. Bergman. — Le problème de la monnaie. La question 
sociale et la question de la monnaie, par Ch. M. Limousin. — Municipalisation des 
entreprises industrielles en Italie, par V. Totomiantz. — Du rôle des syndicats de pro- 
dueteurs dans l'évolution industrielle, par Georges de Leener. — La loi d'intégration du 
travail, par Ed. Dolléans. — La production et l'exportation. des blés aux Etats-Unis, 
par Ed. Picard. — Chronique législative. — Revue des revues allemandes, par 
F. Sauvaire-Jourdan, — Revue des revues françaises d'économie politique, par H. Truchy. 
— etc. . 
Revue internationale de sociologie. X* année, 1902, n? 12, Décembre: Le génie 
national des races française et allemande en Alsace, par Werner Wittich (prof.) (ärer 
et dernière partie]: Le génie national des vieux ullemands: 1. Les provogateurs du 
génie allemand; 2. L'Allemand dans le domaine économico-social et politique; 3. L'Alle- 
mand dans le domaine intellectuel; 4. L'Allemand dans le domaine des sens; 5. Con- 
elusion: L'avenir du génie alsacien; le trait fondamental du génie national des deux 
races en présence. — Société de sociologie de Paris, séance de mercredi 12 novembre 
1902: L'invention considérée comme moteur de l'évolution sociale. Observations de 
Fernand Faure. Discussion par G. Tarde, Ch. Limousin, G. Papillault, M. Coicou, 
E. Delbert. — Revue des livres, — Revue des périodiques. — ete. 


Die periodische Presse des Auslandes. 285 


B. England. 


Board of Trade Journal. Vol. XXXIX, N°311—322, November 13, 1902— January 29, 
1903 : Foreign trade of the Unit. Kingdom in October, 1902. — Import trade of Trans- 
vaal (8 months). — Trade of Cape colony (7 months) — Trade of foreign countries 
and british possessions. — British trade abroad (Havana). — The industry of the Fede- 
mted Malay States in 1901. — Trade and shipping of the treaty ports of Southern 
China. — British trade abroad (Corunna, Brest, Port Said, China) — Trade of Natal 
(9 months) — Trade of British Guiana in 1901—02. — Openings for British trade. — 
Foreign trade of the Unit. Kingdom in November, 1902. — Trade of the Congo free 
state in 1901. — Agricultural returns of Great Britain, 1902. — Trade of France with 
the African continent in 1898—1901. — The German cartel system. — The commercial 
development of Western Russia: A visit to the South-West of Poland. — British trade 
abroad : Switzerland, Siberia. — Working of Russian railways in 1900. — British trade 
abroad (St. Thomé and Principe) — The Uganda railway. — The import trade of 


Persia. — The stone supply and industry of Argentina. — The Russian mercantile 
marine and international trade. — The silk industry of Lyons. — The State spirits 
monopoly of Russia. — The French sardine industry. — Foreign trade of the United 


Kingdom in December, 1902. — Uses of the hardwoods of New South Wales. — Trade 
of Germany with the African continent in 1897—1901. — British trade abroad (Mexico). 
— British versus German coal at Hamburg in 1902, — The naphtha industry of the 
Caucasus. — Coal trade of Eastern Mexiean ports. — Cobalt mines in Chile. — The 
trend of British South-African trade (1897—1901.) — Progress of Japanese railway 
enterprise. — Proposed tariff changes. — Tariff changes and customs regulations. — 
Shipping and transport. — Minerals, metals, and machinery. — Agriculture. — Yarns 
and textiles. — etc. 

Contemporary Review, the. January 1903: James Martineau, by A. M. Fair- 
barn. — The new education in China, by Tim. Richard. — The coming struggle be- 
tween slav and teuton, by Quidam. — The Brussels Sugar Convention, by Th. Lough. 
— Rob. Browning, by Ph. H. Wicksteed. — Our relations with Germany. — Tchai- 
kovsky and Tolstoi. — etc. 

Economic Journal, the. The Journal of the British Economie Association, edited 
by F. Y. Edgeworth and Henry Higgs. Vol. VII, n° 48, Decbr. 1902: The practical 
utility of economie science, by E. Cannan. — Taxation of site values, by C. F. Bicker- 
dike. — Artels, by N. Pinkus. — The localisation of industry, by W. Cunningham. — 
An imperial zollverein with preferential tariffs, by C. F. Bastable. 

Edinburgh Review, the. N° 403, January 1903: On the progress of medicine 
since 1803. — Panslavism in the near East. — The past and future of factory legis- 
lation. — Modern motor cars. — ete. 

Fortnightly Review, the, ed. by W. L. Courtney. January, 1903: The new 
Education Act at work, by F. J. Macnamara. — The decline and fall of the South 
African elephant, by H. A. Bryden. — ,M. Witte, atlas of the autocracy“, by R. E. 
C. Long. — The rise of theatrical subventions, by Will. Archer. — South African 
farming, by (the Rev.) Will. Greswell. — A workman's reply to Mr. Holt schooling, 
by a British workman. — ete. 

Journal of the Institute of Bankers, October 1902: The growth of London as 
the financial centre of the world, by E. W. Sykes. — Early closing on saturdays. — 
November: The signs of Old Lombard street. — etc. 

Nineteenth Century and after. N° 311, January, 1903: The clergy and the 
Education Act, by D. C. Lathbury. — The noncorformists and the Education Act, by 
(the Rev.) J. Guinness Rogers. — Sir Oliver Lodge and our publie schools, by Arth. 
C. Benson and Frank Fletcher. — Is society worse than it was? by (Lady) G. Rams- 
den. — English and Russian polities in the East, by Ali Haydar Midhat. — The 
Abyssinian questio and its history, by G. F. H. Berkeley. — The financial future, by 
J. W. Cros. — The growth of the Local Government Board, by (Sir) Mich. Foster. — 

The price of food in our next great war, by (Captain) Stewart L. Murray. — etc. 


C. Oesterreich-Ungarn. 


Deutsche Worte. Monatshefte, herausgeg. von Engelb. Pernerstorfer. Jahr- 
gang XXIII, 1903, Heft 1 (Januar): Die Sprachenfrage im Amt und die Antwortnote 


286 Die periodische Presse des Auslandes. 


der tschechischen Parteien, von Rud, Springer (Wien). — Das Zuckerkontingent. Ein 
Beitrag zum Staatskapitalismus, von Rud. Hilferding (Wien). — ete. 

Handels-Museum, das. Herausgeg. vom k. k. Handelsmuseum. Band XVII, 
1903. N" 1—5, vom 1. I.—29. I. 1903: Die italienische Konkurrenz in Albanien, — 
Die Glasindustrie der Ver. Staaten von Amerika. — Schiffahrtssubventionen. — Die 
überseeischen Absatzgebiete im Jahre 1902. — Die Durchführungsverordnung zur Ge- 
werbenovelle betreffend Handlungsreisende. — Oesterreich-Ungarns Handelsverkehr mit 
Persien. — Die Entwickelung der Kohlenproduktion. — Pax (bezieht sich auf den 
Abschluß des österr.-ungarischen Ausgleiches). — Die zollpolitische Lage in Deutsch- 
land. — Der neue Zolltarif (bezw. der dem österreich. Parlament am 28. I. von der 
Regierung vorgelegte neue österr.-ungarische Zolltarifentwurf). — Winke für den Export 
von Eisenwaren und Maschinen. — Der Bergbau in Südafrika. — etc. 

Oesterreichisch-Ungarische Revue. Bd. XXIX, Heft 3 u. 4 (Wien) 1902: 
Die krainische Landwirtschaft und das krainische Landtagswesen (bis 1748). [Forts. 
u. SehluB.]. — Die deutsche Volkswirtschaft und ihre Entwickelungstendenzen, von 
Joh. Zmave. — ete. 


E. Italien. 

Giornale degli Economisti. Gennaio 1903: La situazione del mercato monetario. 
— I limiti dell’ indagine teorica nella finanza pubblica, per V. Tangorra. — A propo- 
sito del massimo di ofelimità dato dalla libera concorrenza, per G. Scorza. — La coo- 
perazione di classe, per G. Montemartini. — I distillatori proprietari, per G. Francois. 
— L'industria della lana in Firenze dal secolo XIV al secolo XVI, per R. Soldi. — 
Municipalizzazione dei pubblici servizi, per G. Montemartini. — Cronaca (un discorso 
di Carnegi), per F. Papafava. — etc. 


G. Holland. 
de Economist, opgericht door J. L. de Bruyn Kops. Jaarg. LII, 1903, Januari: 


Sociaal-democratie en handelspolitiek, door D. van Blom (art. I). — Suiker in de parle- 
menten van Europa, door J. (Brn) d'Aulnis de Bourouill. — De messageries maritimes, 
door Walrave Boissevain. — De internationale geldmarkt, door C. Rozenraad. — Econo- 


mische kroniek: Ueber die von der holländischen Regierung geplante Kreierung von 
Landwirtschaftsräten; Die Brüsseler Zuckerkonvention; Der neue deutsche Zolltarií ; 
Die Entwickelung der englischen Sparkassen in den Jahren 1887—1901. — Handels- 
kroniek: Schiffahrtsbewegung in den holländischen Häfen im Jahre 1902; Aus dem 
Jahresbericht der Hamburger Handelskammer für 1902, ete. — 


H. Schweiz. 


Monatsschrift für christliche Sozialreform. Begründet von (Frh.) K. v. Vogel- 
sang. Jahrg. XXV, 1903, N° 1: Der neue schweizerische Zolltarif, von E. Laur. — 
Neujahr 1903, von der Redaktion (Prof. J. Beck, Freiburg, Schweiz). — Wirtschaft- 
liche Tagesfragen, von Sempronius: Das Submissionswesen; Der englische Zollverein; 
Canada als Kornkammer Englands; Algier ein Konkurrent für die europäische Landwirt- 
schaft; Wein, — Zeitschriftenschau, von €. Decurtius. — Für die sozialen Vereine: 
Skizze IX. Selbsthilfe; Skizze K. Volksschule und Sozialreform. — etc. 

Schweizerische Blätter für Wirtschafts- und Sozialpolitik. Halbmonatsschrift. 
Jahrg. X, 1902, Hefte 23/24: Obligatorium der Krankengeldversicherung, von (Natio- 


nalR.) Vogelsanger (Zürich). — Einkommen- und Vermögenssteuer in ihrem gegen- 
wärtigen Wertverhältnis, von G. Wälchli (Seminarlehrer, Zollikofen). — Zur Frage der 
Arbeitslosenversicherung, von Fr. Osmer (Zürich). — Zur Frage des Kampfes gegen 


den Alkoholismus. Eine Anregung von (D' med.) Nägeli-Akerblom (Rüthi, St. Gallen). 
— Die lokalen Arbeitersekretariate in der Schweiz, von (Prof.) N. Reichesberg (Bern). 
— Der schweizerische Grütliverein im Jahre 1901. — Wohlfahrtseinrichtungen für die 
Schuljugend des Kantons Baselstadt. — ete. 


M. Amerika. 

Journal of Political Economic. (Publication of the University of Chicago.) Vol. X, 
n° 4, September 1902: Commerce and tariffs in the Philippines, by C. C. Plehn. — 
Prices and the international movement of specie, by J. L. Laughlin. — Cireulating 
medium during the civil war, by W. C. Mitchell. — Production and consumption of 


Die periodische Presse Deutschlands. 287 


he precious metals, by J. A. Hourwieh. — Prosperity in agriculture, by .W. H. — An 
old account book, by J. G. Thompson. — Benevolent and provident arrangements of 
french railway companies, by L. Katscher. 

Political Science Quarterly. September 1902: Do trade unions limit output? 
wJ. Martin. — Early trusts in Holland, by A. E. Sayous. — The interstate commerce 
wmmission, by B. H. Meyer. — The English parish, by S. and Beatrice Webb (art. II). 
— The scientific basis of imperialism, by J. A. Hobson. — The German judieiary, by 
J W. Garner (art. I). 

Quarterly Journal of Economies. November, 1902: The sugar industry and 
legislation in Europe, by C. S. Griffin. — The sugar question in the United States, by 
FR Rutter. — Recent tendencies in sociology, by E. A. Ross (art. II). — The early 
innsportation and banking enterprises of the States in relation to the growth of corpo- 
ntions, by G. S. Callender. — The „roundabout process“ in the interest theory, by 
F.A. Fetter. — The place of the theory of value in economies, by T. N. Carver. 


Die periodische Presse Deutschlands. 


Archiv für Post und Telegraphie. Jahrg. 1903. N° 1 u. 2, Januar: Der Panama- 
kanal. — Neue Post- und Telegraphengesetze in Portugal. — Aus dem Bereiche der 
badischen Post- und Telegraphenverwaltung. — Zur Geschichte des Telegraphenamts 
in Straßburg (Elsaß.) — Zur Nilquellenforschung. — Deutsche Post- und Telegraphen- 
einrichtungen in den Kolonien und im Auslande. — Französisch-englisches Fernsprech- 
übereinkommen. — Der magnetische Nordpol. — Samoa. 

Archiv für Oeffentliches Recht. Bd. XVII, 1902, Heft 4: Zur Braunschweiger 
Regentschaftsfrage, von W. Ch. Francke. — Theologieprofessur und Pfarramt. Ein 
quellengeschichtlicher Beitrag zur Entwickelung des modernen Aemterrechts, von Ed. 
Hubrich. — Religiöse Erziehung der Kinder, von Geigel. — Ueber die Anwendung 
ausländischer Gesetze durch russische Gerichtsbehürden, von Leo Challandes. — Das 
Ebenbürtigkeitsprinzip in den Familien des deutschen Hochadels, von F. Hauptmann. 
See Anteil der Stände an der Gesetzgebung in Preußen von 1823—1848, von Adolf 
Amdt. —— ete. 

Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich. 
Herausgegr, von Gustav Schmoller. Jahrg. XXVII, 1903, Heft 1: Ueber Einheit im 
Gebiete des deutschen Verwaltungsrechts, von Wilh. Kahl. — Soziologie des Raumes, 
von Georg Simmel. — Ueber Reaktion im Verkehrswesen, von Gustav Cohn. — Die 
Aufgaben der Sparkassen in Deutschland als Lebensversicherungsinstitute für die unteren 
Volksklassen, von H. Kümmel. — Finland, von * * *. — Das deutsche Volkseinkommen 
in Jahre 1900, im ganzen und im Gesamteinkommen über und unter 3000 Mark ver- 
glichen mit dem Volkseinkommen des Jahres 1895 und die Lohnsteigerung in den 
Jahren 1896—1900, von R. E. May. — Die belgische Industrie- und Gewerbezählung 
vom 31. X, 1896, von Cl. Heiss. (Mit 1 Tabelle. — Die Handels- und Verkehrs- 
geschichte Südwestdeutschlands im Mittelalter, von Aloys Schulte. — Deutschland am 
Scheidewege. Eine Replik, von Alfred Weber. — Literatur. 

Landwirtschaftliche Jahrbücher. Bd. XXXI (1902), Heft 5/6: Theorie der 
Hygroskopicität, von H. Rodenwald (Kiel). — Ländliche und städtische Arbeiter (Ein 
Vergleich ihrer Budgets), von Frz. Heiser (Harttung). — Rheinlands Pferdezucht im 
Lichte der Statistik, von Oldenburg (Bonn). — IV. Bericht über die Versuchswirtschaft 
Lauchstädt der Landwirtschaftskammer für die Provinz Sachsen. Umfassend die Jahre 
1899—1901. Herausgeg. von W. Schneidewind. 

Masius Rundschau. Blätter für Versicherungswissenschaft. N. Folge. Jahrg. XV, 
1903, Heft 1: 1901. Ein Rückblick. — Deutscher Vereinfür Versicherungswissenschaft. — 
Die Abteilung für freiwillige Versicherungen bei der Landes-Wrandversicherungsanstalt 
im KReich Sachsen. — Die sogenannte Beleihung von Versienerungsseheinen durch 
Lebensversicherungsanstalten. — Die Abnahme der Sterblichkeit. — ete. 


288 Die periodische Presse Deutschlands. 


Neue Zeit, die. Jahrg. XXI, Bd. I, N' 12 bis 16, vom 20. XII. 1902 bis 
17. I. 1903: Zur Geschichte der Sozialpädagogik, von Akademikus. -— Die sozialem: 
kratische Bewegung in Kroatien, von M. P. — Imperialistische Politik, von M. Beer. 
— Die Baugewerkinspektion, von Herm. Heinke. — Tolstoys Weltanschauung in ihrer 
Entwickelung, von S. Perlmutter. — Gewerkschaften und Krankenversicherung, von 
G. Rössing (Nürnberg) — Sozialpolitische Umschau, von E. Wurm. —  Kartellfrzagen, 
von Heinr. Cunow: 1. Kartelle, Krisenbeseitigung und Marktregelung. — Vierzig Jahre 
Darwinismus, von Wilh. Bólsche. — Die amtliche und die gewerkschaftliche Streiksta- 
tistik, von K. Legien. — Ein amerikanisches Romanepos, von M. Bach (London). — 
Lehren des französischen Bergarbeiterstreiks, von B. Kritschewsky. — Aerztliche Kunst 
und medizinische Wissenschaft, von Georg Wagner. — Beitrag zum Problem der Moral, 
von Rob. Michels. — Die Glasindustrie und ihre Arbeiter, von G. Horn. — Notizen: 
Marat als Kriminalist. — Sombarts „historische“ Sozialtheorie, von Max Adler (I. Art.). 
— Industriewucher, von Gust. Hoch (Hanau). — Reichsfinanzen- und Finanzreform, 
von Alb. Südekum. — Jaurès und die französische Kirchenpolitik, von K. Kautsky. — 
Notizen: Die Krisis im Baugewerbe, etc. 

Preußische Jahrbücher. Herausgeg. von Hans Delbrück. Bd. 111, Heft 2, 
Februar 1903: Aus dem Laboratorium des Lebens, von Ed. v. Hartmann (Groß-Lichter- 
felde). — Wie schildert der Historiker die Persönlichkeit im Rahmen der allgemeinen 
Geschichte? von Gust. Lambeck. — In türkischen Diensten, von Ernst v. Düring (Prof. 
d. Medizin, Kiel). — Die Rückkehr Lassalles nach Berlin (1857/58), von Herm. Oncken 
(Privdoz. d. Geschichte, Univ. Berlin). — Politische Korrespondenz: Das russische 
Budget, von Paul Rohrbach. — etc. 

Rechtsschutz, gewerblicher, und Urheberrecht. Jahrg. VII, 1902, N" 12, 
Dezember: Bemerkungen zum Entwurf eines Gesetzes, betreffend das Urheberrecht an 
Werken der Photographie, von Alb. Osterrieth (Forts. und Schluß). — Zur Auslegung 
des $ 21 des Gesetzes, betreffend die Patentanwälte. Warenzeichenrecht: Rechtsprechung. 
— etc. 

Revue, soziale. Zeitschrift für die sozialen Fragen der Gegenwart. Herausgeg. 
von Jos. Burg. Jahrg. III, 1903, 1. Quartalsheft: Aus fernen Landen, von Hesse- 
Wartegg (S. 9 ff.: Die Zustände in Venezuela). — Arbeitsvertrag und deutsches Privat- 
recht, von (Privdoz.) Frz. Walter (München). — Die irische Frage, von J. W. Knight. 
— Der Sozialismus in seiner neueren Entwickelung, von Frz. Meffert (M-Gladbach). 
— Der Katholizismus und das zwanzigste Jahrhundert, von (Prof. Mgr.) Weinand 
(Aachen). — Die Not unserer Schauspielerinnen, von Tony Kellen. — Konfession und 
soziale Schichtung in Baden, von A. Neher (Deisslingen). — Aus der sozialen Welt: 
Wiesbadener Frauentage; Der Kongreß zur internationalen Bekämpfung des Mädchen- 
handels; Aus der Arbeiterbewegung der Gegenwart; Die Prostitution in Paris. — etc. 

Zeitschrift für Sozialwissenschaft. Herausgeg. von (Prof.) Jul. Wolf (Breslau). 
Jahrg. VL, 1903, Heft 1: Friderizianischer Sozialismus, von (Privdoz.) Max Fleisch- 
mann (Halle a/S.) (Art. I]. — Ueber den Einfluß der Fabrikarbeit auf die geistige 
Entwickelung der Arbeiterschaft, von Fr. Schuler (eidgen. Fabrikinsp. a. D. in Mollis). 
— Das Rassenproblem in der Weltwirtschaft, von Julius Wolf. — Die Vertrustung der 
Tabak verarbeitenden Industrien in den Verein. Staaten von Amerika, von Glier (Char- 
lottenburg). — Sozialpolitik: Die Dienstbotenversicherung, von (StadtR.) H. v. Franken- 
berg (Braunschweig). — Miszellen. — ete. 


Frommannsche Buchdruckerei (Hermann Pohle) in Jena, 


Josef Kulischer, Zur Entwickelungsgeschichte des Kapitalzinses. 289 


Nachdruck verboten. 


V 


Zur Entwickelungsgeschichte des Kapital- 
zinses. 
Von 
Josef Kulischer in St. Petersburg. 


Dritte (letzte) Abhandlung !). 
Der Kapitalgewinn im 19. Jahrhundert. 


(Fortsetzung und Schluß.) 


VIII. 

Die überwiegend grófite Anzahl der Erfinder, deren Schópfungen 
die Industrie seit Anfang des 19. Jahrhunderts bis in die 60er Jahre 
benutzte und noch darüber hinaus, hat aus den Produkten ihrer 
Arbeit gar keinen Vorteil gezogen, einen Anteil an dem neu ge- 
schaffenen Produktionsquantum nicht erhalten. Watt, zum Teil auch 
Arkwright, bildeten Ausnahmen: ihnen gewährte das Patent während 
eines gewissen Zeitraumes Schutz und ermöglichte ihnen, einen Teil 
des von ihren Maschinen Produzierten sich auch wirklich zahlen zu 
lassen. Die größten Erfindungen, deren Anwendung in die zweite 
Hälfte des 19. Jahrhunderts fällt, erfreuen sich dagegen im all- 
gemeinen eines Schutzes seitens der Patentgesetzgebung und Patent- 
rechtsprechung und während einer Frist von ca. 15 Jahren beziehen 
die Erfinder einen Entgelt für die Anwendung ihrer Geistesprodukte 
seitens des Unternehmers. Was damals eine seltene Ausnahme war, 
Ist Jetzt allgemein üblich geworden. 

. Trotzdem kann es ihnen ebensowenig wie Arkwright und Watt 
gelingen, den ganzen Güterüberschuß, den ihre Erfindungen, im 
Produktionsprozeß angewandt, verschaffen, für sich zu behalten. Dies 
könnte nämlich nur dann geschehen, wenn die Dauer des Patents 
mit der Dauer der Anwendung der Erfindung in der Industrie zu- 
sammenfiele. Würde das gewerbliche Urheberrecht auf die ganze 
Zeit ausgedehnt werden, wo die Erfindung benutzt wird und erst 
dann aufhören, wenn auch die Erfindung vollständig beseitigt ist, 


1) Erste Abhandlung (Der Handelsgewinn bis zum 18. Jahrhundert), Jahrbücher, 
HI. F. Bd. XVIII, 1899, S. 305—371; zweite Abhandlung (Das mittelalterliche Hand- 
werk und die Hausindustrie des 16.—18. Jahrhunderts), II. F. Bd. XIX, 1900, 
8. 449—470 und 593--647. 


Dritte Folge Bd. XXV (LXXX). 19 


290 Josef Kulischer, 


so würde natürlich der gesamte Güterüberschuß, den die Erfindung 
gewährt, in den Händen des Erfinders verbleiben. Dasselbe Resultat 
dürfte sich ergeben, wenn die Erfindung eine so geringe Bedeutung 
für die Produktion besitzt, daß sie innerhalb der üblichen Zeit des 
Patentschutzes bereits durch eine andere ersetzt wird. Wenn für 
kleine, wenig vorteihafte Verbesserungen die zweite Annahme in der 
Tat öfters eintritt, so müßte man für bedeutende Erfindungen, welche 
jahrzehntelang, vielleicht wie die Dampfmaschine jahrhundertelang 
benutzt werden, den Patentschutz auf entsprechende Zeitperioden 
ausdehnen, wollte man auch in diesen Fällen den ganzen Güter- 
überschuß dem Erfinder allein zusprechen, denn auch dann, wenn 
eine Menge von Verbesserungen an der ursprünglichen Erfindung 
angebracht sind, lebt ja die Erfindung in ihrem Wesen unverändert 
fort, nur wird zu dem damals erzeugten Mehrprodukt noch ein 
weiteres Plus hinzugefügt. Da nun aber in Wirklichkeit dem Er- 
finder nur während einiger Jahre das Recht zugesprochen wird, von 
seiner Schöpfung Vorteil zu ziehen, so bleibt eine überaus große Güter- 
quantität übrig, welche die Erfindung nach Erlöschen des Patents 
produziert. Diese Güterquantität sammelt sich in den Händen der 
Unternehmer an, welche nachdem die Patentfrist abgelaufen, für die 
Anwendung der Erfindung gar nichts mehr zu zahlen brauchen. Und 
daß dieses Mehr an Gütern auch zu einem Mehr an Wert wird, 
dafür sorgt die monopolistische Stellung, in welcher sich die Fabri- 
kanten befinden, die diese Erfindungen einführen, bevor dieselben 
allgemein gebräuchlich werden. Zur Ausbeutung des Monopols 
haben sie reichlich Zeit, weil die großen Erfindungen der zweiten 
Hälfte des 19. Jahrhunderts sich in den meisten Fällen nur um ein 
weniges schneller verbreiten, als dies in der ersten Hälfte des Jahr- 
hunderts geschah. Die großen Kapitalien, welche die Einführung 
einer vollständig neuen Produktionsmethode erheischt, die Notwendig- 
keit, sämtliche Apparate und Maschinen derselben anzupassen, die 
vorhandenen kostspieligen Einrichtungen beiseite zu stellen, und 
durch andere teuerere zu ersetzen, dies alles hält die Einführung 
der neuen Erfindung in engen Schranken, läßt eine nur allmähliche 
schrittweise Verbreitung zu und gewährt den Unternehmern, welche 
die nötigen großen Mittel besitzen und die Bedeutung der neuen 
Erfindungen für die Industrie zu würdigen wissen — denn auch 
die Voreingenommenheit gegen dieselben macht das ihrige — eine 
SE Stellung, welche sie Jahrzehnte hindurch ausbeuten 
ünnen. 

Die größten Erfindungen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahr- 
hunderts zur Anwendung gebracht wurden, sind auf dem Gebiete 
der Eisen- und Stahlindustrie gemacht worden. Und wie langsam 
haben sie sich verbreitet, wie gering war die Konkurrenz für die 
diese Erfindungen anwendenden Fabrikanten Jahrzehnte hindurch! „Die 
Verbesserung des Frischprozesses — sagt Schmoller — seine Um- 
wandlung in den Puddelprozeß (d. i. die Entkohlung in geschlossenen 
Flammófen mit mechanischer Umrührung) beginnt wohl 1784, wird 


Zur Entwickelungsgeschichte des Kapitalzinses.t 991 


aber erst 1824—36 recht durchführbar, vollzieht sich auf dem 
Kontinent jedoch erst 1846—1870. An den Fortschritt des Puddel- 
prozesses schließt sich der des Hämmerns durch den Dampfhammer, 
der 1842 durch Nasmyth erfunden wurde, und des Walzens mit 
mechanischer Kraft, die sich auch erst 1840—1870 recht durch- 
getzten“!). Ein Zeitraum von 30 Jahren ist es also, den diese Er- 
fndungen brauchen, um allgemeiner zur Anwendung zu gelangen, 
30 Jahre erfreuen sich die Unternehmer eines Monopols, und können 
angesichts desselben das ihnen aus den Erfindungen zufließende Mehr- 
produkt ungestört in Mehrwert verwandeln. 
Noch wichtiger sind aber die neuen Methoden der Stahlgewinnung 
(n den 50er Jahren erfunden), auf welchem Gebiete Siemens und 
Martin, insbesondere aber Bessemer durch ihre bahnbrechenden 
Schöpfungen berühmt geworden sind. Für seine neue Anwendungs- 
weise mußte Bessemer vollkommen neue Apparate erfinden 2), die 
Eisenwerke mußten auf Grund der neuen Technik gänzlich umgebaut 
werden. Für den Bessemerprozeß waren große Anlagekapitalien 
nötig, ein auf Produktion großer Massen gerichteter Betrieb, um- 
fangreiche maschinelle und Roheisenlager, „umfassende Apparate zur 
Bewegung der Konverter, zur Herbeibringung und Fortschaffung der 
Produkte, zum schmelzen des Roheisens, deren Anschaffungs-, Er- 
haltungskosten und Amortisation große Mittel verlangten“). Ist 
da zu verwundern, wenn die Ausbreitung des neuen Verfahrens 
von 1860—1890 dauerte, daß der Umbau 30 Jahre erforderte +)? 
Ja sogar im Jahre 1890 wurden in England noch 32,3 Proz., in 
Deutschland 41,2 Proz. der gesamten Produktion von schmiedbarem 
Eisen in Puddelöfen erzeugt. Das Schweißeisen war also auch nach 
30 Jahren seit der Einführung der neuen Produktionsmethode noch 
lange nicht verdrängt’). Und vielen erschien ja, als Bessemer zur 
Verwirklichung seiner Idee 1854 sein erstes Patent nahm, das 
Unternehmen als lächerlich. Selbst 1862, wo Bessemer bereits wirk- 
liche Proben seines Verfahrens vorlegen konnte, fand die Erfindung 
nicht gerechte Würdigung und den produzierten Fabrikaten wurde 
sogar der Charakter des Stahls abgesprochen). Auch dieser Um- 
stand hat nicht wenig dazu beigetragen, daß Bessemer nur den ge- 
fingsten Teil von dem Ueberschußprodukt erhielt, welches seine Er- 
fndung lieferte, da dieselbe während der Patentdauer nur wenig 
angewandt und erst später mehr beachtet wurde. 
Aehnliches können wir auch auf anderen Gebieten der Industrie 


1) Schmoller, GrundriB, I, S. 216. 

2) Witt, Die deutsche chemische Industrie in ihren Beziehungen zum Patentwesen. 
Berlin 1803, S. 34. 

3) Sinzheimer, Der volkswirtschaftliche Charakter der technischen Entwickelung 
des deutschen Eisenhüttengewerbes. München 1892, Diss., S. 52—53, 69. 

4) Schmoller, Grundriß, I, S. 216. 

5) Sinzheimer, Ueber die Grenzen der Weiterbildung des fabrikmäßigen Groß- 
betriebes in Deutschland. Stuttgart 1893, S. 190. 
3 6) Reuleaux, Das Buch der Erfindungen, 8. Aufl, Bd. 4, Leipzig und Berlin 1890, 

. 199. 


19* 


292 Josef Kulischer, 


beobachten. Der Selfaktor, die höchste Vollendung der Mulemaschine, 
da der Spinner hier gar nichts mehr zu tun hat, als die Maschine zu 
leiten und zu überwachen, wurde von Roberts 1825 erfunden, in 
den nächsten Jahren bis 1830 von ihm verbessert und schon in den 
30er Jahren zur Anwendung gebracht !). Trotzdem hat der Selfaktor in 
England erst nach 20 Jahren die Herrschaft errungen; in Deutschland 
vollzog sich diese Entwickelung noch viel später — in den 70er Jahren: 
1877 sind 76,9 Proz. der deutschen Industrie Selfaktoren ?2). In der 
Wollen- und Leineweberei wird der von Kartwright erfundene Kraft- 
stuhl — wie oben gezeigt — seit 1860 in größerem Maßstabe ein- 
geführt, sein Sieg fällt jedoch erst in das letzte Jahrzehnt des 
vorigen Jahrhunderts. Die neueste wichtige Erfindung ist die An- 
wendung der Elektrizität in der Industrie mittels der Dynamo- 
maschine, welche durch die Möglichkeit der Kraftaufspeicherung 
und leichtere Uebertragbarkeit ein mächtiger Konkurrent der Dampf- 
maschine geworden ist. Vor 25 Jahren hat der Verdrängungsprozeß 
begonnen und doch ist die Kraftverwendung noch so gering, daß 
man „ihre künftige Wirksamkeit mehr ahnen als genauer bestimmen 
kann“, obwohl sich schon jetzt voraussagen läßt, daß eine völlige 
Umwandlung der Metallurgie wie der chemischen Industrie durch 
die Elektrizität in den künftigen Jahrzehnten stattfinden muß). 

Wie man sieht, bilden auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahr- 
hunderts die großen Erfindungen — wir haben hier der Kürze halber 
nur die allergrößten berührt — eine Quelle des Kapitalgewinnes. 
Denn nach Abschluß der 15-jährigen Patentfrist bezieht der Unter- 
nehmer das ganze Mehr an Produkten, das die neue Erfindung gegen- 
über den früheren Produktionsmethoden liefert; und die langsame 
Ausbreitung derselben in der Produktion ermöglicht ihm während 
eines langen ca. 30-jährigen Zeitraums einen die verminderten 
Kosten übersteigenden Preis zu erhalten; anfangs werden die Waren 
zum früheren Preise abgesetzt, später zwar zu einem geringeren 
Preise, jedoch auch dann steht der Preis noch immer viel höher, als 
er entsprechend den Auslagen des Unternehmers sich gestalten 
könnte. 

Doch mit diesen und ähnlichen bahnbrechenden Erfindungen ist 
die Sache nicht abgetan. Neben ihnen steht eine Reihe anderer, 
viel geringerer, jedoch durch ihre große Anzahl in ihrer Gesamtheit 
sehr bedeutender Verbesserungen und Vervollkommnungen, welche 
auf alle mögliche Weise Ersparungen an Arbeitskraft zu erlangen 
suchen und zusammen eine große Masse an Mehrprodukt gegenüber 
der früheren Technik hervorbringen. Zeichnet sich ja die zweite 
Hälfte des 19. Jahrhunderts gerade dadurch aus, daß die Technik 
sich eine vollständige Verdrängung des Menschen aus dem Arbeits- 
prozeß zum Ziele gesetzt und dieses Ziel schon teilweise erreicht 


1) Karmarsch, Geschichte der Technologie seit der Mitte des 18. Jahrh., S. 615. 
2) Schulze-Gaevernitz, S. 116 u. Anm. 1. 
3) Sehmoller, Grundriß, I, S. 213—215. 


Zur Entwickelungsgeschichte des Kapitalzinses. 293 


hat. Natürlich konnte dies nur mittels einer großen Masse von 
Erfindungen zu stande kommen, nur ein Werk vieler Tausende und 
‚ber Tausende von Köpfen bilden, nur als Resultat des Zusammen- 
arbeitens zwar nicht hervorragender Pfadfinder, jedoch kenntnis- 
richer und geistvoller Techniker, Mechaniker, Chemiker sich er- 
geben. 

" Für diese zweite Gruppe von Erfindungen, die in raschem 
Wechsel aufeinander folgen, häufig auch einander ablösen, könnte 
de Dauer des heutigen Patentschutzes in manchen Fällen genügen‘, 
insoweit nämlich die eine Erfindung durch eine nachfolgende vorteil- 
haftere verdrängt wird, wiewohl für solche Verbesserungen, welche 
durch spätere nur ergänzt, nicht aufgehoben werden, 15 Jahre nicht 
ausreichen können, dem Erfinder das Produkt seiner Arbeit voll- 
ständig zu gewähren. In beiden Fällen jedoch hilft der Patentschutz 
dem Erfinder nur wenig und die Ursache liegt in der abhängigen 
Stellung, welche er dem Unternehmer gegenüber einnimmt. Gleich 
dem ausführenden Arbeiter ist auch er, dessen Tätigkeit in schöpfe- 
rischer Arbeit besteht, Lohnarbeiter des Unternehmers, der zu einem 
im voraus bestimmten Lohn gedingt wird und weiter keine Ansprüche 
am fertigen Produkt besitzt. Seine Aufgabe besteht in der Vervoll- 
kommnung der Produktionsweise, während auf die Ausbeutung der- 
selben ein Patent entweder gar nicht genommen wird, so daß sie 
Geheimnis der Unternehmung bleibt oder der Unternehmer sich die 
Neuerung patentieren läßt, also auch in diesem Falle er, nicht der 
Erfinder, im Besitze des Patents erscheint. Denn die Angestellten 
und Arbeiter einer Fabrik erwerben nach dem herrschenden Patent- 
recht das Erfinderrecht für sich selbst nur dann (es handelt 
sch natürlich um Erfindungen auf dem Gebiete des betreffenden 
Fabrikationszweiges), wenn sie die Erfindung ohne Benutzung der 
Einrichtungen der Fabrik ausführen. Besteht aber die Erfindung 
in einer Arbeit, welche der Erfinder infolge seines Dienstvertrages 
auszuführen hat, so erwirbt er kein Erfinderrecht. Auf diese Weise 
ist „in gewerblichen Unternehmungen sogar regelmäßig ein abge- 
leitetes Erfinderrecht des Geschäftsherrn an Erfindungen, die von 
ständig angestellten Technikern in ihrer dienstlichen Tätigkeit ge- 
macht werden, ohne weiteres als vereinbart anzunehmen“ !). Als 
verstürkend kommt noch der Umstand hinzu, daß selbst in den- 
jenigen Fällen, wo die Erfindung außerhalb der Fabrik zu stande 
kommt, der Erfinder durch Mangel an Geldmitteln gezwungen ist, 
im voraus seine Erfindung an einen Unternehmer zu übertragen. 
Es wird dann durch Vertrag im voraus bedungen, dafi das Erfinder- 
recht sofort mit seiner Entstehung an den Unternehmer übergehen 
soll. Solche Verträge zwischen Geschäftsherrn und Angestellten — 
sagt Gierke — sind sehr häufig ?), nicht minder häufig vielleicht als 
diejenigen Fälle, wo durch bloßes Dienstverhältnis die Erfindung dem 


1) Gierke, Deutsches Privatrecht, Bd. 1, Leipzig 1895, S. 869—870. 
2) Gierke, I, 8. 869 und Anm. 45. 


294 Josef Kulischer, 


Unternehmer zufällt. In dem Wittschen Buche von der chemischen 
Industrie im weitern Sinne, wo die chemische Seite sämtlicher In- 
dustriezweige, wie Eisen-, Textilindustrie, Industrie der Farbstoffe 
etc. behandelt wird, liest man jedesmal bei Patentanmeldungen, von 
Fabriken oder Firmen, denen das Patent erteilt wird, nur ausnahms- 
weise kommen dagegen selbständige Erfinder vor !). 

Diese abhángige Stellung der Erfinder hat aber sehr viel zu 
bedeuten. Denn daß die unselbständigen im Dienste des Unter- 
tehmers stehenden Kräfte, in deren Hand die Befruchtung der Fabri- 
kation durch die Technik gelegt ist, einen bedeutenden Teil ihres 
Arbeitsprodukts dem Unternehmer überlassen müssen, wird sofort 
klar, wenn man erwägt, daß der Mangel an den für ihre Experimente 
und Konstruktionen nótigen kostspieligen Einrichtungen, Hilfsmitteln 
und Instrumenten sie dazu zwingen muf, die Bedingungen anzu- 
nehmen, welche ihnen der Fabrikant diktiert, wie ungünstig dieselben 
öfters auch sein mögen; daß hierin eine wichtige Ursache der Er- 
scheinungen liegt, die wir oft beobachten kónnen, wenn wir begabte 
technische Fachkräfte um eine geringe Belohnung im voraus alle 
die bedeutenden Schópfungen ihres Geistes überlassen sehen, durch 
welche später die Produktionsweise so bedeutende Vervollkommnung 
erfährt und der Betrieb in hohe Blüte gebracht wird. Hier treffen 
wir also dieselben Verhältnisse, die so häufig in der Stellung der 
ausführenden (physischen) Arbeit dem Unternehmer gegenüber be- 
tont werden. Wenn aber die große Lohnarbeiterklasse im stande 
ist, diese ungünstigen Umstünde auf andere Weise auszugleichen, 
wenn sie das Produkt ihrer Hände durch feste Einigung, durch 
straffe Organisation sich verschaffen kann?), so fehlt dem tech- 
nischen Beamtenpersonal der Unternehmungen diese Möglichkeit. 
Die Ueberfülung der technischen Berufe hat insbesondere in der 
letzten Zeit eine verschürfte Konkurrenz hervorgerufen, eine gegen- 
seitige Unterbietung, welche einen immer weitergehenden Lohndruck 
für diese Klasse geistiger Arbeiter herbeiführt. „Es vergrößert sich 
— sagt Sombart — die Schar der künstlerisch und wissenschaftlich 
Ausgebildeten von Jahr zu Jahr, vergrößert sich aber auch die 
„Reservearmee“ des geistigen Proletariats, aus dem nun der kapita- 
listische Unternehmer „zu den günstigsten Bedingungen“ seinen Be- 
darf an Produktionsseele decken kann“ 3). 

Nun fallen zwar die Resultate, die mit der Anstellung tech- 
nischer Fachkräfte erzielt werden, verschieden aus; denn verschieden 
ist ihre Intelligenz, Kenntnisse und Begabung, verschieden auch die 
Größe der Geldmittel, die zur Ausstattung der Einrichtungen vom Unter- 
nehmer zur Verfügung gestellt werden können. Die größten Hütten-, 
Eisen- und Stahlwerke besitzen einen Stab wissenschaftlich-tech- 
nischer Kräfte, der alle denkbaren Fortschritte der Chemie, der 


1) Witt, Die deutsche chemische Industrie in ihren Beziehungen zum Patentwesen. 
Berlin 1893, passim, insbesondere S. 97—99, 101, 103, 105, 109, 118, 120, 122. 

2) S. das folgende Kapitel. 

3) Sombart, Der moderne Kapitalismus, Bd. II, Leipzig 1902, S. 443. 


Zur Entwickelungsgeschichte des Kapitalzinses. 295 


Physik und der Mechanik auf die wirtschaftliche Produktion an- 
wendet'!). Die amerikanischen Trusts haben ganze Versuchsstationen 
errichtet, in denen geschulte Techniker immer neue Experimente 
ausführen und neue Vervollkommnungen im Fabrikationsprozeß ein- 
füren ?) Zum Kruppschen Etablissement gehören eine Probiranstalt 
in der 1898 143 Festigkeitsversuche stattfanden, ein chemisches Be- 
tiebslaboratorium, wo 1898 24567 Analysen ausgeführt wurden, 
wd eine chemisch-physikalische Versuchsanstalt®). Doch auch andere 
Betriebe von nicht so großem Umfange beschäftigen eine mehr oder 
weniger bedeutende Anzahl von Technikern, denen spezielle Auf- 
gben zugewiesen sind, die Erfindung und Einführung von Ver- 
beserungen, welche der Unternehmung in dieser oder jener Hinsicht 
een Vorsprung gewähren könnten. Nicht bloß in Maschinen- und 
Werkzeugfabriken, Eisenbahnwagen- und Schiffsbauanstalten, sondern 
auch in Spiritusbrennereien und Zuckerfabriken, Glasfabriken, Farben- 
fabriken, in der Textilindustrie und vielen anderen Industriezweigen 
werden beträchtliche Mittel aufgewendet, um auf diese Weise mit 
neuen Apparaten und Methoden auf dem Weltmarkte konkurrieren 
zu können‘). Die Wirksamkeit der wissenschaftlich - technischen 
Talente, die heute gleichsam die Seele der technischen Produktion 
bildet, besteht in einer fortwährenden lebendigen Fühlung mit dem 
Produktionsorganismus, die auf keine andere Weise ersetzt werden 
kann 5). So werden in der modernen Industrie dem Techniker immer 


1) Schmoller, Grundriß, I, S. 217. 

2) Janschul, Die Unternehmerverbände in den Vereinigten Staaten von Nord- 
amerika (russ.). St. Petersburg 1895, S. 217, 380. 

3) Statistik des Deutschen Reichs. Neue Folge, Bd. 119, S. 159—160. 

4) In der Berufs- und Gewerbezählung im Deutschen Reiche vom 14. Juni 1895 
Wurden in Gruppe 13 (Industrie und Bergbau) 109 248 Personen als technisches Auf- 
sihtspersonal gezählt, darunter ca. 50 000 (49 492) technisch gebildete Betriebsbeamte 
(Betriebsinspektoren, Ingenieure, Chemiker ete.) und Volontäre, was 6 Proz. der Er- 
werbstätigen dieser Gruppe ausmacht. Berufliche und soziale Gliederung des deutschen 
Volkes. Statistik des Deutschen Reichs, N. F. Bd. 111, Berlin 1899, S. 71. 

5) Sombart, Bd. II, S. 443 u. Anm. „Zahlreiche Meßwerkzeuge spezieller Art 
und Dimensionierung, präzise Indikatoren, Registrirapparate, physikalische Hilfsvorrich- 
tungen, wie z. B. Polarisationsinstrumente, Spektroskope, Manometer, Bremsdynamometer 
US. w.‘“ (Herrmann, Technische Fragen und Probleme, S. 297) sind durch solche 
lebendige Fühlung der Technik mit der wirtschaftlichen Produktion zustande gekommen, 
als Geheimnis der Betriebe, in denen sie durch technische Fachkräfte erfunden. Nicht 
minder wichtig ist die Rolle des Chemikers in der Industrie. Herrmann schildert uns 
eine Tätigkeit im Brauereigewerbe. Hier, wo der technische Prozeß mit Hilfe der 
Gährung ausgeführt wird, hängt er in hohem Grade von den Gürungs- und Fäulnis- 
erregern (besonders den essigbildenden Bakterien) ab; der Chemiker untersucht nun „die 
Luft im Brauhause auf ihre Temperatur, ihren Staubgehalt, ihre Feuchtigkeit (wegen 
des Mälzens), prüft ihren Gehalt an Schimmel-, Sproß- und Stäbchenpilzen. Er er. 
forscht alle Wege, auf welchen Temperaturünderungen, Staub, Feuchtigkeit, Pilze u. s. w. 
in die Werksrüume und Keller gelangen, den Einfluß der verschiedenen Hefeformen, 
sowie gewisser Parasiten derselben (Fäulnispilze ete.) auf den Brauprozeß‘“, ja er sucht 
sogar festzustellen, „welchen Einfluß die Hefestäubehen aus der Luft einer benachbarten 
Spiritus- oder Preßhefefabrik, einer Bäckerei, Weinkellerei oder wohl gar die Schleim- 
Pilze einer nicht sehr entfernten Zuckerfabrik auf den Brauprozeß nehmen“. (Techn. 
Fragen 8.297—98). Wenn man bedenkt, vom wie großem Einflusse die verschiedenen 

Parasiten und Bakterien auf den GürungsprozeB sein müssen, wie sie denselben ins- 


296 Josef Kulischer, 


neue Bahnen von seiten des Unternehmers gewiesen, es werden Tag 
für Tag neue Verbesserungen gemacht, das Tempo der Neuerungen 
wird in einem früheren Zeiten unbekannten und unerreichbaren Maße 
gesteigert. „Der Fortschritt ist heute nicht ein so sprungweiser 
wie in früheren Epochen, er wird vielmehr stetig und unter Beihilfe 
und Mitwirkung von Hunderttausenden von Fachkräften gemacht 
als tägliche Arbeitsaufgabe; nicht als ideale Aufopferung an einen 
Lieblingsgedanken, sondern als Erwerbsangelegenheit* !) Und dies 
geschieht in einem desto größeren Umfange, „je mehr die ver- 
schiedenen Zweige der Technik, Mechanik und Chemie in die Gruppe 
jener Disziplinen treten, in denen Erfindungen nicht mehr die Gabe 
eines glücklichen Zufalles, sondern das Produkt einer mehr kon- 
struktiven Tätigkeit, der Kombination bekannter Hilfsmittel zur Er- 
Zielung eines neuen Zweckes darstellen“ ?); je mehr an Stelle des 
Probirens das Experiment tritt, „an Stelle des versuchsweisen Tastens 
das planmäßige und methodische Suchen auf Grund der Kenntnis 
von den Zusammenhängen der bisherigen Verfahrungsweisen“ °). 
Die Großbetriebe sind jedenfalls im Vorsprung, die allergrößten 
haben von der Technik den größten Vorteil. Wie sie bei Beschaffung 
des Rohmaterials, bei Anleihen von Kapitalien dem Händler bezw. dem 
Kreditgeber vom Mehrprodukt am wenigsten abzugeben gezwungen 
sind, so sind sie es auch, welche zuerst die großen Erfindungen ein- 
führen und die stets eine Reihe kleinerer Verbesserungen besitzen, 
welche auf Namen der Firma patentiert und ihr Eigentum sind oder 
als Geheimnis der Unternehmung lange Zeit hindurch den Konkur- 
renten unbekannt bleiben. So erfreuen sie sich stets einer Aus- 
nahmestellung und die herrschenden Preise werfen ihnen einen über- 
durchschnittlichen Kapitalgewinn ab. Nach Martin stehen z. B. nur 
20 Proz. der Fabriken in der Streichgarnindustrie auf der Höhe der 
modernen Technik, während bei den übrigen 80 Proz. die neuesten 
technischen Fortschritte vermißt werden‘). Die durchschnittliche 
monatliche Produktion eines Hochofens in Deutschland betrug im 
Jahre 1891 1949 Tonnen, während dieselbe in der Ilseder Hütte sich 
auf 5888 Tonnen belief, trotz des gleichen Eisengehalts der ver- 
schmolzenen Erze?). „In den amerikanischen Walzwerken besteht 


besondere hemmen und auf die Qualität des Produkts unter gewissen Umständen schäd- 
lich wirken können, so wird man die hohe Bedeutung des Talents und der Kenntnisse 
der technisch-wissenschaftlichen Kräfte für die Rentabilität des Betriebs nicht verkennen, 
man wird zugestehen müssen, daß jede Untersuchung, durch welche der Einfluß der 
verschiedenen Momente auf den Produktionsprozeß klar geworden ist, solange dieselbe 
Geheimnis bleibt, der Unternehmung einen Vorsprung vor den Konkurrenten verschafft. 

1) Herrmann, Technische Fragen und Probleme der modernen Volkswirtschaft. 
Wien 1891, S. 15. 

2) Witt, S. 115, 61. 

3) Sombart, Bd. II, S. 64. 

4) Martin, Zur Verkürzung der Arbeitszeit in der mechanischen Textilindustrie. 
Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik, Bd. 8, S. 260. 

5) Sinzheimer, Weiterbildung des fabrikmäßigen Großbetriebs, S. 188. 


Zur Entwickelungsgeschichte des Kapitalzinses. 297 


deren ganzes Arbeiterpersonal lediglich in Maschinisten und kein 
Mensch ist als Walzer beschäftigt, sondern lediglich mechanische 
Vorrichtungen besorgen den Transport des Walzguts von einer Straße 
zur anderen, das Ueberheben desselben, den Transport von den 
Walzen bis zur Schere und zum Transportwagen.“ Auch in Deutsch- 
land gibt es einige Werke mit so vollkommenen Einrichtungen, „aber 
welch ein Unterschied besteht zwischen den großartigen Einrichtungen 
des Hörder Vereins oder des Höschschen Stahlwerks und zahlreichen 
großen Walzwerken in Rheinland-Westfalen und in Schlesien“ 1). Doch 
auch die großen Betriebe folgen allmählich den allergrößten in der 
Anwendung neuer Erfindungen nach, besitzen auch selbst zahlreiche 
Verbesserungen, die sie im geheimen halten. Dadurch sind auch sie 
instande, im Warenpreise mehr als die bloßen Produktionsanlagen 
zu erhalten. In den 20 Jahren von 1875—1895 haben in der 
deutschen Eisenproduktion die Puddelöfen um 52 Proz. abgenommen, 
die Flußeisenöfen um 58 Proz., dagegen weisen die Bessemerbirnen 
eine Zunahme von 40!/, Proz. auf. Doch gab es auch im Jahre 
1895 bloß 30 Betriebe mit Bessemerbirnen gegenüber 128 und 121 
Betrieben, wo Eisen in Siemens-Martin-(Flußeisen-) bezw. Puddel- 
öfen erzeugt wurde. Nun ist „der Bessemerprozeß technisch nur in 
der Form des Großbetriebs denkbar, weil nur bei einem gewissen 
Minimaleinsatz die zur Durchführung des Prozesses erforderliche 
Hitze erzeugt werden kann“, dagegen sind die Anlagen bei Fluß- 
eisenproduktion weniger groß und noch viel geringer sind sie beim 
Puddeln 2). In der Tat im Jahre 1805 waren unter den Betrieben, 
in denen Puddelöfen benutzt wurden noch 4 solche vorhanden, wo 
das Personal nicht über 5 Personen hinausging, unter den Fluß- 
eisenfabriken 11 solche Kleinbetriebe?). Aus den angeführten Zahlen 
folgt einerseits, daß während um 1875 nur wenige großen, für jene 
Zeit die allergrößten Betriebe den Bessemerprozeß angewandt hatten, 
nach 20 Jahren bereits eine große Anzahl von Betrieben, wohl alle 
Großbetriebe die neue Erfindung benutzten; andererseits aber, daß 
auch um 1895 eine bedeutende Anzahl von Mittel- und sogar 
Kleinbetrieben existierte, welche mit veralteten Verfahrungsweisen 
arbeiteten, die Riesen- und Großbetriebe also noch einen ansehn- 
lichen Gewinn bezogen aus der großen Schöpfung Bessemers. Erst 
wenn auch die mittleren und kleinen Unternehmungen die Pro- 
duktionsweise entsprechend dem neuesten Stande der Technik ver- 
ändert haben, wird der Preis herabgedrückt und der Gewinn, den 
die letzten Erfindungen gebracht haben, muß fortfallen. Die großen 
und größeren Betriebe haben unterdessen wieder neue Erfindungen 
eingeführt und es vergehen wieder Jahrzehnte, bis dieselben allgemein 
geworden sind. Dagegen können offenbar die kleineren Betriebe, 


1) Sinzheimer, Ibid. S. 191. 
2) Sinzheimer, Entwickelung des deutschen Eisenhüttengewerbes, S. 52, 64. 
3) Statistik des Deutschen Reichs, N. F. Bd. 119, S. 147. 


298 Josef Kulischer, 


welche die neuen Erfindungen zuletzt in Anwendung bringen, aus 
der schöpferischen Arbeit keinen Gewinn ziehen. Die Erfindung 
wird zwar auch bei ihnen angebracht werden, aber nur deswegen, 
weil eben der Preis sich bereits entsprechend vermindert hat. So 
waren im Jahre 1883 in den verschiedenen Ländern nur 360 Cowper- 
und 770 Whitwell-Winderhitzungsapparate überhaupt im Betriebe; 
sie steigerten die Brennmaterialersparnis und Produktionserhöhung 
des Hochofens und verschafften jenen Unternehmungen, in denen 
sie angebracht waren, noch einen bedeutenden Gewinn; dagegen 
konnte schon in den 70er Jahren kein Betrieb mehr aus der Mineral- 
feuerung einen Vorteil ziehen, denn dieselbe war bereits die herr- 
schende geworden: in Deutschland machte die Holzkohleneisen- 
produktion 1871 nur 7 Proz. der Gesamtproduktion aus, im Jahre 
1878 sogar bloß 2 Proz., alles übrige war Steinkohlen- und Koks- 
eisenproduktion!) Diejenigen Betriebe, welche bei den alten Fabri- 
kationsmethoden verweilen, rentieren also nicht mehr, sie müssen 
die Produktion einstellen. Die übrigen kleineren Unternehmungen 
bringen zwar jedesmal die neuen technischen Umgestaltungen zu- 
stande, beziehen aber daraus keinen Gewinn: sie müssen entweder 
ganz ohne Kapitalgewinn bleiben, indem der selbstleitende Unter- 
nehmer sich vielleicht mit dem Unternehmerlohn begnügt oder zu- 
gleich als Kaufmann in der betreffenden Branche tätig ist?), oder 
indem der Kapitalgewinn anderwürts gesucht wird — durch Absatz 
in ferne Länder mit geringer Konkurrenz, insbesondere aber durch 
Lohndruck. Gelingt auch letzteres nicht, ist auch vom Arbeiter der 
Gewinn nicht herauszuschlagen, dann gibt es für kleinere Betriebe 
eben nur ein Mittel — die Kartellierung. 


Und bei der gegenwürtigen immer zunehmenden Macht von 
Groß- und Riesenbetrieben, bei der immer schneller vor sich gehen- 
den Verdrängung der menschlichen Arbeit durch die Maschine, ins- 
besondere aber bei der Stürkung der Arbeiterverbünde, wodurch es 
viel schwieriger, ja fast unmöglich wird, einen Gewinn vom Arbeiter 
zu erhalten ?), ist die Zusammenschließung der weniger großen Betriebe 
der einzige Ausweg, die Preise über den Auslagen zu halten. Nur durch 
Kartellorganisationen, durch Ausschluß der ungezügelten Konkurrenz 
auf dem Markte wird es móglich, einen Wertteil der schópferischen 
Arbeit als Kapitalgewinn für sich zu behalten; zu welchem Zwecke 
englische Arbeitgeber sogar Arbeiter zur Stütze des Unternehmer- 
verbandes herangezogen haben. Im Bewuftsein, dafi sie aus dem 
Kampf mit den Arbeitern nicht als Sieger hervorgehen kónnen, 
haben sie es vorgezogen, Frieden zu schließen und einen gemein- 
samen Kampf gegen den Konsumenten aufzunehmen, um sich gegen 


1) Sinzheimer, Entwickelung des Eisenhüttengewerbes, S. 16, 25—27. 

2) „Noch ist der deutsche Fabrikant (in der Baumwollindustrie) häufig nicht nur 
Fabrikant, sondern auch Kommissionür, Bankier, Hündler und selbst Detaillist zu 
gleicher Zeit." Sinzheimer, Großbetr., S. 173. Schulze-Gaevernitz, S. 110—112. 

3) Siehe das folgende Kapitel. 


Zur Entwickelungsgeschichte des Kapitalzinses. 299 


den schroffen Preisfall der Waren wehren zu können !). Wohl können 
ähnliche Resultate auch durch den Schutzzoll erreicht werden. Je- 
doch begünstigt gewöhnlich der Schutzzoll rückständige Produktions- 
methoden, da er ausländische Konkurrenz unmöglich macht. Dagegen 
haben die Unternehmerverbände, soweit ein Schutzzoll fehlt, die 
Konkurrenz stets zu fühlen, sie sind gezwungen, dem Fortschritt 
der Technik zu folgen; nur suchen sie auch selbst an den Früchten 
desselben teilzunehmen. Ohne dem Konsumenten den Genuß der 
neuen Erfindungen vorenthalten zu wollen, wie die geschützten In- 
dustrien es tun, indem sie keine Preisherabsetzung eintreten lassen, 
streben die Kartelle nur danach, den zu schnellen Preisfall der 
letzten Periode zu verlangsamen; vom Werte der Erfindung soll 
inen jedesmal ein Teil zurückbleiben, solange bis eine neue Er- 
fndung kommt. 


IX. 


Der Fortschritt, den das 19. Jahrhundert auf dem Gebiete der 
Industrie hervorgebracht hat, liegt nicht nur in der Verdrängung 
der menschlichen Arbeit durch die Maschine, sondern auch darin, 
daß, soweit die menschliche Arbeit den Produktionsprozefi leitet und 
überwacht, dieselbe — insbesondere während der zweiten Hälfte des 
Jahrhunderts — erheblich an Intelligenz gewonnen hat, an Umsicht, 
Verständnis und Ausdauer. Die komplizierten Maschinen mit ihrer 
wachsenden Geschwindigkeit und ihren zunehmenden Dimensionen 
erfordern eine gesteigerte Geistesanspannung, ein wohlüberlegtes und 
exaktes Arbeiten; oft stellen sie Anforderungen an die Schnellig- 
keit, Sicherheit des Auges und der Hand, an Geduld und Beharr- 
lichkeit des Leiters, die nur durch langjührige Uebung zu erwerben 
sind, durch Vererbung von einer Generation auf die andere. Durch 
die Anwendung des reich differenzierten Maschinensystems hat die 
fabrikmäßige Großindustrie eine geübte und rührige Arbeiterschaft 
erzeugt, ein verständnisvolles Eingehen auf die Technik der zu be- 
aufsichtigenden Maschine seitens des Arbeiters hervorgerufen. Der 
Fortschritt offenbart sich darin, daß derselbe Arbeiter, der früher 
mit genauer Not mit einer einzigen Maschine fertig werden konnte, 
gegenwärtig eine doppelte und dreifache Anzahl viel schnellerer und 
größerer Apparate überwacht, daß er viel weniger Zeit darauf ver- 
liert, das Material der Maschine zuzuführen und von derselben 
herunterzubringen, daß er Stockungen im Maschinengange meidet, 
die vorkommenden möglichst schnell zu beseitigen weiß. 

Diese Zunahme an Intensität der ausführenden Arbeit würde 
zugleich eine Steigerung der Arbeitsleistung bedeuten, wenn sie nicht 
mit einer Verkürzung der Arbeitszeit verbunden wäre, ja ohne die- 
selbe nicht geradezu unmöglich wäre. Die erhebliche Verminderung 
der früher üblichen Arbeitszeit, welche wir in den letzten Jahr- 


1) Liefmann, Die Allianzen, gemeinsame monopolistische Vereinigungen der Unter- 
nehmer und Arbeiter in England. In diesen Jahrbüchern, 1900, III. F. Bd. 20, S. 433 ff. 


300 Josef Kulischer, 


zehnten des 19. Jahrhunderts wahrnehmen können, hat die gesteigerte 
Produktivität der Arbeit pro Stunde aufgehoben, so daß Schulze- 
Gaevernitz recht hat, wenn er das ungeheuere Mehrerzeugnis, das 
im 19. Jahrhundert produziert ist, ausschließlich der erhöhten Pro- 
duktivität der schöpferischen Arbeit zuschreibt, als „Ergebnis der 
Geistesarbeit der Vergangenheit“ ansieht, „der Tausende von Ge- 
danken und Versuchen, welche in den Maschinen niedergelegt sind“ !). 
Zwar hat der verkürzte Arbeitstag nur selten einen entsprechenden, 
nicht immer überhaupt einen Ausfall am Produktionsertrag nach sich 
gezogen — er wurde durch die gesteigerte Intensität der Arbeit, 
durch größeren Fleiß und Aufmerksamkeit ausgeglichen, welche eben 
die Folgen der kürzeren Arbeitszeit waren, da lange Arbeitszeit und 
gemächliches Arbeiten durch größere Anspannung und Verausgabung 
an Kräften ersetzt worden ist. Viel häufiger ist daher eine Aende- 
rung in der Quantität des Produzierten nicht eingetreten, indem 
größere Intelligenz und Geschicklichkeit einerseits und geringere 
Arbeitszeit andererseits sich gegenseitig aufhoben. In den Fällen 
jedoch, wo das Produktionsquantum sogar gestiegen war, trotz des 
verkürzten Arbeitstages, war die Verminderung der Arbeitsstunden 
entweder mit Ersetzung des früheren Maschinenwerks durch voll- 
kommenere Apparate begleitet oder nur durch Benutzung besseren 
Rohmaterials und schnellerer Ausnützung der Maschinen möglich. 
In letzterem Falle war die Produktionssteigerung mit einer Erhöhung 
der Kosten verbunden, d. i. mit einer Vergrößerung der im früheren 
Produktionsstadium angewandten physischen Arbeit, in dem anderen 
Falle, wo neue Maschinen in Anwendung gebracht wurden, bedeutete 
dies zwar einen positiven Vorteil sowohl für den Unternehmer als 
für die Volkswirtschaft überhaupt, jedoch war dieser Gewinst nur 
deswegen erreicht, weil die Masse der in der Warenproduktion vor- 
handenen schöpferischen Arbeit durch die neue Erfindung sich ver- 
größert hatte. Soweit es also auf die physische Arbeit des Lohn- 
arbeiters ankommt, kann nicht behauptet werden, daß mit der Ver- 
kürzung des Arbeitstages eine Vergrößerung des Produktionsquantums 
zustande gebracht werden kann: durch größere Intensität kann 
höchstens in einer kürzeren Zeit dasselbe Quantum produziert 
werden, wenn aber noch etwas darüber hinaus sich herausstellt — 
was überhaupt nicht oft vorkommt — so wird es entweder durch 
entsprechende Arbeit einer vorhergehenden Produktionsperiode auf- 
gewogen und durch andere Auslagen des Unternehmers, bildet also 
in Wirklichkeit kein Mehr an Produkten, oder schöpferische, nicht 
physische Arbeit hat jenes Plus hervorgebracht. 

Parallel mit der Verkürzung der Arbeitszeit geht aber noch eine 
andere Bewegung, eine Steigerung der Löhne in der fabrikmäßigen 
Großindustrie, und zwar in erheblichem Maße. Diese Lohnerhöhung 
können wir in den verschiedensten Staaten beobachten. In England 
wird dieselbe auf 50—100 Proz. in der fünfzigjährigen Periode an- 


1) Schulze-Gaevernitz, Der Großbetrieb, S. 127. 


Zur Entwickelungsgeschichte des Kapitalzinses. 301 


gesetzt!). In den Vereinigten Staaten von Nordamerika betragen 
die Löhne vom Jahre 1890 — nach Caroll D. Wright — 168,6, wenn 
man jene von 1860 zu 100 annimmt; die von 1840 sind dann gleich 
82,5. Auch Aldrich behauptet, die Löhne seien in den Vereinigten 
Staaten in den 30 Jahren 1860—1890 auf 60,7 Proz. gestiegen ?). In 
Frankreich sind die Löhne in 62 Zweigen der Industrie zwischen 
1853 und 1887 um 64 bis 72 Proz. gestiegen); in den halben 
Jahrhundert von 1840/45—1891/93 haben — nach der Enquete des 
Office du travail — die Arbeitslóhne in der Industrie im Durch- 
schnitt eine Erhöhung um 90 Proz. erfahren (von 2,07 fres. auf 
3,90), in der Textilindustrie beträgt die Steigerung 80 Proz. (von 
190 fres. auf 3,45), wobei der größte Teil des Zuwachses auf die 
Periode 1860/65—1891/93 fällt‘). Im Elsaß fand in der Periode 
1850— 1885 eine Steigerung der Fabrikarbeiterlöhne mindestens um 
50 Proz. statt, in den Jahren 1830—1880 jedoch (in der Textil- 
industrie) um 100 Proz. und noch mehr). In Württemberg bewegt 
sich die durchschnittliche Lohnsteigerung in den Jahren 1830—1839 
bis 1860—1865 bei 8 Gewerbezweigen der Fabrikindustrie zwischen 
60 und 70 Proz.. wohin namentlich die Baumwollspinnerei und 
-Weberei gehört, die Tuchfabrikation, die chemische und Metall- 
industrie, streicht bei zweien (Wollspinnerei und Papierfabrikation) 
nahe an 60 Proz., steigt bei den Pianofabriken auf 77 Proz. und 
beträgt bei der Buchdruckerei 52 Proz. Auch in den nachfolgenden 
Jahren setzt sich die Lohnerhóhung fort®). 

Aus dem Steigen des Arbeitslohnes bei fast unveränderter Lei- 
stungsfähigkeit des Arbeiters, da die größere Intensität der ausfüh- 
renden Arbeit, soweit es eben auf diese allein ankommt, im besten 
Falle die Verkürzung des Arbeitstages aufgewogen hat — aus dieser 
Lohnsteigerung folgt jedenfalls, daß der Anteil des Arbeiters am 
Produkt nicht wenig zugenommen haben muß. Dabei darf man 
auch nicht außer acht lassen, daß von einer (teilweisen) Geldent- 
wertung nur in Bezug auf die Periode 1850—1870 überhaupt die 
Rede sein kann, während seit 1870 eine bedeutender fast ununter- 
brochener Preisfall stattfindet, so daß eher eine Erhöhung des 
Geldwerts zu verzeichnen wäre. Ist demnach der Anteil des 


1) Schmid, Beiträge zur Geschichte der gewerblichen Arbeiter in England wäh- 
rend der letzten 50 Jahre. Jena 1896, S. 182. Nostitz, Das Aufsteigen des Arbeiter- 
standes in England. Jena 1900, S. 461 ff., 721. 

2) Caroll D. Wright, Industrial Evolution, p. 223. Aldrich, Wholesale Price, 
Wages and Transportation, 1893, I, p. 12 sqq. Levasseur, L’ouvrier Americain. Paris 
1898, T. I, S. 309, 319. 

3) Neumann-Spallart, Uebersichten der Weltwirtschaft, Jahrgang 1885—1889 
(z. T. bis 1895). Berlin, ohne Jahr. 17. Lieferung, S. LXII. 

4) Office du travail, salaires et durée du travail dans l’industrie française. Grande 
et moyenne industrie. T. IV. Paris 1897. (Resultats généraux.) Vergl. Schotthöfer, 
Die französische Enquete über die Lage der Industriearbeiter. Soziale Praxis, 7. Jahr- 
gang, 1598, S. 1142. 

5) E. Chevalier, Les salaires au XIX siècle. Paris 1887. 

à 6) Frege, Zur Lohnbewegung der letzten hundert Jahre. Leipzig, ohne Jahr. 
. 47, 51. 


302 Josef Kulischer, 


Arbeiters am Produktionsertrage tatsächlich gestiegen, so kann 
man doch daraus noch nicht den Schlufi ziehen, wie es oft gemacht 
wird, daß der Arbeiter dadurch an den Fortschritten der Technik 
teilgenommen hat, an der hóheren Ergiebigkeit der Produktion 
infolge der vollkommeneren Technik. Denn dies würde bedeuten, daß 
der Arbeiter heute nicht bloß den ganzen Ertrag seiner eigenen 
Arbeit erhält, sondern auch einen Teil jenes Produktionsertrages, 
der von der Arbeit des Erfinders herrührt. Eine solche Behauptung 
kónnte jedoch nur dann aufgestellt werden, wenn man davon aus- 
gehen wollte, daß zu Anfang der Lohnsteigerung, in der vorher- 
gehenden Periode des auf vollständig freier Konkurrenz begründeten 
Arbeitsvertrages, dem Arbeiter der Ertrag seiner eigenen Arbeit voll- 
ständig ausbezahlt wurde. Dann ist natürlich jede weitere Lohn- 
steigerung als Teilnahme des Arbeiters am Ertrage der anderen 
Produktionsquelle, der schópferischen Arbeit zu betrachten. Kommt 
man jedoch zu dem Resultate, daß der Arbeitslohn bei freier Kon- 
kurrenz, wo der einzelne Arbeiter dem einzelnen Unternehmer gegen- 
übersteht, dem Existenzminimum gleich sein mufi — was Ricardo 
ganz richtig für seine Zeit als notwendige, „natürliche“ Lohnhöhe 
auffaßte, was jedoch von den Späteren mißverstanden und zu einem 
für immer gültigen „Naturgesetz“ erhoben wurde — so wird man sich 
noch zuvor die Frage vorlegen müssen, ob in der nachfolgenden 
Periode der Lohn auch soweit gestiegen ist, daf! er den ganzen 
Ertrag der ausführenden Arbeit umfafite, ob der Arbeiter unter den 
gegenwärtigen Wirtschafts-, insbesondere Vertragsverhältnissen jenen 
Teil des von ihm hergestellten Produkts auch vollständig erhält, den 
er in der vorhergehenden Periode dem Unternehmer überlassen mußte. 

In der Tat hat sich die moderne wirtschaftliche Entwickelung 
als eines ihrer wichtigsten Ziele dasjenige gesetzt, dessen Erreichung 
die Verwirklichung des Rechts auf den vollen Arbeitsertrag bedeutet, 
wenn man jenen Begriff eben richtig auffaßt als Ertrag der ausfüh- 
renden Arbeit, derjenigen Arbeit, die der Arbeiter als Leiter und 
Aufseher der Maschine leistet, im Gegensatz zum anderen Teil des 
Produkts, den die schópferische Arbeit hervorbringt in Form der 
Maschinentütigkeit, und nicht den falschen Sinn unterlegt, als ob 
das ganze Produkt von der alleinigen Arbeit des Fabrikarbeiters 
herrührte. 

In der korporativen Zusammenschlieftung der Arbeiter gegen- 
über den Arbeitgebern, in der daraus sich ergebenden Möglichkeit 
der Regulierung des Arbeitsangebots und der Einwirkung auf die 
kontraktliche Festsetzung der Arbeitsbedingungen liegt zweifellos die 
wichtigste, wenn auch nicht alleinige, Ursache jener Errungenschaften, 
welche im Kampfe um den vollen Arbeitsertrag erlangt worden sind. 
Aus vorübergehenden, regellosen, mit Gewalttütigkeit verbundenen 
Arbeitseinstellungen, die vom Unternehmer als Auflehnungen gegen 
den Gehorsam, den die Arbeiter ihm schuldeten, betrachtet wurden, 
vom Staate als Aufstände mit bewaffneter Hand niedergeschlagen 
wurden, sind es mächtige, von geschulten Führern geleitete, Korpo- 


Zur Entwickelungsgeschichte des Kapitalzinses. 303 


rationen geworden, welche ruhig, mit echt kommerzieller Ueber- 
legung ihr Ziel zu erreichen suchen, vom Staate wie von der Gesell- 
schaft anerkannt, für den Unternehmer eine gleichberechtigte und 
gleich starke Partei, der man nicht drohen, sondern nur Vorschläge 
machen kann. Und Hand in Hand mit dieser Entwickelung der 
Macht des Arbeiterstandes, mit der Verminderung der Konkurrenz 
untereinander, durch Arbeitsvermittlung und Entfernung der Arbeits- 
losen dorthin, wo Nachfrage vorhanden, durch Beschränkung minder- 
wertiger und ungelernter Arbeit; insbesondere aber durch Unter- 
stützung Arbeitsloser, wodurch möglich wird, das überschüssige 
Arbeitsangebot vom Markte zurückzuhalten, so daß die so gefähr- 
liche gegenseitige Unterbietung fortfällt; mit der Beseitigung des 
individuellen Arbeitsvertrags, an dessen Stelle der kollektive tritt, für 
ale Mitglieder der Organisation vereinbarte, — vollzieht sich die 
Steigerung der Löhne und die Verkürzung des Arbeitstages, wie die 
Besserung der übrigen Arbeitsbedingungen, wird Schritt auf Schritt 
ein immer größeres Quantum an dem vom Arbeiter geschaffenen Teil 
des Produkts erkämpft. Nicht überall ist jener Höhepunkt erreicht, 
wo zwei wirtschaftlich gleich starke Parteien einander gegenüber- 
stehen, nicht überall daher jene Quelle des Kapitalgewinnes, welche 
in der Tätigkeit des Arbeiters liegt, nachdem sie jahrhundertelang 
geflossen, als endgültig beseitigt zu erachten. Doch ein Anlauf dazu 
ist überall gemacht, in allen Ländern Europas ist eine mehr oder 
weniger bedeutende Strecke in der Richtung nach jenem Ziele zu- 
rückgelegt. 

Am weitesten ist in dieser Beziehung England vorgeschritten. 
Denn am größten ist hier die Macht des Arbeiterstandes in der Groß- 
industrie, ebenso wie auch der Großbetrieb und die technische Ent- 
wickelung hier ihre größte Entfaltung erreicht haben. Hängt ja vom 
ersten Faktor der Umstand ab, wieviel die Arbeiter vom Unternehmer 
zu erzwingen vermögen, vom zweiten die Leichtigkeit, mit welcher 
der Unternehmer das Geforderte zu geben im stande ist, seine Kon- 
kurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkte nach Auszahlung des Arbeits- 
ertrages zu bewahren. Da sowohl die Forderung nachdrucksvoll 
aufgestellt ist, als die Erfüllung derselben sich als möglich erweist, 
so muß sich eine Arbeiterlage herausstellen, welche auf das Fehlen 
eines aus der ausführenden Arbeit herrührenden Kapitalzinses 
schließen läßt. 

Von den englischen Maschinenschlossern, Zimmerleuten und 
Schreinern wie Bauarbeitern sagt selbst Friedrich Engels, daß sie 
„jede für sich eine Macht sind“ und daß sie „es fertig gebracht 
haben, sich eine verhältnismäßig komfortable Lage zu erzwingen“ !). 
Doch sind es nicht bloß Maschinen-, Holz- und Bauarbeiter, welche 
sich in befriedigender Lage befinden, hohen Lohn, zum größten 
Teil auch Achtstundentag genießen, sondern auch die Mitglieder 


1) Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England, 2. Aufl., Stuttgart 1892, 
Vorwort von 1892, 8. XIX—XX. 


304 Josef Kulischer, 


der anderen großen Gewerkvereine der Metallarbeiter, Schiffs- 
bauer und Textilarbeiter, also die Arbeiter aller wichtigeren Zweige 
der Großindustrie weisen eine günstige Stellung auf, besitzen die 
Macht, sich das ganze Produkt ihrer Hände vom Unternehmer zu 
verschaffen. So sagt Lavollée über die Metallarbeiter, daß sie in 
England wie überall, vielleicht sogar noch mehr als auf dem Kon- 
tinent, zur Elite der Arbeiterklasse gehören. Gut bezahlt, erfreuen 
sie sich zugleich eines kurzen Arbeitstages, genießen reichliche und 
gesunde Nahrung, haben befriedigende Wohnungen und wissen ihr 
Interesse mit Macht zu verteidigen, ihre Forderungen den Unter- 
nehmern gegenüber durchzusetzen!) Auch die Lóhnung der Textil- 
arbeiter wird von ihm als ausreichend bezeichnet. Insbesondere 
sind es unter ihnen die Baumwollarbeiter, welche — nach Schulze- 
Gaevernitz — nichts weniger als Proletarier darstellen. „Wenn man 
den englischen Arbeiter in seiner Wohnung aufsucht — sagt Schulze- 
Gaevernitz — so überzeugt der Augenschein, daß hier mehr als der 
bare Lebensunterhalt vorhanden ist, daß vielmehr gewisse Ansprüche 
an Behaglichkeit erfüllt werden, was auf das Familienleben von 
günstigstem Einflusse ist“?). Gute Wohnungsverhältnisse, Weizen- 
brot und Fleisch als Hauptnahrungsmittel und bedeutende Erspar- 
nisse, welche jährlich 10, 15, ja 20 Proz. des Gesamteinkommens und 
darüber ausmachen, ein Vermögen erzeugen, das einen bedeutenden 
Teil des Einkommens verschafft — das sind Arbeiterverhältnisse in 
der englischen Baumwollindustrie ?). 

Nicht schlechter ja noch besser soll, nach Levasseur, die Arbeiter- 
lage in der Großindustrie der Vereinigten Staaten von Amerika sich ge- 
stalten. „Der höhere ‚Standard of living‘ des amerikanischen Arbeiters 
(im Verhältnis zu dem des europäischen) — sagt Levasseur — äußerst 
sich in dem größeren Aufwand auf alle Lebensbedürfnisse (trotzdem die 
Preise dort eher niedriger sind als in Europa), in dem Genusse 
wenn nicht einer mannigfaltigeren, so doch jedenfalls einer reich- 
licheren und kräftigeren Nahrung, im Kleiderluxus, in der bequemeren 
Wohnung, in den größeren Summen, die auf Vereinszwecke, Vor- 
sorge, Reisen, Bildung und Erholung ausgegeben werden; er äußert 
sich auch in dem relativen Verhältnis der einzelnen Teile des Haus- 
haltungsbudgets, indem die Nahrung kaum die Hälfte des Einkommens 
in Anspruch nimmt, während sie auf dem Kontinent gewöhnlich nicht 
weniger als ?/, desselben ausmacht“ 4). Nach Bestreitung der Aus- 
gaben auf Nahrung und zwar sehr befriedigende Nahrung, Wohnung, 
Kleidung, Heizung und Beleuchtung bleiben 20 Proz. des Ein- 
kommens und darüber für die anderen Bedürfnisse und Ersparnisse 
übrig, was eine sehr günstige Lage bedeutet). So gestaltet sie 


1) Lavollée, Les classes ouvrières en Europe, T. III, Angleterre, Paris 1896, 
p. Ss 246—247, 227, 234 (Chap. IV, $ 2—3).. Vergl. auch Chap. IV, § 4, insbes. 
p. 248. 

2) Schulze-Gaevernitz, S. 248. 

3) Ibid., S. 229 ff. 

4) Levasseur, L'ouvrier americain, Paris 1898, T. I, p. 212. 

5) Levasseur, T. II, p. 210—211. 


Zur Entwickelungsgeschichte des Kapitalzinses. 305 


“ich wenigstens in der Metall-, Glas- und Textilindustrie, noch besser 
oll die Stellung der Maschinen- und Bauarbeiter sein !). 

„Den Zustand des Volkswohlstandes — sagt Ernst Engel — 
dürfen wir als gekommen und vorhanden betrachten, wenn die 
rationelle physische Erhaltung nirgends mehr wie 80 Proz. des Ein- 
kommens in Anspruch nimmt und 20 Proz. desselben als freies Ein- 
kommen übrig bleiben und Verwendung finden“ 21. Wir glauben, 
daß bei einem solchen Zustande zugleich auch nicht mehr die Rede 
sein kann von einem Kapitalzinse, den der Arbeiter produziert, die 
ausführende Arbeit hier nicht mehr als Zinsquelle auftreten kann. 
Die von Engel aufgestellte Voraussetzung trifft eben für England 
wie für die Vereinigten Staaten von Amerika zu; wir behaupten, daß 
hier der Arbeiter in der Fabrik jenen Teil des Produkts, den er er- 
zeugt, auch vollständig ausbezahlt erhält. Damit soll jedoch noch gar 
nicht gesagt werden, daß dies auch die oberste Grenze sein muß, welche 
der Lohn nicht zu übersteigen braucht. Im Gegenteil ist es sogar 
erwünscht, daß derselbe eine weitere Erhöhung erfährt und der 
Arbeiter auch einen Teil des von schöpferischer Arbeit Produzierten 
im Lohne erhält Daraus, daß ein solches Plus nicht mehr vom 
Arbeiter produziert wäre, folgt noch gar nicht, daß der Arbeiter 
daran nicht teilnehmen darf. Zweckmäkigkeitsgründe und nicht die 
Beziehung zum Produzierten können eben nur die Verteilung des 
Produkts bestimmen. Und wenn der Arbeitsertrag denn doch bei 
der Verteilung mitsprechen soll, so kann er nur das Minimum, nicht 
aber die Maximalgrenze des Lohnes bilden. Heute freilich, wo in 
sehr vielen Fällen auch dieses Minimum nicht erreicht ist, kann der 
Arbeitsertrag nur das Ziel bilden, dem sich vorläufig der Lohn 
nähern soll. 

X. 

Dr. Roesemeier teilt in seinem Buche „Die Arbeiter im 19. Jahr- 
hundert“ die deutsche Arbeiterklasse in zwei Kategorien ein: zu 
der einen, der gut gestellten, zählt er die Buchdrucker, die Bau- 
arbeiter, Mechaniker, Holzarbeiter und Metallarbeiter; in die andere 
Gruppe, deren Lage sich wenig befriedigend erweist, fallen die land- 

wirtschaftlichen Arbeiter, ferner die Heimarbeiter, Handwerker 

C Bäcker, Schneider, Schuhmacher), innerhalb der eigentlichen Groß- 

industrie aber die ungelernten Arbeiter, insbesondere die in der Textil- 

\wndustrie beschäftigten. Roesemeier spricht von dem verhältnis- 
wäfigen Hochstande der Lebenshaltung vom stattlichen und kräftigen 
Aussehen der Arbeiter der ersten Gruppe, im Gegensatz zum er- 
bärmlichen und krankhaften Anblick der letzteren ?). 

Die Richtigkeit einer derartigen Scheidung der deutschen Arbeiter- 
klasse in zwei Gruppen nach ihrer materiellen Lage wird durch das 


1) Ibid.. T. I, p. 337 suiv., 342 suiv. 
2) Engel, Die Lebenskosten belgischer Arbeiterfamilien früher und jetzt. Dresden 
1595, S. 124. 
3) Roesemeier, Die Arbeiter im 19. Jahrhundert, Berlin 1900, S. 134—137. 
Dritte Folge Bd, XXV (LXXX). 20 


306 Josef Kulischer, 


vorhandene Tatsachenmaterial durchaus bestätigt. Aus den von 
Gould gesammelten Arbeiterbudgets ergibt sich, das die physische 
Erhaltung bei den deutschen Eisenarbeitern 83 Proz. des Einkommens 
in Anspruch nimmt und bei den Stahlarbeitern noch weniger, näm- 
lich 78 Proz. des Einkommens !); bei den Glasmachern belaufen sich 
diese Ausgaben auf 76 Proz. im Süden Deutschlands, auf 83 Proz. 
im Nordosten und auf 87 Proz. im Nordwesten ?). Damit wir jedoch 
einen Vergleich mit den Zuständen in andern Ländern anstellen können, 
müssen wir einerseits unter physischer Erhaltung alles dasjenige 
erfassen, was Engel darunter begreift, daher noch den Aufwand auf 
Heizung und Beleuchtung hinzufügen, weil in den angeführten 
Zahlen nur Ausgaben für Nahrung, Kleidung, Wohnung (auch geistige 
Getränke) berechnet sind. Daher sind in den Budgets der Glas- 
arbeiter noch 3—4 Proz. (im Süden 6 Proz.) für physische Er- 
haltung hinzuzufügen *); bei den Eisen- und Stahlarbeitern werden 
angesichts der fehlenden Angaben gleiche Zahlen anzusetzen sein. 
Andererseits dürfen wir bei Berechnung des Einkommens die deutsche 
obligatorische Arbeiterversicherung nicht außer acht lassen, da 
dieselbe einen Zuschuß zum Arbeitslohne bedeutet. Wie bekannt, 
haben ja sowohl die Unternehmer wie das Reich zur Aufbringung 
der nötigen Fonds beizusteuern. Bei der Unfallversicherung werden 
die Beiträge ausschließlich von den Unternehmern geleistet, bei der 
Krankenversicherung wird die Hälfte der Krankenkassenbeiträge von 
ihnen aufgebracht und bei der Invaliditäts- und Altersversicherung 
setzt sich die Hälfte der Entschädigungssumme aus den Beiträgen 
der Unternehmer zusammen. Greissl berechnet die Belastungszifier 
der Arbeitgeber bei der Unfallversicherung auf 3 Proz. des Lohnes, 
bei der Krankenversicherung auf 1!/, Proz. und bei der Invaliditäts- 
und Altersversicherung auf 1 Proz., zusammen auf Dit, Proz. des 
Lohnes). Der Zuschuß des Reichs zur Invalidenversicherung betrug 
in den Jahren 1891—1898 30 Proz. von der seitens der Unter- 
nehmer auf die Invalidenversicherung aufgewandten Summe d. i. ca. 
J/, Proz.*. Im ganzen müssen wir also den gezahlten Lohn um 
ca. 6 Proz. hóher rechnen und da denselben nur ein Abzug von 
ca. 4 Proz. gegenübersteht, so ergeben sich folgende Größen, welche 
den für physische Erhaltung in Anspruch genommenen Prozentsatz 
des Arbeitereinkommens darstellen: ca. 80 Proz. in der Eisenfabri- 
kation, ca. 76 Proz. in der Stahlindustrie, ca. 76 Proz. bei den Glas- 
arbeitern des Südens, ca. 80 Proz. im Nordosten und 84 Proz. im 


1) Gould, Die Lage der arbeitenden Klassen in den Hauptkulturländern, in diesen 
Jahrbüchern, 3. F. Bd. 5, S. 860—865. 

2) Kulemann, Zur organischen Güterverteilung. Bd. II. Die Glasarbeiter Deutsch- 
lands und der Vereinigten Staaten von Amerika, Leipzig 1896, S. 200 —205. 

3) Ibid., S. 205. 

4) Greissl, Wirtschaftliche Untersuchungen über die Belastung der deutschen 


Industrie durch die Arbeiter-Versicherungs- und Schutzgesetzgebung. Schmollers Jahr- 
buch, Bd. 23, 1899, S. 860—865. 


5) Lass und Zahn, Einrichtung und Wirkung der deutschen Arbeiterversicherung, 
Berlin 1900, S. 129. 


a 


Zur Entwickelungsgeschichte des Kapitalzinses. 307 


Nordwesten, woraus folgt, daß das freie Einkommen auch hier nicht 
Weniger als 20 Proz. ausmacht. In Bezug auf diese Arbeitergruppen, 
Zu denen auch noch die Bauarbeiter, die Arbeiter in der Maschinen- 
fabrikation und in einigen anderen Industriezweigen zu rechnen 

Kapi können wir also behaupten, daß sie keinen oder fast keinen 
apitalzins mehr produzieren, daß das von ihnen selbst Produzierte 
"en auch ungefähr vollständig übergeben wird. 

Tiefer als die genannten Arbeiterklassen stehen die Textilarbeiter, 
Obwohl die Lage derselben in den einzelnen Teilen des Reiches sich 
verschieden gestaltet : neben nahezu befriedigenden kommen eben auch 
recht traurige Verhältnisse vor. In der Textilindustrie des sächsischen 
Voigtlandes scheint die Arbeiterlage im allgemeinen eine günstige 
zu sein, und Bein bezeichnet in manchen Zweigen das Einkommen 
ausdrücklich als ein auskömmliches, die Erwerbsverhältnisse als be- 
friedigende, wie in der Kammwollwarenindustrie mit ihren Hilfs- 
gewerben, in der Bleiche und Appretur der Baumwollenstoffe; auch 
über die Weberei äußert er sich in dem Sinne, daß im Jahre 1882, 
zur Zeit der Abfassung des Werkes, die Arbeiterklasse in ihren Er- 
werbsverhältnissen, sogar noch abgesehen von den äußerst billigen 
Preisen der Nahrungsmittel, sich in entschieden günstigerer Lage 
befand, als im Jahre 1880 und selbst um 1871/72, in den Zeiten des 
Aufschwungs !). 

In der Schafwollindustrie der Niederlausitz — einem nicht 
unwichtigen Industriezentrum — dürfen die Verhältnisse ebenfalls 
als im ganzen befriedigende bezeichnet werden. „Was die Wohnungs- 
verhältnisse anbetrifft — sagt Quandt — so sind dieselben infolge 
des Umstandes, daß unter den acht Industriestädten des Bezirks 
nicht einmal eine Stadt mittlerer Größe ist, . . . für den in- 
dustriellen Arbeiter im allgemeinen sehr günstige zu nennen“. Die 
Gesundheitsverhältnisse sind ebenfalls günstig, die Lebens- und Er- 
werbsdauer eine hohe. Auch in Bezug auf die Ernährung sind 
die Arbeiter hier besser als anderswo gestellt. „Bei den dortigen 
Lohnverhältnissen — führt Quandt aus — machen die im Verhältnis 
zu anderen Industriegebieten sehr billigen Mieten und die seit 1882 
ständig gefallenen Preise der Lebensmittel ein Sparen für allein 
stehende Arbeiter und manche Ehepaare mit 2, ja 3 Kindern recht 
wohl möglich. Von je 100 Arbeitern, in 5 verschiedenen Städten 
befragt, hatten Sparkassenbücher oder Gelder privatim ausgeliehen 
46,7 und die Einlagen der Sparkassenbücher schwankten zwischen 
weniger als 100 und 1000 M. und darüber, obzwar die Eigentümer 
letzterer Beiträge (über 1000 M.) sehr selten waren 2). 

Schlimm sind dagegen die Zustände am Niederrhein, in der 
Aachener Tuchindustrie oder sie waren es vielmehr zu Ende der 
“er Jahre, als Thun sie beschrieben hat. „Der alleinstehende Ar- 


1) Bein, Industrie des sächsischen Voigtlandes, Bd. 2, S. 438, 462, 392. 
. 2) Quandt, Die Niederlausitzer Schafwollindustrie in ihrer Entwickelung zum Groß- 
betrieb und zur modernen Technik. Leipzig 1895, 8. 281—291. 


20% 


308 Josef Kulischer, 


beiter — heißt es bei ihm — befindet sich fast immer in beneidens- 
werter Lage; bei einem Durchschnittslohn von 19 M. wöchentlich 
vermag er seine minimalen Lebenskosten fast doppelt zu bestreiten. 
Auch diejenigen Familien, welche schon soweit erwachsene Kinder 
haben, daß diese 5—7 M. wöchentlich erwerben können, befinden 
sich bei Cichorien, Kartoffeln und Brot in ziemlich gesicherter Lage 

. Dagegen herrscht unter den Familien mit 2 und mehr Kindern 
ein chronischer Notstand .... Sie bleiben selbst in den besten 
Zeiten Kandidaten der Armenunterstützung“ !). 

„Von den lebhaften gesunden Gesichtsfarben, welche die elsässische 
Landbevölkerung auszeichnen, von deren kräftigem, oft herkulischem 
Kórperbau, ihrem Enbonpoint, ist bei den Fabrikarbeitern in Stadt 
und Land nichts zu entdecken — sagt Herkner über die Mülhausener 
Baumwollenindustrie: ein bleicher, krankhafter Teint, eine eingefallene 
Brust, magere Extremitäten finden sich schon bei jungen Männern.“ 
Familien mit vielen Kindern befinden sich in der traurigsten Lage. 
Der Bedarf einer Familie, aus Mann, Frau und drei noch nicht 
arbeitsfähigen Kindern bestehend, — das Budget stammt aus den 
Mülhäuser Arbeiterkreisen — beläuft sich auf ca. 1600 M. jähr- 
lich, während der günstigst situierte männliche Arbeiter nicht über 
1000 M. verdient, so daß auch die am besten bezahlten Mülhäuser 
Fabrikarbeiter von ihrem Lohne allein ihre Familie nicht in der Weise 
erhalten können, welche nach den unter den Mülhäuser Arbeitern 
verbreiteten Begriffen noch für erträglich gelten könnte“. Dabei 
ist in Mülhausen die Lage der Arbeiterschaft noch als die günstigste 
im Oberelsaß anzusehen. „In den übrigen Teilen des Landes sind 
die Löhne im Durchschnitt um '/, geringer als jene in Mülhausen, 
eine Differenz, welche die zwischen den Preisen der Bedarfsartikel 
bestehende übertrifft, so daß die Lebenshaltung in der Tat noch 
tiefer herabsinkt. Dies zeigt sich in Bezug auf die Kleidung in dem 
Vorherrschen der Holzschuhe und Baumwollstoffe auch bei den Männern. 
In der Nahrung dominieren Kartoffeln und Brot; Fleisch gibt es 
im besten Falle an Sonntagen. Der Genuß des Branntweins hat 
(der mangelhaften Kost halber) viel größere Dimensionen angenommen 
als in Mülhausen... Der schlechteren Lebenshaltung entspricht auch 
eine noch weitergehende physische Entartung ..., Die Wohnungszu- 
stände sind durchaus unbefriedigend . . . ihre Qualität spricht selbst 
den primitivsten Gesundheitsrücksichten geradezu Hohn. Typhus, 
Scharlach und Masern sind in jenen Gegenden, einmal eingedrungen, 
fast unausrottbar“ 2). 

Zieht man die dargelegten Tatsachen über die Arbeiterverhält- 
nisse in der Textilindustrie in Betracht, sowohl die Arbeiterlage in 
Sachsen und in der Lausitz einerseits, wie andererseits am 
Niederrhein und im Elsaß, so wird man weder die Verhältnisse 


1) Thun, Die Industrie am Niederrhein und ihre Arbeiter. Bd. 1. Die links- 
rheinische Textilindustrie. Leipzig 1879. S. 65, 66, 68. 


2) Herkner, Die oberelsässische Baumwollindustrie und ihre Arbeiter. Straßburg 
1887, S. 312—315, 320, 325, 349—355. 


— 


Zur Entwickelungsgeschichte des Kapitalzinses. 309 


als sehr ungünstige bezeichnen können, noch auch andererseits 
von befriedigenden Zuständen sprechen dürfen. Das Richtige liegt, 
Wie gewöhnlich, in der Mitte zwischen den Extremen. Aus den 
Childerungen von Thun und Herkner ergibt sich zwar, daß das 
lel, die Erlangung seitens des Arbeiters des ganzen von ihm her- 
gestellten Anteils am Produkt noch lange nicht erreicht ist. Die von 
so] und Quandt beigebrachten Tatsachen beweisen jedoch, daß eine 
À Che Tendenz jedenfalls vorhanden ist und die Entwickelung der 
Ärbeiterverhältnisse auch auf dem Gebiete der Textilindustrie sich 
In der Richtung zu jenem Ziele bewegt. 
Einen derartigen Eindruck gewinnt man auch aus den Berichten 
der Fabrikaufsichtsbeamten in Bayern, Württemberg, Baden und 
Hessen für die Jahre 1879—1890, wie sie (für alle Industriezweige) 
in dem Buche von Alfred Zeller bearbeitet sind. Auch auf Grund 
jener Berichte, welche eine Ergänzung zu den oben erórterten 
Beschreibungen preußischer, sächsischer und elsässischer Zustände 
bilden, kommt man zu dem Schlusse, daß neben einigen (den oben 
erwähnten) Industriezweigen, in welchen die ausführende Arbeit 
als Quelle des Kapitalzinses. nicht mehr figuriert, auch in den 
übrigen ein Anlauf zur Beseitigung jener Quelle gemacht worden 
ist, daß auch die deutsche Volkswirtschaft die Entwickelungstendenz 
aufweist, solche Zustände zu schaffen, wo der Arbeiter nur für sich 
allein zu arbeiten hat, nicht aber für den Unternehmer. Die wirt- 
schaftliche Lage der Arbeiter in jenen vier deutschen Staaten (im 
Durchschnitt aller Produktionszweige der Fabrikindustrie) wird in 
den Berichten, trotz des oft sehr geringen Lohns (wie z. B. in der 
Zigarrenindustrie) fast ausnahmslos als eine gute bezeichnet. Der 
Unterschied zwischen industriellen Gegenden und solchen ohne In- 
dustrie ist auf den ersten Blick oft in die Augen springend, wie es 
in den Berichten aus Baden, Hessen, aus der Oberpfalz mit Regens- 
burg, Franken und Aschaffenburg bezeugt wird. Die Fabrikarbeiter 
— die Fabriken sind in jenen Staaten über das Land zerstreut — 
befinden sich in Besitze kleiner Grundstücke, zum Teil auch eines 
Häuschens, was ihnen in Verbindung mit dem Arbeitslohn „fast eine 
gewisse Behaglichkeit des Lebens ermöglicht“. Nach dem Bericht 
aus der Oberpfalz war die Ernährung trotz geringen Lohns auf 
dem Lande genügend, in der Stadt gleiche aber das größere Maß 
an Bedürfnissen und deren leichtere Befriedigung den höheren Lohn 
meist aus. Der badische Fabrikinspektor erwähnt, daß bei besser 
bezahlten Arbeiterklassen oder da, wo noch einige weitere Familien- 
Angehörige mitarbeiten, der Verdienst zu einem gesunden und kräf- 
-tigen Lebensunterhalt ausreiche, daß aber dort, wo diese Vorraus- 
setzungen nicht zutreffen, der Verdienst nur eine mehr oder minder 
dürftige, in vielen Arbeiterfamilien vorzugsweise nur mit Kartoffeln 
und Kaffee bewerkstelligte Ernährung ermögliche. An manchen Orten 
wird über ungünstige Wohnungsverhältnisse geklagt; inbesondere in 
großen Städten und Orten mit rasch emporgewachsener Industrie 
lassen die Zustände in dieser Beziehung noch viel zu wünschen 


310 Josef Kulischer, 


übrig. Ueber die Erwerbsverhältnisse der weiblichen Arbeiter geht 
aus den Berichten hervor, daß sie „im allgemeinen nicht schlecht 
sind“. „Der Verdienst derselben ist zwar etwas niedriger als der 
der männlichen Arbeiter, aber doch für die geringen Bedürfnisse 
derselben ausreichend“ !). 

In den anderen europäischen Staaten ist die Arbeiterlage teil- 
weise ähnlich wie in Deutschland, teilweise gestaltet sie sich minder 
günstig als hier. Zu den ersteren gehören wohl Frankreich und 
Belgien, die zweite Gruppe bilden Oesterreich, Italien und Ruß- 
land. Die Ausbreitung des Großbetriebs einerseits, die Stärke der 
Arbeiterklasse andererseits bilden, wie oben betont, die zwei 
wichtigsten Momente, durch welche dieser Unterschied verursacht 
wird. In England wie den Vereinigten Staaten Nordamerikas bildet 
der fabrikmäßige Großbetrieb die herrschende Produktionsweise und 
seine Arbeiter sind gut organisiert — hier wird daher in der In- 
dustrie regelmäßig der volle Arbeitsertrag ausbezahlt. In Deutsch- 
land — auch in Frankreich, Belgien — wird das Gewerbe noch zum 
bedeutenden Teile hausindustriell betrieben, und auch innerhalb der 
Fabrikindustrie ist Großbetrieb wie feste Arbeiterorganisation nicht 
überall anzutreffen, daher sich nur gewisse Zweige als solche 
charakterisieren lassen, in denen kein Gewinn aus der ausführenden 
Arbeit des Lohnarbeiters bezogen wird, während in anderen dieselbe 
zwar eine viel spärlichere als früher, jedoch noch immer mehr 
oder minder reichlich fließende Quelle darstellt. In den übrigen 
europäischen Staaten sind die Arbeiterkoalitionen entweder direkt 
verboten, wie in Rußland, oder wie in Oesterreich, Italien ihrer Be- 
tätigung durch polizeiliche Verfügungen wie Strafgesetze so enge 
Schranken gesetzt, daß von einem wirklich freien Arbeitsvertrag wohl 
kaum die Rede sein kann. Zugleich ist in Oesterreich, Rufland, 
Italien, der Schweiz u.s. w. die fabrikmäßige Betriebsweise zur Zeit 
noch weniger ausgebildet als in den vorgenannten Staaten: die 
Arbeiterschaft der Fabriken macht nur den geringeren Teil der ge- 
samten Arbeiterklasse des Landes aus und nur die allergrófiten 
Betriebe sind hier in technischer Hinsicht so weit, daß sie auf die 
ausführende Arbeit als Gewinnquelle zu verzichten imstande sind ?). 


1) Zeller, Die Lage der industriellen Arbeiter in Süddeutschland und das Arbeiter- 
schutzgesetz vom 1. Juni 1891. Tübingen 1892, S. 52, 93ff., 97. 

2) Daß die physische Arbeit in den Riesenbetrieben keine Quelle des Kapitalzinses 
bildet und überhaupt als Quelle des Gewinnes mit der Größe der Unternehmung abnimmt, 
ersieht man aus folgenden Angaben, die der Enquete des franzósischen Office du travail 
über Löhne und Arbeitszeit in der Industrie entnommen sind. Während die Arbeitszeit in 
Frankreich durchschnittlich 11 Stunden in Betrieben mit 25 und weniger Arbeitern be- 
trägt und fast ebensoviel in Großbetrieben mit 25—-1000 Arbeitern (10 9], Std.), macht sie 
in Riesenbetrieben, die 1000 und mehr Arbeiter zählen, nur 9'/, Stunden aus. Dagegen 
beträgt der Arbeitslohn für männliche Arbeiter: in Unternehmungen von 1—24 Arbeitern 
3.15 fres. täglich; in Betrieben von 25— 99 Arbeitern 3,55 fres.; in Betrieben von 
100—499 Arbeitern 3,85 fres.; in Betrieben von 500—999 Arbeitern: 3,80 fres., je- 
doch steigt er auf durchschnittlich 4,45 fres. in Riesenbetrieben von 1000 Arbeitern 
und darüber. Die weiblichen Arbeiter erhalten 1,60 fres. in Betrieben bis 25 Arbeiter, 
1,80 fres. in Betrieben von 25—999 Arbeitern und 2,15 fres. in Betrieben mit 1000 
und mehr Arbeitern, (T. IV, 1897, Resultats généraux.) 


Zur Entwickelungsgeschichte des Kapitalzinses. 311 


Jedoch ist in den letzten Jahrzehnten auch hier ein bedeutender 
ortschritt zu verzeichnen: aus der erheblichen Lohnsteigerung so- 
wohl als der Reduzierung der Arbeitszeit, welch letztere zwar den 
Ertrag nicht vermindert hat, jedoch nur deswegen, weil an Stelle 
des Arbeiters eine vollkommenere Maschinerie getreten ist!) -- daraus 
Önnen wir den Schluß ziehen, daß das Mehrprodukt, welches aus 
P hysischer Arbeit stammt, auch hier geringer geworden ist und viel- 
cht wird das neue Jahrhundert auch in diesen Staaten das Recht 


Wf den vollen Arbeitsertrag — wenn man das Wort richtig auflaßt 
— allmählich zur Verwirklichung bringen können. 
XI. 


Die Herleitung des Kapitalzinses aus mehreren verschiedenen 
Quellen hält Bóhm-Bawerk für eine Unmöglichkeit. Der Zins kann 
nach ihm nur eine einheitliche Erklärung haben, er muß immer aus 
einer und derselben Quelle fließen. Unter den neueren Theorien 
des Kapitalzinses, welche mehrere Quellen desselben finden, wendet 
sich Böhm-Bawerk — in seinen „Strittigen Fragen der Kapitals- 
theorie^ — namentlich gegen die von Dietzel und Lexis auf- 
gestellten. Was Dietzel betrifft, so fällt es ihm in der Tat nicht 
schwer, denselben zu widerlegen. Denn dasjenige, was Dietzel beweist, 
bezieht sich gar nicht auf den Kapitalgewinn, auch nicht auf dessen ab- 
geleitete Form, den Zins im Produktivkredit. Wenn Dietzel nämlich 
verschiedene Quellen des Zinses findet, den das Haus seinem Eigentümer 
trägt, je nachdem dasselbe an einen Arbeiter oder einen Kapitalisten 
(Rentner, Unternehmer) für die eigene Wohnung, nicht für das Geschäft 
vermietet wird 2), so handelt es sich hierbei um den Konsumtivkredit, 
der aus dem Einkommen fließt und deswegen verschiedene Quellen 
haben muß, je nachdem der Schuldner (hier der Mieter) vom Arbeits- 
lohn lebt oder vom Kapitalzins oder von der Grundrente, ganz ebenso 
wie auch der Preis, der einem Produzenten oder Händler für dessen 
Waren, die zur Konsumtion bestimmt sind, gezahlt wird, aus ver- 
schiedenen Quellen herrührt und die Quelle jedesmal von der Art 
des Einkommens, das der Käufer (Konsument) bezieht, bestimmt 
wird. Im Unterschied davon stammt der Zins im Produktivkredit 
nicht aus dem Einkommen, sondern aus dem Gewinn, den das ge- 
liehene Kapital dem Schuldner einbringt, und dann ist eben die 
Quelle bezw. die Quellen zu finden, aus denen dieser Gewinn 
fließen muß. 

Nicht so leicht war es für Böhm-Bawerk, mit einem anderen 
Vertreter dieser Richtung, mit Lexis, fertig zu werden. Denn Lexis 
untersucht den Kapitalgewinn, nicht den Zins im Konsumtivkredit, 
und auf richtiger Beobachtung der Wirklichkeit fußend, behauptet 
er, daß neben anderen Quellen auch die Arbeit des Lohnarbeiters 
dem Kapitalisten seinen Gewinn verschafft. Als besonders ein- 


1) Vergl. 8. 300. 
2) Göttinger Gelehrte Anzeigen, 1891, No. 33, S. 934 ff. 


312 Josef Kulischer, 


leuchtende Beispiele führt er nicht bloß den Sklaven an, sondern 
auch den Sweater — „die Quelle des Gewinnes ist hier nicht zu ver- 
kennen“ 1 Nun kann Böhm-Bawerk zwar nicht leugnen, daß beim 
Sweatingsystem der Zins in der Tat aus der Arbeit des Sweaters 
stammt, behauptet jedoch, daß im allgemeinen, nämlich für den ge- 
wöhnlichen Zustand der freien Konkurrenz, dies nicht zutreffe, indem 
der Arbeiter hier das von ihm Produzierte auch vollständig erhalte?). 
Dadurch jedoch, daß er das Sweatingsystem als Ausnahme hinstellt, 
gibt er zu, daß es verschiedene Quellen des Zinses geben kann: denn 
der Sweater ist kein Sklave, der Lohn, den er bezieht, wird auch 
nicht einseitig bestimmt, er kommt unter der Herrschaft der freien 
(und zwar einer vollständig freien) Konkurrenz zu stande; der 
Sweater ist ein Lohnarbeiter, wie jeder andere, nur daß er sich 
in einer besonders ungünstigen Lage dem Unternehmer gegenüber 
befinde. Man kann das Sweatingsystem als eine besondere Be- 
triebsweise bezeichnen, wo ein Mittelsmann zwischen Unternehmer 
und Arbeiter tritt, welcher eben den Lohn des letzteren schmälert; 
man kann darunter auch nur die Gesamtheit jener Betriebe zusammen- 
fassen, wo die Arbeiter besonders schlecht gelohnt werden, aus 
ihnen Schweiß ausgetrieben wird: jedenfalls sind aber die Sweater 
Lohnarbeiter, und wenn Böhm-Bawerk behauptet, daß es eine Klasse 
von Lohnarbeitern gibt, welche durch ihre Arbeit den Kapitalzins 
schafft, so gibt er damit zu, daß der Kapitalzins keine einheitliche 
Quelle zu haben braucht, nicht in einer „natürlichen“, von Zeit 
und Ort unabhängigen Ursache zu suchen ist, sondern in gewissen 
realen Zuständen des Wirtschaftslebens, insbesondere in der Stellung 
des Arbeiters dem Unternehmer gegenüber; daß also jedenfalls die 
Lage der verschiedenen Arbeiterklassen zu untersuchen ist, damit 
man ergründen kann, ob es nicht vielleicht auch andere Klassen gibt, 
welche sich in einer derartigen Lage, in einer ähnlichen Abhängig- 
keit vom Unternehmer befinden. 

Eine solche zweite Klasse von Arbeitern, welche dem Unter- 
nehmer den Kapitalzins produzieren, bilden die hausindustriellen 
Meister. Seit dem 15. und 16. Jahrhundert, wo die Hausindustrie 
zuerst auftritt, bis auf heute schaffen sie dem Verleger den Kapital- 
zins und werden es wohl auch ferner tun, solange jene Betriebsweise 
bestehen wird. Denn wenn der Fabrikant in den Erfindungen eine 
neue Quelle des Zinses gefunden hat und sich damit auch begnügen 
kann, ohne auch seine Arbeiter den Mehrwert erzeugen zu lassen, so 
befindet sich der hausindustrielle Verleger in einer ganz anderen 
Lage. Er hat keinen anderen Ausweg, als die (handarbeitenden) 
Heimarbeiter eines Teiles ihrer Arbeitsprodukte verlustig zu machen, 
da er sich sonst des Gewinnes berauben müßte. Und zwar muß der 
Anteil des hausindustriellen Arbeiters am Produzierten mit der Zeit 
noch verkürzt werden, weil er nicht bloß dem Verleger, sondern 


1) Schmollers Jahrbuch, Bd. 19, S. 335 ff. 
2) Böhm-Bawerk, Einige strittige Fragen der Kapitalstheorie. Wien u. Leipzig 
1900, S. 115 ff. 


Zur Entwickelungsgeschichte des Kapitalzinses. 313 


auch dem Konsumenten in Form eines immer weiter herabgehenden 
Preises einen Teil seines Produkts abgeben muß, was durch den 
Niedergang der Zinsquote nur wenig ausgeglichen werden kann. 
Denn jenen gesamten Preisniedergang der Gewerbeprodukte, der 
sich seit Anfang des 19. Jahrhunderts vollzieht, hat der Haus- 
industrielle zu fühlen; was in der Fabrikindustrie aus dem Produkte 
der schöpferischen Arbeit dem konsumierenden Publikum durch den 
Preisfall zugeführt wird, das fällt in der Hausindustrie mit der 
ganzen Macht auf den armen Meister, bürdet ihm eine Last auf, 
unter welcher er in vielen Industriezweigen zusammengebrochen ist. 
Nur in einigen Gewerben hält sich noch die Hausindustrie neben der 
Fabrik, daß sie diese Konkurrenz — soweit gleiche Waren hier und 
dort produziert werden — nicht lange aushalten kann, ist aus dem 
Angeführten klar. 

Auch in Bezug auf die Arbeiter in den kleineren Fabriken ist 
vielfach nicht zu bestreiten, daß die Arbeit auch hier eine Quelle 
des Gewinnes bildet, sei es, daß sie die alleinige Quelle desselben 
darstellt oder neben der schöpferischen Arbeit den anderen Teil des 
Zinses schaffen muß. Der Kaufmann, der solche Waren absetzt, be- 
zieht natürlich ebenfalls im Kapitalzinse ein Einkommen, das aus 
der Arbeit des Lohnarbeiters stammt, im zweiten Falle aus beiden 
Arten von Arbeit, denn er erhält ja einen Teil des Gesamtgewinnes, 
in welchen der Unternehmer-Produzent sich mit ihm, dem den Ab- 
satz seiner Produkte besorgenden Kaufmann, zu teilen hat. Dort 
also, wo bloß schöpferische Arbeit den Kapitalgewinn erzeugt, rührt 
auch der kaufmännische Gewinn bloß aus dieser her. 

Aus der schöpferischen Arbeit (ausschließlich) stammt aber der 
Gewinn nur in der fabrikmäßigen Großindustrie. Soweit die ver- 
schiedenen Länder bezw. die einzelnen Industriezweige dieselbe be- 
Sitzen, kann in der Tat behauptet werden, daß dem Arbeiter der volle 
Ertrag seiner Arbeit zufällt. Diesen Großbetrieb hat wohl auch Böhm- 
Bawerk im Auge, wenn er behauptet, daß-unter den gewöhnlichen Ver- 
hältnissen der Zins nicht aus der ausführenden Arbeit fließen kann. 
Dabei übersieht er nur, daß diese Verhältnisse nicht so allgemein 
verbreitet sind, daß der Großbetrieb, wenn er auch stark anwächst, 
noch lange nicht den größten Teil der lohnarbeitenden Bevölkerung 
beschäftigt. Er irrt aber auch andererseits, wenn er meint, daß es 
die vollständig freie Konkurrenz ist, die dem Arbeiter den vollen 
Arbeitsertrag gewährt; denn nicht die freie Konkurrenz unter Unter- 
nehmern wie Arbeitern und der sog. freie Arbeitsvertrag, der zwischen 
dem einzelnen Unternehmer und dem einzelnen Arbeiter abgeschlossen 
wird, versetzt den Arbeiter in den Stand, den Arbeitsertrag voll- 

ständig zu erhalten, sondern im Gegenteil, der Ausschluß der freien 
Konkurrenz, die Zusammenschließung von Arbeitern einerseits, von 
Unternehmern andererseits und die Ersetzung des Einzelvertrags 
durch den Kollektivvertrag, der von den beiden Verbänden im Namen 
ihrer Mitglieder vereinbart wird; während die sog. freie Konkurrenz 
notwendig zur Uebervorteilung des Arbeiters seitens des Unter- 


314 Josef Kulischer, 


nehmers führen muß. Böhm-Bawerk sagt ja selbst, daß „eine außer- 
ordentlich lange Reihe von Lohnarbeitern wegen der Unmöglichkeit 
ihre Arbeit auf eigene Rechnung lohnend zu verwenden, sämtlich 
geneigt und bereit sind, ihr künftiges Arbeitsprodukt gegen eine er- 
heblich geringere Menge gegenwärtiger Güter zu verkaufen, z. B. 
für das künftige Produkt von 10 fl., das aus einer Arbeitswoche nach 
zwei Jahren hergestellt werden kann, ist ein Teil der Arbeiter ent- 
schlossen äußersten Falles mit einem Preise von 5 fl., ein anderer 
Teil sogar mit nur 2 '/, gegenwärtigen Guldens vorlieb zu nehmen“ 1. 
Sind mit 10 fl. und 5 bezw. 2!/, fl. die beiden Grenzen gegeben, 
die der Arbeitslohn nicht überschreiten kann, so hüngt es offenbar 
von der Macht der beiden Parteien auf dem Markte ab, wie hoch 
der Lohn sich tatsüchlich innerhalb dieser Grenzen gestaltet; wührend 
bei uneingeschrünkter Konkurrenz unter den Arbeitern der Lohn 
sich dem Minimum nähern muß, kann er dort, wo die Arbeiter gut 
organisiert sind, ein viel hóheres Niveau erreichen. 

Auch Marx kennt eigentlich zwei Quellen des Kapitalzinses, 
einen Zins, der aus der Arbeit resultiert einerseits und aus der 
Warenzirkulation andererseits. Denn nach ihm gibt es ja Kapitale 
von verschiedener organischer Zusammensetzung, von hóherer Zu- 
sammensetzung als das gesellschaftliche Durchschnittskapital sowohl 
als von niedrigerer Zusammensetzung. In die erste Gruppe fallen 
bei Marx bekanntlich Kapitale derjenigen Produktionssphären, die 
prozentig mehr konstantes und weniger variables Kapital enthalten 
als das gesellschaftliche Durchschnittskapital, zur zweiten gehören 
solche, wo umgekehrt das konstante Kapital einen relativ kleineren, 
das variable einen relativ größeren Raum einnimmt, als beim gesell- 
schaftlichen Durchschnittskapital. Daher ist auch — weil nach Marx 
nur das variable Kapital den Mehrwert schafft — bei Kapitalen von 
höherer Zusammensetzung der Mehrwert im Verhältnis zum Gesamt- 
kapital geringer als beim gesellschaftlichen Durchschnittskapital, da- 
gegen ist bei den Kapitalen von niedrigerer Zusammensetzung der 
Mehrwert hóher als bei jenem Durchschnittskapital. Da jedoch die 
Profitrate durch die Konkurrenz ausgeglichen wird, so muß der 
Produktionspreis der Produkte in solchen Produktionszweigen, wo 
Kapitale von hóherer Zusammensetzung aufgewandt werden. hóher 
sein als der (Arbeits-)Wert der Ware, bei solchen mit Kapitalen von 
niedrigerer Zusammensetzung umgekehrt unter dem Werte stehen. 
Damit die Profitrate überall annähernd gleich sei, muß im letzteren 
Falle ein Teil der Arbeit dem Konsumenten abgegeben werden, im 
ersteren, wo der vom Arbeiter produzierte Mehrwert geringer ist als 
die Durchschnittsprofitrate, muß der Konsument noch ein Plus hin- 
zufügen, d. i. im ersten Falle, bei Produktionszweigen mit relativ 
größerem konstanten Kapital resultiert ein Teil des Mehrwerts aus 
der Warenzirkulation. Zwar erhält die Gesellschaft, als Ganzes be- 
trachtet, ebensoviel Arbeit umsonst durch die Unternehmer, die mit 


1) Bóhm-Bawerk, Kapital und Kapitalzins, Bd. II, S. 334, 350. 


Zur Entwickelungsgeschichte des Kapitalzinses. 315 


Kapitalen von niedrigerer Zusammensetzung produzieren, als sie denen, 
die mit Kapitalen von höherer Zusammensetzung arbeiten, hinzufügen 
muß, also die Kapitalistenklasse als Ganzes dadurch nichts gewinnt, 
jedoch wird auf diese Weise die Behauptung von Marx nicht auf- 
gehoben, daß es Produktionssphären gibt, deren Gewinn zu einem 
mehr oder weniger erheblichen Teile aus dem Warenumsatz entsteht 
und vom Konsumenten geleistet wird. 

Jedoch kann letzteres für die Gegenwart nicht zugegeben werden. 
Unter der Herrschaft der freien Konkurrenz beim Warenabsatz ist 
eine solche Entrichtung des Gewinnes durch den Konsumenten ganz 
unmöglich. Es sind mittelalterliche Zustände nötig, geschlossene 
Stadtwirtschaft und Zunftmonopol, damit man den Konsumenten 
zwingen kann, dem Produzenten über dem Arbeitswerte der Ware 
zu zahlen. Heute können sich die Unternehmer auf diese Weise 
nicht mehr helfen, sie müssen einen anderen Weg einschlagen, um den 
fehlenden Mehrwert einzubringen — nämlich den Arbeitslohn nicht 
so weit steigen lassen, wie dies in den anderen Produktionszweigen 
geschieht. Und solches können wir in der Tat sowohl in der Haus- 
industrie wie in den kleineren Fabriken beobachten, und überhaupt 
in Produktionszweigen mit wenig fortgeschrittener Technik. Geht 
man natürlich von der Voraussetzung aus, daß der Arbeitslohn in 
der „kapitalistischen“ Wirtschaft immer und überall gleich sein muß, 
so ist eine solche Erklärung unmöglich. Aber der Lohn ist eben 
in der „kapitalistischen“ Wirtschaft, denn diese beginnt jedenfalls 
seit dem 16. Jahrhundert, verschiedenartig, je nach den Macht- 
verhältnissen der Unternehmer und Arbeiter, die sich in dieser oder 
Jener Weise gestalten können. Er ist daher ein anderer im 18. Jahr- 
hundert, ein anderer in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ein 
anderer zu Ende des Jahrhunderts. Ebenso weist das Ende des 
19. Jahrhunderts eine Verschiedenheit in dem Verhältnis zwischen 

Unternehmer und Arbeiter auf, im fabrikmäßigen Großbetrieb einer- 
=eits, in kleinen Fabriken wie in der Hausindustrie andererseits. Im 
ersten Falle finden wir häufig eine organisierte Arbeiterschaft, welche 
e in einheitliches Ganze bildet und eine Konkurrenz untereinander 
wait allen Mitteln auszuschließen sucht, im zweiten Falle herrscht 
eine ungezügelte Konkurrenz unter den Arbeitern, wie sie zu An- 
fang des 19. Jahrhunderts noch überall vorhanden war; daher der 
Arbeiter so schwach gegenüber dem Unternehmer, seine Abhängigkeit 
so groß: daher der Lohn hier viel niedriger als in der Großindustrie. 


XII. 


Der Warenpreis kann zwar unmöglich unter den gegenwärtigen 
Wirtschaftsverhältnissen über dem Arbeitswerte der Ware stehen, 
doch er kann unter denselben fallen, und er kommt um so tiefer 
unter den Arbeitswert zu stehen, je größer der technische Fort- 
schritt, der im betreffenden Industriezweige gemacht ist. Marx be- 
hauptet zwar das Gegenteil, daß nämlich umgekehrt der Preis dort 
unter den Arbeitswert sinkt, wo das variable Kapital im Verhältnis 


316 Josef Kulischer, 


zum konstanten bedeutend ist, also die physische Arbeit nur wenig 
durch die Maschine ersetzt ist, und dort über dem Arbeitswerte steht, 
wo das umgekehrte Verhältnis vorhanden ist. Dies rührt jedoch, 
ebenso wie das Vorhandensein bei Marx dieser zweiten Kategorie 
überhaupt, der Kategorie von Waren, deren Preis den Arbeitswert 
übersteigt, davon her, daß Marx unter Arbeitswert etwas derartiges 
versteht, was keineswegs diesen Namen führen kann. 

Nach Marx hat nämlich die Arbeitskraft sowohl einen Kostenwert 
(„eigener Wert“) als einen Gebrauchswert. Nach dem ersteren wird 
der Arbeitslohn bemessen, der zweite äußert sich in den vom (aus- 
führenden) Arbeiter produzierten Waren und dadurch, daß der Ge- 
brauchswert den Kostenwert übersteigt, entsteht eine Differenz, welche 
den Gewinn des Kapitalisten darstellt. „Der Umstand, daß die tägliche 
Erhaltung der Arbeitskraft nur einen halben Arbeitstag kostet, obgleich 
die Arbeitskraft einen ganzen Tag wirken, arbeiten kann, daß daher 
der Wert, den ihr Gebrauch während eines Tages schafft, doppelt 
so groß ist als ihr eigener Tageswert, ist ein besonderes Glück für 
den Käufer (den Kapitalisten), aber durchaus kein Unrecht gegen 
den Verkäufer“). Jedoch auch die Maschine besitzt nach Marx 
einen Kostenwert (Tauschwert), der unter ihrem Gebrauchswert liegt, 
da „ihre eigene Produktion weniger Arbeit kostet als ihre Anwen- 
dung Arbeit ersetzt“. „Die Differenz dauert so lange, als die Arbeits- 
kost der Maschine .... kleiner bleibt als der Wert, den der Arbeiter 
mit seinem Werkzeug dem Arbeitsgegenstand zusetzen würde. Die 
Produktivität der Maschine mifit sich daher an dem Grad, worin sie 
menschliche Arbeitskraft ersetzt?). Und anders kann auch die Auf- 
fassung von Marx nicht sein: die Maschine muß sowohl einen Kosten- 
(Tausch)wert besitzen, welcher der bei ihrer Produktion aufgewandten 
Arbeit entspricht und zu welchem die Maschine wie jede andere 
Ware erworben wird, als einen Gebrauchswert, der durch den Wert 
der ersetzten Arbeitskraft bestimmt wird und notwendig den (Kosten-) 
Wert übersteigen muß, damit die Anwendung der Maschine in der 
Produktion vorteilhaft sein kann. Weiter macht er aber einen Unter- 
schied zwischen der menschlichen (physischen) Arbeitskraft und der 
Maschine: in den Wert der Ware kommt zwar der Gebrauchswert der 
Arbeitskraft hinein, dagegen der Kostenwert der Maschine, weil die 
Konkurrenz den Wert des Produkts so weit sinken läßt, bis jener durch 
die Maschine geschaffene Ueberschuß ganz aufgehoben ist. Während 
der Kapitalist den Gebrauchswert der Arbeitskraft konsumiert, also 
die Arbeitskraft dem Produkte mehr Wert zusetzt als ihre eigene 
Erhaltung kostet, ,setzt die Maschine nie mehr Wert zu, als sie im 
Durchschnitt durch ihre Abnutzung verliert^?). Die Maschine ist 
also nach Marx ebenso produktiv wie die (physische) Arbeitskraft, 
nur daß den Vorteil von ihrer Produktivität der Konsument, nicht 


1) Marx, Das Kapital, Bd. 1, 2. Aufl., 1873, S. 182. 
2) Marx, Bd. 1, S. 407. 
3) Ibid., Bd. 1, S. 403 ff. 


Zur Entwickelungsgeschichte des Kapitalzinses. 317 


der Unternehmer genießt, dem Unternehmer nur die Kosten der 
Maschine erstattet werden; derselbe Unternehmer eignet sich den 
ganzen Vorteil von der Produktivität der (physischen) Arbeitskraft 
an, da er im Preise der Ware viel mehr als die bloßen Kosten der 
Arbeitskraft empfängt. 

Nun fragt es sich, ob man unter diesen Umständen wirklich be- 
haupten kann, daß die Waren nach der in ihnen erhaltenen Arbeit aus- 
getauscht werden? Damit dies bejaht werden könnte, müßten offen- 
bar beide Arten von Arbeit, sowohl die ausführende (physische) 
Arbeit des Lohnarbeiters als die in der Maschine enthaltene und in 
ihrer Tätigkeit sich offenbarende schöpferische Arbeit des Erfinders 
nach ihrem Gebrauchswert (besser Leistungswert) gemessen, in den 
Preis hineinkommen, nach der in den Waren verkörperten Energie 
des arbeitenden Menschen, nicht aber nach dem Kostenwert. Im 
letzteren Falle, wenn nicht bloß die Maschine, sondern auch die 
Arbeitskraft des Lohnarbeiters nur so viel Wert dem Produkte zu- 
setzt, als sie durch Abnutzung verliert und als ihre Erhaltung 
kostet, müßte der Gewinn des Kapitalisten ganz fortfallen, da ja der 
Wert der Erhaltung der Arbeitskraft (der Kostenwert) dem Arbeits- 
lohne entspricht, und die Waren würden sich nach den Auslagen 
des Kapitalisten auf Lohn wie Produktionsmittel und Rohmaterialien 
austauschen. Aber auch der erste Fall, wenn sowohl die Arbeits- 
kraft des ausführenden Arbeiters als die des Erfinders, die in der 
Maschine ausgedrückt ist, ihren vollen Leistungs(Gebrauchs-)wert der 
Ware zusetzen würden, die Konkurrenz eine volle Konsumtion des- 
selben seitens des Unternehmers zuließe, wie sie es ja, nach Marx, in 
Bezug auf die Arbeitskraft des Lohnarbeiters zuläßt, jener Fall, wo sich 
die Waren in der Tat nach dem Arbeitswerte austauschen, ist offenbar 
unter den Wirtschaftsverhültnissen des 19. Jahrhunderts unmöglich ; 

denn diese Annahme setzt ja voraus, daß von der Einführung der 

ZMlaschinen in die Produktion nur der Unternehmer, nicht auch der 

Konsument, einen Vorteil gewinnt; daß für den Konsumenten die 

Anwendung neuer Erfindungen bedeutungslos bleibt, dagegen die 

ganze Differenz zwischen Leistungswert und Kostenwert der Maschine 
wn die Hände des Unternehmers gelangt, da eben der Preis trotz der 
jortschreitenden Produktionstechnik in diesem Falle keine Verminde- 
rung erfährt. 

Marx begreift auch, daß eine solche Theorie zu unhaltbaren 
Schlüssen führen muß, sucht aber wenigstens einen Teil derselben 
zu retten, indem er behauptet, daß der eine Teil, die Arbeit des 
ausführenden Arbeiters, in der Tat nach ihrem Werte (Leistungs- 
werte) bemessen in den Warenwert (Preis) hineinkommt, während 
er die schöpferische, in der Maschine verkörperte Arbeit nur zum 
Kostenwerte rechnet und die Schwierigkeiten, die sich daraus für 
das Wertproblem ergeben, sollen dadurch umgangen werden, daß 
der Begriff der „gesellschaftlich-notwendigen“ Arbeitszeit eingeführt 
wird, d. i. jener Arbeitszeit, welche notwendig ist, um irgend eine 
Ware „mit den vorhandenen gesellschaftlich-normalen Produktions- 


318 Josef Kulischer, 


bedingungen“ herzustellen. Sagt man aber, die Waren tauschten 
sich im Verhältnis der zu ihrer Produktion gesellschaftlich- 
notwendigen Arbeitszeit ein, so heißt dies, daß der Austausch 
nach der in ihnen enthaltenen physischen Arbeit erfolgt, wenn 
man von der schöpferischen Arbeit absieht und dieselbe 
nur nach den Kosten rechnet, die sie dem Unternehmer verursacht. 
Indem nämlich die Produktionsbedingungen, d. h. hauptsächlich die 
Technik der Produktion als gegeben angenommen werden, wird von 
dem zweiten Element, der schöpferischen Arbeit, vollständig ab- 
strahiert, obwohl dieselbe ebenso veränderlich ist wie die nachgetane 
Arbeit, bei der Warenproduktion der letzteren ebenbürtig zur 
Seite steht. 

Wie man sieht, sind ,gesellschaftlich-notwendige^ Arbeitszeit und 
Arbeitswert überaus verschiedene Größen; entspricht bei Marx der 
Tauschwert der zur Produktion der Ware gesellschaftlich-notwendigen 
Arbeitszeit, so weicht er bedeutend von dem Arbeitswerte ab, er steht 
immer in mehr oder weniger erheblichem Grade niedriger als der Arbeits- 
wert, wenn man unter dem Arbeitswert die gesamte sowohl schöpfe- 
rische vorgetane wie physische nachgetane Arbeit begreift, die zur 
Herstellung der Ware notwendig ist — und anders kann die Auf- 
fassung nieht sein, will man konsequent verfahren —, die gesamte in 
der Ware verkórperte Arbeitsenergie in diesem Begriffe zusammen- 
fat. Diese Abweichung des Tauschwertes (Preises) vom Arbeits- 
werte der Ware muß mit der Zeit immer größer werden, da ein 
immer größerer Teil der schópferischen Arbeitsenergie an den Kon- 
sumenten in Form fortschreitender Preisherabsetzung übergeht. Je 
vollkommener nàümlich die Technik wird, desto mehr ausführender 
Arbeit wird durch schópferische vorgetane Arbeit ersetzt; der Unter- 
schied zwischen der Arbeit (den Kosten), welche die Maschine kostet 
und jener, welche sie ersetzt, zwischen dem Kostenwerte und dem 
Leistungswerte derselben wird zwar lange Zeit hindurch vom Unter- 
nehmer für sich behalten, zuerst ganz, dann zu einem immer geringer 
werdenden Teil, jedoch wird der andere Teil, schließlich auch das 
Ganze, allmählich dem Konsumenten entrichtet und dies bedeutet, 
daß mit der Einführung und Verbreitung jeder neuen Erfindung der 
Warenpreis jedesmal weiter unter den Arbeitswert sinkt. 

Man braucht also gar nicht darauf hinzuweisen, daß die Theorie 
vom Austausch der Waren nach der zur Herstellung derselben „ge- 
sellschaftlich-notwendigen Arbeitszeit“ mit den Tatsachen des Wirt- 
schaftslebens in Widerspruch steht, um zu zeigen, daß (im :19. Jahr- 
hundert) der Warenaustausch unmöglich nach dem Arbeitswerte der 
Produkte erfolgen kann, da eben der Arbeitswert einer Ware gar 
nicht identisch ist mit der zu ihrer Produktion gesellschaftlich not- 
wendigen Arbeitszeit, wie sie Marx versteht, der Arbeitswert viel- 
mehr jene Arbeitszeit stets mehr oder weniger übersteigen muß. Ja 
noch mehr: ein konstantes Verhältnis zwischen Arbeitswert und ge- 
sellschaftlich-notwendiger Arbeitszeit besteht überhaupt nicht. Wie 
dieses Verhältnis bei jeder Ware in den verschiedenen Zeitperioden 


Zur Entwickelungsgeschichte des Kapitalzinses. 319 


ein verschiedenes ist, so ist es auch in jeder gegebenen Periode bei den 
einzelnen Waren ein mannigfaltiges; wie der Abstand im Laufe des 
19. Jahrhunderts immer größer wird, so ist er zugleich in jedem Zeit- 
punkte viel bedeutender bei denjenigen Waren, bei deren Produktion 
physische Arbeit in erheblichem Maße durch schöpferische verdrängt 
ist als bei den Waren jener Produktionsbranchen, die viel physische 
und wenig schöpferische Arbeit in der Produktion anwenden. Nur 
in dem Falle, wenn das Kapital in allen Zweigen in gleicher Proportion 
aus konstantem und variablem Kapital (im Sinne von Marx) bestände 
oder vielmehr wenn das Kapital sich in gleicher Proportion aus 
schöpferischer und physischer Arbeit zusammensetzte, nur dann könnte 
der Warenaustausch (gesetzt, daß der Preis der gesellschaftlich-not- 
wendigen Arbeitszeit entspricht) wenn auch nicht nach dem Arbeits- 
werte, so doch in einem konstanten Verhältnis zu demselben stattfinden, 
weil dann das Verhältnis zwischen Arbeitswert und gesellschaftlich not- 
wendiger Arbeitszeit bei allen Waren ein gleiches wäre. Weil jedoch 
das Verhältnis zwischen ausführender und physischer Arbeit in den 
einzelnen Branchen ein verschiedenes ist, je nach der Höhe der 
Technik, nach dem Grade, in welchem physische Arbeit durch die 
Maschine ersetzt ist (weswegen auch hauptsächlich die Zusammen- 
setzung des Kapitals in konstante und variable Bestandteile eine 
verschiedene ist), so beträgt die gesellschaftlich-notwendige Arbeits- 
zeit in gewissen Produktionszweigen viel weniger als in anderen 
nicht bloß absolut, sondern auch im Verhältnis zur Höhe des Ar- 
beitswertes der betreffenden Ware. Setzen wir nun an Stelle der- 
Marxschen gesellschaftlich-notwendigen Arbeitszeit den wirklichen 
Marktpreis, der über demselben steht, weil Marx den aus der schöpfe- 
Tischen Arbeit resultierenden Kapitalgewinn übersieht, ihn als zeit- 
weiligen und vorübergehenden Preisbestandteil betrachtet, während 
tatsächlich — wie oben gezeigt — derselbe stets im Preise vorhanden 
ist und die letzte Erfindung immer über ihrem Kostenwerte in den 
Preis der Ware hineinkommt — so werden wir auch in diesem Falle 
sagen müssen, daß der Preis sowohl unter dem Arbeitswerte der 
“Ware steht als auch bei den einzelnen Produktionszweigen in einem 
Sberaus verschiedenen Maße, daß das Verhältnis zwischen Arbeits- 
wert und Preis sich sehr mannigfach gestaltet, indem die Konsu- 
menten in dem einen Falle einen viel größeren Teil des Leistungs- 
' werts der schöpferischen Arbeit erhalten als in anderen, wo diese 
schöpferische Arbeit in nur geringem Grade vorhanden ist. 

Mit dem 19. Jahrhundert ist die Preisbewegung in eine neue 
dritte Periode getreten. Die erste Periode bildete das Mittelalter, 
wo die Preise über dem Arbeitswerte standen, über dem Leistungs- 
werte der Arbeit des Zunftmeisters, so daß neben dem Gewinn, den 
der Geselle dem Meister verschaffte, auch der Konsument einen solchen 
entrichten mußte, was das Zunftmonopol ermöglichte. Die Höhe des 
Gewinnes, den der Konsument leistete, wie auch jenes vom Gesellen 
erarbeiteten, gestaltete sich überaus verschieden, je nach der Stellung, 
welche dieses oder jenes Gewerbe auf dem Markte einnahm, wes- 


320 Josef Kulischer, 


wegen die Preise in gewissen Fällen den Konsumtionswert, ihre 
oberste Grenze, erreichten, in anderen Fällen mehr oder weniger 
unter demselben standen, immer aber über dem Arbeitswerte der 
Ware. Die zweite Periode, welche das 16.—18. Jahrhundert umfaßt, 
wird durch den Wegfall des vom Konsumenten früher entrichteten 
Gewinnes gekennzeichnet, durch den Zusammenfall zwischen Ar- 
beitswert und Warenpreis, indem nun bloß die Arbeit und zwar die 
physische Arbeit die Quelle des Zinses bildet, die Kapitalien ferner 
von ähnlicher Zusammensetzung sind und die Konkurrenz noch zu 
schwach ist, um die wegen verschiedener Lohnhöhe, Löhnungsweise etc. 
entstehenden individuell abweichenden Gewinnraten in eine allgemeine 
Durchschnittsrate zu verwandeln. Seit Ende des 18. und Anfang 
des 19. Jahrhunderts endlich, womit die dritte Periode beginnt, fällt 
der Preis unter den Arbeitswert, indem zur physischen Arbeit noch 
die schöpferische hinzukommt, jedoch ein immer größerer Teil des 
Leistungswertes dieser letzteren durch den Preisniedergang an 
den Konsumenten übergeht. Die Arbeit oder vielmehr die beiden 
Arten von Arbeit bleiben nämlich auch jetzt die alleinigen Quellen 
des Wertes, weil aber die Kapitalien von verschiedenartiger Zu- 
sammensetzung und Dauer sind, der Kapitalgewinn jedoch (in den 
verschiedenen Produktionszweigen) einem annähernd gleichen Niveau 
zustrebt, so muß in dem einen Falle ein größerer, in dem anderen 
ein geringerer Teil des Wertes dem Konsumenten ausbezahlt werden; 
der Preis stellt sich in den verschiedenen Industriezweigen bald 
“näher, bald weiter vom Arbeitswert der Ware; dieser letztere bildet 
aber die oberste Grenze des Preises, welche der Preis nicht über- 
steigen kann. In diesem jedesmal weiteren Preisniedergang, in dieser 
Entfernung des Preises immer weiter vom Arbeitswert der Ware, 
dem Uebergange eines immer größeren Teiles des Arbeitswertes und 
zwar hauptsächlich des Leistungswertes der schöpferischen Arbeit 
an den Konsumenten liegt der große Kulturfortschritt, den das 19. Jahr- 
hundert gebracht hat, indem es nicht bloß den Preis dem Produk- 
tionswerte der Ware, der den Auslagen des Unternehmers in der 
Produktion entspricht, noch mehr genähert hat, durch weiteren Rück- 
gang der Zinsquote; sondern auch den Produktionswert selber, der 
in den vorhergehenden Jahrhunderten fast stabil war, bedeutend ver- 
mindert hat, damit eine quantitativ größere und qualitativ bessere 
und vielseitigere Bedürfnisbefriedigung ermöglicht hat. Viele Waren, 
die früher nur zum Konsum der oberen Klassen gehörten, konnten 
nun auch von den unteren Schichten der Bevölkerung konsumiert 
werden; viele Bedürfnisse, die früher gar nicht oder nur teilweise 
befriedigt wurden, gelangten nun zur Befriedigung, neue Bedürfnisse 
wurden erweckt und fanden auch ihre Befriedigung mittels der im 
Preise immer weiter unter den Arbeitswert herabgehenden Waren. 


Schluß. 


‚Der Kapitalist-Unternehmer arbeitet als solcher nicht, er erzeugt 
in dieser seiner Eigenschaft keine Waren. Denn wenn er daneben noch 


Zur Entwickelungsgeschichte des Kapitalzinses. 321 


dispositive Arbeiten verrichtet, so bezieht er dafür außerdem ein 
besonderes (wenn auch nicht bedungenes) Arbeitseinkommen. Damit 
sein Kapital ihm einen Gewinn abwerfen kann, muß er sich also den- 
selben von anderen hergeben lassen. Diese anderen Elemente, mit 
denen er in Berührung kommt, sind die physischen und geistigen 
Arbeiter, die in der Unternehmung oder für dieselbe tätig sind einer- 
seits, die Produzenten, die das Rohmaterial liefern und die Konsu- 
menten, die das fertige Produkt beziehen, andererseits. Die wirt- 
schaftliche Macht des Unternehmers gegenüber jedem dieser Elemente 
entscheidet nun, wie das Produkt sich zwischen ihnen verteilt: welche 
Elemente gezwungen sind, den Gewinn zu schaffen, ihn dem Unter- 
nehmer zu erarbeiten, bezw. aus dem eigenen Einkommen (das aus 
verschiedenen Quellen stammen kann) beim Warenaustausch her- 
zugeben, welche dagegen stark genug sind, um sich von diesem Zwang 
zu befreien, welche endlich eine so große wirtschaftliche Macht dem 
Unternehmer gegenüber besitzen, daß sie einen Teil des von anderer 
Seite herrührenden Gewinnes von ihm erhalten können. Da der 
Kapitalzins ein arbeitsloses Einkommen darstellt, so kann es eben 
anders nicht sein — jemand muß ihn dem Kapitalisten liefern; es kann 
sich nur darum handeln, wer ihn in den verschiedenen Perioden der 
Wirtschaftslebens zu liefern hat. 

Und wir haben in der Tat gesehen, daß die Elemente, von denen 
der Unternehmer den Kapitalgewinn erhält, sich ändern im Verlaufe 
der Geschichte, daß die einen durch andere ersetzt werden, um später 
wieder von dritten verdrängt zu werden. Der Kapitalgewinn ändert 
eben seine Gestalt im Laufe der kulturellen und wirtschaftlichen 
Entwickelung, er läuft mit derselben parallel; er wird ethischer — 
wenn man so sagen darf — im Laufe der Zeit, wie auch alles 
andere ihn umgebende. Ursprünglich aus dem Raube hervor- 
£regangen, wie aus der Sklavenarbeit, ist er in der nächsten Periode 

ra och eng mit dem Raube verbunden. Er entsteht durch List und 
ESetrug, durch Ausbeutung eines engen Monopols im Handel, bei 
Einkauf wie Verkauf der Waren, wie auch beim Absatz von Ge- 
w erbeprodukten ; durch herrschaftliche Stellung des Meisters gegenüber 
wem Gesellen, dem Knechte. Nur allmählich wird das Monopol 
im Handel durchbrochen, nur langsam streifen die Beziehungen 
des Unternehmers zum Arbeiter ihren herrschaftlichen Charakter 
ab, denn noch lange steht der Staat auf seiten der Stürkeren, der 
Handelskompagnien wie der Kapitalisten-Verleger, bis er sich end- 
lich entschließt, diese Begünstigung aufzugeben und dem freien Walten 
der wirtschaftlichen Kräfte das gesamte Wirtschaftsleben, darunter 
auch die Bildung des Kapitalzinses zu überlassen. Im Handel kommt 
dadurch vollständig freie Konkurrenz zu stande, es treten sich gleich 
starke Parteien gegenüber und der aus der Warenzirkulation hervor- 
gehende Kapitalgewinn wird allmählich beseitigt; ja es tritt bald der 
entgegengesetzte Fall ein, wo der Unternehmer unter dem Drange 
der Konkurrenz einen Teil des erworbenen Mehrprodukts dem Konsu- 
menten abgeben muß. In den Beziehungen zwischen Unternehmer 


Dritte Folge Bd. XXV (LXXX), 21 


322 Josef Kulischer, Zur Entwickelungsgeschichte des Kapitalzinses. 


und Arbeiter tritt jedoch nur an Stelle des herrschaftlichen Verhält- 
nisses der zwar rechtlich freie, faktisch jedoch unfreie Arbeitsvertrag, 
an Stelle des rechtlichen vom Staate verliehenen Monopols ein 
faktisches aus der Kapitalmacht des Unternehmers hervorgehendes 
Monopol, das ihm ebenso wie das frühere die Macht verleiht, 
einen Teil des vom Arbeiter produzierten in Kapitalzins zu ver- 
wandeln. Diesem Zustand macht erst die nächste Periode ein 
Ende, wo der Staat, der in den vorhergehenden Jahrhunderten auf 
seiten der Unternehmer stand, nachdem er die Uebergangsperiode 
des laissez-faire durchgemacht, seine neutrale Stellung aufgibt und 
zu Gunsten der Schwächeren, der Arbeiter eintritt, auch hier gleiche 
Machtverhältnisse zu schaffen sucht, diese Quelle des Zinses eben- 
falls versiechen lassen will. Auch der Gewinn, der aus der schöpfe- 
rischen Arbeit entsteht, wird vom Staate reguliert: weder soll dem 
Erfinder das ganze von der Erfindung Produzierte weggenommen 
werden, wie es früher der Fall war, noch soll er das ganze Pro- 
dukt seiner Arbeit für sich ausbeuten können — nach einer be- 
stimmten Frist, während der er vom Unternehmer entlohnt wird, 
geht das Mehrprodukt an den Konsumenten über, nur ein kleiner 
Teil bleibt beim Unternehmer zurück. Raub, Monopol und herr- 
schaftliche Verhältnisse, Uebermacht des Kapitals gegenüber dem 
isoliert dastehenden Arbeiter, endlich freie Konkurrenz im Handel 
und staatliche Regelung des Arbeitsverhältnisses in der Industrie — 
das sind die Etappen auf dem Wege, den der Kapitalgewinn in 
seiner Entwickelung zurückgelegt hat. Unter der gleichen äußeren 
Form eines in Gewerbe und Handel vorhandenen arbeitslosen Ein- 
kommens war in den verschiedenen Zeiten ein verschiedener Inhalt 
verborgen, und bis der Kapitalgewinn jene Stufe erreicht hat, in der 
wir ihn heute vorfinden, hat er eine lange tatsachenreiche Entwicke- 
lung durchmachen müssen. 


J. Barond'Aulnisde Bourouill, Die Zuckerfrage in den Parlamenten Europas. 393 


Nachdruck verboten. 


VI. 
Die Zuekerfrage in den Parlamenten 
Europas. 


Prof. Dr. J. Baron d'Aulnis de Bourouill!, Utrecht. 


Inhalt. Die Brüsseler Konvention in Belgien, im deutschen Reichstage. Frage 
über die Fortsetzung der Kontingentierung im Deutschen Reiche. Die Konvention in 
Rom. Gegner der Konvention in verschiedenen Lündern. Die Zuckerfrage im englischen 
Unterhause; Verhältnis zu Rußland ; England und die autonomen Kolonien. Die Kon- 
vention in den Generalstaaten im Haag und in der Deputiertenkammer in Paris. Gesetz- 
vorlage und staafliche Kontingentierung in Oesterreich-Ungarn. 


Die Freunde des Friedens im Handelsverkehr sind in der glück- 
lichen Lage, auf eine neue Errungenschaft hinweisen zu können. Vor 
dem 2. Februar 1903 wurden in Brüssel die Ratifikationen der Kon- 
vention zur Abschaffung der Zuckerprämien eingereicht. Ein wichtiges 
Werk ist damit geschehen. Die Zuckerindustrie wird am 1. September 
in ihre natürlichen Bahnen geleitet. Der Kampf um die Ausfuhr- 
Prämien hatte sich im Laufe der Zeit mehr und mehr als gefährlich 
für die Industrie selbst erwiesen. Zur Besserung der Lage haben 

die europäischen Regierungen amtlich das große Mittel angewendet: 
Grleichmachung des Wettbewerbs auf dem Weltmarkt und Wieder- 
eröffnung, soweit das möglich ist, der einheimischen kontinentalen 
Märkte für den nationalen Verbrauch. 
Während der Konferenz in Brüssel war es von vornherein 
wänchem klar, daß der Beitritt seitens der Parlamente zu dem am 
>. März 1902 abgeschlossenen Vertrag einigen Widerstand finden 
würde. Hier mußten naturgemäß die Gegensätze schärfer hervor- 
treten als auf der Konferenz selbst. In Brüssel waren Diplomaten 
zusammen und Delegierte mit besonderem Auftrag, alles Vertreter 


1) Der Verfasser dieses, teilweise schon in der holländischen Monatsschrift de 
Economist erschienenen Aufsatzes war bei der Brüsseler Konferenz zur Abschaffung der 
Zuckerprämien (Juni 1898 und Dezember 1901 bis März 1902) einer der Delegierten 
der niederländischen Regierung. Im Jahre 1899 schrieb er zur Erläuterung der Prämien- 
frage ein Buch: Les Primes à l’exportation du Sucre (la Haye, Belinfante frères) und, 
nach dem Zustandekommen des internationalen Vertrags, veröffentlichte er, auf Gesuch 
einiger Mitglieder der Konferenz, einen Kommentar zum Vertrag (La Convention relative 
au régime des sucres, conclue le 5 mars 1902 à Bruxelles, annotée d’après les pièces 
officielles, la Haye, Belinfante frères). 

Die erste Arbeit wurde im Jahrgange 1900, S. 129 dieser Jahrbücher besprochen, 
die zweite in dem Dezemberheft 1902. 


21* 


324 J. Baron d’Aulnis de Bourouill, 


von Regierungen, welche schon dadurch, daß sie Abgeordnete ge- 
schickt hatten, bekundeten, in derselben Richtung steuern zu wollen. 
In den Parlamenten dagegen waren Gegner zu erwarten. Würden 
auf politischem Gebiete die Parteiinteressen schweigen, wo eine Re- 
gierung eine Gesetzesvorlage einreicht, welche tief in die ókono- 
mischen Interessen der Nation einschneidet, und wo es einer Sache 
gilt, „einem internationalen Vertrag“, wie das deutsche Reichstags- 
mitglied Richter nachher die Konvention nannte, ,von einer Bedeu- 
tung auf wirtschaftlichem Gebiet, wie kaum seit Jahrzenten irgend 
ein internationaler Vertrag unter so großen Staaten geschlossen 
wurde* ? 

Die Schwierigkeiten sind jetzt glücklich überwunden. Wer sich 
am wenigsten über den Kampf zu beklagen hat, ist wohl die belgi- 
sche Regierung. Schon am 18. Mürz reichte sie der Deputierten- 
kammer eine Gesetzesvorlage ein, welche aus einem einzigen Artikel 
bestand, zur Gutheißung des Vertrags. Die beigefügte Denkschrift 
ist hauptsächlich eine Zusammenfassung der Procès-Verbaux der 
Konferenz und fügt diese Beurteilung des Vertrages hinzu: ,Cette 
œuvre est le fruit de négociations laborieuses, d'efforts poursuivis 
avec persévérance, de concessions réciproques dont A faut savoir 
gré aux Gouvernements qui ont répondu à l'appel de notre pays. 
Aussi la Convention du 5 mars 1902 doit-elle étre considérée comme 
réalisant le plus grand bien que l'on puisse attendre actuellement 
d'un accord international en la matière. En ce qui concerne 
spécialement l'agriculture elle assure autant qu'il est possible la 
stabilité de la culture industrielle de la betterave en la soustrayant 
à l'aléa de la politique fiscale des pays étrangers.^ Weiter machte 
die Regierung ihr Vorhaben kund, einen Gesetzentwurf einzubringen, 
um die Zuckersteuer — jetzt 51 fres. pro 100 kg — auf 15 fres. zu 
ermäßigen, und dieselbe nach dem Entrepótsystem zu heben, — also 
das System der Steuerberechnung nach dem Saft zu verlassen. An 
der Beratung in der Deputiertenkammer im Monat Mai beteiligte 
sich nur ein Mitglied, Herr Loran, der den Wunsch nach betrücht- 
licherer Steuerermäßigung, als vom Minister vorgeschlagen war, aus- 
sprach. Die Gesetzvorlage selbst wurde einstimmig angenommen. 
Dies war auch im Senate der Fall, obwohl dort die Diskussion über 
den zukünftigen Steuertarif etwas lebhafter war D. 

Von einer Agitation in den Kreisen der Landwirte oder der 
Fabrikanten ist in Belgien keine Spur vorhanden gewesen. Doch 
muß bemerkt werden, daß bei Abschaffung der Prämien die belgi- 
schen Industriellen eine beträchtliche Stütze entbehren werden. In 
Belgien existiert noch das alte System der Steuerberechnung nach 
Saft (prise en charge). Die tatsächliche Ausbeute ist unbekannt. 
Bis jetzt ließ man gelten, daß die belgische Ausfuhrprämie ungefähr 
5 fres. pro 100 kg betrug. In der letzten Zeit aber wurde von be- 


1) Die Diskussionen findet man in „La Sucrerie belge, organe de la Société Générale 
des fabricants de sucre de Belgique“ vom 15. Mai und vom 1. Juni 1902. 


Die Zuckerfrage in den Parlamenten Europas ` 325 


wührter Seite behauptet, daf die Menge, welche in den belgischen 
Fabriken sich der Steuer entzieht, viel größer ist, als bis jetzt an- 
genommen wurde, und daß die Prämie wohl auf 8 frcs. pro 100 kg 
zu berechnen sei. Wie dem auch sei, jedenfalls würde in Belgien 
eine Bewegung gegen die Konvention vollständig aussichtslos ge- 
wesen sein. Der begischen Regierung gereicht es unzweifelhaft zur 
Ehre, durch Ausdauer und kluge Politik zu stande gebracht zu haben, 
was fast 40 Jahre lang auf verschiedenen internationalen Konferenzen 
vergebens versucht worden war. 

Der talentvolle erste Minister, Graf de Smet de Naeyer, hatte 
mehr und mehr seinen ganzen Willen für die Erreichung des Zweckes 
eingesetzt. Als in der letzten Konferenzsitzung am 5. März seine 
Exzellenz die Worte aussprach: „La Convention qui vient d'étre 
signée est une œuvre de solidarité internationale basée sur les 
principes les plus rationnels de la science économique. C'est aussi 
en un certain sens, une œuvre de paix, car en proscrivant le système 
des primes, elle condamne la forme la moins justifiable du protection- 
nisme, sa forme agressive“, da konnte man in jenen Worten den 
Ausspruch des ganzen belgischen Kabinetts sehen, von der über- 
großen Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. Da zugleich die ge- 
wöhnliche Oppositionspartei in Belgien immer am kräftigsten gegen 
die Zuckerprämien protestiert hatte, waren schließlich alle Parteien 
über die Sache einig. Einer solchen Krüftevereinigung gegenüber 
würe seitens der Industriellen jede Opposition von vornherein hoff- 

ungslos gewesen. 

Anders schien sofort (im Mürz) die Lage im Deutschen Reich 
zu sein. Die Reichsregierung wurde durch die Parteiverhältnisse 
im Reichstage mit einigen Schwierigkeiten bedroht, als in Berlin die 
Nachricht eintraf, daß in Brüssel auch von den deutschen Delegierten 

«ler Vertrag unterzeichnet sei. Die Vertreter der Prämien erwogen 
sofort, ob eine Verwerfung des Vertrags geraten sei. In der Welt- 
p»roduktion spielt Deutschland eine Hauptrolle. Von den 10 600000 
Tonnen, welche das Betriebsjahr 1901— 1902 im ganzen lieferte, sind 
neicht weniger als !/, (nämlich 2300000 t) deutscher Herkunft. Die 
Ssblehnung des Vertrags in Deutschland würde die Frage veranlaßt 
Waben, ob England es für geraten hielte, den deutschen Zucker mit 
einem der deutschen Prümie gleichstehenden Zoll zu treffen, eine 
Frage, die wieder davon abhüngig gewesen würe, ob England auf 
zureichende Zufuhr von Kolonialzucker und von franzósischem, 
niederlàndischem und belgischem Zucker rechnen, also die Einfuhr 
deutschen Zuckers entbehren konnte. Hätte England jenen Kampf 
angenommen, dann würden für Java und Holland goldene Tage an- 
gebrochen sein. Wäre aber die Ablehnung des Reichstages das 
Zeichen für einen allgemeinen Rückzug gewesen, dann hätten die 
deutschen Raffineure und Fabrikanten, die ja aus ihrem Kartelle Ge- 
winne genießen, den Sieg davon getragen. Denn daß das Zucker- 
kartell zur Ablehnung des Vertrags alle Krüfte anspannen würde — 
eines Vertrages, der den Kartellen ihre ókonomische Grundlage zu 
entzi<hen drohte — das war vorauszusehen. 


326 J. Baron d’Aulnis de Bourouill, 


Freilich, wer die Veröffentlichungen nachliest, sieht nur zu klar, 
daß hinter der hoch aufgebauschten Bewegung in Deutschland gegen 
die Konvention das Sonderinteresse des Kartells verborgen war. 
Herr Dr. Hager, Geschäftsführer des Kartells, zugleich Redakteur 
des in mancher Hinsicht vortrefflichen Wochenblatts „Die deutsche 
Zuckerindustrie“, hat, sobald die Konvention bekannt wurde, 
Vorstellungen hierüber verbreitet, welche die grundsätzlichsten Ent- 
gegnungen hervorrufen mußten. Wer wollte ihm Glauben schenken, 
wenn er nachher erklärte, die Prämienfrage hätte nur auf die deutsche 
Landwirtschaft Bezug’? 

Von Anfang an wurden von den Fabrikanten die deutschen 
Bauern gegen die Konvention ausgespielt. Obgleich der deutsche 
Reichskanzler in der einleitenden Rede bei der ersten Lesung des 
Entwurfs am 5. Mai als Folge der Annahme der Konvention lohnen- 
dere Preise für die Landwirtschaft in Aussicht gestellt hatte, gelang 
es noch im Laufe jenes Monats die Rheinische Landwirtschaftskammer, 
die von Brandenburg und den Rheinischen Landwirteverein in Düren 
Erklärungen abgeben zu lassen, worin die guten Leute die Konvention 
als Verrat der deutschen Landwirtschaft an das Ausland, und als 
Ursache des Untergangs der deutschen Rübenkultur stempelten. 

Inzwischen war die Regierung nicht müßig. Schon am 29. April 
wurde die Gesetzvorlage zur Gutheißung der Konvention und zur 
Reform der Zuckersteuer dem Reichstage mit einer meisterhaft ge- 
schriebenen Denkschrift vorgelegt. Am 5. Mai hielt der Reichs- 
kanzler über die Angelegenheit im Reichstage eine wichtige Rede. 
Die Regierung wünschte eine baldige Abstimmung. Die Mehrheit 
des Reichstags aber beschloß, die Vorlage an eine Kommission von 
28 Mitgliedern zu verweisen. Die Regierung hatte, da von zweifel- 
hafter Seite der Vorschlag einer Verweisung an eine Untersuchungs- 
kommission gemacht wurde, die Befürchtung geäußert, diese Unter- 
suchung könnte vielleicht eine Maßregel zur Verschiebung der Sache 
werden. Hierauf wurde feierlich geantwortet, es läge die Absicht 
einer Obstruktion nicht vor. So äußerte sich z. B. der Führer der 
Konservativen Graf Limburg-Stirum: „Es ist kein Wunsch, die Vor- 
lage damit zu verschleppen und unmöglich zu machen.“ Die Re- 
gierung aber ließ sich hierdurch nicht in Schlaf wiegen. Um soviel wie 
möglich alle Aufschubsargumente der Opposition zu beseitigen, berief 
sie sofort Sachverständige nach Berlin. Schon vom 14.—16. Mai 
wurden diese von Regierungsbeamten in den Bureaus vernommen. 
Als die Kommission am 25. Mai zusammenkam, fand sie einen vor- 
trefflich ausgearbeiteten Bericht über die Aussagen von ungefähr 
100 Seiten auf dem Tisch. 

Das heißt schnell arbeiten! Man vergleiche einmal die Art und 
Weise des Arbeitens in anderen Ländern! 

Sofort stellte sich in der Kommissionssitzung vom 25. Mai 
heraus, wie wenig Wert die früheren feierlichen Erklärungen hatten, 
man bezwecke keinen Aufschub der Sache; denn von Mitgliedern des 
Zentrums und der konservativen Partei wurde schon am ersten Tag 


Die Zuckerfrage in den Parlamenten Europas. 327 


der Zusammenkunft der Vorschlag gemacht, die Beratung bis 1. Ok- 
tober zu vertagen. 

Dies erregte aber einen wahren Sturm.  Gedroht wurde mit 
einem Vorschlag an den Reichstag, welcher bald zusammenkommen 
würde, die Kommission, welche auf diese Weise ihren Auftrag auf- 
fassen wollte, durch eine andere zu ersetzen. Der Antrag auf Auf- 
schub wurde zurückgezogen, die Untersuchung fortgesetzt. Und 
nun errang die Regierung, die durch eine Reihe hoher Beamten ver- 
treten war, Sieg auf Sieg. 

Man hatte in vom Zuckerkartell beeinflußten Blättern Beschul- 
digungen gegen die Konvention veróffentlicht, indem Deutschland 
als der Augendiener Englands, die deutschen Delegierten als unfähig 
hingestellt wurden. Jetzt aber saßen die Herren an demselben Tisch, 
auf dem Exemplare der Aussagen der Sachverständigen der Zucker- 
industrie lagen, wonach an der Konvention wenig auszusetzen war. 
Auf die Einladung des Präsidenten, die Diskussion anzufangen, 
herrschte, der Kölnischen Zeitung nach, minutenlang ein peinliches 
Schweigen. 

Endlich brachen einige Mitglieder des Zentrums und der kon- 
servativen Partei das Eis. Sie baten um Aufklärungen über das 
Verhältnis zu Rußland und über die Raffinerien in England; gefragt 
wurde, ob diese Raffinerien keine Ausfuhrprämien genössen; ob die 
„detaxe“ in Frankreich keine verbotene Prämie enthielte; ob keine 
Gefahr drohe seitens einer sich möglicherweise entwickelnden Kon- 
kurrenz des Zuckers aus den englischen Kolonien. Die Erklärungen 
zeigten sich gleich als befriedigend. Allgemeine Betrachtungen und 
besondere Paragraphen wurden abgetan, und schon am Nachmittag 
wurde zu den Abänderungen übergegangen, welche die Annahme 
der Zuckerkonvention im Steuergesetz nötig machte. Hierbei trat 
hauptsächlich eine Frage in den Vordergrund, nämlich die Kontin- 
gentierung. Es wurde verlangt, die Regierung sollte auch weiterhin 
der Industrie vorschreiben, wieviel Zucker in Deutschland produziert 
werden dürfe. In dieser Frage lag ein ganzes politisches Programm 
eingeschlossen. Unter dem Vorwand, daß der Staat über die Kon- 
kurrenz der deutschen Fabrikanten unter sich zu wachen hätte, wurde 
in der Kommission ein Vorschlag durchgesetzt, der ungemein einem 
Versuch ähnelte, die Kartelle auf Staatskosten weiterzuführen, nach- 
dem sie, dank der ansehnlichen Herabsetzung der Einfuhrsteuer, un- 
möglich geworden waren in Form einer freiwilligen Association, welche 
die Kosten ihrer Einrichtung selbst bezahlt. 

Für diejenigen, die sich für ökonomische Fragen interessieren 
und die einen Einblick in das Treiben der Kartelle zu erlangen 
SES werden wir diese Verhältnisse deutlich zu machen ver- 
suchen. 

Die Diskussion über die Kontingentierung wurde im Reichstags- 
ausschuß an die über die Surtaxe, d. h. die Einfuhrsteuer geknüpft, 
welche bei Einfuhr über den Betrag der Accise hinaus bezahlt werden 
muß. In Deutschland beträgt die Accise 20 M. und der Ueberzoll 


328 J. Baron d’Aulnis de Bourouill, 


ebenfalls 20 M., alles pro 100 kg. In der Konvention wurde dieser 
Ueberzoll auf 6 fres. (4,80 M.) für Raffinade und auf 5,50 fres. 
(4,40 M.) für Rohzucker herabgesetzt — aber es steht natürlich 
jedem zutretenden Staate frei, einen niedrigeren Betrag oder gar 
keinen Einfuhrzoll zu erheben. Hinter der Mauer des Ueberzolls 
hatte sich in Deutschland im Jahre 1900 ein mächtiges Kartell ge- 
bildet, welches die Raffineure und die Fabrikanten umfaßt, und dieses 
Kartell hatte, durch Beschränkung des Angebots von Raffinade im 
Inland, den Zuckerpreis in Deutschland um 16 M. pro 100 kg erhöht. 
Wer also in Deutschland Zucker einführt, erhält bis auf 4M. in dem 
hohen inländischen Preise den von ihm bezahlten Ueberzoll zurück. 
Der tatsächliche Schutz, so drückte die Regierung es aus, war, Statt 
20 M. 4 M. geworden. Das Hinauftreiben des Preises hatte Ver- 
brauchsminderung im Inland und Rückgang des Steuerertrages hervor- 
gebracht. Hauptsächlich die Sozialisten im Reichstage konnten der 
Worte nicht genug finden, um die Folgen dieses Ueberzolles zu ver- 
urteilen. Und die Regierung selbst, ohne sich viel über Theorien 
zu äußern, hatte auf der Brüsseler Konferenz dem Drängen Englands, 
Frankreichs und Belgiens nachgegeben, durch Ermäßigung des Ueber- 
zolls den Lebensfaden des Kartells abzuschneiden. 

Aus verschiedenen Gründen hielt es aber die Regierung nicht 
für geraten, jetzt die Ermäßigung des Ueberzolls weiterzuführen, als 
bis zu der durch die Konvention festgestellten Grenze. Wäre das 
nicht eine Herausforderung gewesen? Die Regierung hatte ja immer 
gezeigt, daß sie, um den Weltmarkt für die deutsche Zuckerindustrie 
zugänglich zu halten, manchen Forderungen seitens Englands nach- 
zugeben gewillt war. Hiermit wäre es nicht zu vereinigen gewesen, 
wenn sie im Sinne der Freiheit von Einfuhr weitere Schritte getan 
hätte als die, wozu sie durch die Konvention gezwungen war. 

In der Kommission wurde jetzt die Frage aufgeworfen, ob wirk- 
lich bei dem erniedrigten Einfuhrzoll kein Kartell in Deutschland 
mehr möglich sei. Die vernommenen Sachverständigen hatten fast 
einstimmig verneinend geantwortet. Der Abgeordnete Dr. Theodor 
Barth, Mitglied des Reichstagsausschusses, hatte sich aber noch nicht 
beruhigt. Er schlug Herabsetzung des Zolles vor bis 2,80 M. auf 
Raffinade und 2,40 M. auf Rohzucker: auf beide Sorten also 2 M. 
weniger. Und hierbei wies er auf die Tatsache hin, daß Deutsch- 
land viel mehr Zucker produziert, als es selbst nötig hat, und also 
stets ein Ausfuhrland bleiben wird. Denn Ausfuhr und Einfuhr 
stimmen nur sehr vorübergehend und in beschränktem Maße zu- 
sammen. Man führt ja aus, weil anderswo der Preis höher ist, als 
im eigenen Land. Aber dann werden die Besitzer von Zucker- 
vorräten aus allen Gegenden ihre Ware lieber anderswo hinschicken, 
als nach dem Lande, wo der Preis niedriger ist. Der Zucker strömt 
stets dem höchsten Markte zu. In den Produktionsländern ist der 
Preis fortwährend niedriger als anderswo, weil in diesen Ländern 
die Quellen des Angebots fließen. Was bedeutet denn eigentlich ein 
Einfuhrzoll in Deutschland? fragte Dr. Barth. Tatsächlich nichts. 


Die Zuckerfrage in den Parlamenten Europas. 329 


Dieser Zoll wäre eine Verteidigung gegen eine nur in der Einbildung 
vorhandene Gefahr. Der Verteidiger der Einfuhrsteuer — sagte 
Dr. Barth später im Reichstage — meint einen Paradiesvogel in der 
Hand zu haben, hat aber nur einen gemeinen Spatzen. Das Einzige, 
was Einfuhrzölle auf Zucker bewirken können, ist die Gelegenheit 
ein Kartell zu eröffnen. Sie können also nur Uebles stiften. 

Die hier von Dr. Barth aufgeworfene Frage ist von beträchtlicher 
Tragweite. Auch für die Niederlande hat sie Bedeutung bekommen, 
seit hier seitens der Fabrikanten auf Festsetzung eines Ueberzolls 
gedrungen wird. Bemerkenswert war es aber, daß in den Nieder- 
landen kein eigentlicher Ueberzoll existiert. Im Hinblick hierauf 
hatte die deutsche Regierung, festhaltend an der Grenze der Kon- 
vention, in ihrer Denkschrift auf die Erfahrung in Belgien und Holland 
hingewiesen, wo die Einfuhrzölle teilweise niedriger waren als jene 
Grenze oder gar nicht existierten, und wo von einer die nationale 
Industrie bedrohenden Einfuhr nichts gespürt worden war. Es war 
hinsichtlich der zu erwartenden Diskussion in Deutschland, daß 
Dr. Barth in seiner Wochenschrift „Die Nation“ vom 24. Mai, 
kurz vor der Zusammenkunft der Kommission, einen Aufsatz von 
mir über die Einfuhr von Zucker in die Niederlande, nämlich von 
Kolonialzucker, erscheinen ließ. 

Vielleicht liegt es an mir, aber weder in den Aussagen der 
Sachverständigen noch in dem Berichte der Kommission noch in 
den Reichstagsdiskussionen habe ich eine entscheidende Beweisführung 
angetroffen zur Widerlegung der Meinung, daß in Ländern, welche 
mehr produzieren als zum Selbstgebrauch nötig ist, Ueberzölle als 
Abwehrmittel gegen Einfuhr überflüssig sind. Bei den Verfechtern 
der Ueberzölle bleibt in ihren Schriften Furcht vor Einfuhr, besonders 
kolonialen Zuckers, immer der Amboß, worauf gehämmert wird. Im 
Reichstage hat die nämliche Spukgestalt fortwährend Dienste ge- 
leistet, und man hat sich selbst auf eine Anzeige in der Kölnischen 
Zeitung berufen, worin ein Anonymus Agenten zur Einfuhr von 
Rohrzucker in Deutschland suchte (Rede des Dr. Bieber, 10. Juni)! 

Der Vorschlag des Dr. Barth, des „Speakers‘‘ der freisinnigen 
Partei, wurde im Reichstage verworfen. Derselbe war von vornherein 
verurteilt. Das Zentrum, die Konservativen, und alle die protek- 
tionistisch angehaucht waren, erachteten es als ,selbstredend", dafi 
der Ueberzoll auf der äußerst erlaubten Grenze stände. 

Fragt man, was der eigentliche Grund hiervon war, dann findet 
man die Antwort in einem in konservativen Kreisen ausgearbeiteten 
und, wie es scheint, zuerst in Wien von einem Mitgliede des öster- 
reichischen Parlaments ausgebrüteten Gedanken. Dieser Gedanke 
wurde im deutschen Reichstagsausschuß bekannt gemacht durch Herrn 
Müller-Fulda (konservative Partei) und lautete: das Reich möge in 
den ersten 5 Jahren nach dem 1. September 1903 nur eine vom 
Reich bestimmte Produktion erlauben, welche über alle bestehenden 
Fabriken nach gewissem Maßstabe zu verteilen sei, mit dem Verbot 
neue Fabriken zu gründen, ein Verbot in dem Sinne nämlich, daß 


330 J. Baron d’Aulnis de Bourouill, 


die neuen Fabriken kein Kontingent erlangen sollten. Das Verbot, 
das zugewiesene Kontingent zu überschreiten, sollte vermittelst der 
Steuerschraube gehandhabt werden, namentlich durch Zuschlagsteuer 
für diejenigen Mengen, welche über das gestattete Maß hinaus pro- 
duziert würden. Eine neue Fabrik also würde auf ihre Gesamt- 
produktion die Zuschlagsteuer zahlen müssen, weil ihr überhaupt 
kein Kontingent in der nationalen Produktion zugewiesen war. 

Um die Bedeutung dieses merkwürdigen Produktes legislativer 
Phantasie zu würdigen, muß man eingedenk sein, daß schon jetzt in 
Deutschland eine Kontingentierung existiert. Sie dient dazu, das 
Reich, das ja auf jede ausgeführten 100 kg eine Prämie von 2,50 M. 
und mehr bezahlt, gegen die Kostspieligkeit eines starken Anwachsens 
der Ausfuhr zu schützen. Sobald die Ausfuhr das Gesamtkontingent 
überschreitet, erhebt das Reich vom Surplus der Ausfuhr eine Zuschlag- 
steuer zum nämlichen Betrag der Ausfuhrprämie. Das Surplus ver- 
läßt also ohne Prämiengenuß das Land. Dank dieser Anordnung, 
werden Prämien nur für diejenigen Quantitäten gezahlt, womit das 
Gesamtkontingent den inländischen Verkauf überschreitet). 

Kehren wir jetzt zurück zu dem, was in der Kommissionssitzung 
vorfiel, als die Fortsetzung der Kontingentierung beantragt wurde. 

Die Reichsregierung machte natürlich gleich darauf aufmerksam, 
daß mit der Abschaffung der Prämien die Kontingentierung jeden 
Sinn verloren hätte. Sie wies auf das Erstaunliche des Gedankens 
hin, während alle anderen Länder der Zuckerindustrie freie Ent- 
wickelung gewährten, diese in Deutschland zu beschränken. Im Aus- 
lande würde man die deutsche Beschränkung auf dem Gebiete der 
internationalen Konkurrenz wahrscheinlich mit Freude begrüßen. Ob 
hiermit aber dem deutschen Unternehmungsgeiste gedient wäre, wäre 
eine zweite Frage. 

Trotz alledem nahm schließlich nach wiederholten Versuchen, 
einen haltbaren Kontingentierungsplan zu formulieren, eine zufällige 
Mehrheit in der Kommission in einer schlecht besetzten Sitzung den 
Plan an, daß die Regierung im Jahre 1903—1904 das nämliche 
Kontingent, wie in dem letzten Jahre des Prämiensystems 1902—1903, 
feststellen, und daß alle Produktion über die angewiesene Quantität 
hinaus, sowie die volle Produktion jeder neuen (seit der Bekannt- 
machung des Gesetzes gebauten) Fabrik einer Zuschlagsteuer von 
4.40 M. per 100 kg unterliegen sollte. 

Der Bericht des Ausschusses war am 7. Juni fertig geworden 
und schon am 9. Juni fingen die öffentlichen Beratungen im Reichs- 
tage über die Konvention an. Für die Konvention an sich erklärte 
sich bald eine überwältigende Mehrheit. Aber die Hauptfrage war 
die Fortsetzung der Kontingentierung. Diese wurde Gegenstand 
heftiger Debatten. Es galt in erster Reihe die Interessen der Land- 
wirtschaft, welche hier Gefahr liefen. Die Rübenkultur würde ja bei 


1) Die Berechnung des Gesamtkontingentes geschicht nach im Gesetz vom 27. Mai 
1896 festgestellten Regeln. 


Die Zuckerfrage in den Parlamenten Europas. 331 


Beschränkung der Zahl der Fabriken der Gnade der bestehenden 
Fabriken überliefert werden. Die Landwirte z. B., die über zu geringe 
Bezahlung der Rüben klagten, würden faktisch außer stande sein, 
eine kooperative Zuckerfabrik zu gründen (hierauf wies der Ab- 
geordnete Richter hin). Das Kontingent würde freilich sehr hoch 
gestellt werden — nämlich, nach Angabe des Herrn Staatssekretärs von 
Thielmann, auf ca. 2 100000 t, weit über den nationalen Verbrauch. 
Aber wenn man auch dadurch nicht geradezu ein Defizit an Zucker 
erwarten konnte — die Maßregel der Beschränkung bedeute eine 
Versteinerung, eine Petrefaktion der Industrie, sagte der Minister 
Posadowsky. Bei der Zuckerindustrie — da man vom Wetter ab- 
hängig sei — läge die Möglichkeit vor, mehr zu produzieren, als 
worauf gerechnet würde. Eine Zuschlagssteuer (nicht fähig, bei Aus- 
fuhr restituiert zu werden!) würde wirken wie Bestrafung eines Ver- 
brechens. Aus ganz den nämlichen Gründen würde man allerhand 
andere freie Gewerbe fesseln können; und auf diese Weise gewisser- 
maßen einen sozialistischen Versuch machen. Und dies — um im 
Inlande das Heranwachsen neuer Konkurrenten zu hindern! 

Wahrlich, die Gründe gegen den Plan waren so entscheidend, 
daß eine ernsthafte Verteidigung fast ganz ausblieb. So legten die 
Verteidiger den Nachdruck nur darauf, daß der hohe Betrag der er- 
laubten Produktion nie erreicht werden würde. Praktischen Wert 
hätte die Sache nicht. „Die Gesamtkontingentierung der Produktion 
bleibt ein leeres Wort“, sagte Freiherr von Richthofen. Aber weshalb 
denn eine solche beschwerende Arbeit dem Reiche auferlegen? Bei 
der Abstimmung an demselben Tage wurde der Plan mit 194 gegen 
114 Stimmen verworfen. 

Hiermit war die große Niederlage des Zuckerkartells entschieden. 

Denn in Wahrheit war der Antrag nur ein Versuch gewesen, auf 
Kosten der Regierung ein neues Kartell zu stiften. 

In der Regierungsenquete hatte einer der Sachverständigen, Herr 
Karcher, das Geheimnis verraten. Dieser hatte gesagt, daß bei Fest- 
stellung einer Kontingentierung nach Abschaffung der Prämien ein- 
fach die Bausteine zu einem neuen Kartell geliefert werden würden !). 

Und das ist auch meine Ueberzeugung. 

Die große Schwierigkeit beim Zustandekommen eines Kartells 
liegt darin, daß man jedem Teilnehmer einen gerechten Anteil in 
der Gesamtproduktion zuweisen muß. Der Anteil muß sich regeln 
nach der Produktion, welche jede Fabrik in einer gewissen Reihe 
vorhergehender Jahre (z. B. drei) aufzuweisen hat. Er modifiziert 
sich nachher im Laufe der Zeit durch allerhand Ereignisse. Unter 
diesen Verhältnissen hatte ein nur auf dem bürgerlichen Recht ge- 
gründeter Verein in einem großen Lande beträchtliche Ausgaben. 
Das in Deutschland bestehende Zuckerkartell hatte bis jetzt von der 
Regierungskontingentierung dadurch Vorteil gezogen, daß die staat- 
lichen Zuwendungen für die Verteilung der Kartellgewinne unter die 


1) Aussagen der Sachverständigen, S. 44. 


332 J. Baron d’Aulnis de Bourouill, 


Mitglieder als Basis genommen wurde. Hatte z. B. ein Fabrikant, 
Mitglied des Kartells, nach amtlicher Berechnung ein Recht auf eine 
Produktion von 6000 Tonnen — ein Recht in dem Sinne, daß alle 
Mehrerzeugung der Zuschlagsteuer, welche die Ausfuhrprämie aus- 
gleichen mußte, unterworfen war — dann hatte dieser Fabrikant, 
nach derselben Grundlage, Anteil an dem Kartellgewinne. War z. B. 
jene Menge von 6000 Tonnen der Hundertteil des Gesamtkontingents, 
dann würde jener Fabrikant auch !/,,, Teil im Kartellgewinne er- 
zielen, mit anderen Worten, er würde 6000mal den Kartellgewinn 
pro Tonne erhalten. Verkaufte er 6000 Tonnen an eine inländische 
Raffinerie, oder verkaufte er sie ausschließlich dem Auslande, das 
würe ihm gleichgültig. Denn hatte er mehr als seinen Anteil dem 
Inlande verkauft, dann hatte einer seiner Kollegen desto mehr aus- 
geführt. Beide Personen hatten auf den Kartellgewinn ein Recht, 
im Verhältnis zu dem amtlichen, für jeden berechneten Kontingent. 
Führte der erste Fabrikant alles aus, so würde er dadurch seinen 
Kollegen in stand gesetzt haben, desto mehr an eine inlündische 
Raffinerie zu verkaufen; ergo, er empfing doch seinen Kartellgewinn. 

Es ist also klar, daß, ohne die Absicht dazu zu hegen, das 
Deutsche Reich, als es im Jahre 1896 die Kontingentierung als gesetz- 
liche Mafiregel annahm, damit etwas tat, was der Errichtung eines 
Kartells ungemein in die Hand arbeitete. Jetzt würde, der Prümien- 
abschaffung wegen, die staatliche Kontingentierung wegfallen kónnen, 
aber dann würde das im Jahre 1900 errichtete Zuckerkartell eine 
neue und kostspielige Arbeit selbst zu machen haben, um so ver- 
drießlicher, weil die Surtaxe bis auf 4,80 M. einzuschränken war. 
Fast jeder Sachverständige war der Meinung zugetan, daß die Aus- 
gaben des Kartells nicht mehr von dem Gewinne gedeckt werden 
kónnten. Nur ein Ausweg konnte Rettung bringen. Wenn das Reich 
einmal die Liebenswürdigkeit hätte, die Kontingentierung fortzusetzen ? 
Ein neues Kartell würde sich hierbei anschließen können. So würde 
der niedrige Ueberzoll doch noch ein Kartell ermóglicht haben, und 
dies würde den inländischen Preis dermaßen in die Höhe getrieben 
haben, daß der ganze oder fast der ganze Ueberzoll in die Taschen 
der Teilnehmer geflossen wäre. Vielleicht würde man auf dem 
Brüsseler Areopag — wie im Reichstage die permanente internationale 
Kommission für Zuckerfragen genannt wurde — dies alles mit den Be- 
stimmungen der Zuckerkonvention wohl in Einklang gefunden haben. 

Der schlau erdachte Plan aber fiel im Reichstage. Er wurde 
verworfen mit 194 gegen 114 Stimmen. 

Mit dieser Niederlage war das Los des ganzen Entwurfes zu 
Gunsten der Reichsregierung entschieden. Ueber den neuen Steuer- 
satz wurde noch eine finanzielle Debatte eröffnet. Er wurde von 
der großen Mehrheit auf 14 M. pro 100 kg festgesetzt, eine Herab- 
setzung des gegenwärtigen Satzes also um 6 M. Weiter wurden 
einige Nebenfragen behandelt: die Normierung der Steuer im Monat 
August 1903; die Steuer auf Glukose; ein Gesetz bezüglich des Ver- 
kaufs von Saccharin und anderen Süßstoffen. Und schließlich wurde 
die ganze Vorlage mit 209 gegen 103 Stimmen angenommen. 


Die Zuckerfrage in den Parlamenten Europas. 333 


Kurz nach dem Sieg in dem deutschen Reichstage kam die 
Konvention in der Deputiertenkammer zu Rom zur Verhandlung. 
Italien führt keinen Zucker aus, ist also bei der Abschaffung der 
Ausfuhrprämien nicht gerade interessiert, wünscht aber seine nationale 
Industrie gegen Einfuhr zu schützen, und kann also nicht gleichgültig 
dagegen sein, daß andere durch Ausfuhrprämien seine Industrie im 
eigenen Lande bekämpfen. Italien trat also der Konvention bei und 
versprach, Kompensationszölle zu erheben von Zucker aus denjenigen 
Ländern, welche das Prämiensystem fortsetzen würden. 

Die italienische Regierung aber hat mehr getan, als wozu sie 
sich beim Vertrage verpflichtet hatte. Sie hat bei dem Gesetzentwurf 
zur Ratifikation der Konvention das System der Steuerberechnung 
nach dem Saft ersetzt durch das System von Exercice und Entrepôt 
(.fortwährender amtlicher Aufsicht und Niederlage“), d. h. das System 
der Steuererhebung nach der wirklichen Produktion, ein Uebergang, 
zu welchem die Regierung sich nur verpflichtet hatte, falls aus Italien 
Zuckerausfuhr stattfinden sollte. So ist in Italien von vornherein die 
Möglichkeit abgeschnitten, daß aus der Steuererhebungsart, in Ver- 
bindung mit Steuervergütung bei Ausfuhr, Exportprämien hervorgehen. 

Es scheint wirklich, als ob im Jahre 1902 für Abschaffung der 
Prämien ein ebenso scharfer Wettbewerb entstand wie früher, die- 
selben zu verleihen! 

Die Kammer der Deputierten in Rom hat am 28. Juni den Ent- 
wurf der Regierung mit 161 gegen 73 Stimmen!) angenommen. 


Während der Sommerferien hat in den europäischen Parlamenten 
die Zuckerfrage geruht. Im Herbst aber wurden die inzwischen in 
Frankreich und Holland ausgearbeiteten Gesetzvorlagen offenkundig. 
Auch in Großbritannien bedurfte die Regierung der vorläufigen Zu- 
stimmung des Unterhauses zu den gesetzlichen Maßregeln, welche 
daselbst von der Ratifikation der Konvention die Konsequenzen sein 
würden. Am Schluß des Jahres 1902 wurden auch die Regierungs- 
absichten in Oesterreich-Ungarn bekannt. 

Ich werde jetzt eine Uebersicht zu geben versuchen, wie die Be- 
ratungen im englischen Unterhause, in den niederländischen General- 
staaten und in der Deputiertenkammer in Paris verliefen. Haupt- 
sache und Hauptzweck hierbei muß es, wie mir scheint, sein, darzutun, 
ob irgendwo bei den Debatten eine Unvollständigkeit der Konvention 
zu Tage getreten ist. 

Diejenigen meiner Leser, die allen Zeitungsnachrichten gefolgt 
sind, werden wahrscheinlich auf zwei Streitfragen hinweisen: erstens 
ob England dem Vertrage nach verpflichtet sein wird, von dem aus 
den englischen autonomen Kolonien herkommenden Zucker kompen- 
satorische Zölle zu erheben, insofern diese Kolonien Ausfuhrprämien 
gewähren, und zweitens, ob Rußland, angesichts der Bedingung der 


1) Journal des fabricants de sucre vom 2, Juli 1902. 


334 J. Baron d’Aulnis de Bourouill, 


meistbegünstigten Nation — einer Bedingung, welche in den englisch- 
russischen Handelsvertrag vom Jahre 1359 aufgenommen ist — mit 
Recht behauptet, daß russischer Zucker, bei Einfuhr in Großbritannien, 
nicht mit einem Ausgleichszoll belastet werden darf, einem Zoll also, 
welchem Zucker aus anderen nicht Prämie gewährenden Ländern 
nicht unterworfen sein wird. 

Diese zwei Fragen würden gewiß nicht so stark in den Vorder- 
grund getreten sein, wie es der Fall gewesen ist, wenn sie nicht mit 
Vorliebe von Gegnern der Konvention aufgeworfen und zu Verhält- 
nissen, weit über ihre wirkliche Bedeutung hinaus, aufgebauscht 
wären. Denn Gegner der Konvention traf man überall. In Deutsch- 
land fanden sie ihr Organ im Wochenblatt des unermüdlichen Dr. 
C. Hager, „Die deutsche Zuckerindustrie*. Dr. Hager, als 
Geschäftsführer des deutschen Zuckerkartells, welches am 1. Sept. 
bei dem Inkrafttreten der Konvention, aufgelöst werden wird, würde, 
begreiflicherweise, nicht ungern gesehen haben, daß hier oder da der 
Konvention ein Hemmnis in den Weg gelegt wäre. In Frankreich 
haben die Gegner der Konvention sich bekannt gemacht vermittelst 
eingesandter Briefe im Wochenblatt des übrigens der Konvention 
freundlich gesinnten Herrn Georges Dureau, „Le Journal des 
fabricants de sucre“, und in zahlreichen Zusammenkünften der 
Handelskammern und anderer Vereine. In England hat sich der 
Widerstand gegen die Konvention in den Schriften des Cobden Club 
in Tageblattartikeln, z. B. in Daily News, Daily Mail und 
Commercial Business, und ferner in der Organisation einer 
kräftigen Minderheit im Unterhause kund getan. Auffallend ist es, 
daß überall der Aerger über die Konvention sich durch persönliche 
Angriffe gegen die Delegierten, die der Konferenz beigewohnt hatten, 
Luft gemacht hat. Die Beschuldigungen gegen die deutschen Dele- 
gierten habe ich schon erwähnt. In Frankreich mußten der frühere 
Finanzminister, Herr Caillaux, und seine Beamten es entgelten: 
„Fonctionnaires dociles choisis pour exécuter des ordres vraiment 
stupéfiants“, so wurden sie von Herrn Malleray genannt in einem 
offenen Drief an den Finanzminister Rouvier (Journal des Fabricants 
de sucre vom 12. Nov. 1902). 

In England hieß es, daß Großbritannien bei den Unterhandlungen 
betrogen sei, in Deutschland, daß das Deutsche Reich der Augendiener 
Englands geworden wäre; in Frankreich, daß die französischen Inter- 
essen ungeschützt geblieben seien „contre l’habilet@ triomphante de 
nos rivaux d’Outre-Rhin.“ Jedes Land der Reihe nach ist vorgestellt 
worden als Dupe der Diplomatenkunst anderer. Glücklicherweise 
kommt schließlich der einfache Gedanke zur Geltung, daß kein Land 
einen wichtigen Traktat schließt, ohne dabei seine eigenen Interessen 
zu vertreten, und daß, aller Wahrscheinlichkeit nach, in dem vor- 
liegenden Falle auch jeder gute Gründe gehabt haben wird, der 
Konvention beizutreten. Sieht man näher zu, erkennt man diese 
Gründe auch bald. 


Selbst in Großbritannien, dem Lande, welches vermittelst der 


Die Zuckerfrage in den Parlamenten Europas. 335 


Prämien anderer Nationen billigen Zucker verbraucht, selbst da 
liegen diese guten Gründe auf der Hand. Auf der Brüsseler Kon- 
ferenz hatte die englische Delegation unumwunden erklärt, der 
Zweck der englischen Regierung sei, dem unlauteren Wettbewerb, 
welcher die englischen westindischen Kolonien mit dem Untergange 
bedrohte, ein Ende zu machen; schon früher wurde auch auf den 
Rückgang der englischen Raffinerien hingewiesen, in Vergleich mit 
den prämiegenießenden Raffinerien des Festlandes. Dies war schon 
im Jahre 1887 für die britische Regierung der Grund gewesen, eine 
Zuckerkonferenz nach London zusammenzurufen. Jene Gründe 
hatten in den letztverflossenen Jahren durch die steigende Not der 
genannten Kolonien und die engere Verbindung zwischen den eng- 
lisehen Kolonien und dem Mutterlande neue Kraft gewonnen. Es 
war deshalb nur natürlich, daß diese Motive Hauptthema wurden des 
beredten Vortrags des Handelsministers (President of the Board of 
Trade) Gerald Balfour am 24. Nov. im Unterhause zur Verteidigung 
des Regierungsantrages, „das Haus soll die in der Brüsseler Kon- 
ferenz befolgte Politik gutheißen und bereit sein, für den Fall der 
Verleihung der nötigen Ratifikationen, die Maßregeln zur Ausführung 
ihrer Bestimmungen zu treffen“. Bei der Debatte!) fand man einer- 
seits diejenigen geschart, welche billigem Zucker für die englischen 
Konsumenten den Vorzug gaben, andererseits diejenigen, welche im 
Interesse der Kolonien und der britischen Raffinage auf dem Zucker- 
markte Rückkehr verlangten zu gleichen Produktionsbedingungen 
auf dem internationalen Markt, Gleichheit in dem Sinne, daß dem 
Rübenzucker weiterhin keine fiskalen Begünstigungen verliehen werden 
sollten. Die Gegner der Konvention führten bei dieser Gelegenheit 
eine neue Beschwerde an. Rußland und die Schweiz stehen beide außer- 
halb der Konvention, so sprachen sie. Jetzt wird Rußland seinen prämi- 
ierten Zucker nach der Schweiz bringen können, wo große Jam- und 
Konservenfabriken sind. Auf diese Weise würde also die Schweiz 
dank der russischen Prämie die der Konvention beigetretenen Länder 
mit solchen Fabrikaten überfluten können. 

Die Antwort des Herrn Balfour lautete, daß bis jetzt von Ver- 
sendung russischen Zuckers nach der Schweiz nichts zu merken 
wäre, und daß, falls diese künftighin stattfinden sollte, die permanente 
internationale Kommission die nötigen Maßregeln treffen würde. 
Hiermit war das scharfsinnig erfundene Schreckensbild wieder in 
das Reich der Einbildung zurückgewiesen. Denn, laut ausdrücklicher 
Bestimmung in Artikel I, werden alle Produkte, wie Konfituren, die 
in höherem Grade Zucker enthalten, dem Zucker, dessen Prämien 
von der Konvention bestritten werden, gleichgestellt. Der russische 
Zucker, den Vertragsstaaten auf diese Weise über die Schweiz zu- 
geführt, würde mit Ausgleichszoll getroffen werden können. Man 
möchte meinen, daß ein Ausgleichszoll nicht erhoben werden könnte, 


1) Als Quelle über die Debatten ist von mir benutzt der ausführliche Bericht des 
Tageblatts The Times, vom 25. Nov. 1902. 


336 J. Baron d’Aulnis de Bourouill, 


weil in den angedeuteten Konfituren das Element russischen Zuckers 
schwerlich berechnet werden kann. Dies würde aber eine tatsäch- 
liche Streitfrage sein, über welche die permanente Kommission ex 
bono et aequo entscheiden kann. Zur Anwendung der Ausgleichs- 
zölle ist nicht erforderlich, daß das Land, welches einführt, zugleich 
das Land der Herkunft sei. Russischer Zucker also, welcher über 
die Schweiz in die Vertragsstaaten eindringt, kann diesen Zöllen 
unterworfen werden. 

Eine zweite Beschwerde gegen die Konvention galt dem Ver- 
hältnis zu Rußland. Das russische Reich nämlich hat seit 185% einen 
Handelstraktat mit Großbritannien, worin die Vertragsstaaten sich 
verpflichten, ihre gegenseitigen Erzeugnisse zum Zollsatz der meist- 
begünstigten Nation hereinzulassen. Die Einfuhren von Rußland 
in das Vereinigte Königreich können also nicht mit höheren Steuern 
getroffen werden als die von irgend einem anderen Land.. Nun 
wurde die Frage aufgeworfen, ob England, unter Beibehalt jenes 
Handelsvertrages, dem Art. 4 der Zuckerkonvention Folge leisten 
könnte, nach welchem Artikel der aus Prämie gewährenden Staaten 
stammende Zucker wenigstens mit einem Ausgleichszolle besteuert 
werden sollte, Es ist nämlich Tatsache, daß England Zucker aus 
Rußland bekommt, und, in Hinsicht auf frühere Beratungen über 
die Frage, ob russischer Zucker Ausfuhrprämie genießt, liegt die 
Möglichkeit vor, daß die permanente Kommission in Brüssel die 
Frage bejahend beantworten werde Kaum war denn auch die 
Brüsseler Konvention unterzeichnet, da sandte die russische Re- 
gierung den Vertragsstaaten eine Note!), in welcher sie ihre frühere 
Verneinung, Prämien zu gewähren, wiederholte, und ferner „um 
wenig wünschenswerten Komplikationen vorzubeugen“, auf die be- 
stehenden Handelsverträge verwies, „laut welchen für Produkte 
russischer Provenienz kein anderer oder höherer Zoll als für Pro- 
dukte der am meisten begünstigten Staaten erhoben werden kann. 
Dieses Prinzip der Meistbegünstigung ist in den Verträgen durch 
nichts beschränkt und bedingt und müßte die russische Regierung 
eine Tariferhöhung für russischen Zucker als Vertragsverletzung 
ansehen, wenn auch in Rußland der Zuckerexport durch Ausfuhr- 
prämien begünstigt würde, was in Wirklichkeit keineswegs der 
Fall ist. 

In Bezug hierauf.wurde im Unterhause die Frage gestellt, ob 
nicht die Kündigung des Handelsvertrags von 1859 seitens Englands 
nötig sein würde, und ob jene Kündigung den Handelsverkehr mit 
Rußland nicht so lockern würde, daß es vorteilhafter wäre, die 
Brüsseler Konvention nicht zu ratifizieren. 

Die englische Regierung verwies in ihrer Antwort bezüglich 
Rußlands auf ein Antezedens. Als nämlich im Jahre 1899 die 
englisch-indische Regierung auf prämiierten Zucker Ausgleichszölle 


j 1) Man findet die Note in den Fachblättern und in der „Volkswirtschaftlichen 
Chronik“ von Conrads Jahrbüchern, Juli 1902, S. 251. 


iDie Zuckerfrage in den Parlamenten Europas. 337 


erheben wollte, wurde auch der russische Zucker tarifiert trotz des 
Vorhandenseins eines die Bedingung der meistbegünstigten Nation 
enthaltenden Handelsvertrages zwischen Britisch-Indien und Rußland. 
Die britische Regierung hatte damals die russische gefragt, ob diese 
die Erhebung als dem Vertrage widerstreitend betrachten würde, und 
hinzugefügt, daß sie in diesem Falle den Vertrag kündigen wollte. 
Hierauf war von Rußland keine Antwort gekommen. 

Diese Antwort der englischen Regierung kann den Eindruck ge- 
macht haben, daß Rußland sich den Ausgleichszöllen unterwarf, 
während doch, wie oben erwähnt wurde, Rußland im Jahre 1902 sehr 
positiv solche Steuer als Vertragsbruch bezeichnet hatte. Aber die Ab- 
sicht des Ministers kann auch gewesen sein, fühlen zu lassen, daß auf 
die russische drohende Note von 1902 schließlich eine sehr nachgiebige 
Haltung erwartet werde, da die Note doch viel eher eine allgemeine 
Betrachtung über Ausgleichszölle enthielt, als eine positive und 
konkrete Antwort auf die schon im Jahre 1899 von England ge- 
stellte Frage über den indischen Tarif. Solche allgemeine Betrach- 
tungen scheinen öfter benutzt zu werden als Mittel, nichts Konkretes 
zu sagen, und doch dem Vorwurf zu entgehen, geschwiegen zu haben. 
Um so weniger kann man die Antwort des Handelsministers als eine 
Verschweigung der russischen Note von 1902 auffassen, weil diese 
tatsächlich allgemein bekannt, ja von allen großen europäischen 
Blättern gemeldet worden war. Der Ausschuß des Unterhauses hatte 
schon auf die Schwierigkeit der Ausgleichszólle bezüglich der Meist- 
begünstigungsklausel hingewiesen: und gewifi würde er das nicht 
getan haben, wäre ihm die Note von Rußland unbekannt gewesen; 
Rufland war ja das einzige Land, das bis jetzt auf die Schwierigkeit 
hingewiesen hatte. Daß es die Absicht der englischen Regierung 
war, die Note nur als eine allgemeine Drohung zu betrachten, in der 
Absicht, tunlichstes Maf in der Anwendung walten zu lassen, zeigt 
sich auch deutlich aus dem, was der Kolonialminister Chamberlain 
in der weiteren Diskussion über Rußland sagte: „Wir haben unsere 
fiskalischen Anordnungen auf eigene Hand zu treffen, ohne im ge- 
ringsten auf das Urteil der fremden Länder darüber acht zu 
geben, und wir werden uns nicht abschrecken lassen durch Dro- 
hungen, welche mit einer gewissen Emphase vorgebracht werden. 
Rußlands Ausfuhr nach hier ist nur ein kleiner Teil seiner Produktion 
und ein kleiner Teil unserer Einfuhr. Würden wir morgen be- 
schließen, den russischen Zucker zu verbieten, so würde das nicht 
den geringsten Unterschied machen weder für die russische noch 
für die britische Industrie. Die Sache hat wirklich keinen Wert; 
aber würe es auch, und würe es im Interesse unseres Landes, eine 
betráchtliche Menge Zucker zu wehren, dann würde ich das nur vom 
Standpunkt der britischen Industrie aus ansehen, und ich würde 
a nach den Interessen Rußlands oder irgend eines anderen Landes 
ragen.“ 

Es scheint mir, daß diese Sprache völlig unvereinbar ist mit 
dem, was später, am 6. Dezember, ein Gegner des Vertrages, Herr 

Dritte Folge Bd. XXV (LXXX). 22 


338 J. Baron d’Aulnis de Bourouill, 


Gibson Bowles, im Unterhause ausgeführt hat, daß nämlich die russi- 
sche Note von 1902 erst nach Beendigung der Debatte dem Unter- 
hause bekannt geworden war, und daß deswegen die Diskussion 
wieder eröffnet werden mußte, einer neuen Tatsache wegen! 
Die englische Regierung hat die Behauptung ruhig unbeachtet ge- 
lassen, und in Uebereinstimmung mit ihren früheren Aussagen, am 
16. Dezember, im Oberhaus durch Lord Landsdowne die Erklärung 
abgegeben, daß Ausgleichszölle keine Verletzung der Meistbe- 
günstigungsklausel seien; daß kein Grund vorliege, Retorsionsmaß- 
regeln in großem Maße zu erwarten, und daß die britische Regierung 
sich auch nicht durch Furcht davon abschrecken lassen würde, dem 
König zu raten, die Zuckerkonvention zu ratifizieren. 

So ist nun die Sachlage. Wer hat jetzt recht, England oder 
Rußland? 

Es gibt Leute, die auf die ,Procés-Verbaux^ der Brüsseler 
Konferenz hinweisen, um zu behaupten, daß die englischen Delegierten 
selbst die Ausgleichszölle mit der Meistbegünstigungsklausel nicht 
für vereinbar erachteten. In den Sitzungen nämlich vom 18. und vom 
20. Dezember 1901 ist gefragt worden, ob man auf prämiierten 
Zucker bis zum vollen Betrage der Prämie Ausgleichszölle erheben 
könnte, wenn man Frankreich gestattete, eine Ausfuhrprämie von 
ungefähr 4,50 fres. beizubehalten, und nichtsdestoweniger den fran- 
zösischen Zucker ohne Erhebung von Ausgleichssteuer zuließ. Dies 
würde ja eine Ausnahme zu Gunsten Frankreichs gewesen sein, und 
jene Klausel schließt eben Ausnahmen aus. Die britischen Delegierten 
dachten hierbei an einen Vertragsplan, wobei Frankreich eine Sonder- 
stelle einnehmen sollte. Bei den späteren Verhandlungen aber hat 
Frankreich diese Stellung preisgegeben, um seitens Deutschlands und 
Oesterreichs die Erniedrigung der Ueberzölle zu erlangen. Was also 
über die Klausel in den ersten Sitzungen gesagt worden ist, hat 
keinen Bezug auf die nachher getroffene Uebereinkunft, laut welcher 
alle Vertragsstaaten ohne Ausnahme ihre Ausfuhrprämien vollständig 
abschafften. 

Es bleibt also die Frage, ob Ausgleichszölle mit der Klausel in 
Uebereinstimmung zu bringen sind. 

Hier stützt sich Rußland auf den Grund, daß die Klausel durch 
keinen einzigen Vorbehalt in Bezug auf Exportprämien eingeschränkt 
ist. Deshalb würde Großbritannien die Einfuhr auf absolut gleichem 
Fuß gestatten müssen, ohne Rücksicht auf die zur Einfuhr anregenden 
Prämien. 

Der Grund Rußlands kommt mir nicht überzeugend vor. 

Von einer Uebereinkunft kann man annehmen, daß sie einen Vor- 
behalt hat, obgleich der Vorbehalt nicht mit ausdrücklichen Worten 
in der Urkunde zu lesen steht. Schon der berühmte Code Civil 
Napoleons I. bestimmt in Art. 1135: „Les conventions obligent non 
seulement à ce qui y est exprimé, mais encore à toutes les suites 
que l'équité, l'usage ou la loi donnent à l'obligation d'après sa nature“, 
und in Art. 1160: „On doit suppléer dans le contrat les clauses qui 


Die Zuckerfrage in den Parlamenten Europas. 339° 


ysont d'usage, quoiqu'elles n'y soient pas exprimées“, Diese Grund- 
sitze sind so sehr Normen des Verkehrs, daß sie mutmaßlich in den 
Gesetzbüchern aller zivilisierten Nationen, wenn auch nicht buchstäb- 
lich ausgedrückt, vorkommen (vergl. das deutsche bürgerliche Gesetz- 
buch 8 133, $ 157). 

Daß in der angedeuteten Klausel kein Vorbehalt bezüglich der 
Ausfuhrprämien zu lesen ist, schließt also nicht aus, daß man den 
Vertrag so ansehen kann, als ob er diesen Vorbehalt enthalte. Es 
kommt hier auf Redlichkeit und Sitte an. Man kann zugeben, daß 
die Klausel früher angewendet wurde, ohne auf Ausfuhrprämien zu 
achten, aber dies hatte seinen Grund darin, daß die, freilich nur 
selten gewährten, Prämien der Aufmerksamkeit entgingen und schwer- 
lich evaluiert werden konnten. Seit dem Jahre 1896 aber ist die 
Prämienpolitik in Bezug auf den Zucker mehr und mehr öffentlich 
hervorgetreten, und so ist diese Politik eine aggressive Art von 
Schutz geworden, aggressiv in dem Sinne, daß die Ausfuhrprämien 
das Mittel geworden sind, im Einfuhrlande die Zuckerindustrie zu 
ertöten (man denke an die Raffinerien in England) oder dort andere 
Wettbewerber zu überflügeln. Ist es nicht einigermaßen unredlich, 
wenn ein Staat vermittels der Meistbegünstigung sich zu einem Lande 
auf gleichem Fuß mit anderen Ländern Zugang sichert, und nachher 
dort die anderen angreift, ja mehr noch, dem Lande, welches Zugang 
verlieh, in der eigenen Industrie Nachteil bringt, alles vermittels 
fiskalischer Regelung, also mit Beihilfe der nämlichen Regierung, 
welche sich den freien Eintritt sicherte? Ist es redlich, selber die 
Gleichheit aufzuheben, nachdem man sich Behandlung auf gleichem 
Fuß bedungen hat? Es gilt hier natürlich eine völkerrechtliche Frage. 
Im völkerrechtlichen Verkehr sind die Verträge gewiß nicht weniger 
ex bono et aequo auszulegen, als in dem privatrechtlichen Verkehr. 
Der einzige mir bekannte Autor, der über diese Frage der Ausgleichs- 
zölle in Verbindung mit der Meistbegünstigungsklausel geschrieben 
hat, Dr. juris L. E. Visser, Rechtsanwalt in Amsterdam, früher Be- 
amter am Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten im Haag 
(Rechtsgeleerd Magazijn, 1900, S. 501 ff.), hat in seinem vortrefflichen 
Aufsatze sehr viele historische Details geliefert, aber was die Rechts- 
frage betrifft, die Ausfuhrprämien dem Schutzzoll gleichgestellt, da 
beide Fragen der inländischen Politik angehören (S. 515). Dies eben 
kann ich nicht zugeben; Ausfuhrprämien sind Fragen ausländischer 
Politik, da sie das Ausland zu beeinflussen bestimmt sind. 

Beachtet man außerdem die Sitte im Völkerrecht, dann ist nicht 
zu leugnen, daß in der letzten Zeit die Kompensationssteuern neben 
der Meistbegünstigungsklausel gehandhabt sind. Als nämlich die 
Vereinigten Staaten Nordamerikas kraft des Dingley-Gesetzes im Jahre 
1897 jene Steuer auf Zucker einführten, haben anfangs Deutschland, 
Oesterreich-Ungarn und Dänemark auf Grund von Meistbegünstigung 
protestiert; aber da Washington nicht nachgab, hat Berlin die Sache 


ruhen lassen, und jedes Jahr den bestehenden Handelsvertrag erneuert, 
22° 


340 J. Baron d’Aulnis de Bourouill, 


als ob nichts vorgefallen wäre. Auch die anderen ließen die Sache, 
wie sie war. 

Als nachher im Jahre 1899 auch Britisch-Indien ähnliche Zölle 
auf Zucker erheben wollte, protestierte Wien — mit demselben 
Mangel an Erfolg und mit der nämlichen Nachgiebigkeit nachher. 
Rußland wurde, wie uns im Unterhause mitgeteilt wurde, aufgefordert 
zu protestieren, unterlieB es aber. Nach diesen wichtigen Ante- 
zedenzien scheint man im Jahre 1902 von einer auf Sitte gegründeten 
Auslegung sprechen zu können. — Wer jetzt unerwartet gegen diese 
Usance protestiert, zu deren Begründung er selbst durch sein Schweigen 
beigetragen hat, scheint in das Völkerrecht viel eher ein Novum 
einfügen zu wollen, als sich auf bestehende Rechtsüberzeugung zu 
stützen. Rußland wird übrigens erfahren, daß die Meistbegünstigungs- 
klausel auf alle seine anderen Artikel angewendet wird. 

Rußland wird, wie man erwarten darf, einsehen, daß die Klausel 
seinem ausländischen Handel sehr zu statten kommt, und daß ein 
Ausgleichszoll auf seinen Zucker sich noch wesentlich von einer will- 
kürlichen Auslegung des bestehenden Handelsvertrages unterscheidet. 

Nicht lange nach dem 24. November, als das Unterhaus mit 
großer Stimmenmehrheit (213 gegen 126) den Antrag Sir William 
Harcourts verworfen hatte, das Haus möge die Konvention nicht 
gutheißen, und gleich darauf ohne Namensaufruf den Regierungs- 
antrag annahm — nicht lange nach diesem denkwürdigen Tag fand 
wieder ein Kampf statt. Eine neue Frage hatte sich aufgetan. Ist 
England der Konvention nach verpflichtet, Ausgleichszoll zu erheben 
von Zucker aus seinen autonomen Kolonien, insoweit diese Ausfuhr- 
prämien gewähren? — 

Veranlassung zu dieser Debatte war die Behauptung des nieder- 
ländischen Ministers des Auswärtigen bei der Behandlung der Kon- 
vention in der Sitzung der zweiten Kammer der Generalstaaten am 
2. Dezember. In Beantwortung eines Ersuchens um Aufklärung hatte 
die niederländische Regierung die obige Frage bejahend beantwortet. 

Schon früher war in Bezug auf diese Frage etwas vorgefallen. 
Sobald die Konvention geschlossen war, hatten deutsche Fabrikanten 
die Frage aufgeworfen. Deshalb habe ich sie in meinem im April 1902 
herausgegebenen Kommentar zur Konvention behandelt !). 

Meine Antwort war, daß England in dem angedeuteten Falle zur 
Erhebung verpflichtet wäre. Die nämliche Antwort war am 9. Juni 
des anderen Jahres im deutschen Reichstage gegeben von Sr. Ex- 
zellenz von Koerner, Direktor des Auswärtigen Amtes in Berlin, der 
als Delegierter allen Sitzungen der Brüsseler Konferenz beigewohnt 
hatte. Auch die Regierung von Oesterreich-Ungarn bekannte sich 
zu derselben Meinung, erstens bei einer diplomatischen Mitteilung 
in London am 29. November und nachher in der Denkschrift bei 
ihrer Gesetzvorlage vom 15. Dezember zur Gutheißung des Vertrages. 


1) La convention relative au régime des sucres, conclue le 5 Mars 1902 A Bruxelles, 
annotée d’après les pièces officielles, la Haye 1902, S. 44. 


2: Le zb, Ca 


Die Zuckerfrage in den Parlamenten Europas. 341 


Es mag sonderbar scheinen, daß ein Vertrag sich zu einer anderen 
Antwort seitens der englischen Regierung neigt. Doch w den 
Unterhandlungen beigewohnt, oder wer die Procés-Verbaux der 
Sitzungen genau nachgelesen hat, kann sich vorstellen, daß hier 
wenigstens eine ratio dubitandi vorhanden ist. In solchem Falle mufi 
man den Text des Vertrages nach den gewóhnlichen Regeln der 
Auslegungskunst auslegen. Nach der alten Regel, die man schon bei 
dem Juristen Papinianus im römischen Rechte findet, nämlich daß 
bei Streit zwischen allgemeinen Sätzen und besonderen die letzten 
gelten, ist England ebensogut wie die sonstigen Vertragsstaaten ver- 
pfiichtet, Ausgleichszólle zu erheben auf Zucker aus Canada oder 
Queensland, falls diese Prämien gewähren. Die Sache ist aber so 
ziemlich eine „akademische“ Streitfrage. Weder die autonomen Kolo- 
nien noch Britisch-Indien führen dem Gebiete eines der kontrahierenden 
Staaten Zucker zu. Obendrein steht es nicht fest, daß sie Ausfuhr- 
prämien geben. Eigentlich müßte ein Wunder geschehen, wenn 
während der 5-jährigen Dauer des Vertrages ähnliche Fälle vorkämen. 

Vielleicht liegt es gerade an dem geringen praktischen Wert der 
Frage, daß auf der Konferenz dieselbe nicht genauer behandelt wurde. 
In der ersten Woche der Konferenz sprach die englische Delegation 
den Wunsch aus, England möge nicht verpflichtet werden, von Zucker 
aus den eigenen Kolonien Ausgleichsteuer zu erheben, selbst wenn 
diese Prämien verliehen (siehe z. B. Procès-Verbaux, S. 75: „Sir 
Henry Bergue constate à nouveau qu'aucune des colonies, auto- 
nomes ou autres de la Grande-Bretagne n’accorde de prime. Si 
certaines colonies autonomes venaient à donner une prime, des droits 
compensateurs pourraient leur étre appliqués par les autres pays. 
Mais la Grande-Bretagne ne voudrait, en aucun cas, astreindre ces 
colonies à une clause pénale‘). 

Was also von der englischen Delegation anfangs gewünscht 
wurde, unterliegt keinem Zweifel. Aber in der ersten Woche der 
Zusammenkunft wurden allerhand Wünsche von allen Seiten ge- 
äußert. England wünschte auch, Zuschlagszölle möchten nur auf 
Zucker aus europäischen Ländern angewendet werden (8. 66 und 68 
der Procés- Verbaux). Frankreich wünschte eine kleine Ausfuhr- 
prämie zu behalten. Viele wünschten den Ueberzoll auf 5 fres. 
herabzusetzen. Damals hatte man noch nicht einmal einen Text- 
entwurf vor sich. Am 18. Dezember ging man auseinander, damit 
jeder von seiner Regierung Instruktionen bekäme. Am 23. Januar 
kam man wieder zusammen. Erst da wurde ein Konzept gemacht. 
In diesem Konzepte stand kein Wort davon, England ausnahmsweise 
eine Sonderstellung zu gewähren den autonomen englischen Kolonien 
gegenüber. Ohne Widerspruch haben die englischen Delegierten dem 
die Ausgleichszölle regelnden Artikel 4 beigestimmt: „Les Hautes 
parties contractantes s'engagent à frapper d'un droit special, à l'im- 
portation sur leur territoire, les sucres originaires de pays qui accor- 
deraient des primes à la production ou à l'exportation“. 

Man konnte hieraus nur folgern, daß die englische Delegation 
ihren Wunsch auf eine Sonderstellung hatte fallen lassen. 


342 J. Baron d’Aulnis de Bourouill, 


Erst über einen Monat später, am 28. Februar, als die Arbeit 
fast zu Ende gebracht war, wurde auf Anlaß einer anderen Frage, 
die in Bezug auf Art. 5, der die Einfuhr von Zucker aus den ver- 
schiedenen Vertragsstaaten auf gleichem Fuß regelt, von den engli- 
schen Gesandten etwas Allgemeines gesagt, wobei niemandem in den 
Sinn kam, daß hiermit eine Zurücknahme der allgemeinen Formu- 
lierung des Art. 4 beabsichtigt war. England wollte sich die Frei- 
heit vorbehalten, den Zucker aus seinen Kolonien für den niedrigeren 
Tarif von Zucker aus anderen Ländern zuzulassen, ein sehr wichtiger 
Punkt, weil dies tatsächlich eine Bevorzugung für beträchtliche Ein- 
fuhren aus den westindischen Kronkolonien gewesen wäre. Auf diesen 
Punkt und auf keinen anderen war in jenem Augenblick die allge- 
meine Aufmerksamkeit gerichtet. Der Sitzungsbericht zeigt dies 
deutlich (S. 238): „M. le President demande si la Délégation britan- 
nique n’a pas de déclaration à faire au sujet de la question soulevée 
dans la séance précédente, relativement à la portée de l’engagement 
inscrit au premier alinéa de l’article 5. 

S. Exe. M. Phipps, Ministre de la Grande-Bretagne fait à la 
Conférence la communication ci-après: 

„En premier lieu, il est nécessaire, selon l'indication déjà donnée 
au cours des séances antérieures, que la Grande-Bretagne réserve 
absolument sa liberté d'action en ce qui concerne les relations fis- 
cales entre le Royaume-Uni et ses colonies. Cependant, ce principe 
posé, la Délégation britannique donne, par exception, l'assurance que 
si une convention satisfaisante est signée, le Gouvernement de S. M. 
Britannique est prét à declarer que, pendant la durée de cette con- 
vention, aucune préférence ne sera accordée dans le Royaume-Uni 
aux sucres coloniaux vis-à-vis des sucres étrangers. 

M. le Président constate que cette déclaration donne pleine et 
entière satisfaction à la Conférence et il se fait l'organe de celle-ci 
pour remercier la Délégation Britannique." 

Hütte in jenem Augenblick der Vorsitzende in jener Prinzipien- 
erklärung eine Zurücknahme eines anderen Artikels, nämlich von 
Artikel 4, gesehen, so würde er nicht von völliger Zufriedenheit der 
Konferenz gesprochen haben. Hätte der österreichische Gesandte 
dieses gemeint, er würde nicht geschwiegen haben; denn am 18. De- 
zember (Procès-Verbaux S. 75) bezeichnete er es als wünschenswert, 
daß der Zucker aus den autonomen Kolonien den Ausgleichszöllen 
unterworfen würde, und schon damals versicherte er zu glauben, 
daß eine Sonderstellung für Großbritannien kein unüberwindliches 
Hindernis für den Vertrag wäre, ein Ausdruck, der darauf hinweist, 
daß S. Exzellenz hierüber keine Instruktion von seiner Regierung 
hatte. Hätte der belgische Delegierte Herr Bauduin dies gemeint, 
er, der am 18. Dezember gesagt hatte „il paraît difficile d’admettre 
que la Grande-Bretagne conserverait la facult& de recevoir chez elle, 
sans droits compensateurs, des sucres provenant de ses colonies“, so 
würde auch dieser Delegierte bezeugt haben, nicht an der völligen 
Zufriedenheit teilzunehmen. Die Wahrheit ist, daß am 28. Februar, 


Die Zuckerfrage in den Parlamenten Europas. 343 


bei der Diskussion über Art. 5, niemand mehr an die Aeußerungen 
der englischen Delegation zwei Monate vorher über Art. 4 dachte. 

Nach der Mitteilung des Herrn Vorsitzenden über die „völlige 
Zufriedenheit der Konferenz“ wurde zu anderen Gegenständen über- 
gegangen; in der folgenden Sitzung wurde die inzwischen vom Sekre- 
tariate entworfene Redaktion angenommen, in Uebereinstimmung mit 
der Deklaration des englischen Gesandten: „Le gouvernement de la 
Grande-Bretagne déclare aussi, par mesure exceptionnelle et tout en 
réservant en principe son entière liberté d’action en ce qui concerne 
les relations fiscales entre le Royaume-Uni et ses colonies et posses- 
sions, que pendant la durée de la Convention, aucune préférence ne 
sera accordée dans le Royaume-Uni aux sucres coloniaux vis-à-vis des 
sucres étrangers“. 

Meiner Meinung nach ist es unmöglich, in dem als Zusatz zu 
Art. 5 ausgesprochenen „Prinzip“ der englischen Delegation eine 
gültige Zurücknahme des Art. 4 zu sehen. Dafür ist es zu allge- 
mein, zu unklar. Solche Prinziperklärungen könnte man jedem 
Artikel eines Vertrags vorangehen lassen, z. B. „Art. 1. Die Par- 
teien, im Prinzip ihre Souveränität, selbständig ihr Steuersystem zu 
regeln, feststellend, verbinden sich, ausnahmsweise die Ausfuhrprämien 
abzuschaffen ... Art.2. Die Parteien, im Prinzip ihre obengenannte 
Souveränität feststellend, verbinden sich, ausnahmsweise das Entrepöt- 
system einzuführen . . “ Wer würde dann, auf Grund des Prinzips 
in Art. 2, behaupten wollen, hiermit sei die in Art. 1 versprochene 
Abschaffung der Prämien wieder zurückgenommen? 

Hier gilt, meines Erachtens, der berühmte Satz des großen 
römischen Juristen Papinianus (Dig. L, tit. 17 de regulis juris, 
fr. 80): „In toto jure generi per speciem derogatur, et illud potissi- 
mum habetur quod ad speciem directum est." 

Der Meinungsunterschied wird allem Anschein nach keine tat- 
süchlichen Folgen haben. Die Gegner der Konvention in England 
haben es so dargestellt, als ob die permanente internationale 
Kommission in Brüssel die englische Regierung verurteilte, so daß 
das weltbeherrschende Albion seine bisherige Machtstellung ver- 
loren habe in . . . der Zuckerfrage! Sie haben aber den Vertrag 
nicht gut gelesen. Ueber Fragen bezüglich Auslegung des Vertrags 


wird sich die permanente Kommission — erst wenn ihr eine Frage 
vorgelegt wird — beraten und dann ein Gutachten abgeben in der 


Form eines Berichtes an die belgische Regierung. Diese wird den 
interessierten Staaten das Gutachten mitteilen. Wird dann von 
einem der Vertragsstaaten eine neue Konferenz zur Regelung der 
Sache verlangt, so ruft die belgische Regierung sie zusammen. Aus 
alledem geht hervor, daß die Konvention selbst zu einer näheren 
Vereinbarung die Gelegenheit geboten hat, falls man die Sache dieser 
Mühe für wert erachtet. Muß man sich doch erst darüber klar 
machen, ob die autonomen Kolonien (Canada, Queensland, Neusee- 
land) Exportprämien gewähren und ob sie nach Großbritannien aus- 
führen! Einmal scheint freilich aus Canada eine Menge von 60 t 


344 J. Baron d’Aulnis de Bourouill, i. 
Zucker nach England gebracht zu sein. Aber dies war offenbar viel- 
mehr eine Zufallsladung, zur Ausfüllung eines restierenden Raumes im 
Schiff, als die Folge regelmäßigen Verkehrs. Als allgemeine Norm kann 
man aufstellen, Canada führe keinen Zucker aus und, täte es es, dann 
würde es nach New York exportieren, welches näher liegt und wo 
die Preise regelmäßig höher sind als in London. 

Diese letzte Bemerkung bringt uns von selbst auf den Vorgang 
in den Niederlanden, wo die Konvention an sich zu keinem nennens- 
werten Bedenken seitens der Volksvertretung Anlafi gab (sie wurde 
am 2. Dezember von der zweiten, am 9. Januar von der ersten 
Kammer der Generalstaaten einstimmig angenommen), wo sich aber 
von schutzzöllnerischer Seite, namentlich der Zuckerfabrikanten, eine 
Bewegung zur Einführung eines Ueberzolls regte. In den Nieder- 
landen aber fand bis jetzt diese Bewegung wenig Anklang. Hat in 
den letzten Jahren die holländische Zuckerindustrie sich stark ent- 
wickelt, ohne durch Ueberzoll geschützt zu sein, weshalb sollte sie 
in Zukunft ohne jenen Zoll nicht lebensfähig sein? Die Ausfuhr- 
prümien sind in den Niederlanden seit 1897 fortwährend eingeschränkt 
und jetzt niedriger als irgendwo sonst. Bei der allgemeinen Ab- 
schaffung der Prämien wird jetzt die niederländische Industrie auf 
dem Weltmarkt am stärksten zu stehen kommen. Zuckereinfuhr zum 
eigenen Verbrauch läßt sich in Holland nicht erwarten, weil das 


Land schon dreimal mehr Zucker zu produzieren als zu verbrauchen ` 


pflegt. Insoweit Zuckereinfuhr (aus Deutschland und Belgien) statt- 
findet, geschieht dies für die großen Raffınerien, welche mehr, als die 
nationale Produktion gewährt, verarbeiten und welche die Raffınade 
wieder ausführen; — es ist also hauptsächlich Durchfuhr. Man will 
in Holland keinen Ueberzoll, weil dieser nur praktisches Resultat 
haben kann im Fall der Bildung eines Kartells der Zuckerindustrie. 
Gegen das Kartellwesen aber treten nicht nur die Konsumenten auf, 
sondern auch das Reichsschatzamt, weil die vom Kartell bewirkte 
Preiserhöhung eine Minderung des Zuckerverbrauchs verursachen 
würde, wie es ja in Deutschland, zum nicht geringen Schaden der 
Reichskasse, der Fall gewesen. „Felix, quem faciunt aliena pericula 
cautum.“ Von allen Seiten wehren sich in Holland die Konsumenten. 
Preiserhöhung durch die Maßnahmen eines Kartells würde einer Rück- 
vergütung im Falle von Ausfuhr nicht fähig sein: die Schokoladen- 
fabriken, die Konservenfabriken (mit dem sich entwickelnden Obst- 
gartenbau hinter sich), protestierten gegen die ihre Konkurrenz- 
fähigkeit bedrohende Gefahr. Die Regierung will vorläufig keinen 
Ueberzoll, wünscht aber eventuell bei drohender Einfuhr schnell die 
Waffe eines Ueberzolls in der Hand zu haben und hat deshalb eine 
Gesetzvorlage angekündigt, wobei sie ermächtigt sein würde, ver- 
mittelst eines königlichen Beschlusses eine Surtaxe festzustellen. 
Hiergegen aber fragt sich, ob dies wohl mit der Verfassung des 
Königreichs in Einklang sei, welche ja bestimmt (Art. 174), daß nur 
kraft eines Gesetzes Steuer erhoben werden kann. Wir werden dies 
alles der Zukunft überlassen und vorläufig konstatieren, daß, wenn 


Die Zuckerfrage in den Parlamenten Europas. 345 


andere Exportländer meinen, einen Ueberzoll handhaben zu müssen, 
die Niederländer trotz aller freundschaftlichen Gesinnung und trotz 
des Sprichwortes, daß die Nachahmung die schönste Schmeichelei ist, 
jenem Beispiel nicht zu folgen geneigt sind. 


Das Interesse der Konsumenten hat auch in Frankreich vielen 
Anklang gefunden, insofern es zu einer sehr ansehnlichen Herab- 
setzung der Zuckersteuer Veranlassung gegeben hat, zu derselben 
Zeit, da die Konvention dort angenommen wurde. Der französische 
Finanzminister Rouvier hat dafür gesorgt, daß seine Gesetzvorlage 
zur Begutachtung der Konvention in der Deputiertenkammer vom 
6. Dezember behandelt wurde. Die Budgetkommission hatte über 
den Entwurf wie über die beantragte Steuerherabsetzung von 65 auf 
27 fres. günstig berichtet. Den Aeußerungen der Presse nach war 
über die Konvention in Frankreich kein ernster Streit zu erwarten. 

Diese Erwartung hat sich bewahrheitet. Die Diskussion am 4. 
und 5. Dezember behandelte hauptsächlich die beantragte Herab- 
setzung der Accise; über die Konvention wurde kaum gesprochen. 
Die scharfsinnig aufgeworfenen Fragen über die Auslegung scheinen 
in Frankreich keinen Widerhall gefunden zu haben. Hier ist es haupt- 
sächlich ein Streit gewesen zwischen Zuckerfabrikanten, die eine wo- 
möglich noch ansehnlichere Herabsetzung des Tarifes verlangten, und 
Weinbauern, die in billigem Zucker eine Gefahr für gewisse Fabrikate 
von Wein mit anderen Stoffen erblickten, eine Debatte, wobei natür- 
lich zu Gunsten der Vorlage der Ausschlag von der übergroßen 
Mehrheit der Abgeordneten gegeben wurde, welche keine Interessen 
der Weinfabrikation zu vertreten hatten. Erst Ende Januar wurde 
die Regierungsvorlage vom Senate angenommen. 


Kurz nachher wurde endlich die Geburt von Gesetzvorlagen zur 
Ratifikation des Vertrages in Oesterreich und in Ungarn angezeigt. 
Bis jetzt hatten hier die verbündeten Regierungen nichts von sich 
hören lassen. Am 12. Dezember wurden in beiden Ländern gleich- 
lautende Gesetzvorlagen veröffentlicht. Von Steuerherabsetzung reden 
sie nicht. Wohl aber enthalten sie einen Antrag auf Kontingentierung 
in demselben Sinne, wie er im deutschen Reichstage am 8. Juni 
verworfen worden war. Wird der Paragraph über die Kontingen- 
tierung eine Mehrheit finden? Ich bin mit der Parteibildung in den 
Abgeordnetenhäusern von Wien und von Budapest zu unbekannt, 
um eine Vorhersagung zu wagen. Der Gedanke, sich in Oesterreich- 
Ungarn von der Regierung vorschreiben zu lassen, wieviel Zucker 
von den einheimischen Fabriken der Bevölkerung verkauft werden 
darf, würde ein Unikum sein, wenn nicht schon seit 1895 derselbe 
in Rußland Anwendung gefunden hätte, und wenn nicht von agrari- 
scher Seite im Deutschen Reiche ein gleichartiger Versuch gemacht 
worden wäre. Die österreichisch-ungarische Administration wird 
nämlich, dem $ 5 des Entwurfes nach, das Recht erlangen, alljährlich 
zu bestimmen, wieviel Tonnen Zucker aus dem Inlande zum ein- 


346 J. Baron d’Aulnis de Bourouill, 


heimischen Verbrauch geliefert werden darf, und sie wird für jede 
bestehende Fabrik das von dieser zu liefernde Kontingent feststellen. 
Wer mehr als seinen Anteil dem inländischen Verkehr überliefert, 
macht sich nach § 8 strafbar wegen „schwerer Gefällsübertretung“. 
Um zu wissen, wie schwer die Strafe sein soll, scheint man andere 
Gesetze zu Rate ziehen zu müssen. Mutmaßlich wird sie aber ge- 
nügend sein, um sich die Lust zu neuen Uebertretungen vergehen 
zu lassen. 

In $ 5 ist im voraus das Totalkontingent für das ganze Reich 
für das Betriebsjahr 1903/4 folgendermaßen festgestellt: 


für Oesterreich 277034 Tonnen Raffinade 

für Ungarn 86 366 " 5 

für Bosnien und Herzegowina 2600 5 os 
Total 366000 Tonnen Raffinade 


Welche Folge von dieser Regelung zu erwarten ist, läßt sich 
sehr wohl berechnen. Die Denkschrift nämlich zeigt an, daß oben- 
genannte Zahlen für 1903/4 berechnet sind auf Grund des Verbrauchs 
im Jahre 1900/1 unter Berücksichtigung einer normalen Gebrauchs- 
zunahme!) Man hat also aus früheren Berichten zu ersehen, wie 
hoch im Jahre 1900/1 der Inlandspreis von raffiniertem Zucker in 
Triest war, um zu ermitteln, wie hoch er im Jahre 1903.4 sein wird, 
falls er nur vom einheimischen Angebot abhüngig ist. Der Preis in 
Triest war z. B. am 3. April 1901 87 Kronen (Preisnotierung der 
deutschen Zuckerindustrie, vom 4. April 1901). Man darf diesen Preis 
wieder erwarten. Aber dieser wird reichlichen Gewinn zulassen. 
Die Kosten des Zuckerimporteurs zu Triest werden ja sein die Summe 
des Weltpreises (28 Kronen), der Accise (38 Kronen) und des Ueber- 
zolles (5,76 Kronen), zusammen 71,76 Kronen. Wer also in Triest 
Zucker einführt, wird dort einen Gewinn von 87,00—71,76 — 15,24 
Kronen pro 100 Kilogramm erzielen, ein genügender Grund, um 
Schiffsladung auf Schiffsladung dorthin zu senden, bis das Gleich- 
gewicht zwischen inlündischem Preise und Weltpreis (plus Accise 
und Ueberzoll) sich hergestellt hat. Der inlündische Preis wird also 
schnell auf 71,76 Kronen herabsinken und, weil die Accise von 38 
Kronen hier mit einbegriffen ist, wird der inländische Verkäufer einen 
Nettopreis von 33,76 Kronen erlangen. Die Kontingentierung der 
Industrie wird, alles recht besehen, auf Erhóhung des inlündischen 
Preises um den Ueberzoll hinauslaufen, in der Weise, daf die 
Industrie von allem, was sie unmittelbar dem einheimischen Verkehr 
zuführt, um den Betrag des Ueberzolles benefiziert, nämlich 5,76 
Kronen pro 100 Kilo Raffinade. 

Eine merkwürdige Folge dieser Regelung wird sein, daß eine 

1) Der Bruttoertrag der Zuckersteuer in Oesterreich-Ungarn im Jahre 1900-1 betrug 
130548837 Kronen, bei einer Accise von 380 Kronen pro Tonne Raffinade. Der Ver- 
brauch, wie dieser von dem Kartell beschränkt war, war also 346181 Tonnen. Die 
Regierung beschränkt jetzt für 1903-4 den Verbrauch auf 366000 Tonnen, hat also für 
ihre Bevölkerung von 40 Millionen Seelen den normalen Verbrauchszuwachs in drei 
Jahren auf 20000 Tonnen geschätzt. 


Die Zuckerfrage in den Parlamenten Europas. 347 


österreichische Fabrik strafbar sein wird, falls sie im Inlande mehr 
verkauft, als ihr Kontingent, daß sie aber dies nämliche Surplus auf 
einem Umwege ruhig dem Inlande zuführen kann. Sie braucht nur 
das Surplus in Triest in ein Schiff einzuladen, welches dem Auslande 
zusegelt, aber gleich nach Verlassen des Hafens das Ruder wendet 
und in den Triester Hafen wieder hineinsegelt. Der Zucker darf 
dann nach Bezahlung des Ueberzolls eingeführt werden, er kommt 
ja vom Auslande her. 

Ebenfalls werden mit Zucker beladene Güterzüge Böhmen ver- 
lassen können, um beim ersten deutschen Bahnhof wieder nach dem 
Gebiete des österreichischen Staates zurückzukehren. Diese Art von 
Einfuhr wird viel weniger kostspielig sein als jede andere; weshalb 
sollte man in Oesterreich Zucker einführen von Fabriken bei Magde- 
burg, wenn man die nämliche Ware in unmittelbarer Nähe der Grenze, 
gut verpackt und verladen, haben kann? 

Bei näherer Betrachtung — denn die Sache verdient eine ge- 
naue Auseinandersetzung — findet man im österreichischen Entwurf 
eine unnötige Last für den Verkehr. Das Hin- und Herführen von 
Tausenden von Tonnen kann dadurch vermieden werden, daß man den 
Fabriken (Raffinerien) erlaubt, ihr Surplus unmittelbar dem ein- 
heimischen Verkehr zu übergeben, mittelst Zahlung einer Extrasteuer, 
welche dem Ueberzoll gleichkommt. Auf diese Art würde ein 
Steuersystem zu stande kommen, gewissermaßen gerade das Um- 
gekehrte von dem, welches in Frankreich die Ausfuhrprämien ver- 
anlafte. Hier wurde einem gewissen Surplus eine geringere Steuer 
aufgelegt, als der allgemeine Accisetarif, in Oesterreich würde man 
dem Surplus eine hóhere Steuer auflegen, als die normale. 

Wie die Oesterreicher ihre Accise regeln wollen, müssen sie 
selbst wissen, falls nur die Bestimmungen der Konvention beobachtet 
werden. Sie brauchen nur den Beratungen in dem deutschen Reichs- 
tage nachzugehen, um zu wissen, was gegen die Kontingentierung 
vom Standpunkte der Interessen der eigenen Industrie und der 
Landwirtschaft vorgebracht werden kann. Wer künftig in Oesterreich 
eine neue Zuckerfabrik errichten will, wird stets erst nach dem Aus- 
lande exportieren müssen, während die alten Fabriken den Vorteil 
des obengenannten Benefits haben werden und obendrein den, sich 
in der Mitte ihrer Abnehmer zu befinden. Die Produktion für das 
Ausland wird für die alten Fabriken stets der weniger wünschens- 
werte Betriebsteil sein, im Vergleich zu dem viel vorteilhafteren 
einheimischen Verkauf. Wie leicht werden sich nicht, bei Begegnung 
einer starken Konkurrenz auf dem Weltmarkte, die Geschäftsführer 
und die Kommissare der österreichischen Fabriken die Frage stellen, 
ob es nicht vorteilhafter und leichter wäre, sich auf den einheimischen 
Verkauf zu beschränken? Die Ausfuhrprämien werden abgeschafft 
und ersetzt sein durch das gerade umgekehrte System: Prämien auf 
den inländischen Verkauf. 

Was hat seit einigen Jahren in Oesterreich die Erfahrung über 
solche Prämien auf den inländischen Verkauf gelehrt? Dort ist seit 


348 J. Baron d’Aulnis de Bourouill, 


1897 das Zuckerkartell zu stande gebracht, beschützt von einem 
Ueberzoll erst von 7, danach von 11 Goldgulden pro 100 kg Raffinade. 
Das Kartell hat den einheimischen Preis stark erhöht und die Aus- 
fuhr frei gelassen. 

Als Anfangs- und Vergleichungspunkt nehmen wir das der Er- 
richtung des Kartells unmittelbar vorangehende Betriebsjahr 1896—97. 

Wir bekommen nach den in den Beilagen der österreichischen 
Gesetzvorlagen gegebenen Ziffern folgendes Resultat: 


Produktion von Oesterreich-Ungarn Weltproduktion 

in Tonnen in Tonnen 

Rohzucker Vergleichungszahl Rohzucker Vergleichungszahl 
1896—1897 921 632 100 7 689 645 100 
1897—1898 905 591 98 7 628 837 99 
1898—1899 1 031 884 112 7 725 101 100 
1899—1900 1 088 016 118 8 343 900 108 
1900—1901 1 073 192 116 9 454 500 122 
1901—1902 I 279 298 138 10 728 200 139 
1902—1903 !) 1 060 000 115 9 331 500 12I 


Es leuchtet ein, daß das österreichische Kartell den Weltmarkt 
keineswegs durch übermäßige Produktion gedrückt hat. Die Pro- 
duktion in Oesterreich-Ungarn hat fortwährend mit der der anderen 
Länder so ziemlich gleichen Schritt gehalten. Wahrscheinlich würde 
sie bei der allgemeinen Weltproduktion sogar zurückgeblieben sein, 
wenn ihr nicht besonders günstige Witterungsverhältnisse im Jahre 
1901 und 1902 zu Hilfe gekommen wären. Wie sollte das auch 
anders kommen ? 

Stellen wir uns einmal vor, daß von nun an jedes Land durch 
sehr hohen Ueberzoll die Einfuhr ausschließt und zur Kartellbildung 
auf eigenem Gebiete Anlaß gibt. Dann wird nirgends eingeführt 
werden. Diejenigen aber, die den Kartells die Schuld geben, Extra- 
ausfuhren zu Spottpreisen zu veranlassen, müßten überall eine kräftige 
Ausfuhr erwarten. Ueberall Ausfuhr und nirgends Einfuhr! Das 
steht mit sich selbst in Widerspruch. Meine Schlußfolgerung ist diese: 

Bei der Beurteilung der österreichisch-ungarischen Gesetzvorlagen 
stelle man in den Vordergrund, daß die Hauptsache ist, daß die 
Regierung ihrer Vorlage zur Begutachtung der Konvention die An- 
nahme in der Volksvertretung sichert. Ist sie der Meinung, daß diese 
Annahme gefährdet ist, falls sie den Forderungen der Zucker- 
industriellen (zumeist Großgutsbesitzern) nicht durch Ueberzoll und 
Kontingentierung nachgibt, so wird das Ausland diese Maßregeln als 
politisches Mittel zum Hauptzweck zu betrachten haben. Obenein 
wird das Ausland sich nicht über diese Maßregel zu beunruhigen 
brauchen. Es mag mit Verdruß sehen, daß infolge dieser Mittel die 
Ausdehnung des Verbrauches in Oesterreich-Ungarn nicht in der 
Weise zunimmt, wie es sonst möglich gewesen wäre; aber dank der 
Herabsetzung des Einfuhrzolls können dort die Zuckerpreise ihre 


1) Die Zahlen der Weltproduktion für das Betriebsjahr 1902—1903 sind geschätzt 
worden vom Internationalen Verein für Zuckerstatistik (Umfrage 13. Dezember 1902) 
und von Willet & Gray. 


Die Zuckerfrage in den Parlamenten Europas. 349 


jetzt erreichte Höhe gewiß nicht halten; eine Ausdehnung des Kon- 
sums ist jedenfalls zu erwarten. In jener Hinsicht wird auch betreffs 
Oesterreich-Ungarns die Konvention ihren Zweck erreicht haben: 
„Aider au developpement de la consommation du sucre par la 
limitation de la surtaxe.“ 


Seitdem Vorstehendes geschrieben wurde, sind in Oesterreich- 
Ungarn die Gesetzvorlagen zur Ratifikation des Brüsseler Vertrags 
und zur Kontingentierung der inländischen Zuckerindustrie von den 
dortigen Parlamenten angenommen worden. Es ist aber nachher 
in Frankreich, England und Deutschland die Frage aufgeworfen 
worden, ob nicht diese staatliche Kontingentierung mit dem Wort- 
laut des Vertrags in Widerspruch stehe, der ja in Artikel I als 
Prämie, zu deren Abschaffung die Vertragsmächte sich verbinden, 
definiert: „tous les avantages résultant directement ou indirectement, 
pour les diverses catégories de producteurs, de la législation fiscale 
des Etats“, und der weiter einige Beispiele von Prämien nennt. 
Nun ist ohne Zweifel die österreichisch-ungarische Kontingentierung 
nicht in jenen Beispielen genannt, aber es fragt sich, ob sie nicht 
unter die allgemeine Begriffsbestimmung fällt. Zweitens ließe sich 
noch fragen, ob, wenn jene staatliche Kontingentierung nicht unter 
den Wortlaut der Konvention fällt, sie jedoch nicht dem Geiste der 
Konvention widerspricht, namentlich ob nicht bei den Brüsseler Ver- 
handlungen die Erklärungen seitens Deutschlands und Oesterreichs 
über die rechtliche Natur der dort bestehenden Kartelle derart ge- 
wesen sind, daß sie als ein Versprechen, keine Kartelle auf Staats- 
kosten und durch Staatsverwaltung zu stiften, aufgefaßt werden mußten 
und auch wirklich als solches aufgefaßt worden sind. 

Seitdem der französische Finanzminister in der Deputierten- 
kammer erklärt hat, daß die französische Regierung sich ihre Stellung- 
nahme zu den gesetzlichen Zwangskartellen vorbehalte und daß er 
die Absicht hege, die ständige Kommission in Brüssel so bald als 
möglich mit dieser Frage der österreichischen Kartellierung zu be- 
schäftigen, ist diese Frage in ein Stadium eingetreten, wo, wie der 
Staatssekretär des Reichsschatzamts des Deutschen Reichs, Freiherr 
von Thielmann, am 6. März 1903 im Reichstage sagte, „das Feuer 
unter den Füßen brennt“. In diesem Stadium, meint der Autor 
dieses Aufsatzes, erlaubt es schwerlich seine Stellung als Dele- 
gierter der niederländischen Regierung zur Brüsseler Konferenz jetzt 
über die Frage seine persönliche Meinung zu äußern. 


350 F. Pabst, 


Nachdruck verboten. 


VII. 


Die Besteuerung des unverdienten Wert- 
zuwachses von Grund und Boden. 
(Konjunkturgewinnsteuer.) 


Von 


Dr. F. Pabst. 


Schon vor Veróffentlichung meiner Auseinandersetzung mit der 
Bodenreform !) beabsichtigte ich einen weiteren Ausbau der Konjunk- 
turgewinnsteueridee, die mich zuerst in einem lüngeren in der Tü- 
binger Zeitschrift erschienenen Aufsatz?) beschäftigt hat. Erst jetzt 
konnte der Gedanke zur Ausführung gelangen. Die vorliegende 
Arbeit bringt noch einmal eine wissenschaftliche Begründung der in 
Rede stehenden Steuer und versucht nach nochmaliger Würdigung 
der Vorschläge von Adickes und anderer Finanztheoretiker eine 
brauchbare Form der Besteuerung zu geben. Möge sie zu der 
weiteren naturgemäßen Entwickelung unserer Steuerverfassung bei- 
tragen. D. V. 


I. Ueberbliek über die heutige Besteuerung des Konjunkturgewinnes in Preußen. 
II. Finanzwissenschaftliche Begründung der Konjunkturgewinnsteuer. III. Kritische 
Prüfung von Vorschlägen. IV. Versuch einer brauchbaren Steuerform. V. Verwendung 
der Erträge der Konjunkturgewinnsteuer. 

Die Besteuerung des Wertzuwachses von Grund und Boden, des 
„unearned increment* oder der Zuwachsrente der Bodenreformer — 
unseres Erachtens besser gesagt, der Konjunkturgewinne an Grund 
und Boden — bildet schon seit längerer Zeit eine in der Finanzpraxis 
und -theorie mit Eifer erörterte Frage. 


I. 
Die preußische Steuerpraxis hat auf drei Wegen eine Lösung des 
Problems angestrebt, 
1) durch die Verkehrsbesteuerung, 
2) mit der Einkommensteuer, 
3) durch eine besondere Bauplatzsteuer. 


1) Damaschke und die „Hausagrarier“. Berlin 1903. Verlag von E. Pierson- 
Dresden. 


2) Zur Beseitigung der kommunalen Grund- und Gebäudesteuer. Zeitschr. f. d. 
ges. St.-W. 1899, Bd. 4, 1900, Bd. 1. 


Die Besteuerung des unverdienten Wertzuwachses von Grund und Boden. 351 


Steuern der ersten Kategorie sind die Mutationsabgabe und die 
Steuer auf Pacht- und Mietverträge. Die Einkommensteuer trifft 
nur Gewinne aus ,gewerbsmäRig* oder „zu Spekulationszwecken 
unternommenen“ Verkäufen von Grundstücken !). Mit der Bauplatz- 
steuer sollten „Liegenschaften, welche durch die Festsetzung von 
Baufluchtlinien in ihrem Wert erhöht worden sind (Bauplätze), nach 
Maßgabe dieses höheren Wertes zu einer höheren Steuer als die 
übrigen Liegenschaften herangezogen werden ?)“. 

Von diesen Steuern hat sich die letzte nach den damit gemachten 
Erfahrungen als ein entschiedener Mißgriff und in ihrer heutigen 
Gestalt als undurchführbar erwiesen. Wohl in fast allen Gemeinden, 
die den Versuch ihrer Anwendung gemacht haben, ist sie wieder 
aufgehoben worden. Es blieben die Verkehrssteuern und die Ein- 
kommensteuer. 

Daß die ersteren sehr wenig geeignet sind, gerechte Resultate 
zu liefern, ist eine von der Wissenschaft anerkannte Tatsache. Die 
Unfähigkeit der Kontraktstempelsteuer, Konjunkturgewinne an Grund 
und Boden zu treffen, wie ihre mieteverteuernde Wirkung erhellt 
ohne weiteres 3). Aber auch die Mutationsabgabe ist nach fast ein- 
stimmigem Urteil der Finanztheoretiker ungeeignet für diesen Zweck, 
besonders als staatliche Steuer. „Die Steuer vom Immobiliarver- 
mógensverkehr entspricht, weder als selbständige noch als ergänzende 
Steuer gedacht, den Grundsätzen der Gerechtigkeit und Volkswirt- 
schaft; sie stellt unregelmäßige und zufällig auftretende Einhebungen 
von Vermögensquoten dar und kann nur aus der geschichtlichen 
Entwickelung und der Leichtigkeit ihrer Erhebung erklärt werden. 
Je höher sie ist, um so bedenklicher ist sie; jedenfalls sollte sie 
1 Proz. des Wertes nicht übersteigen und bei kleineren Objekten 
überhaupt außer Ansatz bleiben ‘).“ Als Kommunalsteuer ließe sie 
sich eher rechtfertigen; doch treffen auch dann im Grunde alle die 
schwerwiegenden Bedenken noch zu, die überhaupt gegen sie geltend 
gemacht werden und die nur eine vollständige Umgestaltung des 
Wesens dieser Steuer zu entkräften vermag. Nur einen Verlegen- 
heitsschritt bedeutet es daher, wenn der Ministerialerlaß5) vom 
12. September 1896 in Anbetracht des Scheiterns der Bauplatzsteuer 
eine weitere Verbreitung der Immobiliarverkehrssteuer in den Ge- 
meinden befürwortete und die Beseitigung hemmender Vorschriften 
und Beschränkungen versprach, die zum Teil mit Rücksicht auf die 
Entwickelung der Bauplatzsteuer bis dahin beobachtet worden waren *). 


1) Cf. Ausführungsanweisung zum Einkommensteuergesetz vom 5. August 1891. 
Art. 9 u. 17, No. 3. 

2) Cf. S 27 Abs. 2 des K.A.G. vom 14. Juli 1893. 

3) Jeder Mietskontrakt in Berlin enthält die Bestimmung: „Die Stempelgebühren 
für diesen Kontrakt trägt der Mieter.“ 

4) Vgl. Eheberg, Finanzwissenschaft, Leipzig 1901, S. 274. 

5) Cf. M.Bl. 1896, S. 189. 

6) Demgemäß genehmigte z. B. die Aufsichsbehórde für Berlin nach Aufhebung 
der Bauplatzsteuer einen ungleichen Satz der Mutationsabgabe, für bebaute Grund- 
stücke 1/,, für unbebaute 1 Proz. 


352 F. Pabst, 


Die Einkommensteuer endlich kann schon aus dem Grunde der 
ihr hier gestellten Aufgabe nicht genügen, weil das in Frage kommende 
Steuerobjekt im allgemeinen nicht unter den Einkommensbegrif fällt. 
Daher werden ihre Ergebnisse entweder unzureichend und lückenhaft 
sein oder man muß dem Begriff des Einkommens Gewalt antun und 
Einnahmen hineinzwängen, die nur eine Vermehrung des Stammver- 
mögens darstellen. Sie wird also immer nur ein Notbehelf sein 
können. 

Die ganze bisherige Behandlung des Problems in der Gesetz- 
gebung krankt daran, daß ihr die Systematik und Methodik fehlt. Man 
hat den Fehler gemacht, ältere zum Teil überlebte Formen der Be- 
steuerung zu benutzen, hauptsächlich wohl zunächst zu dem Zweck, 
sie trotz der veränderten Verhältnisse des Wirtschaftslebens und 
der Steuerverfassung zu konservieren. Und dieser Mangel hat die 
vorauszusehende nachteilige Folge gehabt, daß man sich die Hände 
band und eine moderne Reform in großem Stile unmöglich machte. 
Die Mißgeburt der Bauplatzsteuer, die Entstellung des Einkommens- 
begriffs und damit eine Verballhornisierung der Einkommensteuer, 
wie sie Artikel 9 der Ausführungsanweisung zum E.G. unstreitig 
enthält!), war die Strafe. 

Man muß ferner mit Gedankengängen brechen, wie ihn be- 
sagter Artikel 9 enthält: „Zum Einkommen aus Kapitalvermögen 
gehören ferner vereinnahmte Gewinne aus der zu Spekulations- 
zwecken unternommenen Veräußerung von Grundstücken u. s. w.... 
Ob einer Veräußerung Spekulationszwecke zu Grunde liegen, ist 
nach den begleitenden Umständen des einzelnen Falles zu be. 
urteilen. Die Beschaffenheit des veräußerten Wertgegenstandes, die 
Verhältnisse, unter welchen Erwerb und Veräußerung stattfanden, 
die Dauer des Besitzes und die Art der Bewirtschaftung während 
desselben werden Anhaltspunkte dafür geben, ob beim Erwerbe die 
Absicht vornehmlich auf die mit dem Besitz verbundene laufende 
Nutzung, mithin auf die dauernde Anlage eines Vermögensteiles ge- 
richtet war, oder vielmehr auf den durch die erwartete Erhöhung des 
Kapitalwertes zu erzielenden Gewinn. Nur in dem letzteren Falle 
kann die spätere Wiederveräußerung als die Verwirklichung eines 
Spekulationszweckes gelten. Ein solcher ist beispielsweise nicht schon 
deshalb anzunehmen, weil ein Landwirt seinen langjährig selbst- 
bewirtschafteten Grundbesitz unter Benutzung einer günstigen Kon- 

junktur vorteilhaft verkauft, wohl aber z. B. dann, wenn jemand das 
in der Nähe einer großen Stadt im Hinblick auf deren Ausdehnung 
erworbene, ertraglos oder einstweilen in landwirtschaftlicher Benutzung 
liegende Grundstück wieder veräußert, nachdem dasselbe als Bauplatz 
verwertbar geworden ist.“ 

Solange man unter den Konjunkturgewinnen eine unberechtigte 
Unterscheidung macht und den ,Spekulationszweck“ als den ent- 


1) Vgl. Abs. 2. Eine fortgesetzte. 


; : . Tätigkeit ist zur Feststellung des 
Spekulationszwecks nicht erforderlich. 


+ 


Die Besteuerung des unverdienten Wertzuwachses von Grund und Boden. 353 


scheidenden Faktor ansieht!), wird man schlechterdings nichts Ver- 
nünftiges erreichen. Konjunkturgewinne werden an Boden von allerlei 
Art gemacht, und es muß mindestens für die Besteuerung sehr gleich- 
gültig sein, ob ein solcher an landwirtschaftlich genutztem oder 
Hausboden, vom Baustellenbesitzer oder vom Hauseigentümer reali- 
siert wird. 

Da die heutige Besteuerung nicht ausreichend bezw. unzweck- 
mäßig ist oder gar ungerecht wirkt, so besteht allerdings eine große 
Lücke in der preußischen Steuerverfassung und der Entwickelung des 
Steuerwesens überhaupt. Dies ist um so mehr zu beklagen, als diese 
Einnahmekategorie nicht nur an und für sich ein wichtiges Steuer- 
objekt darstellt, sondern auch eine verhältnismäßig hohe Belastung 
erfordert, wie sich aus finanzwissenschaftlichen Gründen leicht dar- 
tun läßt. 


II. 


Der besondere Charakter der Konjunkturgewinne verlangt — 
gleichgültig, ob sie gewerbsmäßig oder zufällig erzielt werden — 
zweifellos eine stürkere steuerliche Belastung als das Arbeits- und 
das Besitzeinkommen. Diese rechtfertigt sich unseres Erachtens ohne 
weiteres aus dem Prinzip der Besteuerung nach der Leistungs- 
fühigkeit. Ein besonderes Prinzip dafür zu konstruieren, wie 
z. B. Neumann?) will: (Prinzip der tunlichsten Opferausgleichung), 
ist Ansichtssache. Denn im Grunde genommen besagt ja das Moment 
der Leistungsfáhigkeit dasselbe?) Die Steuerpraxis berücksichtigt 
bereits die Mühelosigkeit des Erwerbs, resp. den Mangel enstprechender 
Gegenleistungen. Aufs deutlichste beweist dies die Progression des 
Steuerfußes der Erbschaftssteuer nach dem Grade der Verwandtschaft. 


1) Vergl. dazu G. Schanz, Der Einkommensbegriff und die Einkommensteuergesetze. 
Finanzarchiv, 1896, Bd. 1, S. 55 u. fg.: „Vor allem ist es eine Ungeheuerlichkeit, in einem 
Steuergesetz mit der „Absicht“ zu operieren. Man kann hier den preußischen Finanz- 
minister mit seinen eigenen Worten schlagen. Bei Beratung desselben Gesetzes sprach 
er 3 Tage später aus: „Innere Motive kann unmöglich die Steuerveranlagung zu Grunde 
legen. Man begreift ferner gar nicht, was für einen Unterschied es für den Bezüger 
und seine Lage machen soll, ob er an einem ererbten oder einem spekulativ gekauften 
Haus oder an einem expropriierten Garten 50000 M. gewinnt; man versteht nicht, 
warum im 1. und 3. Fall die 50 000 M. Stammvermögen, im 2. Fall dagegen Einkommen 
sein sollen. Es nimmt sich nahezu komisch aus, daß ein Gewinn von 10000 M. aus 
einem spekulativen Verkauf von Aktien Einkommen ist, dagegen 20 M., die ein Privatier 
bei zufälliger Veräußerung eines Papiers erzielt, als „Stammvermögen“ gelten... Es 
heißt doch Haare spalten, wenn man in dieser Weise Stammvermögenszuwachs und 
Einkommen trennen zu können glaubt.“ 

2) Vergl. Fr. J. Neumann, Zur Gemeindesteuerreform in Deutschland. Tübingen 1895. 

3) Vergl. Eheberg, Finanzwissenschaft, 1901, S. 161/62: Wenn es richtig ist, daß 
der Grund der Steuer in der Natur des Staates und in dem Verhältnis der Einzel- 
wirtschaften zu demselben besteht, so wird die Steuer ... einfach als eine Pflicht des 
einzelnen erscheinen, zur Erfüllung der Existenz- und Fortschrittsbedingungen des 
Ganzen nach seinen wirtschaftlichen Mitteln beizutragen. Die Verwirklichung dieses 
Prinzips kann positiv so ausgedrückt werden, daß die Steuerpflichtigen im Verhältnis 
zu ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit besteuert werden, negativ so, daß dasin 
der Steuer gelegene Opfer für alle gleich fühlbar sei. 


Dritte Folge Bd. XXV (LXXX). 23 


354 F. Pabst, 


Man nimmt eben an, daß je weitläufiger die Verwandtschaft ist, um 
so weniger der Erbe an der Entstehung des Erbvermögens beteiligt 
war und dafür Opfer irgendwelcher Art gebracht oder sich den Erb- 
lasser durch Gegenleistungen irgendwelcher Art verpflichtet hat. 

Wenn demnach die Konjunkturgewinnsteuer selbst, wie ein ver- 
hältnismäßig hoher Steuerfuß derselben durchaus zu rechtfertigen ist, 
so muß man sich andererseits doch vor Uebergriffen hüten, und 
soweit eine falsche Begründung zu solchen führen könnte, muß die- 
selbe energisch bekämpft werden. Aber nicht allein Verhütung über- 
triebener Forderungen — die ja, nebenbei gesagt, immer die Gefahr 
in sich tragen, auch den realen nützlichen Kern der Idee zu ver- 
hüllen und die ganze Bestrebung unfruchtbar zu machen — sondern 
das Interesse eines naturgemäßen Fortschrittes der Finanzwissenschaft 
macht es zur Pflicht, bei diesem Problem irrige oder an sich richtige, 
aber hier nicht anwendbare Steuerprinzipien abzulehnen. Solche ver- 
fehlten Begründungsversuche sind die, welche im Rahmen der heute 
geltenden Steuertheorie bleibend das Interesseprinzip oder darüber 
hinausgehend, gewisse „sozialpolitische“ Steuerprinzipien anwenden 
wollen. 

Auch bei diesem Problem darf man den Grundgedanken der 
Steuer überhaupt, ihren rein finanzpolitischen Zweck nicht aus den 
Augen lassen. Finanzwissenschaftlich kann ihre Aufgabe immer nur 
sein: Mittelbeschaffung zur Deckung der Ausgaben der öffentlichen 
Körper. Daß das geltende Steuersystem vernünftige sozialpolitische 
Forderungen zu berücksichtigen hat, ist selbstverständlich und geht 
aus dem ersten jener allgemeinen Grundsätze im Steuerwesen: „daß 
die Steuer gerecht sei“ (Eheberg) hervor. Sozialpolitische Forderungen 
dürfen und sollen das Steuerwesen beeinflussen, aber nur so weit, 
wie es die Steuerprinzipien als Ausdruck einer einheitlichen Steuer- 
theorie gestatten. Ob es aber opportun ist, die ganze Finanzwissen- 
schaft von der sozialpolitischen Auffassung abhängig zu machen, oder 
mit anderen Worten: eine sozialpolitische Steuer- bezw. Finanztheorie 
als ultima ratio der Finanzwissenschaft aufzustellen, darüber dürfen 
unseres Erachtens mit Recht vorläufig noch die Meinungen geteilt 
sein. Wir würden eine derartige einseitige Entwickelung der Theorie 
des Steuerwesens nicht für richtig halten. Jedenfalls sind wir ent- 
schiedene Gegner des sozialpolitischen Steuerprinzips, wie es Wagner 
und die Bodenreformer vertreten. Die Steuer an sich hat weder die 
Aufgabe, eine veränderte Verteilung des Volkseinkommens und da- 
durch einen Vermögensausgleich herbeizuführen (Wagner), noch die 
Konjunkturgewinnsteuer speziell die Funktion, die Zuwachsrente als 
Produkt aller in den Besitz der Gesamtheit zu überführen !). 


1) Eine Wegsteuerung des ganzen sogenannten arbeitslosen Wertzuwachses würde 
in vielen Fällen eine unerhörte Ungerechtigkeit bedeuten. Man denke an das Beispiel 
eines Besitzers einer kleinen Mühle in der Nähe einer sich entwickelnden Großstadt. 
Die Großmühlen machen seinen Betrieb unrentabel. Die wohltuende Ausgleichung, 
welche ihm der fortschreitende Entwieklungsprozeß in einer Steigerung des Bodenwertes 
bieten kann, würde bei strikter Durchführung der Bodenreformidee illusorisch werden. 
Dasselbe gilt für viele andere Gewerbe. 


| 


Die Besteuerung des unverdienten Wertzuwachses von Grund und Boden. 355 


Was zunächst das Interesseprinzip (in der hergebrachten Auf- 
fassung desselben) betrifft, so steht seiner Anwendung ein sehr 
wichtiges Bedenken entgegen. Der Mehrwert von Grund und Boden 
entsteht nicht allein durch Aufwendungen der öffentlichen Körper. 
Man kann das Vorteilsprinzip also nicht anwenden, weil eine derartig 
begründete Steuer auch nur den Anteil der öffentlichen Körper 
treffen dürfte, der aber aus der gesamten Wertsteigerung nicht 
rechnerisch auslösbar ist. Die Rechtfertigung mit dem Interesse- 
prinzip ist deshalb weder praktisch angängig wegen dieses Mangels 
noch theoretisch wünschenswert, weil die Beschränkung der Besteuerung 
auf die durch den Staat oder die Gemeinde hervorgerufene Gewinn- 
quote eine Halbheit und eine unvollkommene Maßregel wäre. 

Gegen die Wagnersche Anschauung, welche die Steuer auffaßt 
als „den gesellschaftlichen Anteil“ der Gemeinde oder des Staats 
an dem durch sie selbst hervorgerufenen Wertzuwachs von Grund 
und Boden!) und gegen das sozialpolitische Prinzip der Bodenreform, 
haben wir oben bereits einen prinzipiellen Einwand erhoben. Wir 
wiederholen auch hier: Weshalb soll man unsere bewährten Steuer- 
prinzipien um der Verwirklichung der Idee der Konjunkturgewinn- 
besteuerung willen über den Haufen werfen, wenn sie völlig aus- 
reichen, und damit die kaum gewonnenen sicheren Grundlagen unserer 
Finanztheorie aufs schwerste erschüttern? Solch eine Umwälzung 
kann um so weniger gutgeheißen werden, als der neuen Theorie 
schwerwiegende Bedenken theoretischer und praktischer Natur gegen- 
überstehen. d 

Begründet man nämlich die Konjunkturgewinnsteuer als allgemeine 
Steuer mit dem Prinzip der Leistungsfühigkeit, so fällt von vorn- 
herein jener Einwand fort, dafi einer Besteuerung des Konjunktur- 
gewinnes als Korrelat ein Anrecht des Steuerzahlers auf Entschädigung 
resp. Unterstützung in Zeiten wirtschaftlicher Rückschläge entsprechen 
müsse?) Betrachtet man eben den Konjunkturgewinn als eine 
ordnungsmäßige und auf Grund des Rechts an Privateigentum an- 
zuerkennende Einnahme, so ist sie wie alle anderen „arbeitslosen“ 
Einnahmen zu besteuern, ohne daß bei rücklüufiger Preisbewegung 
ein Entschädigungsanspruch des Steuerpflichtigen an die Gemeinde 
oder den Staat entstünde. 

Ganz anders müßte hingegen die Entschädigungsfrage beurteilt 
werden bei einer Motivierung der Steuer im Wagnerschen Sinne als 
des ,gesellschaftlichen Anteils^ der Gemeinde oder des Staats. In 


1) Vergl. A. Wagner, Finanzwissenschaft, Teil II, S. 579: „Die Gesellschaft nimmt 
hier durch die genannte Besteuerung nur gerechtfertigt Anteil an der ihren Leistungen, 
ihrer Entwickelung zumeist allein zu verdankenden Wert- und Rentensteigerung des 
Bodens.“ 8.585: „Unter Voraussetzung der Billigung des „sozialpolitischen‘ Gesichtspunktes 
im Finanz- und Steuerwesen erscheint es alsdann insbesondere geboten, durch die Be- 
steuerung den gesellschaftlichen Anteil an diesem Konjunkturgewinn zu realisieren.“ 

2) Vergl. v. Reitzenstein, „Kommunales Finanzwesen“ im Schönbergschen Hand- 
buche, Tübingen 1898, S. 107: „Würde der Gemeinde eine Beteiligung am Gewinn 
zugestanden, so würde von ihr mit gleichem Recht eine Beteiligung am Verlust gefordert 
werden müssen.*' 


23* 


356 F. Pabst, 


dieser Form hat die Abgabe überhaupt ihren Steuercharakter ein- 
gebüßt; sie stellt vielmehr eine wirtschaftliche Beteiligung der öffent- 
lichen Körper — oder wenn man will: der Gesellschaft — dar. Hier 
wäre die Entschädigungspflicht unvermeidlich; denn ein Anteilsrecht 
äußert sich bekanntlich nicht nur in der Teilnehmerschaft am Gewinn, 
sondern involviert auch die Beteiligung am Risiko und am Verlust. 
A. Wagner erkennt konsequenterweise auch die Berechtigung dieser 
Argumentation an. „Solche Unfälle!) sind etwas der ungünstigen 
Konjunktur Aehnliches. Ein weiteres Eintreten von Gemeinschaften 
bei Verlusten aus der Konjunktur ist nicht prinzipiell unzulässig, 
sondern nur bisher nicht praktisch durchführbar. Auch bei der Be- 
steuerung der Konjunkturengewinne ist es dieser letztere Umstand, 
nicht die Fraglichkeit des Prinzips, welcher eine umfassendere Aus- 
dehnung und damit ein weiteres Eintreten der staatlichen Gemein- 
schaft hindert.“ 

Wir glauben nicht, daß ernst zu nehmende Gemeindepolitiker 
die Kommunen den mit Uebernahme solcher Risiken verbundenen 
Gefahren aussetzen möchten. Bekanntlich bewegt sich das Wirt- 
schaftsleben nicht immer in aufsteigender Linie und der Gemeinde- 
bedarf pflegt gerade in schlechten Zeiten besonders hoch zu sein. 
Ferner ist die Entwickelung der Gemeinden eine sehr verschiedene. 
Auch der Staat kann sich auf derartige Eventualitäten nicht einlassen. 


III. 


Die Berechtigung der Konjunkturgewinnbesteuerung kann also 
nicht mehr angezweifelt werden; doch damit sind die Schwierigkeiten 
ihrer Verwirklichung noch lange nicht überwunden. Es fehlt bisher 
eine brauchbare Form der Besteuerung. Wie es der Praxis bisher 
noch nicht gelungen ist, das Problem in befriedigender Weise zu 
lösen, so hat auch die theoretische Erörterung unseres Erachtens 
noch keinen gangbaren Weg gezeigt. Von nationalökonomischen 
Schriftstellern, die der Frage näher getreten sind, müssen besonders 
A. Wagner, Adickes, Rudolf Eberstadt und Fr. J. Neumann hervor- 
gehoben werden. 

Adolf Wagner, der vor allem das Verdienst hat, auf die Not- 
wendigkeit der Besteuerung der Konjunkturengewinne hingewiesen 
zu haben, ist auch einer der ersten gewesen, die die Unzulänglichkeit 
der heutigen Steuern erkannt und einen Ersatz durch individuellere 
Formen verlangt haben. Er hat aber bisher noch keine ins Einzelne 
gehenden Vorschläge gemacht?) ` 

Eingehender behandelt ist das Problem von den anderen ge- 
nannten Gelehrten, deren Ausführungen kritische Beurteilung ver- 
langen. Hinsichtlich des Umfanges der Neuerungen, die mit diesen 


1) Cf. Finanzwissenschaft, Teil II, 8. 578. Es ist hier von Unfällen die Rede, 
die etwas der ungünstigen Konjunktur Achnliches sind, wobei Versicherung oder materielle 
Staatshilfe eintritt. 

2) Vergl. A. Wagner, Finanzwissenschaft, Teil II, 58 (236—240), S. 582, 586 u. 
587 ft. 


Die Besteuerung des unverdienten Wertzuwachses von Grund und Boden. 357 


Reformvorschlägen verbunden sind, muß man die von Adickes und 
Eberstadt und Neumanns Vorschlag trennen. Betrachten wir zu- 
nächst den von Adickes geäußerten Plan. Adickes will die Grund- 
und Gebäudesteuer, allerdings modifiziert, aufrecht erhalten. Während 
die Gebäudesteuer sich nach dem Ertrage des Gebäudes richten soll, 
hat sich die Grundsteuer teils an den Ertrag anzuschließen, soweit 
es sich um landwirtschaftlich benutzten Boden handelt, teils soll sie 
nach dem Verkaufswert erhoben werden, soweit Baustellenland in 
Frage kommt. Um letzteres vom rein landwirtschaftlichen Boden 
zu trennen, soll das die Stadt umgebende Land in Lagenklassen 
geteilt werden, für welche der Verkaufswert nach Maßgabe der Ver- 
käufe der letzten 3—5 Jahre alljährlich neu festgestellt wird !). 
Mit dieser Grund- und Gebäudesteuer verbindet Adickes weiter 
den Zweck, die ohne Zutun des Besitzers erfolgende Wertzunahme 
stärker zu treffen; indem man — entweder an Stelle des für alle 
Grundstücke gleichen Steuersatzes eine progressive Steuerskala setzt, 
deren niedrigste Sätze für die noch überwiegend landwirtschaftlich 
benutzten Gelände und deren progressiv ansteigende Sätze für die 
Lagenklassen mit höherem Verkaufswert gelten — oder aber die bei 
der ersten Veranlagung ermittelten Werte mit einer einheitlichen 
Steuer belegt und die demnächstigen Wertsteigerungen mit einem 
Zuschlag heranzieht, welcher gleichfalls eventuell progressiv gestaltet 
werden könnte (vergl. Adickes, S. 631/632), ließe sich, nach Adickes, 
der Zweck bei der Grundsteuer unschwer erreichen. In gleicher 
Weise soll die Gebäudesteuer einen progressiven Tarif erhalten, 
um den arbeitslosen Wertzuwachs stärker zu erfassen. „Unbedenklich 
wird es hierbei auch sein, zur Beseitigung gewisser oft erhobener 
Einwände den Prozentsatz der Steuer (Gebäudesteuer!) zu ermäßigen, 
falls in einzelnen Stadtgegenden einmal ein Rückgang der Erträge 
und Werte eintrüte" (vergl. S. 646). Für die Grundsteuer zieht 
Adickes die Erwägung einer entsprechenden Ermäßigung in Zeiten 
wirtschaftlicher Depressionen gar nicht in Betracht. Da aber diese 
direkte Grund- resp. Gebäudesteuer zwar „durchaus geeignet ist, 
den wachsenden Grundwert nach niedrig gegriffenen Durchschnitts- 
ätzen verhältnismäßig zu treffen", dagegen plötzliche Konjunktur- 
gewinne und rasche Wertsteigerungen nicht zu erfassen vermag, so 
hat nach Adickes die Immobiliarbesitzwechselabgabe in 
diese Lücke einzutreten. Diese Steuer soll beim unbebauten 
Gelände zugleich nachholen, was an Grundsteuer (für die Adickes 
II, pro mille vom Verkaufswert vorschlägt) im Verhältnis zur Ge- 
bäudesteuer, welche jetzt zwischen 1'!/,—2 pro mille des Werts be- 
trägt, zu wenig bezahlt wird und deshalb einen Zuschlag von 
1'/,—2 Proz. erhalten. 
Im übrigen will Adickes die Mutationsabgabe wie bisher nach 
dem vollen Wert? resp. Preis bemessen. Der beim Umsatz erzielte 


1) Vergl. Adickes, Studien über die Weiterentwickelung des Gemeindesteuer- 
wesens. Zeitschr, f. d. ges. Staatswissenschaft, Heft 3 u. 4, Tübingen 1894, S. 631 u. fg. 


358 F. Pabst, 


Gewinn soll durch einen besonderen Zuschlag zum Einheitssatz 
der Umsatzsteuer getroffen werden. Um Schwierigkeiten in Bezug 
auf die Ermittelung des Gewinns zu vermeiden, schlägt Adickes!) vor, 
auf die Erfassung des vollen Gewinns der Regel nach zu verzichten, 
also den Zuschlag nicht nach dem erzielten Gewinn zu bemessen, 
sondern statt dessen den Zuschlag in Durchschnittssätzen für die- 
jenigen Umsätze einzuführen, „welche Grundstücke betreffen, rück- 
sichtlich welcher seit einem gewissen Zeitraum Veräußerungsgeschäfte 
nicht abgeschlossen sind.“ Eine Progression des Tarifs, „nach der 
Länge der zwischen der letzten und vorletzten Veräußerung liegen- 
den Zeiträume abgestuft“, erscheint ihm durchaus unbedenklich, ins- 
besondere, wenn man dem Steuerpflichtigen anheimgibt, „im Wege 
des Einspruchs nachzuweisen, daß die Präsumtion der Gewinner- 
zielung in concreto gar nicht oder nur in geringerem Maße zutreffe 
und deshalb ein Zuschlag vom Gewinne nicht zu erheben sei“. 

Endlich schlägt Adickes?) einen weiteren progressiven Zu- 
schlag vor, welcher die Differenz zwischen dem der Grundsteuer 
und Gebäudesteuer zu Grunde gelegten Schätzungswert (beim Bau- 
stellenland) resp. den Ertragswert (bei bebauten Liegenschaften) 
einerseits und den realisierten Verkaufspreis andererseits treffen 
soll. Die Aufgabe dieses Zuschlags soll darin bestehen, diesen bis 
dahin unversteuert gebliebenen Teil des Wertes resp. des Ertrages 
nachträglich zu erfassen und damit zugleich den Gemeindebehörden 
hinsichtlich der Grundwertsteuerveranlagung den Anreiz zu über- 
mäßig hoher Feststellung der Werte zu nehmen und zu verhindern, 
daß die Besteuerten die Höhe der angenommenen Werte bemängeln 
en niedrige Wertangaben (besonders bei selbstbewohnten Häusern) 
machen. 

Diesen Vorschlägen von Adickes ist zu entgegnen, daß die Muta- 
tionsabgabe ebenso wie die Grundwertsteuer neben einer richtigen 
Erfassung des Konjunkturgewinns völlig überflüssig ist, und auch 
aus volkswirtschaftlichen und steuerpolitischen Grundsätzen nicht 
gerechtfertigt werden kann?) und aus sozialen Rücksichten verworfen 
werden mußt). Ferner bietet die dargelegte Form der Besteuerung 


1) Siehe S. 637 u. 648. 

2) Siehe S. 638 u. 648. 

3) Vergl. meine Ausführungen: Tübinger Ztschr., 1899, Bd. 4, S. 624 u. 625. 

4) Einige Finanztheoretiker vertreten die Ansehauung, daB die Mutationsabgabe 
als sogenannte Anlagesteuer einen besonders hohen Grad von Leistungsfühigkeit zu 
treffen habe, nämlich angelegtes Vermögen, das nieht dem Konsum, sondern der Er- 
öffnung neuer Rentenquellen dient. Unseres Erachtens ist eine solche Begründung zu 
weit hergeholt, entspricht auch dem Grundsatz nicht, das Einkommen zu besteuern 
und widerlegt vor allem die berechtigten Klagen über ungleichmäßige Wirkung der 
Steuer nicht. Außerdem dürfte dieselbe, so aufgefaßt, auch wirklich nur das angelegte 
Kapital erfassen, also im Grundstücksverkehr nur das wirklich hineingesteckte Kapital 
des Käufers und nicht den vollen Wert. Ferner ist bei dies@r Begründung auf die 
Lücke hinzuweisen, welche dann in Bezug auf den Erwerb von Hypotheken besteht. 
Dieser stellt zweifellos einen höheren Grad der Leistungsfähigkeit dar als der Kauf 
einer Mietskaserne der Großstadt, eines kleinen Hauses in einer Kleinstadt, eines Gutes auf 
dem Lande, Anlagen, womit nicht nur ein größeres Risiko verbunden ist, welche auch 


al 


Die Besteuerung des unverdienten Wortzuwachses von Grund und Boden. 359 


des Konjunkturgewinns nach dem Maßstabe der Zeit, innerhalb deren 
kein Besitzwechsel stattgefunden hat, mit allgemeiner „Präsumtion für 
steigende Werte und Gewinnerzielung bei Verkäufen“ aus erklärlichen 
Gründen sehr große Bedenken, auch in „Gemeinden mit zunehmender 
Bevölkerung und steigenden Grundwerten“. Man wird nicht bei der 
alten Umsatzsteuer mit ihren Schwächen stehen bleiben können, 
sondern eine direkte Erfassung der Konjunkturgewinne anstreben 
müssen. 

Ebenfalls sehr problematisch erscheint uns der Versuch, durch 
eine laufende Grund- und Gebäudesteuer gleichzeitig eine höhere 
Belastung von Konjunkturvorteilen erzielen zu wollen. Selbst wenn 
man, namentlich beim unbebauten Gelände, darauf verzichtet, „die 
über ein gewisses mittleres Maß hinausgehenden Werte in Rechnung 
zu ziehen“, werden sich Willkürlichkeiten nicht vermeiden lassen. 
Ueberhaupt entspricht unseres Erachtens der Gedanke, einen Wert- 
zuwachs dauernd! mit höheren Steuersätzen heranzuziehen — und 
dies wäre doch bei der von Adickes verlangten Progression des 
Tarifs der Grund- und Gebäudesteuer der Fall — nicht dem Grund- 
satz der Gerechtigkeit und ist in volkswirtschaftlicher Hinsicht durch- 
aus bedenklich. Eine derartige Werterhöhung darf nur einmal be- 
steuert werden und zwar bei demjenigen Besitzer, der sie wirklich 
durch Verkauf realisiert oder bei laufenden Erträgen in denselben 
genießt. Denn wechselt z. B. ein im Wert gestiegenes Grundstück 
oder Gebäude den Besitzer, so hat der neue Eigentümer natürlich 
keinen Vorteil von der Wertsteigerung, welche der Vorgänger im 
Verkaufspreise kapitalisiert, eingesteckt hat. Bei dem Adickesschen 
Modus würde gleichwohl von dem Grundstück die Gebäudesteuer 
weiter zu dem erhöhten Steuerfuß erhoben werden. 

Auch R. Eberstadt!) beharrt bei dem alten System der Um- 
satzsteuer, allerdings nur für den „Mehrwert, welcher 
bei der Umwandlung von Ackerland in städtisches Bauland entsteht“. 
Er wünscht deshalb eine staatliche Umsatzsteuer, „welche nur den 
2500 M. pro ha übersteigenden Bodenpreis — unter Absatz der 
Gebäudewerte mit Sätzen von !|,—4 Proz. treffen soll“. Die Pro- 
gression bemißt sich daher nach der Höhe des Hektarwertes. Bei 
einem Hektar Wert 


von 2501— 5000 M. = !/, Proz. 
»  5$001— 7500 , = I D 
» 17501—10000 „ = 2 
10000—20000 , — 3 
und — 20000 = 4 n 


Gegen diese Auffassung ist nur das zu wiederholen, was vorhin 
gegenüber dem Adickesschen Projekt betont wurde. Ebensowenig 


nicht ohne Arbeit des Eigentümers denkbar sind. Keine zeigt den Charakter des reinen 
Renteneinkommens so deutlich wie gerade der Erwerb einer Hypothek. 

Die Mutationsabgabe hat vielmehr nach Einführung einer Konjunkturgewinnsteuer 
keine Existenzberechtigung mehr und man wird ihr Verschwinden nur mit Genugtuung 
begrüßen können. 

1) Vergl. Adickes S. 635. 


360 F. Pabst, 


wie die Länge der Zeit zwischen letztem und vorhergehendem Besitz- 
wechsel ein sicheres Kriterium für die Erzielung eines Konjunktur- 
gewinns sein kann, ist aus der Höhe des Wertes des umgesetzten 
Bodens ein zuverlässiger Rückschluß auf den etwaigen Gewinn 
möglich. Es kann beispielsweise ein Grundstück bei einer Ver- 
äußerung mit 5000 M. pro ha von jemand verkauft sein, der es 
seiner Zeit steuerlos erwarb, weil er selbst < als 2500 M. pro ha 
gezahlt hat. Dasselbe Grundstück wird bald darauf von dem neuen 
Eigentümer wieder verkauft, diesmal ohne Gewinn, weil sich vor- 
läufig keine Möglichkeit der Bebauung bietet, z. B. infolge einer 
wirtschaftlichen Depression oder weil er das Grundstück zu teuer 
gekauft hat. In diesem Falle würde gleichwohl !/, Proz. des Wertes 
als Umsatzsteuer zu entrichten sein. Derartige Ungerechtigkeiten 
würden um so schärfer wirken, je höher bereits der Hektarwert des 
verkauften Bodens gestiegen ist. Man sieht, daß bei Aufrechterhal- 
tung des eigentlichen Verkehrssteuercharakters, die Steuer — sie mag 
sich nach Kriterien richten, wie sie wolle — immer mit großen 
Ungerechtigkeiten verbunden sein muß. 

Als Fortschritt gegenüber den erörterten Darlegungen sind da- 
gegen die Vorschläge Neumanns!) zu begrüßen. Dieser greift 
ebenfalls, wie Adickes, auf die alte Objektsteuerform zurück, will 
aber die Gewinnsteuer nur auch vom wirklich erzielten Gewinn 
erheben. Die Gewinnquote soll durch behördliche Schätzungen fest- 
gestellt werden, unter Berücksichtigung von Meliorationen und 
Kapitalaufwendungen des Eigentümers, die einen Mehrwert hervor- 
gerufen haben und wofür der Besitzer buchmäßig Beweis zu erbringen 
hat. Für bebaute Grundstücke sollen Ertrag und im Tauschverkehr 
gezahlte Preise einen Anhalt für die Schätzung bieten, für unbebaute 
das letztere Moment. Aehnlich wie die preußische Grundsteuer, soll 
auch diese auf 15 jährlich vorzunehmenden Schätzungen beruhen. 

Indessen genügt auch dieser Vorschlag noch nicht. Einmal ist 
die lange Veranlagungsperiode unzweckmäßig; in einem halben 
Menschenalter können sehr große Wertschwankungen im Grund- 
besitz eintreten, wobei dann die größten Ungerechtigkeiten entstehen. 
Andererseits ist die völlige Ablehnung der Verkehrssteuerform 
namentlich in Bezug auf die Besteuerung des Baugeländes unpraktisch. 
Gerade in diesem Punkt, wo ein Ertrag als Kriterium fehlt, stehen 
einer behördlichen Wertermittelung äußerst große Bedenken ent- 
gegen. Die bisherigen Erfahrungen, namentlich der mißglückte 
Bremer Versuch von 1873, können nur davor warnen, eine Besteue- 
rung ertragloser Grundstücke auf dem unsicheren Boden behördlicher 
Wertermittelung vorzunehmen. 


IV. 


Die bisherige Betrachtung hat manchen anerkennenswerten und 
benutzbaren Gedanken geliefert. Doch wird keiner dieser Vorschläge 


1) Fr. J. Neumann, S. 35 u. fg. 


x 


Die Besteuerung des unverdienten Wertzuwachses von Grund und Boden. 361 


der Aufgabe vollkommen gerecht. Wir wollen im folgenden ver- 
suchen, selbst einen Weg zu weisen. 

Um gerechte Resultate erlangen zu können, ist es vor allem 
nötig, den reinen Konjunkturgewinn aus der Preisdifferenz zwischen 
Kauf und Verkauf auszuscheiden. Dazu muß in jedem Falle der 
Besteuerung ermittelt werden, ob die Wertsteigerung wirklich 
„arbeitlos“, d. h. ohne Hinzutun des Eigentümers eingetreten ist 
oder ob derselbe vielleicht durch irgendwelche Leistungen zu der 
Entstehung der Werterhöhung beigetragen hat. Hierbei ist besonders 
zu beachten, daß eine solche, soweit sie der Besitzer durch Mühe- 
und Kapitalaufwand mit Benutzung einer günstigen Konjunktur 
erzielt hat, nicht als reiner Konjunkturgewinn bezeichnet werden darf. 

Allerdings wird man bei diesem Versuch bald zu der Ueber- 
zeugung gelangen, daß man sich hierbei sehr zu bescheiden hat. Um 
der Aufgabe wirklich gerecht zu werden, wäre es nämlich einmal er- 
forderlich, auch den Zinsverlust, den der Baustellenspekulant gehabt 
hat, in Rechnung zu ziehen. Verf. hat in dem ersten Versuch !) eine 
solche Lösung angestrebt. Gründliche Nachforschung ergab jedoch die 
Undurchführbarkeit einer derartigen Absicht?) Denn wollte man 
die Zeit, für welche die Zinsberechnung stattfinden soll, nicht be- 
grenzen, so wäre damit der eventuellen Gefahr nicht genügend vor- 
gebeugt, daß Baustellenland trotz Nachfrage und wirklichen Bedarfs 
danach, zurückgehalten wird, um einen noch höheren Gewinn zu 
erzielen. Andererseits läßt sich aber eine Begrenzung der für die 
Vorbereitung zur Bebauung?) erforderlichen Zeit allgemein nicht 
geben. Es kann z. B. zur Zeit ein lebhaftes Bedürfnis nach Woh- 
nungen bestehen. Eine Baugesellschaft kauft größere Komplexe, 
parzelliert sie und macht sie bebauungsfähig. Inzwischen ist ein 
Rückgang der wirtschaftlichen Konjunktur eingetreten. Der Woh- 
nungsmangel hat dem Wohnungsüberfluß (der Wohnungsnot der 
Hauswirte!) Platz gemacht. Die auf normale Verhältnisse berechnete 
allgemeine Zeitfrist würde sich in diesem Falle als zu kurz er- 
weisen und die betreffenden Unternehmer gegenüber anderen, die 
unter gewöhnlichen Verhältnissen gewirtschaftet haben, schädigen. 
Man muß also von dem Versuche abstehen, aus dem Gewinn im 
einzelnen Fall die nach Lage der Dinge berechtigten Zinsen aus- 
scheiden zu wollen. 


1) Vergl. F. Pabst, Zur Beseitigung der kommunalen Grund- und Gebäudesteuer, 
S. 120 ff. 

2) Verf. geht von der Ansicht aus, daß die Baustellenspekulation nötig ist, damit 
immer Boden für den Bedarfsfall bereitgehalten wird und der Hausbesitzer seiner Auf- 
gabe gerecht werden kann Wohnungen „auf Lager“ zu halten. Für die nach Ort und 
Zeit sehr verschiedene Vorbereitungsphase muß auch der Bauspekulation eine wirt- 
schaftlich durchaus gerechtfertigte Verzinsung ihres Anlagekapitals zugesprochen werden. 
Vergl. auch Adickes, S. 636/37. „Was im übrigen die speziellere Gestaltung dieser 
Urnsatzsteuer vom Verkaufsgewinn anlangt, so genügt offenbar zur Feststellung er- 
zielten Gewinnes eine einfache Gegenüberstellung des letzten und vorletzten Kaufpreises 
nicht, (beim unbebauten Gelände), da zu den letztgenannten unter Umständen erhebliche 
durch Einnahmen aus dem Grundstück nicht gedeckte Zinsverluste hinzutreten.“ 

3) z. B. für Parzellierung, Pflasterung, Kanalisation ete. 


362 F. Pabst, 


Aber auch von diesem Spezialfall abgesehen, muß darauf auf- 
merksam gemacht werden, daß der nach Ausschaltung der oben be- 
trachteten Teile des Konjunkturgewinns verbleibende Betrag durchaus 
noch nicht den „arbeitlosen Wertzuwachs“, in der Definition der 
Bodenreform als „die Wertsteigerung des nackten Bodens an sich 
ohne jede Arbeit des einzelnen Bodeneigentümers“ be- 
zeichnet !), darstellen kann. Um diesen zu ermitteln, müßte noch ein 
weiterer Abzug gemacht werden, dessen Grenzen im einzelnen Falle 
allerdings fließende sind, der aber begrifflich vollständig feststeht. 

Wenn nämlich der Führer der Bodenreform bei der Besprechung 
der Wertsteigerung eines ehemaligen Bauernguts in Schöneberg bei 
Berlin ?) als Schöpfer der Zuwachsrente desselben folgende Personen 
nennt: „alle die Staatsmänner, die in jenen schicksalsreichen 50 Jahren 
für Deutschland gedacht, die Feldherren, die seine Schlachten ge- 
wonnen, die Soldaten, die ihr Leben für das Vaterland eingesetzt, 
die Erfinder, die der Industrie neue Bahnen eröffnet, die Fabrikanten, 
die Kaufleute, die Arbeiter, die Künstler, die Lehrer — alle, die 
geistig und körperlich zur Aufrichtung und Größe des Deutschen 
Reiches und damit auch seiner Hauptstadt beigetragen“, so dürfen 
unter diesen doch auch nicht die reellen Bauspekulanten, das Bau- 
gewerbe und last not least der Hauseigentümer vergessen werden. 
Diese Kategorien des gewerblichen Lebens haben nicht nur durch 
risikoreiche Investierung von Kapital und Arbeit in Grund und Boden, 
sondern auch, namentlich der Hausbesitz, durch hohe Sonder- 
steuern zu dieser Entwickelung beigetragen. Ein Berliner Haus- 
besitzer zahlt bekanntlich bei einem Einkommen von 3000 M. genau 
10mal so viel Gemeindesteuer wie z. B. einer seiner Hypotheken- 
gläubiger bei einem gleichen Einkommen. Nur besteht der Unter- 
schied, daß das Einkommen des letzteren wirklich „arbeitlos“ ist, 
während sich dies von dem Einkommen des Hausbesitzers nicht be- 
haupten läßt. Der in der Aufzählung Damaschkes nicht fehlende 
Elementarlehrer zahlt bekanntlich, auch bei einem Diensteinkommen 
von 3000 M., gar keine Gemeindesteuer. 

Die Mitwirkung des Bau- und Hausbesitzgewerbes an der Ent- 
stehung der „Zuwachsrente“ wird auch von den Bodenreformern zu- 
gegeben. So schreibt Damaschke a. a. O. S. 62: „Der „Berliner 
Spar- und Bauverein“, dessen Aufsichtsrat ich 6 Jahre angehörte, 
begann seine Tätigkeit mit dem Bau eines Doppelhauses in Moabit. 
Wir gingen weit hinaus. Unser Haus war das erste in der be- 
treffenden Straße. Als der Versuch gelungen war [es handelte sich 
um den Bau eines Hauses! d. Verf.], erkundigten wir uns nach dem 
Preis des benachbarten Landes. Ja, das war ,selbstverstündlich so- 
fort in die Hóhe gegangen*. Der Dau des ersten grofien Hauses 
in jener Gegend hatte den Bodenwert „gehoben“. Die Grundeigen- 
tümer gewannen — wir hatten ja gewagt und gearbeitet." 


1) Vergl. A. Damaschke, Vom Gemeindesozialismus, S. 60. 
2) Ibidem. 


Die Besteuerung des unverdienten Wertzuwachses von Grund und Boden. 363 


Man sieht, daß man die werterhöhende Tätigkeit des Bauunter- 
nehmers wie des Eigentümers nicht hoch genug anschlagen kann. 
Billig wäre es daher, beiden bei Berechnung eines eventuellen Kon- 
junkturgewinns ein praecipuum in Form eines prozentigen Abzuges 
zu gewähren. Leider läßt sich auch hierfür im einzelnen Fall das 
richtige Maß nicht finden. Das theoretisch so schnell konstruierte 
„uncarned increment“ kann in der Praxis niemals genau fest- 
gestellt werden. 

Diese Tatsachen verlangten dann aber um so mehr Innehaltung 
der vernünftigen Grenzen bei der Festsetzung des Steuerfußes, 
um ungerechte oder zu harte Besteuerung zu vermeiden. 

Um sich über die Voraussetzungen einer ausreichenden und 
gerechten Besteuerung des Konjunkturgewinnes klar zu werden, ist 
es zweckmäßig, die verschiedenen Kategorien des Steuerobjektes zu 
unterscheiden. Es kommen in Frage: 

I. landwirtschaftlich und anders benutzte Grundstücke mit Bau- 
stellencharakter, 

II. Grundstücke ohne Nutzung (eigentliches baureifes Bauland), 

III. Hausgrundstücke. 

Besondere Schwierigkeiten bietet hinsichtlich der Besteuerung 
die erste Kategorie, wie aus dem bekannten mißglückten Bremer 
Versuch erhellt. Bei Hausgrundstücken hingegen besteht der Vorteil, 
daß Ertrag und Wert in der Regel! parallel laufen. 

Endlich darf der Fall der Nichtveräußerung von Bauland nicht 
außer acht gelassen werden, wenn beispielsweise eine Baugesellschaft 
Terrain erwirbt, bebaut und selbst bewirtschaftet. Hier würde die 
Besitzwechselabgabe allein versagen; ja nach dieser Richtung hin 
würde sie direkt eine Prämie auf die volkswirtschaftlich äußerst be- 
denkliche Häufung von Boden- und Hausbesitz in wenigen Händen 
darstellen. Das Beispiel lehrt, wie vorsichtig die ganze Frage be- 
handelt werden muß. 

Entsprechend der Verschiedenartigkeit dieser Fälle entstehen 
auch verschiedene Schwierigkeiten. Um ein auf alle Fälle passendes 
System zu finden, werden verschiedene Wege nebeneinander zu gehen 
sein. Eine bloße Verkehrssteuer genügt ebensowenig wie eine auf 
dem Ertrage basierende Objektsteuer allein. Eine Kombination 
dieser Formen wird also erforderlich sein ! 

Fangen wir beim unbebauten Terrain an und sehen wir vor- 
läufig von der Nichtveräußerung ab. Hier ist der eigentliche Kon- 
junkturgewinn am leichtesten zu ermitteln. Ein Bauplatz ist für 
150000 M. gekauft worden und wird nach einem Jahre für 160000 M. 
weiter verkauft. Der erzielte Mehrwert beträgt 10000 M. Wird nun 


die Steuer in bestimmten Prozentsätzen erhoben — wir bringen als 
niedrigste Sätze des progressiven Steuerfußes für unbebaute Grund- 
Stücke 10 Proz., für Hausgrundstücke 6 Proz. in Vorschlag — so 


würden in diesem Falle 1000 M. Konjunkturgewinnsteuer erhoben 
werden, da der Eigentümer Aufwendungen irgendwelcher Art nicht 
gemacht hat. 


364 F. Pabst, 


Umständlicher wird die Berechnung, wenn auf seiten des Ver- 
käufers Ausgaben vorliegen. Diese sind bezüglich der Höhe ihrer 
Verzinsung zu unterscheiden. Für Interessensteuern, wie z. B. Ad- 
jacentenbeiträge, ist der landesübliche Zins in Ansatz zu bringen. 
Hat der Eigentümer aber selbst Kapitalien auf den Bauplatz ver- 
wandt, z. B. zur künstlichen Schaffung von Baugrund oder bei Ge- 
bäuden zu Umbauten, so ist er zweifellos berechtigt, einen höheren 
Zins zu verlangen. Besonders bei Gebäuden sind derartige Kapital- 
investierungen häufig. Es handle sich z. B. um ein Haus einer 
größeren Stadt in einer Straße, welche die Tendenz zeigt, eine 
Lauf- und Geschäftsstraße zu werden. Der Besitzer hat mit Benutzung 
der günstigen Konjunktur Läden ausgebrochen und dadurch Ertrag 
und Wert des Grundstücks erheblich gesteigert. Obwohl an und 
für sich die Wertsteigerung auch in diesem Beispiel auf den Einfluß 
der Gesamtentwicklung zurückzuführen ist, so hat doch der Besitzer 
einen wichtigen Anteil an der Realisierung des Gewinnes. Denn hätte 
er nicht umgebaut, würde er einen höheren Ertrag nicht haben er- 
zielen können. Es stand eine Spekulation in Frage, die auch nicht 
in jedem Falle gewinnbringend sein wird. Dies rechtfertigt zweifellos 
eine Risikoprämie für den Besitzer. 

Das Gleiche gilt für Meliorationen von Bauland. 

Derartige Arbeits- und Kapitalaufwendungen müssen daher in 
einer Weise berücksichtigt werden, wie aus folgendem Beispiel erhellt. 

Bei einem Hausverkauf ergibt sich ein Mehrwert von 20000 M. 
Der Eigentümer hat 4000 M. zu Umbauten hineingesteckt. Die Rente 
muß sich demnach, wenn man als Norm für eine derartige spekulative 
Anlage einen Zins von 6—8 Proz. annimmt, um ca. 280 M. pro anno 
erhóhen. Kapitalisiert man diesen Mehrbetrag mit dem durchschnitt- 
lichen Hauszins, der etwa 5 Proz. beträgt, so würde sich eine auf 
die Spekulation des Besitzers zurückgehende normale Werterhóhung 
von 5600 M. ergeben. Dieser Mehrwert kann vernünftigerweise nicht 
als unverdienter Wertzuwachs besteuert werden, ist vielmehr aus dem 
ganzen Konjunkturgewinn zur Ermittlung des steuerbaren Wert- 
zuwachses auszuscheiden. Der letztere beträgt somit nur 20000 
— 5600 — 14400 M. Der Betrag von 5600 M. wird natürlich von 
der Ergänzungssteuer !) getroffen. 

Da sich bei Baustellenland mangels eines Ertrages das zu 
Meliorationszwecken investierte Kapital nicht kapitalisieren läßt, muß 
es hier inkl. Verzinsung (6—8 Proz.) in Abzug gebracht werden. 

Es ist also immer Kauf- resp. Selbstkostenwert [Kaufpreis 
+ Aufwendungen kapitalisiert oder inkl. Verzinsung + Interessen- 
steuern (hauptsächlich Adjacentenbeitrag!) inkl. Zinsen] und Verkaufs- 
preis zu vergleichen. 

Bei landwirtschaftlich genutzten Grundstücken, die Baustellen- 
charakter gewonnen haben, unterliegt die Differenz zwischen land- 
wirtschaftlichem Ertragswert und erzieltem Verkaufspreis der Gewinn- 


1) Wie auch die 14400 M. vorläufig nur von der staatlichen Ergänzungssteuer. 
Nach Aufhebung der Grund- und Gebäudesteuer steht jedoch einer Ausdehnung der Er- 
gänzungssteuer auf die Gemeinden kein logisches Hindernis mehr im Wege. 


— 


Die Besteuerung des unverdienten Wertzuwachses von Grund und Boden. 365 


steuer. Schwierigkeiten werden besonders hier aus dem parzellenweisen 
Verkauf entstehen, sind aber zu bemeistern. 

Die bisherigen Ausführungen rechneten immer mit der Voraus- 
setzung eines Besitzwechsels. Die Besteuerung bedarf aber noch 
einer Ergänzung für Fälle der Nichtveräußerung, wobei ferner das 
Bedürfnis der Gemeinde nach dauernden und gleichmäßigen Einnahmen 
zu berücksichtigen ist. 

Naturgemäß muß der Besitzwechsel bei Hausgrundstücken häufiger 
sein, als beim Baustellenland, welches ja nur ein Uebergangsstadium 
in der Nutzung des Bodens darstellt. Infolgedessen wird auch die 
Verschiedenheit in der Häufigkeit der Veräußerung größer als beim 
unbebauten Boden sein. Bei Hausgrundstücken wäre mithin die 
Verkehrssteuer allein unbillig. Zunächst könnten solche Generationen 
hindurch vererbt werden, ohne jemals verkauft zu werden; diese 
würden ein Privileg der Steuerfreiheit genießen. Außerdem ist der 
Wechsel der Konjunkturen zu bedenken, der die Grundstückswerte 
steigen und sinken läßt. Die öfter im Verkehr gewesenen Haus- 
grundstücke kónnten, wenn sie mehrmals in Zeiten wirtschaftlicher 
Depressionen veräußert wurden, gegenüber anderen zu solcher Zeit 
unveräußert gebliebenen benachteiligt werden. 

Bei einem in 30 Jahren 6mal veräußerten Hausgrundstück sei 
z. B. in 4 Verkaufsfällen eine Konjunkturgewinnsteuer gezahlt worden. 
Während derselben Zeit ist ein anderes von gleicher Beschaffenheit 
(vielleicht einer juristischen Person gehörend) immer in derselben 
Hand geblieben. Wird das letztere jetzt verkauft, so ist die bei dem 
einmaligen Verkehrsakt gezahlte Steuer geringer als die Summe der 
Steuern, womit das erste Grundstück belastet wurde. 


B. 2 Grundstücke von je 100000 M. Wert. 


I. 6mal veräußert 6 Proz. Konjunkturgewinnsteuer 
1) 105000 M. (+ 5 000) 300 M. 
2) 110000 ,, (+ 5 000) 300 „ 
3) 120000 , (+ 10000) 600 ,, 
4) 115000 „ 
5) 110000 „ 
6) 120000 „ (+ 10 000) 600 , 
Summa 1800 M. 
II. (mal verkauft 7 Proz.!) Konjunkturgewinnsteuer 
1) 120000 M. (+ 20 000) 1400 M. 


Da bei der Verkehrsform immer die letzte Wertermittelung des 
letzten Tauschaktes der Berechnung zu Grunde gelegt wird, so sind 
bei dem ersten Hausgrundstück Summa 1800, bei dem zweiten nur 
1400 M. an Steuern entrichtet worden. Die Gemeinde hat 400 M. 
weniger Steuern erhalten, obgleich sich die Wertbewegung der beiden 
Steuerobjekte in gleicher Weise vollzogen hat. 

Solche Ungleichheiten in der Belastung des Steuerobjektes müssen 
aber vermieden werden. Die Ungerechtigkeit erhöht sich noch da- 
durch, daß bei den seltener verkauften Gebäuden noch eine bedeutende 


Zinsersparnis infolge der nicht so oft erfolgenden Steuerzahlung 
stattfindet. 


1) Vergl. Schema der Progression des Steuerfußes weiter unten. 


366 F. Pabst, 


Nicht allein die Gerechtigkeit, auch die Möglichkeit, der Gemeinde 
laufende Einnahmen zu sichern, empfiehlt für die Besteuerung der 
Hausgrundstücke ein anderes Verfahren !). 

Hier handelt es sich um Ertrag gebende Steuerobjekte; hier ist 
eine nach dem Ertrage sich bemessende Gewinnsteuer durchaus an- 
gebracht. Auf Hausgrundstücke beschränkt, verursacht die von 
Neumann vorgeschlagene Steuerform keine Bedenken. Der Konjunk- 
turgewinn läßt sich berechnen aus dem Vergleich der Erträge und 
zwar der Nettomieten (nach Abzug der sogenannten Nebenabgaben). 
Die Wertermittelung würde jedoch mindestens alle 5 Jahre statt- 
finden müssen, wenn man der Wertbewegung folgen und Ungerechtig- 
keiten vermeiden will. Eine 15-jährige Wiederholung der Veranlagung 
vermag notorisch dem Wechsel der Konjunkturen nicht Rechnung zu 
tragen und Wertverminderungen gebührend zu berücksichtigen ?). 

Ein Moment verdient jedoch noch besonders hervorgehoben zu 
werden, was die Benutzung des Ertrags als Berechnungsmañstab 
anbetrifft. Bekanntlich werden bei einer Besteuerung der Gebäude 
nach dem Nutzungswert die Häuser mit kleinen Wohnungen relativ 
zu hoch, die mit großen und eleganten Wohnungen zu niedrig be- 
lastet, weil bei der ersten Kategorie der Verkehrswert unverhältnis- 
mäßig viel geringer als der (aus den Mieten sich ergebende) 
Nutzwert ist. Die Ursache dieses Mißverhältnisses ist der relativ 
höhere Preis der kleinen Wohnungen, den das größere Risiko des 
Besitzes, die größeren Unkosten, die schnellere Abnutzung solcher 
Gebäude bedingen ë). Dieser Mißstand hat neuerdings dazu geführt, 
die Grundwertsteuer in vielen Gemeinden nach dem „gemeinen 
Wert“ zu erheben. Auch unser Vorschlag darf diese Tatsache nicht 
außer acht lassen. Es müßte durch Abzug einer bestimmten Pauschal- 
summe der Nutzwert dem wirklichen Wert nahe gebracht werden. 
Um hierbei auch Gebäuden gerecht zu werden, die eine geringe 
Anzahl kleiner Wohnungen neben größeren haben, dürfte eine ab- 
gestufte Skala, vielleicht in folgender Form, angebracht sein: 


Skala: 
Von den Nettomieten werden in Abzug gebracht: 
3 Proz. wenn 1) — 3 
Rea 
t x : an), der Wohnungen 
D 3 „ mehr als  ?/, 


des betreffenden Gebäudes „kleine Wohnungen“ sind. Der Begriff 
„kleine Wohnung“ müßte vom Gesetz festgelegt werden. 

Die Schuldenzinsen dürften natürlich nicht abgezogen, vielmehr 
müssen die Roherträge immer verglichen werden. Es wäre sonst 


1) Auch beim Bauland sind derartige Ungleichheiten denkbar, aber aus vorher 
dargelegten Gründen von geringerer Bedeutung. 

2) Es ist nieht anzunehmen, daß die Kosten sich verdreifachen; überhaupt darf 
den Kosten zu Liebe nicht die Gerechtigkeit zurückgesetzt werden. 

3) Vergl. die Ausführungen bei W. zur Nieden „Gebäudesteuer und Wohnungsfrage 
in Preußen‘, Schmollers Jahrb. für Gesetzgebung, ete., N. F. Bd. 24, 1900, 8.8 u. fg, 
wo auch Zahlenmaterial beigebracht ist. 


Die Besteuerung des unverdienten Wertzuwachses von Grund und Boden. 367 


möglich, durch entsprechende Mehrbelastung des Grundstücks mit 
Hypotheken einen tatsächlichen Wertzuwachs zu verschleiern. 

Neben dieser Steuerform ist aber bei Hausgrundstücken die 
Besitzwechselform beizubehalten. Sie wird ergänzend wirken, wenn 
einmal der Ertrag sich als unzuverlässiges Kriterium für die Wert- 
ermittelung erweist. Sie ist auf jeden Fall ein korrigierender Faktor, 
dessen Anwendung eine sichere Gewähr gegen Ueberschätzung des 
Wertes bietet. 

Man wird vielleicht geneigt sein, eine solche Kombination für 
überflüssig zu halten, in der Erwägung, daß Wert und Ertrag bei 
Hausgrundstücken parallel zu laufen pflegen. Aber es gilt Fälle 
wie folgenden zu berücksichtigen. Ein Gebäude ist alt und un- 
modern geworden, es läßt Mieteerhöhungen nicht mehr zu — ja es 
können sogar Mietereduktionen eingetreten sein. Trotzdem ist sein 
Bodenwert gestiegen. Dann besteht eine Differenz zwischen Nutz- 
und Verkehrswert, die beim Besitzwechsel an den Tag tritt!). Weit 
wichtiger ist die eben erörterte Erscheinung einer Divergenz der 
Werte bei Häusern mit kleinen Wohnungen. Wenn auch die Skala 
für Abzüge hier ausgleichend wirken wird, so ist doch eine Unter- 
stützung, wie sie in der Verkehrsform sich darbietet, nicht abzulehnen. 
Natürlich soll keine Doppelbesteuerung eintreten, beide Systeme sind 
in harmonischen Zusammenhang zu bringen. Folgendes Beispiel diene 
zur Erläuterung: 

Ein Gebäude liefert bei zwei aufeinanderfolgenden Ermittelungen 
1000 bezw. 1200 M. Ertrag. Da Aufwendungen nicht vorliegen, ist 
ein steuerbarer Wertzuwachs eingetreten, der aus der Ertragsdifferenz 
erhellt. Würde in den folgenden 5 Jahren kein Besitzwechsel statt- 
finden, so würde auch erst nach 5-jähriger Frist eine neue Veranlagung 
erfolgen. Nun wird aber das Objekt nach 3 Jahren verkauft. Hierbei 
wird ein Konjunkturgewinn von 5000 M. erzielt, bezeichnet durch die 
Differenz zwischen zuletzt ermitteltem Nutzwert und dem jetzt er- 
zielten Verkaufspreis. In diesem Fall wird die Verkehrsgewinnsteuer 
erhoben. Nach weiteren 2 Jahren findet wieder die gewöhnliche 
Veranlagung statt. Hierbei fungiert natürlich der zuletzt realisierte 
Verkaufspreis als Bemessungsgrundlage u. s. f. 

Es bleibt noch in Erwägung zu ziehen der letzte Fall, wo Bau- 
stellenland nicht veräußert, sondern bebaut wird und auch weiterhin im 
Besitz des bisherigen Eigentümers bleibt. Hier müßte ein Jahr nach 


1) Hier ist ausdrücklich vor dem Gedanken zu warnen, bei einem solchen Beispiel 
ausnahmsweise die Steuer nach dem Verkehrswert zu bemessen. Dieser ist immer eine vage 
Größe und bietet kein steuertechnisch unbedenkliches Merkmal. Vielmehr ist ein solches 
Grundstück einem unbebauten — das auch schon einen höheren Wert involviert, der 
aber erst beim Verkauf realisiert wird — steuertechnisch A tout prix gleichzustellen. 

Es sollen prinzipiell nur Steuern von wirklichen Eingängen — 
seien es Mieten, seien es Verkaufsgewinne — erhoben werden. Ein 
noch nicht realisierter Wertzuwachs ist ein steuertechnisch nicht nutzbares Moment. 
Jede Präsumtion ist ein trügerisches Mittel und hat in einem fortgeschritteneren Ver- 
anlagungsverfahren keinen Platz mehr. Nur bei strikter Beobachtung dieser Maxime 
werden Fehlschläge, wie der verunglückte Bremer Versuch von 1873 und die gescheiterte 
Bauplatzsteuer zu vermeiden sein. 


368 F. Pabst, 


Vollendung des Gebäudes der Nutzungswert ermittelt werden, der dann 
mit dem Erwerbspreis bezw. Kostenpreis in Beziehung gesetzt wird. 

Je geschickter die Steuertechnik den realisierbaren Wert bei 
den Gebäuden zu ermitteln vermag, um so weniger sind Benach- 
teiligungen und offenbare Ungerechtigkeiten zu befürchten, zumal 
in der Verkehrsform ein korrigierendes Moment gegeben ist. 

Jedenfalls vermag erst die Verbindung beider Systeme der 
Verkehrssteuer für das unbebaute Land und der Ertragsform und 
der Verkehrsform beim Hausgrundeigentum eine ergiebige und ge- 
rechte und vor allen Dingen durchführbare Besteuerung des Kon- 
junkturgewinns am Grund und Boden herbeizuführen. 

Der Steuerfuß der Konjunkturgewinnsteuer ist gemäß dem Prinzip 
der Leistungsfähigkeit progressiv zu halten. Ob es dabei zweckmälig 
ist, dies so zu tun, „daß sie bei kleinen Grundstücken, die im wesent- 
lichen Wohn- und Werkstätte einer einzelnen Familie bilden, in ganz 
mäßigen Grenzen bliebe“ [Damaschke !)], erscheint uns sehr zweifel- 
haft. Denn erstens wird der Fall, daß solche Eigentümer nennens- 
werte Konjunkturgewinne machen, sehr selten vorkommen und zweitens 
ist kein Grund ersichtlich, weshalb gerade diese weniger in Frage 
kommende Kategorie besonders berücksichtigt werden soll. Ist der 
Besitz eines kleinen Grundstückes etwa ein Beweis für eine sehr 
geringe oder der eines großen Miethauses in einer Großstadt gerade 
ein Zeichen besonders großer Leistungsfähigkeit? Ueberdies darf 
großer oder kleiner Vermögensbesitz des Steuerpflichtigen bei gleicher 
Höhe des Gewinnes in keiner Weise auf den Steuerfuß der 
Gewinnsteuer(!) von Einfluß sein. Auch nach der absoluten 
Größe des Konjunkturgewinnes kann der Steuerfuß nicht modifiziert 
werden, wie wir selbst es irrigerweise bei dem ersten Versuch in 
Vorschlag brachten. Am richtigsten erscheint eine Bemessung nach 
der Verbindung von Kosten- bezw. Erwerbspreis und Gewinnhöhe. 
Man könnte daher vielleicht folgende Skala anwenden: 

Vom steuerbaren Konjunkturgewinn sind zu zahlen: 1) bei Ge- 
bäuden (G.), 2) bei Baustellen (B.) 


G. B. 
6 Proz. 10 Proz. <10 Proz. 
7 HI II » 10— 25 » 
9 ^ 13 » 25— 45 » 
12 HI 16 n 45— 70 HI 
16 » 20 n 70—100 » 
21 » 25 HI > 100 nm 


6 bezw. 10 Proz. etc., wenn derselbe weniger oder mehr als 10, 25, 
vi Proz. etc. des Selbstkostenwertes des Besteuerungsobjektes 
eträgt. 

Die Zahlung der Steuer erfolgt im Falle des Verkaufs sofort, bei der 
laufenden Besteuerung des Hausbesitzes immer im Verlauf der näch- 
sten Steuerperiode, am besten in der Weise, daß man pro Jahr die 
gleiche Rate erhebt. Doch kann es natürlich in das Belieben des Steuer- 
pflichtigen gestellt werden, die ganze Summe auf einmal zu zahlen. 


1) Vergl. Vom Gemeindesozialismus, S. 79. 


Die Besteuerung des unverdienten Wertzuwachses von Grund und Boden. 369 


Was endlich die Verschiedenheit des Steuerfußes für bebautes 
und unbebautes Grundeigentum betrifft, so rechtfertigt sich diese 
aus verschiedenen Gründen. Erstens ist der reine Konjunkturgewinn 
bei Gebäuden schwieriger, als bei unbebauten Grundstücken zu er- 
mitteln, die Gefahr, den Steuerpflichtigen zu Unrecht zu belasten, 
mithin größer. Zweitens spricht auch die Zinsersparnis, die der im 
allgemeinen nur ein- oder zweimal eine Verkehrssteuer zahlende 
Bodenbesitz gegenüber dem Hausbesitz macht, für diese Unter- 
scheidung. Es ergebe sich beispielsweise bei der Veräußerung eines 
15 Jahre in derselben Hand gebliebenen Terrains ein Konjunktur- 
gewinn von 30000 M. Dieser sei mit 10 Proz. zu versteuern. Dann 
sind 3000 M. Korjunkturgewinnsteuer zu entrichten. Während der- 
selben Zeit ist ein gleichwertiges Hausgrundstück z. B. dreimal be- 
steuert worden; sein Wert soll sich in gleicher Weise erhöht haben. 
Die Gewinnsteuer beträgt hier in Summa nur 1800 M. 

Der Betrag der dem Hausbesitzer infolge der jährlichen Zahlung !) 
verloren gegangenen Zinsen ist in diesem Falle durchaus nicht un- 
bedeutend. Außerdem ist zu beachten, daß die Werterhöhung des 
Hausgrundstückes bereits dauernd der Einkommensteuer! unterlag, 
weil sie in höheren Erträgen zum Ausdruck gelangte. 

Nicht nur, um eine Benachteiligung der Hausbesitzer als solchen 
gegenüber dem Baustellenbesitz zu verhindern, sondern namentlich aus 
dem Gesichtspunkt gleicher Belastung von Grund und Boden! erscheint 
deshalb ein differenzierter Steuerfuß zweckmäßig und angebracht. 

Alle von der heutigen schablonenhaften Verkehrsbesteuerung 
untrennbaren Ungerechtigkeiten fallen bei diesem spezialisierenden 
Verfahren fort. Wird z. B. bei der Berechnung ermittelt, daß ein 
eigentlicher Konjunkturgewinn nicht erzielt wurde, so wird keine 
Gewinnsteuer erhoben. Ergibt sich vielleicht, daß investiertes Kapital 
sich nur regelrecht verzinst, so kommt nur die Einkommen- bezw. 
die Vermógenssteuer?) in Anwendung. Die aller Gerechtigkeit 
spottende Besteuerung von Einbußen bei Notverkäufen hört auf. 

Für die Verwirklichung der Konjunkturgewinnsteueridee erscheint 
es aussichtsvoller, wenn der Staat die Initiative ergreift und die 
Ausführung nicht den Gemeinden überläßt. Nur wenige Kommunen 
haben bisher Schritte zu einer gründlichen und zeitgemäßen Reform 
des kommunalen Steuer- und Finanzwesens getan. Nur der Staat 


1) Der Steuerbetrag (6 Proz.!) sei bei dreimaliger Abschätzung beispielsweise mit 
4004+800+4+600 M. ermittelt worden und die Zahlung dieser Summen wurde jedesmal 
auf die nächsten 5 Jahre verteilt. 

2) Die Einkommensteuer bei ertraggebendem Grundeigentum (Hausbesitz), die 
Vermögenssteuer bei Baustellenland. Hier scheint bei oberflächlicher Betrachtung das 
Bauland bevorzugt, der Hausbesitz benachteiligt zu sein, weil der Steuerfuß der Ver- 
mögenssteuer ein verhältnismäßig geringer ist. Demgegenüber ist darauf hinzuweisen, 
daß das Bauland von der Vermögenssteuer schon dann getroffen wird, wenn es über- 
haupt keinen oder wenigstens nicht einen dem der Vermögenssteuer unterliegenden 
Steuerwert entsprechenden Ertrag liefert. Dies Mißverhältnis der Besteuerung zwischen 
ertraggebendem und ertragslosem Vermögen wird natürlich noch um so stärker werden, 
wenn später auch die Gemeinden das Recht der Erhebung der Ergänzungssteuer erhalten. 


Dritte Folge Bd. XXV (LXXX). 24 


370 F. Pabst, 


wird eine Reform in großem Stile vornehmen können, da sein Vor- 
gehen gleichzeitig Allgemeinheit und Einheitlichkeit der Durchführung 
verbürgt. Die Steuer müßte also vom Staat obligatorisch gemacht 
und die Gemeinden zu ihrer Erhebung verpflichtet werden, soweit 
und sobald dieselbe auf Grund ihrer Entwickelung eine Bedeutung 
erlangt und die Erträge die Erhebungskosten übersteigen. 

Wenn sich die neue Form der Konjunkturgewinnbesteuerung 
bewährt, was nicht zu bezweifeln ist, so werden damit natürlich die 
älteren Steuern überflüssig, Die Notwendigkeit der Beseitigung der 
Verkehrssteuern haben wir dargetan. Die Bauplatzsteuer hat sich 
bereits selbst erledigt. Aber auch die heutige Erfassung derartiger 
Gewinne mit der Einkommensteuer erübrigt sich dann. Wir be- 
haupten das auch für die „gewerbsmäßig‘“ gemachten Gewinne, die 
ebenso zweifellos ein Einkommen darstellen, wie einzelne derartige 
Gewinne nur ein Vermógenszuwachs sind. Man erreicht so, 
indem man diese besondere Kategorie von Einnahmen aus den Ob- 
jekten der Einkommenbesteuerung ausschaltet, für die finanzpolitische 
Praxis dieselbe Klarheit, wie sie G. Schanz und andere mit einer 
Ausdehnung des Einkommenbegriffes !) angestrebt haben, und wird da- 
mit zugleich den Rücksichten der Wirtschaftstheorie gerecht, die nun 
und nimmer auf den Begriff des „Einkommens“ und seine Unterscheidung 
vom „Vermögenszuwachs“ verzichten kann. Soweit man eine besondere 
Belastung der Baustellenspekulation für opportun hält — auf deren 
Konto ja wohl das Gros der „gewerbsmäßig‘‘ gemachten Konjunktur- 
gewinne an Grund und Boden zu setzen ist — erreicht man dieselbe 
zum Teil schon in der oben anempfohlenen Differenzierung des 
Steuerfußes der Konjunkturgewinnsteuer. 


V. 


Die Erträge der Konjunkturgewinnsteuer würden zum größten 
Teil der Gemeinde zuzuwenden sein. Wünschenswert wäre es jedoch, 
wenn ein bestimmter Prozentsatz — sagen wir !’, der Einkünfte — 
ausgesondert und zu bestimmten Zwecken festgelegt würde, nämlich 
zur Bildung von zwei staatlichen Fonds: 

1) eines Wohnungsverbesserungsfonds, 

2) eines Unterstützungsfonds für kleine Stüdte und lündliche 
Gemeinden. 

Dem ersteren kónnten vielleicht */,, dem zweiten !/, des den 
Gemeinden entzogenen Drittels überwiesen werden. 

Der Wohnungsfonds soll zur Reform des Wohnungswesens in 
den Städten, z. D. zur Kostendeckung der obligatorisch zu machenden 
fachmännischen Wohnungsinspektion ?),, ferner zur Gewährung von 
Entschüdigungen an Hausbesitzer, die durch einschneidende gesetz- 
liche Bestimmungen bezüglich der Benutzung von Wohnungen oder 
durch Verbot des Bewohnens bestimmter Gebäudeteile materielle 
Schädigungen erleiden. Da diese Fonds ausschließlich von Grund- 


1) Vergl. G. Schanz, a. a. O. 
2) Vergl. hierzu die vortrefflichen Ausführungen von Zweigert, Essen, „Die Beauf- 
gichtigung der vorhandenen Wohnungen“. Schr. d. Vereins f. S.P., Bd. 95, 1901, Leipzig. 


Die Besteuerung des unverdienten Wertzuwachses von Grund und Boden. 371 


und Hauseigentümern herrühren, so wäre es natürlich ungerecht, 
wenn man damit dieser Erwerbs- und Berufsklasse in irgend einer 
Weise Konkurrenz bereiten wollte, z. B. durch Unterstützung soge- 
nannter gemeinnütziger Baugenossenschaften, durch Bau von Be- 
anten- und Arbeiterwohnungen etc. Zur Beobachtung dieser Rück- 
sicht zwingt nicht nur die Gerechtigkeit an sich, welche sich auch 
mit der Schädigung eines Einzelnen zum wirklichen oder vermeinten 
Besten der Allgemeinheit nicht verträgt, sondern das wohlverstandene 
Interesse der Gesamtheit selbst. Um derartige Tendenzen von vorn- 
herein auszuschalten, würden dem Gesetz entsprechende Kau- 
telen beizugeben sein, wie andererseits den Grund- und Hauseigen- 
tümern ein gesetzliches Anspruchsrecht auf diese Zuwendungen 
einzuräumen wäre. Es entspricht durchaus dem Prinzip der aus- 
geichenden Gerechtigkeit, wenn diejenigen Grund- und Hauseigen- 
tümer, welche durch Verkauf zu günstiger Zeit mühelose Gewinne 
gemacht haben, durch diese Steuer und speziell den Fonds zu I 
zu den Lasten herangezogen werden, welche den dauernden Be- 
sitzer treffen. Derjenige Hausbesitzer, welcher in seinem Besitz kein 
Handels- oder Spekulationsobjekt erblickt, sich vielmehr freut, eine 
seinen Mühen und Aufwendungen entsprechende Rente herauszu- 
wirtschaften, muß im Laufe der Zeit allerlei materielle Opfer bringen 
— weil die Anforderung an die Wohnung qualitativ und quantitativ 
beständig steigt — und kann dafür Entschädigung erheischen, 
soweit es sich um Ausgaben handelt, zu denen ihn das Gesetz im 
Interesse der allgemeinen Wohlfahrt zwingt und die ihm eine direkte 
Einbuße aufnötigen. 

Beide Forderungen, die der Unterstützung wie die der Kon- 
kurrenzrücksicht, werden in der Presse bestimmter Richtungen ein 
gewaltiges Halloh hervorrufen, was jedoch weder den Nachdruck, 
mit dem die Hausbesitzer daran festhalten werden, schwächen noch 
ihre Gerechtigkeit in Frage stellen kann. Jede Verletzung dieser 
Grundsätze wird sich bitter an der Allgemeinheit, insbesondere den 
weniger kapitalkräftigen Klassen der Wohnungsmieter infolge trivialer 
Gesetze der Wirtschaft rächen müssen. 

Der zweite Fonds soll zu weiterer Ausdehnung des Dotations- 
und Subventionsprinzips die Mittel bieten. Insbesondere ist hierbei 
an gewisse finanzpolitische Reformen, wie die Beseitigung der kom- 
munalen Grund- und Gebäudesteuer und ähnlicher Sonderlasten ge- 
dacht; aber auch das Schul-, Armen-, Kranken-, Medizinal- und 
Sparkassenwesen kann berücksichtigt werden, wie es ja auch heute 
bereits, wenn auch lange noch nicht ausreichend, geschieht. Es ist 

nicht zu leugnen, daß die Stagnation, ja sogar der Rückgang vieler 
kleinerer Gemeinden, besonders mancher Kleinstädte mit dem allge- 
meinen Zuge nach der Großstadt bezw. schnell sich entwickelnden 
größeren Städten zusammenhängt, und man wird es nicht als unbillig 
bezeichnen dürfen, wenn ein Teil der Erträge der Steuer auf den 
Konjunkturgewinn in dieser Weise zur Abwehr finanzieller Nöte 
und im Interesse des Kulturfortschritts verwendet wird. 
— 24* 


372 Miszellen. 


Nachdruck verboten. 


Miszellen. 


IV. 


Die Bewegung für Bildung eines ständigen statistischen 
Zentralamtes für die Vereinigten Staaten von Nordamerika. 
Von Dr. F. W. R. Zimmermann, Finanzrat (Braunschweig). 


Die Vereinigten Staaten von Nordamerika besitzen zwar als ständige 
Behörden für die Gesamtheit und für den Gesamtumfang des Gebiets 
eine Reihe durchweg an die verschiedenen Staatsdepartments ange- 
gliederter statistischer Spezialstellen wie das Bureau of Statistics im 
Department of Treasury für eigene Handels-, Verkehrs- und Einwande- 
rungsstatistik, die Division of Statistics mit der Section of Foreign 
Markets im Department of Agriculture für Anbau- und Erntestatistik etc., 
das Bureau of Foreign Commerce im Department of State für die 
Konsularberichterstattung und die auswärtigen Handelsbeziehungen und 
andere (vergl. Handwörterbuch der Staatswissenschaften, herausgegeben 
von Conrad etc, 2. Auflage 1901, Bd. 2, S. 1054), Spezialstellen, die 
auf ihrem innerlich mehr oder weniger abgegrenzten Gebiete immerhin 
ganz erhebliche und Achtung gebietende, regelmäßige wie außerordent- 
liche Arbeiten geleistet und sich nach ihren Erfolgen selbständig 
weitere Anerkennung erworben haben; den Vereinigten Staaten mangelt 
dagegen ein stándiges statistisches Zentral- oder Hauptamt (Permanent 
Census Office), dem namentlich und in erster Linie die Leitung und 
die weitere Bearbeitung der gróften und  wesentlichsten allgemeinen 
statistischen Erhebungen der Vereinigten Staaten, des sich nunmehr 
seit 1790 wiederholenden und mit der Zeit immer breiter auswachsen- 
den Zensus obzuliegen haben würde. In dem Department of the Interior 
besteht allerdings als ständige Sektion ein Census Office, es ist dieses 
aber lediglich eine Verwaltungsabteilung des Department, der es als 
solcher nur zusteht, wegen der Anordnung des Zensus durch die gesetz- 
gebenden Faktoren und wegen der allgemeinen Durchführung die not- 
wendigen Verfügungen auszuarbeiten u. s. w., die aber niemals mit der 
speziellen Durchführung des Zensus und der Ausarbeitung seiner Er- 
gebnisse sich befaßt und deshalb auch als ein statistisches Hauptamt 
oder als ein statistisches Amt überhaupt nicht anzusehen ist, denn für 


PC 


neu 


Miszellen. 313 


jede der großen zehnjährigen Zensuserhebungen ist bislang eine 
eigene statistische Behörde nur für den besonderen Zweck des einen 
Zensus eingesetzt worden, welche die ganze Erhebung als solche, mit- 
hin die Gesamtstatistik in derselben, zu besorgen hatte. 

Was die großen regelmäßigen Zensuserhebungen der Vereinigten 
Staaten von Nordamerika, die den unmittelbaren Anlaß der Bewegung 
fir Schaffung eines ständigen statistischen Zentral- oder Hauptamtes 
bilden, im einzelnen zu bedeuten haben, ist in den Jahrbüchern, 3. Folge 
%.Bd., S. 674 ff. bezüglich des letzten, des zwölften Zensus vom 1. Juni 
1900 eingehender zur Darstellung gebracht. Zwei besondere Eigen- 
heiten der Zensuserhebungen sind es, die für uns hier hauptsächlich 
in Frage kommen. Einmal beschränkt sich der amerikanische Zensus 
keineswegs wie durchweg die großen Erhebungen der alten Welt auf 
einen einzelnen abgeschlossenen Gegenstand; den Ausgangspunkt bildete 
ıwar die Feststellung der Bevölkerung nach Zahl, Gliederung u. s. w., 
aber an diese ursprüngliche Volkszählung, die sonst im wesentlichen 
der unserigen entsprach und noch entspricht, sind im Laufe der Zeit 
namentlich seit Mitte des vorigen Jahrhunderts in großer Ausdehnung 
weitere Erbebungsgegenstände, welche an und für sich mit einer Volks- 
zäblung gar nicht in innerer Verbindung stehen, rein äußerlich an- 
gegliedert worden, so daß sich jetzt der Zensus neben dem Bevölke- 
rungsstand nicht nur auf die Einzelverhältnisse von Landwirtschaft, 
Industrie, Handel und Verkehr, sondern ebenso auch im speziellen auf 
die öffentlichen Verhältnisse des Staates, der Gemeinden, der Kirche 
u s. w. bezieht und in gleicher Weise die Einzelheiten der landwirt- 
schaftlichen, industriellen, handwerksmüfigen etc. Betriebe, wie auch 
Erziehung und Unterricht, Armenwesen und Wobltätigkeit, Kriminal- 
wesen, soziale Verhältnisse, öffentliches Finanzwesen u. s. w. zur Dar- 
stellung bringt. Diese ungewöhnliche Vielseitigkeit der Zensuserhebungen, 
die aber doch durchweg mit einem verhältnismäßig weitgehenden Ein- 
dringen in das Einzelne verbunden ist, gibt den einen für uns in Frage 
kommenden Punkt, während der zweite, der schon oben berührte ist, 
daß der ganze gewaltige Erhebungs- und Verarbeitungsapparat für jeden 
einzelnen Zensus, welcher sich je nach 10-jährigem Zwischenraum an 
den vorhergehenden anschließt, vollständig neu gebildet und organisiert 
wird, daß also für jeden einzelnen Zensus eine eigene Zensusbehörde 
selbständig geschaffen wird. Daß aus diesen beiden eigenartigen Um- 
ständen an und für sich gewisse nachteilige Folgen sich fühlbar machen 
können, dürfte wohl auf der Hand liegen; daß sie sich tatsächlich 
geltend gemacht haben, zeigt sich auch an Auswüchsen, wie wir einen 
solchen bereits in diesen Jahrbüchern 3. Folge 23. Bd., S. 799 ff. be- 
rührt haben. 

Den ersten sachlichen Hinweis auf die Zweckmäligkeit einer Aende- 
rung, welcher die Bewegung für ein ständiges statistisches Hauptamt 
einleitete, gab der verdienstvolle Leiter des neunten (1870) und zehnten 
(1880) Zensus General Francis A. Walker in einem Artikel des Quar- 
terly Journal of Economics (Januar 1888), in welchem zunächst der 
erstere der beiden oben bezeichneten Punkte berührt wurde, dann aber, 


374 Miszellen. 


wenn auch mehr folgeweise, der zweite. Im Interesse einer besser 
durchzuführenden statistischen Gesamtfeststellung verlangt der General 
Walker in erster Linie, daß der Zensus wie früher lediglich wieder auf 
eine Volkszählung beschränkt werde, an welche höchstens noch eine 
Festlegung bezüglich der landwirtschaftlich genutzten Anwesen an- 
zugliedern wäre. Alle die übrigen weitgehenden und mit der Volks- 
zählung durchaus in keinem inneren Zusammenhang stehenden Einzel- 
fragen müßten gesondert in eigenen Erhebungen statistisch verfolgt 
werden in der gleichen Weise, wie solches in den Ländern der alten 
Welt geschähe. Die Volkszählungen müßten in Zeitabschnitten von 10 
oder auch von 5 Jahren wiederholt und die übrigen statistischen Er- 
hebungen über die jetzt auszuscheidenden Gegenstände, die auch wieder 
eine gewisse Anzahl zu bilden haben würden, auf die Zwischenzeiten natür- 
lich auch unter Wiederholung nach entsprechenden Zeitabschnitten ver- 
teilt werden. Die gleichzeitige, ungemein umfassende Verarbeitung, wie 
sie das bisherige Zensusverfabren gibt, würde dann wegfallen und es 
würde nunmehr jede einzelne Kategorie in den jetzigen Erhebungen 
besser zu ihrem Rechte kommen, jeder Gegenstand würde nach allen 
Richtungen hin den Anforderungen der Praxis und der Wissenschaft 
entsprechend durchgearbeitet werden können. Es würden sodann auch 
die Schwierigkeiten wegfallen, welche dadurch entstehen, daß für eine 
so vielseitige Erhebung jedesmal eine behördliche Organisation von 
einem entsprechend bedeutenden Umfang geschaffen werden mäülte. 
Man könnte die ausschließliche Volkszählung mit einem wesentlich 
kleineren Behördenkörper in jeder Beziehung vollkommen  durch- 
führen und dieser Behördenkörper hätte sodann in den Zwischenzeiten, 
in denen er durch die Volkszählungsarbeiten nicht in Anspruch ge- 
nommen wäre, die anderen statistischen Erhebungen, welche gleichfalls 
nach einem regelmäßigen Turnus sich wiederholen, zu bearbeiten. Da- 
durch ist dann ohne weiteres schon von selbst eine ständige statistische 
Behörde gegeben. Von einem ständigen statistischen Zentral- oder 
Hauptamt spricht General Walker allerdings noch nicht, sein weiterer 
praktischer Vorschlag geht dahin, die Bearbeitung des derzeit bevor- 
stehenden elften Zensus (1890) dem im Department of the Interior bereits 
bestehenden ständigen Bureau of Statistics of Labor zu übertragen. 
Die Walkersche Anregung wurde sodann unter Anerkennung der 
geltend gemachten Gründe von Caroll D. Wright, United States Com- 
missioner of Labor, sehr warm aufgegriffen (Popular Science Monthly, 
1891 November) Wright spricht sich schon unverhoblen für ein 
ständiges statistisches Hauptamt aus. Auch er ist für eine Zerteilung 
des Zensus in seine einzelnen begrifflich nicht zusammengehörigen 
Kategorien, die dann zu verschiedenen Zeitpunkten zu verarbeiten sein 
würden. Der erste und wesentlichste Schritt für eine Besserung liegt 
seiner Ansicht nach in der Bildung eines ständigen statistischen Haupt- 
amtes, das dann eine größere Zahl wissenschaftlich gebildeter und prak- 
tisch geschulter Kräfte in sich vereinigen wird und die große Gesamt- 
arbeit, die jetzt in einer kurzen Spanne Zeit überhastet werden mul, 
sachgemäß auf 10 Jahre verteilen kann. Das ständige Hauptamt wird 


Miszellen. 315 


an Zahl weniger Hilfskräfte nötig haben, diese werden sich aber weit 
mehr in die Sachen selbst einarbeiten und daher weit Besseres leisten 
können. Kosten, wenn auch ungleich geringere wie in dem Zensusjahr, 
werden jetzt allerdings dauernd für jedes Jahr entstehen, es mag sein, 
daf die Gesamtkosten sich dadurch etwas höher als bisher belaufen 
werden, demgegenüber ist aber auch zu berücksichtigen, wie das, was 
geschaffen wird, einen ganz anderen Wert besitzen muf, gegen den die 
Mehrausgabe nicht in das Gewicht fallen kann. 

Inzwischen hatte aber auch der Senat der Vereinigten Staaten die 
Sache amtlich in Angriff genommen und das Department of the Interior 
mit entsprechender näherer Prüfung beauftragt. Für letzteres erstattete 
zunàchst der Leiter des elften Zensus (1890) Robert P. Porter einen 
sehr eingehenden Bericht, in welchem in gleicher Weise die Einrichtung 
eines ständigen statistischen Hauptamtes empfohlen wird. Der Bericht 
geht auch schon näher auf die zu treffenden Einzelheiten ein; neben 
den alle 10 Jabre vorzunehmenden Volkszählungen sollen periodische 
Erhebungen über Landwirtschaft, Industrie und Gewerbe, Bergbau, 
Fischerei, Kirchen- und Erziehungswesen, Finanzverhältnisse, Verkehr, 
Versicherungswesen etc. stattfinden; über die Zahl und den Geschäfts- 
kreis der Beamten werden Vorschläge gemacht ebenso über eine Reihe 
weiterer Einzelpunkte, auf die wir hier nicht spezieller eingehen können. 
Der Portersche Bericht wurde vom Senat nach zweimaliger Lesung 
dem Zensuskomitee überwiesen. Etwa gleichzeitig 1892 hatte aber auch 
das Repräsententenhaus die Frage, ob ein ständiges statistisches Haupt- 
amt einzurichten sei, aufgegriffen; das für die Durchführung des elften 
Zensus erwählte Komitee sollte die nähere Sachuntersuchung vornehmen. 
Dieses Komitee zog ein Gutachten von 10 erstklassigen Sachkundigen 
ein, unter welchen sich auch Porter, Wright und General Walker be- 
fanden. Namentlich die letzteren drei sprachen sich mit großer Ent- 
schiedenheit für ein ständiges Amt aus und begründeten ihre Ansicht 
in eingehender Weise. Porter führt speziell an, wie bei der jetzigen 
Organisation die Zensusbehörde die nötige Zeit, um sich selbst ein- 
zuarbeiten und die Erhebung sachgemäß und gut vorzubereiten, gar 
nicht haben könne. General Walker warnt davor, die Kostenfrage 
irgendwie entscheidend sein zu lassen, es sei hier wirtschaftlich weit 
rationeller einen etwas höheren Kostenaufwand zu machen, weil das- 
jenige, was mit diesem Mehr zu erreichen stände, einen unverhältnis- 
mäßig höheren Wert haben würde. Wright betont geradezu, daß es 
keinen noch so großen Statistiker oder Verwaltungsbeamten geben könne, 
welcher bei dem jetzigen System den Zensus leiten und zu den er- 
zielten Ergebnissen ein volles Vertrauen haben würde. 

Das Zensuskomitee der Repräsentantenhauses kam dann 1893 zu 
einem abschließenden Bericht, der etwa folgendes besagte: „Das Tätig- 
keitsfeld der Zensusbehörden ist jetzt ein so ausgedehntes und der 
Kreis der einzelnen Gegenstände, welche durch die verschiedenen Er- 
hebungsabteilungen berührt werden, ein so weiter, daß es unmöglich 
ist, bei der derzeitigen Regelung allen für das Einzelne zu stellenden 
Anforderungen gerecht zu werden, mag die Behörde in dieser oder jener 


376 Miszellen. 


Weise vorgehen. Um alle die Aufgaben, welche jetzt dem 10-jährigen 
Zensus gesetzt sind, zu erfüllen, bedarf es eines derartig ausgedehnten 
Arbeitsorganismus, daß derselbe an und für sich schon unbehülflich 
sein muß, ebenso wie es ausgeschlossen erscheint, denselben aus ein- 
heitlichem, tauglichem Material zu bilden. Würde das statistische Amt 
so eingerichtet, daß es ständig in Tätigkeit wäre, so würde nur ein 
verhältnismäßig kleinerer Beamtenkörper dazu erforderlich sein; dadurch 
ist aber wiederum die Möglichkeit gegeben, alle die einzelnen Stellen 
mit wissenschaftlich gebildeten Statistikern und Spezialkundigen zu be- 
setzen. Ein derartiges, entsprechend ausgestattetes, ständiges statistisches 
Amt, welches die jetzigen Zensusaufgaben unter sachgemäßer Vereinzelung 
und Verteilung in dem ganzen 10-jährigen Zeitraum erfüllt, wird tat- 
sächlich einen geringeren Kostenaufwand verursachen als die Zensus- 
erhebung bei der jetzigen Organisation. Dazu ist aber noch besonders 
hervorzuheben, daß die Sammlung und Verarbeitung des Materials und 
die Zusammenstellung der Ergebnisse eine weit sorgfältigere und nach 
allen Richtungen hin befriedigendere werden würde, daß mithin das 
schließliche Endergebnis des Ganzen von einem ungleich höheren Werte 
sein müßte.“ Trotzdem sich dieser Komiteebericht mit großer Entschieden- 
heit für die Errichtung einer ständigen Stelle aussprach, gab man der 
ganzen Sache keine weitere Folge, der Kongreß beschäftigte sich weder 
in seiner laufenden Session noch in der folgenden überhaupt mit der 
Frage. 

Erst im Jahre 1896 erinnerte sich der Kongreß der Angelegenheit 
und forderte wiederum einen Bericht bezüglich Schaffung eines ständigen 
statitischen Amtes von dem Commissioner of Labor Wright ein, der 
nach dem Rücktritt Porters die letzten Arbeiten für den 11. Zensus 
(1890) übernommen hatte. Wright vertrat dabei lediglich seine frühere, 
uns bekannte Ansicht, die er nochmals eingehend begründete; er stellte 
anheim, das ständige Amt schon so einzurichten, daß es den nächsten, 
12. Zensus (1900), der dann gleich entsprechend zu beschränken sein 
würde, einzuleiten und durchzuarbeiten hätte; bezüglich der demnächstigen 
Erhebungen brachte er in Vorschlag: Volkszählungen in 5-jährigen 
Zwischenräumen, jährliche Aufnahmen über die landwirtschaftliche Pro- 
duktion, entsprechende Aufnahmen nach je 2 Jahren über Gewerbe 
und Industrie, fortwährende Sammlung von Daten über die Geburts- 
und Sterbefälle, fortlaufende Feststellung über Sklaven, Verbrecher und 
Gebrechliche etc. Auch vor dem Senat mußte zu Anfang des Jahres 1896 
Wright in Gemeinschaft mit S. N. D. North die Frage nochmals er- 
örtern, was natürlich auch in dem gleichen Sinne geschah; es wurde 
dabei aber auch mit Rücksicht auf den bevorstehenden 12. Zensus die 
Dringlichkeit einer Entscheidung betont, da der Direktor des Zensus 
mindestens 3 Jahre vor dem Zensustermin notwendig habe, um sich 
für seine Aufgabe entsprechend vorzubereiten und alles, was zur Ein- 
leitung des großen Werkes erforderlich sei, anzuordnen. Nach Maßgabe 
der Wrightschen Vorschläge wurde demnächst ein Antrag an den 
Kongreß gebracht, wobei jedoch vorbehalten war, die Gegenstände, auf 
welche sich der 12. Zensus (1900) beziehen solle, durch einen besonderen 


| 


Miszellen. 377 


Kongreßbeschluß, [näher zu bestimmen. Gleichzeitig gelangten an den 
Kongreß und an den Senat noch zwei weitere unter sich bis auf 
einige untergeordnete Punkte übereinstimmende Anträge Sayers und 
Chandler, welche von dem vorbezeichneten wiederum nur darin ab- 
wichen bezw. denselben darin ergänzten, daß sie die gesamten Zensus- 
erbebungen dem Commissioner of Labor übertragen und dadurch ein 
ständiges Hauptamt schaffen wollten. Nachdem auch die besonderen 
Eingaben die beiden großen wissenschaftlichen Vereinigungen der Ver- 
eingten Staaten, American Economie Association und American Statisti- 
cal Association, die Notwendigkeit einer Verbesserung und Vertiefung 
des Zensus durch eine anderweite Regelung desselben betont hatten, 
gelangte das Komitee des Kongresses zu dem Beschluß, eine Vereinigung 
des Department of Labor und des Zensus zu empfehlen; das Depart- 
ment of Labor sei besonders für statistische Arbeiten ausgestattet, es be- 
sitze für solche eine durchgebildete und erfahrene Beamtenschaft, welche 
sehr wohl den Kern für die weitergehenden Aufgaben des Zensus bilden 
könne; die Aufgaben des Department of Labor seien im allgemeinen 
denen des Zensus Office verwandt und im Interesse einer Kosten- und 
einer Behördenersparniß erschiene es nicht angebracht, neben dem 
Department of Labor noch ein eigenes selbständiges statistisches Amt 
zu errichten. Ungeachtet der Dringlichkeit der Angelegenheit, gelangte 
der Kongreß in dieser Session zu keinem definitiven Beschluß. In den 
beiden folgenden Jahren 1898 und 1899 haben Senat sowohl wie Kon- 
greß unsere Frage in sich und unter sich in reger Weise verhandelt. 
Diese Verhandlungen drehten sich aber weniger um die Hauptfrage, 
ob ständiges Amt oder nicht, als um das Wie eines ständigen Amtes. 
Im einzelnen gingen die Ansichten namentlich darüber auseinander, ob 
das ständige statistische Amt mit dem Department of Labor zu ver- 
binden oder ob es als eine eigene Behörde zu errichten sei, ob es dem 
Department of the Interior als Unterbehörde unterstellt oder ob es als 
selbständiges Departement hingestellt werden solle, ob es am Sitz der 
Regierung oder sonstwo eingesetzt werden müsse, ob die sämtlichen 
Angestellten und Hilfskräfte des statistischen Amtes nach Maßgabe der 
Vorschriften über Beamtenanstellung und auf Grund der Staatsdiener- 
gesetze angenommen werden sollen, oder ob dem Direktor des Amtes 
freigestellt bleibe, die Hilfskräfte mehr oder weniger ausgedehnt auch 
in dem bisher beim Zensus üblichen Verfahren zu verpflichten etc. 
Ueber alle diese Fragen, zu denen noch weitere Unterfragen und 
Einzelheiten hinzukamen, konnte man aber trotz wiederholter und ein- 
gehender Verhandlungen zu einer Einigung und einem befriedigend ab- 
schließenden Resultat nicht gelangen und so mußte an diesen zunächst 
nicht zu klärenden Nebenfragen die Hauptsache, die Errichtung eines 
ständigen statistischen Zentralamtes, überhaupt scheitern. Der Termin 
für den 12. Zensus, 1. Juni 1900, stand vor der Tür und es erschien 
unbedingt notwendig, die erforderlichen gesetzlichen Vorschriften für 
die Einleitung und Ausführung dieses Zensus baldigst zu treffen. Das 
Zweckmäßigste und deshalb auch zuerst in Aussicht Genommene, die 
Verbindung der Zensusgesetzgebung mit der über Errichtung eines 


378 Miszellen. 


ständigen statistischen Amtes, ließ sich bei den nicht so schnell zu be- 
seitigenden Meinungsverschiedenheiten über die vorbehandelten Punkte 
nicht erreichen und so mußte man denn in der bisherigen Weise zu 
einem Gesetz lediglich für den 12. Zensus schreiten, das sich auch 
sonst dem bisherigen Verfahren im wesentlichen anschloß, Nach ent- 
sprechender Beratung und Vereinbarung wurde ein solches unter dem 
3. März 1899 erlassen und später durch eine Novelle vom 1. Februar 
1900 ergänzt. 

Diese gesetzliche Regelung bezog sich aber ausschließlich und ganz 
im Anschluß an die frühere bezügliche Gesetzgebung auf den zwölften 
Zensus (1900), welcher auch seinem Umfang nach im wesentlichen an 
die früheren 10-jährigen Erhebungen angeschlossen wurde. Für den 
Zensus wurde wie bisher ein Census Office lediglich als Behörde ad hoc 
bestellt und dem Department of the Interior, wenn auch mehr formell 
wie materiell, untergeordnet. Von der Bildung eines ständigen statisti- 
schen Amtes sah man vollständig ab, ja in dem Zensusgesetz selbst 
wurde ausdrücklich bestimmt, daß keine Vorschrift desselben so aus- 
gelegt werden dürfe, als hätte dadurch ein ständiges statistisches Bureau 
über die Aufgaben und das Bedürfnis des zwölften Zensus hinaus ge- 
schaffen werden sollen. Damit war nun allerdings die zunächst gehegte 
Hoffnung, im Anschluß an die Anordnung des zwölften Zensus eine 
Neuorganisation und damit ein ständiges statistisches Amt zu erreichen, 
vereitelt. Die Bewegung auf Besserung des bisherigen Zustandes hatte 
aber doch schon zu kräftig eingesetzt und einen zu großen Umfang an- 
genommen, um hierdurch als solche zurückgedrängt oder niedergedrückt 
zu werden. Für den Kongreß liegt allerdings ein unmittelbar zwingender 
Anlaß, sich mit der Frage zu beschäftigen, wie er vorher durch die 
unbedingt notwendige Regelung des zwölften Zensus gegeben war, nicht 
mehr vor und wird deshalb das Interesse desselben an und für sich 
kein so lebhaftes sein und besonderer Anregung bedürfen. Bei der 
verhältnismäßig großen Ausdehnung der Bestrebungen für Schaffung 
einer ständigen statistischen Zentralstelle und der unverkennbaren gene- 
rellen Einhelligkeit aller beteiligter Kreise in diesen Bestrebungen wird 
es aber an derartigen Anregungen wohl kaum fehlen können. Eine 
erste solche und zwar eine an sich schwerwiegende ist auch bereits er- 
folgt. Der Direktor des zwölften Zensus William R. Merriam hat einen 
eingehenden Bericht über die Frage der Errichtung eines ständigen 
satistischen Amtes an das Kongreßkomitee für den Zensus erstattet, 
welcher einerseits eine eingehendere Darstellung der geschichtlichen 
Entwickelung der Frage, der wir auch das Tatsächliche für unsere vor- 
liegende Behandlung im wesentlichen entnommen haben, gibt und anderer- 
seits besondere Gutachten des Vizedirektors und der Abteilungsvorstände 
des inzwischen zur Verarbeitung gekommenen’ zwölften Zensus enthält, 
in denen diese auf Grund ihrer unmittelbaren praktischen Erfahrungen, 
und zwar je unter besonderer Berücksichtigung des ihnen unterstellten 
Spezialgebietes, sich über die Errichtung eines ständigen statistischen 
Amtes aussprechen. Gerade diese so frisch und unvermittelt aus der 
sachkundigsten Praxis hervorgehenden Gutachten werden eine vorragen- 


Miszellen. 379 


dere Beachtung in Anspruch nehmen können und ihrem ganzen Wesen 
nach auch verdienen. Wir können hier natürlich nicht auf das einzelne 
derselben eingehen, sondern müssen uns darauf beschränken einiges 
wesentliche aus denselben herauszuheben. Vorweg sei aber noch be- 
merkt, daß sämtliche Gutachten sich unbedingt und mit Entschieden- 
heit für die Bildung eines ständigen statistischen Zentralamtes aus- 
sprechen. 

Das Gutachten des Vizedirektors des Zensus Fredrick H. Wines 
berührt hauptsächlich die allgemeinen Gesichtspunkte. Eine Vereini- 
gung des Census Office mit einem der bestehenden statistischen Spezial- 
bureaus oder eine Verteilung der einzelnen Erhebungsgegenstände des 
Zensus auf diese Bureaus wird als unpraktisch nachgewiesen. Dem 
Kongreß muß die Bestimmung über die einzelnen Erhebungen verbleiben, 
wie er jetzt auch die Gegenstände des Zensus beschließt. Einem stati- 
stischen Amt für die durch den Zensus bewirkten Ermittlungen fällt 
eine doppelte Aufgabe zu, einmal die Sammlung des Materials in tun- 
lichster Vollständigkeit und sodann die Verarbeitung desselben in sach- 
gemäßer den Anforderungen der Wissenschaft und der Praxis ent- 
sprechenden Weise. Eine Trennung der einzelnen Erhebungen über 
Gegenstände, welche nicht in unmittelbarem Zusammenhang oder in 
irgendwelcher Beziehung zu einander stehen, erscheint an sich als ge- 
boten. Ein ständiges Amt ist die logische Konsequenz der an die 
Statistik zu stellenden Anforderungen. Einen Stamm gelernter und 
eingeschulter wissenschaftlicher wie technischer Beamten, wie er zur 
nutzbringenden und zuverlässigen Erfüllung der einzelnen Aufgaben un- 
bedingt notwendig ist, kann nur ein ständiges Amt haben. Ebenso 
wird auch nur ein solches eine volle Kontinuierlichkeit in den offiziellen 
Bearbeitungen als solchen und gleicherweise wiederum auch in der Art 
und dem ganzen Charakter dieser Bearbeitungen gewähren können. Das 
wissenschaftliche Hilfsmaterial von Bibliothek, Sammlung der Publikationen 
namentlich auch der fremden, ist nur ein ständiges Amt sich in ge- 
nügender Vollständigkeit zu verschaffen in der Lage. Dasselbe wird 
die geographische Seite bei den Erhebungen, welche bisher ungebührend 
vernachlässigt worden, besser berücksichtigen. Es wird regelmäßig eine 
ausgiebigere Zeit für die Vorbereitung der Erhebungen haben und diese 
daher sachentsprechender ausgestalten können. Es kann der Kritik der 
früheren Publikationen und Arbeiten mehr Rechnung getragen werden, 
die wissenschaftliche und soziologische Seite besser gepflegt, auch dem 
tatsächlichen Bedürfnis in allen seinen Einzelheiten in weitergehendem 
Maße entsprochen werden. Trotz alledem wird immer noch eine Kosten- 
ersparnis zu erzielen sein. Nur bei einem ständigen Amt kann die 
Regierung und das Land einen vollen Nutzen durch die Erfahrung der 
einrichtenden und leitenden Beamten haben und allein durch ein ständiges 
Amt läßt sich ein systematisches, freiwilliges Zusammenwirken der 
staatlichen, Grafschafts- und städtischen Organe und auch der Privat- 
organisationen, wie solches für einen richtigen Erfolg notwendig ist, 
erzielen und aufrecht erhalten. 

Der Abteilungsvorstand für Bevölkerungsstatistik William C. Hunt 


380 Miszellen. 


hebt namentlich die Schwierigkeit der gleichzeitigen Behandlung der 
verschiedenartigen wichtigen Gegenstände in den einzelnen Abteilungen 
hervor, welche sich sowohl bei der Gewinnung der geschulten Beamten 
und sonstigen Hilfskräfte, wie bei der Beschaffung der Lokalitäten für 
deren zweckentsprechende Unterbringung, wie bei der Herausgabe und 
dem Druck der verarbeiteten Ergebnisse zeigt. Die Herausgabe der 
Volkszühlungsdaten, die tunlichst schnell geschehen muß, wird durch 
die Verbindung mit anderen Erbebungsgegenständen aufgehalten. Die 
Vorbereitung der Volkszählung ist bei dem jetzigen Verfahren wegen 
Mangels der erforderlichen Zeit keine vollkommene, sie würde durch 
ein ständiges Amt besser ausgeführt werden. Namentlich gilt dieses 
auch für die besondere Schwierigkeiten verursachenden Distrikte. Für 
die Volkszählungsdaten ist Zuverlässigkeit und schnelles Erscheinen 
die Hauptsache, beides wird durch ein ständiges Amt besser verbürgt. 
Die gewaltige Arbeitslast der Volkszählung muß in verhältnismäßig 
kurzer Zeit bewältigt werden, das umfangreiche Personal wird daher 
jetzt nur für kurze Zeit angenommen, dadurch ist die Arbeitsleistung 
an sich schon minderwertiger, denn alle müssen sich schon während der 
Arbeit nach einer neuen Beschäftigung umsehen. Ein geschultes und 
eingearbeitetes Personal ist auch für die Volkszählung von großer Be- 
deutung, ein solches wird aber nur ein ständiges Amt bieten können. 
Ebenmäßig kann nur durch ein solches eine Erweiterung und Vertiefung 
der Bevölkerungserhebungen, wie sie von vielen Seiten mit vollem Recht 
gefordert wird, erfolgen. Die Vermehrung und stärkere Vermischung 
der Bevölkerung erschwert die Aufgaben der Bevölkerungsstatistik immer 
mehr, nur ein ständiges Amt wird für die Folge den von Wissenschaft 
und Praxis zu stellenden Anforderungen in einem ausreichenden Maße 
genügen können. 

Der Abteilungsvorstand für die Industriezählung S. N. D. North 
weißt darauf hin, wie gerade die Industriezählung behufs sachgemäßer 
Durchführung ein besonderes Personal verlangt, das nicht nur statistisch 
geschult sein, sondern sich daneben auch noch bis zu einem gewissen 
Grade mit den charakteristischen Einzelheiten der verschiedenen in- 
dustriellen Betriebe vertraut gemacht haben muß, ein Personal, wie es 
voll eingearbeitet nur ein ständiges Bureau haben kann. Es gilt dieses 
aber nicht nur für das wissenschaftliche und höhere Personal, sondern 
gleicherweise auch für die gewöhnlichen Hülfskräfte, welche erst durch 
eine ständige Uebung diejenige Leistungsfähigkeit erlangen, welche für 
die Industrieaufnahmen erforderlich ist. Das Verfahren bei der Auf- 
nahme und die unmittelbare Sachprüfung, welche für die Industrie- 
zählung am ausschlaggebendsten sind, wird allein ein ständiges Amt in 
zufriedenstellender Weise regeln und durchführen können. Die historische 
Ueberlieferung des Erhebungsverfahrens in seinen Einzelheiten und die 
dadurch bedingte innere Uebereinstimmung in den Ergebnissen der 
zeitlich aufeinanderfolgenden Erhebungen wird ausschließlich durch ein 
ständiges Amt erreicht werden können, für die Industriezählung liegt 
aber hierin wieder eine ganz wesentliche Bedeutung. Bei dem Vor- 
handensein eines ständigen statistischen Amtes wird man sich der 


Miszellen. 381 


jeweiligen Lage und dem speziellen Bedürfnis ungleich besser anpassen 
können und ist solches durch den teilweise schnelleren Wechsel in den in- 
dustriellen Verhältnissen und die Eigenart der Industrieerhebungen zweifel- 
los vielfach bedingt; man wird die allgemeinen Industrieerhebungen in 
5-jährigen Zwischenräumen, wie schon wiederholt und wohl mit Recht 
verlangt worden, wiederholen, für einzelne Industrien besondere ein- 
gehendere Erhebungen veranstalten, auch für solche zu jährlichen Er- 
hebungen schreiten können etc. Dabei muß es fraglich bleiben, ob nicht 
trotz der ungleich größeren und wertvolleren Leistung am Kostenaufwand 
erspart werden würde. Schließlich wird aber ein ständiges Amt auch 
dem sich schon lebhaft fühlbar machenden, voraussichtlich aber noch 
verstärkenden Bedürfnis nach einer weiteren Ausgestaltung der Industrie- 
zählungen überhaupt allein in einem ausreichenden Maße Genüge leisten 
können. 

Der Abteilungsvorstand für die landwirtschaftliche Erhebung Le 
Grand Powers stellt in gleicher Weise auch für die Landwirtschafts- 
statistik als wesentlichstes und immer mehr sich geltend machendes 
Erfordernis das Vorhandensein einer sachkundigen und speziell ein- 
gearbeiteten Beamtenschaft, wie sie nur durch ein ständiges Bureau 
zu erreichen ist, in den Vordergrund, weil die Kultivierung des Grund 
und Bodens nicht nur eine immer ausgedehntere, sondern auch in ihren 
Einzelheiten immer verschiedenartigere wird. Ein ständiges Beamten- 
und Hilfsarbeiterpersonal wird sich außerdem nicht nur die statistischen 
Fertigkeiten, sondern gleicherzeit auch Kenntnisse bezüglich der land- 
wirtschaftlichen Verhältnisse erwerben, was für die Ergebnisse der 
Erhebungen von nicht zu unterschätzendem- Vorteil sein muß. Auch 
für die Instruktion der Zähler, auf welche ein immer größeres Gewicht 
zu legen ist, muß ein geschultes Personal verlangt werden. Der Wert 
der statistischen Ergebnisse kann bei einem ständigen Amt nur ge- 
winnen, denn das Erhebungsverfahren wird ein vollkommeneres, die Ueber- 
einstimmung mit den früheren Erhebungen wird besser gewahrt, die 
innere Vergleichbarkeit der Resultate wird gehoben. Der Aufwand an 
Kosten wird sich veringern, namentlich bezüglich der eigentlichen un- 
mittelbaren Erhebungskosten. Das jeweilige aktive Interesse des Landes 
und der Bevölkerung an den Erhebungsergebnissen wird weitgehender 
und sorgfältiger berücksichtigt werden können. Die Erhebungen selbst, 
auch in ihren Resultaten, werden sich ohne erheblichen Kostenaufwand 
wissenschaftlich mehr vervollkommenen, erweitern und spezialisieren lassen. 

Endlich bezeichnet der Abteilungsvorstand der Sterblichkeitsstatistik 
William A. King die Bildung eines ständigen statistischen Amtes be- 
züglich seines Ressorts für ein unbedingt notwendiges Erfordernis. 
Gleichmälig für das gesamte Gebiet der Vereinigten Staaten werden 
jetzt die Geburts- und Sterbefälle oder speziell sogar nur die letzteren 
lediglich für ein Jahr unter zehn, für das Zensusjahr, festgestellt. Bei 
der ungemeinen und vielseitigen Bedeutung, welche die Verfolgung ‘der 
fraglichen Bewegung der Bevölkerung, die sachgemäße Feststellung der 
Geburts- und Sterbefälle in der mannigfachsten Beziehuug für Fragen 
des Gemeinwohls zweifellos und allseits anerkanntermaßen hat, ist eine 


382 Miszellen. 


derartige periodische Statistik vollkommen ungenügend, es sind in dieser 
Beziehung jährliche und stetig fortgesetzte Feststellungen ohne alle 
Frage zu fordern. Es kann auch keinen Ersatz bieten, wenn in einer 
Reihe einzelner Staaten, aber keineswegs in sämtlichen, durch die 
staatliche Machtbefugnis eine fortgesetzte Statistik über die Geburts- 
und Sterbefälle zur Einführung gebracht ist und wenn durch wissen- 
schaftliche Vereinigungen etc. dieser Statistik eine tunlichste Ausdehnung 
und sachgemäße Vertiefung gegeben wird. Ein ständiges statistisches 
Hauptamt muß diesen Zweig der Statistik in die Hand bekommen und 
gleichmäßig und dauernd für das gesamte Gebiet der Vereinigten Staaten 
zur Durchführung bringen. 

Aus diesen nur in den Hauptpunkten wiedergegebenen Gutachten 
läßt sich wiederum erkennen, daß gewichtige Gründe für die Aufgabe 
des bisherigen Zensussystems und die Errichtung eines ständigen 
statistischen Haupt- und Zentralamtes sprechen. Auch in den Kongrel- 
verhandlungen ist das Vorhandensein dieser Gründe eigentlich von keiner 
Seite in Abrede gestellt, di» Durchführung der im Prinzip als notwendig 
anerkannten Neuerung ist lediglich an Nebenpunkten gescheitert. Unter 
diesen Umständen steht wohl zu erwarten, daß sich mit der Zeit und 
wohl kaum in zu ferner Zeit das Schwerwiegende der Gründe für die 
Errichtung des ständigen statistischen Amtes doch Bahn brechen wird 
und daß die gesetzgebenden Körperschaften zu einer Uebereinstimmung 
bezüglıch der Form der zu treffenden Regelung kommen werden. 


Miszellen. 383 


Nachdruck verboten. 


Ve 
Die landwirtschaftlichen Syndikate Italiens. 


Von Dr. Heinrich Pudor. 


Bei der nachstehenden Darstellung beziehen wir uns in der Haupt- 
sache auf das ausgezeichnete Werk ,La Prévoyance sociale en Italie“ 
par Léopold Mabilleau, Charles Rayneri, Comte de Rocquigny (Paris, 
Armand Colin & Cie.) Das zweite Buch dieses Werkes ist von dem 
bekannten, hochverdienten Comte de Rocquigny bearbeitet und behandelt 
das landwirtschaftliche Genossenschaftswesen. 

In Italien hat sich das ländliche Genossenschaftswesen, ähnlich 
wie in Deutschland, anfangs in der Hauptsache als Kreditgenossenschafts- 
wesen entwickelt, im besonderen sind es die Volksbanken, welche die 
anderen Formen des Genossenschaftswesens erst hervorgerufen haben. 
Und zwar entwickelte sich zuerst das städtische Genossenschaftswesen, 
und danach das ländliche, welches die weitgehendsten Hoffnungen zu 
erfülen imstande ist. 

Bereits vor dem eigentlichen landwirtschaftlichen Genossenschafts- 
wesen besaß Italien eine ländliche Associationsform in den sogenannten 
Comices agricoles. Letztere, gegründet im Jahre 1866 und reorganisiert 
durch ein kónigliches Dekret vom 23. Dezember 1883, sind heute in der 
Zahl von 250—800 in allen Teilen des Königreiches, wenn auch in ver- 
schiedener Form, ausgebreitet. Einige derselben umfassen das Terri- 
torium einer Provinz, andere nur ein einfaches Arrondissement (Be- 
zirk, Circondario) Mehrere der letztere entfalten nur eine geringe 
Wirksamkeit und existieren nur dem Namen nach. Im übrigen tragen 
sie einen offiziellen Charakter und empfangen Staatsunterstüzung. Ihre 
Mitglieder rekrutieren sich aus der Elite der landwirtschaftlichen 
Klassen. Jede Kommune stellt einen Deligierten, jeder Hauptort 
deren drei. Auf diese Weise ist eine gewisse Repräsentation der 
organisierten landwirtschaftlichen Bevölkerung geschaffen. Die Auf- 
gabe der Deligierten ist es, zwischen der ländlichen Bevölkerung 
und dem landwirtschaftlichen Ministerium eine Vermittlungsstelle zu 
schaffen. Ein Reglement vom 8. Dezember 1878 gab den Comices mehr 
praktische Befugnis, z. B. Verbesserung der Tierrassen, und übertrug 
ihnen die Rolle, „für die Verbesserung der physischen und sittlichen 
Bedingungen der landwirtschaftlichen Klasse thätig zu sein“ — ein 
Programm, welches bekanntlich die Aufgaben des landwirtschaftlichen 
Genossenschaftswesens überhaupt in sich begreift. Freilich haben den 
Comices nicht genügende Geldmittel zur Verfügung gestanden, um diese 
wichtigen Aufgaben zu erfüllen. Immerhin veröffentlichen einige perio- 
dische Bulletins, organisieren Konkurse, Ausstellungen, Kongresse, 
Konferenzen, Vorlesungen über technische Fragen und sind wesentlich mit- 
beteiligt an der Gründung der Molkereigenossenschaften. Als dann die 


384 Miszellen. 


französischen ländlichen Syndikate ins Leben traten, organisierten auch 
die italienischen Comices ihrerseits den gemeinsamen Einkauf von Sämereien, 
Düngemitteln und anderer landwirtschaftlicher Produkte: sie begannen 
in der That die Funktionen landwirtschaftlicher Syndikate auszuüben, 
entweder direkt oder indem sie sich Syndikaten angliederten. Man 
kann sagen, daß diese Comices unter dem Drucke der ökonomischen 
Verhältnisse genötigt waren, ganz und gar in das landwirtschaftliche 
Genossenschaftswesen hineinzuwachsen und die große soziale Aufgabe 
zu erfüllen, daß der Profit, der aus dem Verkaufe eines Produktes er- 
wächst, allen denen zukommt, welche an der Erzeugung des Produktes 
mitgearbeitet haben. Und somit haben die italienischen Comices mit 
der Zeit der ländlichen Bevölkerung Italiens dieselben Vorteile, wie die 
Berufssyndikate der landwirtschaftlichen Bevölkerung Frankreichs ge- 
bracht. Dazu kam, daß neben den alten und den reorganisierten Comices 
Syndikate gegründet wurden, nach dem Vorbilde der französischen. Im 
Jahre 1887 begann die landwirtschaftliche Behörde sich mit der Frage 
zu beschäftigen und gab der Meinung Ausdruck, daß die italienischen 
Comices angethan sind, dieselben Aufgaben zu erfüllen, wie die fran- 
zösischen Sy yudikate, 

Im Jahre 1888 fand in Ecloga der dritte Kongreß der italienischen 
Genossenschafter statt, welcher sich auch mit der Frage der lündlichen 
Syndikate befaßte, und in Ansehung des Umstandes, daß Italien eines 
Syndikatsgesetzes, wie es Frankreich hat, entbehrt, auf den Vorschlag 
Maggiorino Ferraris folgenden Beschluß fafte: Der Kongreß hält es für 
gut, daß sich die genossenschaftliche Organisation der Konsumenten 
auch der Landwirtschaft zuwendet und unter der Form landwirtschatt- 
licher Vereinigungen den gemeinsamen Einkauf und Verkauf landwirt- 
schaftlicher Produkte organisiert. 

Im Jahre 1892 tauchte dieselbe Frage vor dem Oberhause auf. 
Man gab der Meinung Ausdruck, daß die Syndikate besser als die 
Comices den Bedürfnissen der modernen Landwirtschaft angepaít sind 
und citierte das Beispiel aus der Provinz Reggio Calabria, wo das land- 
wirtschaftliche Comice nur 20 Mitglieder zählt, während das Syndikat 
deren 4000 in sich begreift. Professor Ferrari, Rektor der Universität 
Padua, erklärte, daß die Syndikate die Vermittelung zwischen den 
allgemeinen und den individuellen Interessen herstellen. Der Minister 
Boselli ernannte im Jahre 1894 eine Specialkommission, um die Mittel 
zu studieren, die landwirtschaftlichen genossenschaftlichen Organisationen 
geeignet zu machen, das Los der ländlichen Bevölkerung zu verbessern. 
Diese Kommission faßte unter dem Präsidium des Senators Garelli den 
Beschluß, daß „die Comices, in geeigneter Weise reorganisiert und ge- 
festigt, durch die Regierung aufgefordert werden, landwirtschaftliche 
Berufsgenossenschaften zu gründen und sich anzugliedern !)*. 

Die eigentlichen landwirtschaftlichen Syndikate oder  Einkaufs- 


1) Annali di agricoltura, 1896, La cooperazione nell'agricoltura italiana. — 


Dieses offizielle Regierungsorgan hat die Verhandlungen der oben genannten Gesellschaft 
veröffentlicht. 


Miszellen, 385 


genossenschaften haben der genannten Kommission durch den Präsi- 
denten des landwirtschaftlichen Syndikates Turin einen Bericht er- 
stattet, welcher konstatiert, daß sie in hervorragender Weise befähigt 
sind, für die Erfüllung der sozialen Aufgaben auf dem Lande zu wirken 
und daß die Genossenschaft in gleicher Weise wie das Syndikat hierzu 
m wirken berufen ist. Auch der Generalbericht der Kommission für 
landwirtschaftliches Genossenschaftswesen, welcher am 11. April 1896 
dem Landwirtschaftsminister vorgelegt wurde, konstatiert die Nützlich- 
keit der Syndikate und die Notwendigkeit, für ihre tunlichst rasche 
Ausbreitung Sorge zu tragen. 

Die üblichen Operationen der französischen ländlichen Syndikate, 
also gemeinsamer Einkauf und Absatz der für die Landwirtschaft nötigen 
Dinge, wurden also in Italien ebensowohl durch die ländlichen Syndikate 
verschiedener Form als durch eine Zahl von Comices erfüllt, durch letztere 
besonders in den venezianischen Provinzen. Außerdem trifft man, be- 
sonders in Piemont, landwirtschaftliche Konsumvereine, welche als Syn- 
dikate wirken. Dabei hat der Staat überall helfend eingegriffen. 

Wir wollen zunächst die Comices, welche als Syndikate wirken, 
einer Betrachtung unterwerfen. Das älteste ist das Comice agricole 
de Plaisance, welches im Jahre 1868 gegründet wurde, unter dem 
Vorsitz des bedeutenden Agronomen Giacomo Riva; es zählt 600 Mitglieder, 
welche einen jährlichen Beitrag von 6 fres. zahlen. Auch dieses Comice 
wird vom Staate subventioniert. Seit dem Jahre 1880 besorgt es den 
gemeinsamen Einkauf von Sümereien in Rieti (Provinz Perouse) und 
seit 1883 und 1884 auch denjenigen von Düngemitteln. Im Jahre 
1889 regte es die Gründung des Syndikates de Plaisance an, welches 
die Comices de Plaisance und de Frierenzuola d'Arda für den gemein- 
samen Einkauf vereinigte. Die Aufträge werden zweimal im Jahre 
gesammelt, und die Mitglieder müssen 5—10 Proz. des Wertes der 
bestellten Waren deponieren. Die Düngemittel, deren Kauf das Syn- 
dikat vermittelt, werden auf peinliche Weise analysiert und geprüft, 
desgleichen die Sämereien. Der Umsatz beträgt jährlich ca. 200000 L. 
Die Wirksamkeit des Syndikates auf diesem Gebiete hat zur Folge 
gehabt, daß die Preise für Düngemittel um ungefähr 20 Proz. gefallen sind. 
Außerdem wurde mit anderen landwirtschaftlichen Associationen eine Föde- 
ration geschaffen für den direkten Einkauf der Mineraldünger in den 
Produktionscentren. Das Syndikat belastet dafür die Mitglieder mit 
nur ungefähr 15/, des Wertes der Einkäufe. Es hat nur einen ein- 
zigen Angestellten mit einem Salär von 100 L. den Monat. Auch den 
gemeinsamen Verkauf der landwirtschaftlichen Produkte hat das Syn- 
dikat organisiert. Ferner hat das Syndikat Geschäftsbeziehungen mit 
der Heeresverwaltung eingeleitet, Tarifermäßigungen auf Eisenbahnen 

durchgesetzt und mit Hilfe der Volksbank de Plaisance die Lieferung 
auf Kredit ermöglicht. 

In der Provinz Cremona wirken die drei Comices de Cremone, 
Crema und Casalmaggiore als landwirtschaftliche Berufssyndikate. Das 
wichtigste ist dasjenige von Cremona, gegründet im Jahre 1880. Es zählt 
340 ordentliche Mitglieder. Der jährliche Mitgliederbetrag beträgt 7 L. 


Dritte Folge Bd. XXV (LXXX.) 25 


386 Miszellen. 


Der Präsident ist Dr. Antonio Boddini. Im Jahre 1895 hat das Comice 
Käufe in der Höhe von 67000 L. vermittelt. 

Das Comice von Padua hatte vom 1. Januar bis 1. Oktober 1896 
einen Umsatz von 130000— 140000 L. Das Comice liefert auch auf 
Kredit und befaßt sich viel mit der Viehrassenverbesserung. Es besteht 
unabhängig von dem Syndikat von Padua. 

Das Comice von Conegliano in der Provinz von Treviso zählt 
200 Mitglieder und steht unter der Präsidentschaft des Doktor Vitale 
Calissoni. Dieses Comice hatte im Jahre 1890 innerhalb seiner Orga- 
nisation ein Syndikat gegründet für den Einkauf von landwirtschaft- 
lichen Bedarfsartikeln. Dieses Syndikat hat enorme Fortschritte ge- 
macht: im Jahre 1893 betrug der Umsatz 191000 L., während der 
ersten 11 Monate des Jahres 1894 hatte er sich bereits auf 258 000 L. 
erhoben und die Kassenbewegung dieses Jahres überstieg 610000 fres. 
Dieses Syndikat hat für das Bekanntwerden und die vermehrte Anwen- 
dung des Mineraldüngers sehr viel gethan, desgleichen für die Anwen- 
dung von landwirtschaftlichen Maschinen. Es liefert Waren nicht bloß 
an Mitglieder, sondern auch an auferhalb stehende Personen, wenn- 
gleich mit einer geringen Preiserhóhung. An erstere verkauft es unter 
der Bedingung der Zahlbarkeit innerhalb 30 Tagen, wobei der Käufer 
eine Ersparnis von 20 Proz. erzielt. Der Präsident des Syndikates ist 
zugleich Präsident des Comices. Letzteres besaß Ende September 1896 
ein Kapital von 45000 frcs.; dasselbe dient unter anderem dazu, den 
kreditbedürftigen Mitgliedern ausnahmsweise Geld für die Zeit eines 
Jahres und zu einem Zinsfuß, welcher 5 Proz. nicht überschreiten darf, 
zu leihen. Für die Rassenviehverbesserung hat das Comice viel gethan, 
indem es Zugvieh aus Tyrol ankaufte und Remontestationen errichtete. 
Außerdem verteilt es gratis Sàmereien für Küchengemüse und verleiht 
landwirtschaftliche Maschinen an die Mitglieder. Es hat ferner dem 
Lande eine neue landwirtschaftliche Industrie geschaffen, nàmlich die 
Trockenkonservierung von Früchten und Gemüsen. Endlich hat es das 
landwirtschaftliche Facherziehungswesen in hohem Mafe gehoben. 

Auch viele andere Comices in allen Teilen des Königreiches, be- 
sonders in Venetien, funktionieren als landwirtschaftliche Syndikate. 
Wir nennen das Comice agricole von Como und diejenigen von Alessudris, 
Parma, Brescia u. s. f. 


* * 
* 


Des weiteren wollen wir die landwirtschaftlichen Einkaufsvereini- 
gungen „institutions agricoles d'achat“, wie sie Graf von Rocquigny 
unter einer gemeinsamen Bezeichnung zusammenfaßt, in Italien sindacato, 
consortio agrario oder unione agricola genannt, der Betrachtung unter- 
ziehen. Sie ähneln sehr den französischen landwirtschaftlichen Berufs- 
syndikaten, sind indessen unter verschiedenen Formen gegründet worden, 
da Italien eines Syndikatgesetzes entbehrt. 

Diese italienischen Organisationen sind in ähnlich konzentrischer 
Weise eingerichtet, wie in Amerika, Frankreich und Portugal. Dem 
Syndicat locale, d. i. dem amerikanischen local Grange entspricht hier 


Miszellen. 387 


das sogenannte „Syndicat agricole initial“, gebildet unter den Landwirten 
eines und desselben Ortes. Dieses Syndikat kann sowohl einem größeren 
eigentlichen Syndikate angeschlossen sein, und zwar als Mitglied oder 
eine centrale Institution, wie die Federation italienne des Syndicats 
agricole de Plaisance. In der Hauptsache dienen diese Syndikate 
dazu, den kleinen Orten die Vorteile der großen Handelsplätze zu ver- 
schaffen. Die Arbeitsthätigkeit derselben ist derartig, daß sie auf der 
einen Seite die Bestellungen, auf der anderen Seite die Verteilung der 
bestellten Waren zentralisieren. Am zahlreichsten sind sie in Piemont. 
Herr Luzzatti hat für dieselben ein Modellstatut vorbereitet, um sie 
sie der Vorteile des italienischen Handelskodex teilhaftig zu machen. 
Dieser Entwurf ist veröffentlicht in dem Organ der italienischen Volks- 
banken ,Credito e cooperazione*. Danach ist es Aufgabe dieser Syn- 
dikate, die möglichst größte Anzahl von lokalen Warenbestellungen zu 
sammeln, eine möglichst große Anzahl von Warenangeboten zu erlangen 
und die einen mit den anderen in Verbindung zu setzen. 

Weiter kommen wir zu den „Syndicats agricoles ordinaires“. Sie 
sind von der italienischen Gesetzgebung nicht anerkannt, und werden 
vom Fiskus ignoriert. Das Recht der juristischen Personen geht ihnen 
ab, wodurch große Schwierigkeiten entstehen. Wir erwähnen zuerst 
das Syndikat agricole von Padua, gegründet im Jahre 1889 auf Ver- 
anlassung Luzzattis Am 31. Mai 1897 zählte es 746 Mitglieder, der 
jährliche Beitrag ist 2 L., der Präsident ist der Ingenieur G. Trieste, 
der Direktor der Ingenieur Theodor Gruber, Professor der Landwirt- 
schaft am technischen Institut in Padua. 

Das Syndikat diente erstens für den Einkauf aller für die Land- 
wirtschaft notwendigen Artikel, zweitens für die Kontrolle der Lieferungen 
und drittens für Ausführung von Analysen jeder Art. Auch darf es 
sich mit dem Verkauf landwirtschaftlicher Produkte befassen. Der 
Umsatz überstieg im Jahre 1896 315000 L. Das Syndikat hat seinen 
Sitz und seine Magazine in dem Hause der Volksbank von Padua, 
welche unentgeltlich das Kassenwesen des Syndikates besorgt. Weiter 
hat das Syndikat sich beteiligt an der Gründung eines Laboratoriums 
für landwirtschaftliche Chemie, im Anschluß an das technische Institut 
von Padua, desgleichen an der Einrichtung’ von Wanderkursen für land- 
wirtschaftliches Erziehungswesen, welche auch hier wieder auf Anregung 
von Luigi Luzzatti die Tätigkeit der Syndikate und der Volksbanken 
aufs heilsamste ergänzen werden. In den 7 Jahren, welche seit der 
Gründung des Syndikates bis Ende des Jahres 1896 verflossen sind, 
hat dasselbe den Einkauf von 6036 Bestellungen für 1450000 L. ver- 
mittelt. 

Das landwirtschaftliche Syndikat von Turin wurde im Februar 
1888 gegründet, und entspricht fast vollkommen dem Typus desjenigen 
von Padua.  Indessen funktioniert das Syndikat von Turin auch als 
Centralsyndikat und zwar für den gemeinsamen Einkauf. 56 lokale 

Vereinigungen sind demselben angegliedert. Wir haben es hier also 
mit den konzentrischen Syndikatgliederungen zu thun, von denen oben 
die Rede war, und diese Organisation hat vortreffliche Resultate er- 
25* 


388 Miszellen. 


geben, indem das Syndikat von Turin der gesamten piemontesischen 
Landwirtschaft von hervorragendem Nutzen ist. Der jährliche Beitrag 
ist 8 fres. Die Zahl der Mitglieder belief sich am 1. Januar 1898 auf 
1463. Der Umsatz des Syndikates war im Jahre 1897 mehr als 727 000 L. 
Die Kontrolle der gelieferten Bedarfsartikel geschieht mit Hilfe minutióser 
Analyse. Zudem sucht das Syndikat das landwirtschaftliche Erziehungs- 
wesen zu heben, und giebt eine vortreffliche Fachzeitschrift „Il sinda- 
cato agricole de Torino“ heraus, welches zweimonatlich erscheint, 
auferdem Broschüren und Instruktionen über die Anwendung des 
Mineraldüngers, über Versuchsfelder, über landwirtschaftliche Vor- 
lesungen und landwirtschaftliche Museen. Es wird präsidiert durch 
den Grafen Eugene Rebaudengo. 

Die weiteren landwirtschaftlichen Syndikate dieser Klasse brauchen 
wir nur kurz zu erwähnen. Dasjenige von Florenz „Consorzio Agrario“ 
wurde 1889 gegründet und hatte im Jahre 1890 einen Umsatz von 
129 000 L. allein für Mineraldünger. Weiter giebt es Syndikate in 
Modena (Consorzio Agrario Modenese), in Arizzo (Consortio Agricolo 
[gegr. 1890]) Voghera (Consorzio Agricolo Vogherese [gegr. 1887]. 
Legnago [gegr. 1899], Syndicato Agricolo Eviticolo Valdostano |gegr. 
1890], Pesaro, Piovera, Mailand, Grava etc. Genauer müssen wir das 
Syndikat von Udine (Associatione, Agrario Friolana) erwähnen, welches 
im Jahre 1856 bereits gegründet wurde, und vom Jahre 1886 ab durch 
seinen Präsidenten, Leone Wollemborg, in Anlehnung an die franzö- 
sischen Syndikate organisiert wurde. Im Jahre 1890 beliefen sich die 
gemeinsamen Einkäufe auf 271000 £. Die Besorgung von Maschinen 
für die Meierei-Industrie bildet wegen der großen Anzahl von Genossen- 
schaftsmeiereien, welche diesem Syndikate angegliedert sind, eine wichtige 
Aufgabe desselben. Einen Antrieb zur Entwickelung dieser Meiereien 
hat das Syndikat im Jahre 1885 gegeben, indem es einen Konkurs und 
Kongreß der Genossenschaftsmeiereien der Provinz organisierte. 

Weiter kommen wir auf die eigentlich genossenschaftlichen Syndi- 
kate der italienischen Landwirtschaft zu sprechen. Einige derselben 
nämlich haben von Anfang an den genossenschaftlichen Charakter an- 
genommen und nennen sich „Sindacato agricolo cooperativo“. Von den- 
selben erwähnen wir zuerst dasjenige von Parma (Consorzio agrario 
cooperativo parmense). Es wurde gegründet im Jahre 1893 durch die 
landwirtschaftlichen Wanderlehrstühle und zwar mit Hilfe der Spar- 
kasse von Parma. Das Syndikat ist eingetragen als anonyme Konsum- 
genossenschaft, ist aber vielmehr sowohl eine Produktiv- als Konsum- 
genossenschaft. Dasselbe leiht landwirtschaftliche Maschinen aus, 
fabriziert künstlichen Dünger, erleichtert die landwirtschaftlichen 
Kreditoperationen, richtet landwirtschaftliche Kurse ein, und besorgt 
landwirtschattliche Versicherungen. Die Beitrittsgebühr beträgt nur 
50 Centesimi. Die Kontrolle der Warenlieferung und die Analyse der 
Dünger wird auf eine sehr strenge Art gehandhabt. Das Syndikat 
verkauft auch an Nichtmitglieder, aber mit einer Preiserhöhung von 
1 Proz. Die Verteilung des Profites vollzieht sich auf eine sehr 
ingeniöse Weise zum Zwecke der Erhöhung des Genossenschaftskapitales: 


Miszellen. 389 


Nach den verschiedenen Abschreibungen zu Gunsten des Reservefonds, 
des Amortisationsfonds, der Verteilnng von Zinsen an die Aktionäre 
und Angestellten wird der etwaige Ueberschuß in zwei Teile geteilt, 
von denen der eine zur Reserve geschlagen wird, der andere aber zum 
Kredit jeden Genossenschafters zum Zwecke der Ersparnis kommt im 
Verhältnis zum Totalbetrage der Käufe und Verkäufe. Dieser Teil, in 
neuen Aktien konvertiert, betrug im Jahre 1895 3847 L. und im Jahre 
1896 3600 L. Im übrigen hat das Syndikat unter der Leitung des 
Professors Bizzozzero große Fortschritte gemacht. Am 1. Januar 1897 
zählte es 482 Mitglieder mit 678 Aktien. Der Umsatz, welcher im 
ersten Jahre (1893) 70000 L. betragen hatte, stieg im Jahre 1894 auf 
150000, im Jahre 1895 auf 220000 und im Jahre 1896 auf 280000. 
Der Nettoprofit betrug im Jahre 1895 8960 L. und im Jahre 1896 
9034. Die Reserve wird bald die Höhe des subskribierten Kapitales 
erreichen, worauf die den Aktionären gezahlten Zinsen auf 8 Proz. er- 
hoben werden — als Maximum, welches nicht überschritten werden 
darf. Das Reservekapital ist bei der Sparkasse in barem Gelde deponiert 
und trägt 21/, Proz. Zinsen. — Das Syndikat versucht landwirtschaft- 
liche Versicherungen in der ganzen Provinz Parma zu propagieren und 
vertritt selbst eine Versicherungsgesellschaft auf Gegenseitigkeit gegen 
den Hagel, welche ihren Sitz in Suzzara hat. In Ausnahmefällen liefert 
das Syndikat auch auf Kredit, sei es auf einfache Unterschrift, sei 
es auf Wechselbrief. Vor der Gründung des Syndikates besorgten 
20 Düngerfabriken in Mailand den betreffenden Handel in der Provinz 
Parma. Durch Intervention des Syndikates wurde der Preis für künst- 
lichen Dünger um 20 Proz. herabgosetzt, und der Deputierte Cornelio 
Guerci, welcher neben dem Professor Bizzozzero die Seele des Syndi- 
kates ist, meint, daß bei einem jährlichen Verkaufe innerhalb der Provinz 
von 1 Mill. L. den Landwirten auf diese Düngereinkäufe 200000 L. 
gespart werden. Auch in Italien ist der Konsum künstlicher Dünger 
heute 20mal bedeutender als früher. 

Das Syndikat hat auch beigetragen, den Landwirten der Provinz 
die Vorteile des Genossenschaftswesens zu Gemüte zu führen.  Be- 
sonders erwähnenswert sind ferner die günstigen Beziehungen zwischen 
dem Syndikat und dem landwirtschaftlichen Wanderlehrstuhl. Das 
genannte Syndikat wird geradezu in ganz Italien als Muster hin- 
gestellt. 

Das Consorzio agrario von Mantua, zu dem wir nunmehr kommen, 
wurde am 19. Dezember 1895 ebenfalls durch den landwirtschaftlichen 
Wanderlehrstuhl gegründet und zwar mit Beihilfe des landwirtschaft- 
lichen Comices und der Volksbank. Am 11. März 1897 zählte das Syndikat 
bereits 355 Mitglieder mit 440 Aktien. Der Präsident ist der Marquis 
Benedetto Sordi, der Direktor Professor Giovanni Cannova. Bereits im 
Jahre 1896 überstiegen die gemeinsamen Einkäufe 210000 L. 

Das landwirtschaftliche genossenschaftliche Syndikat von Pieve di 
Soligo wurde im Jahre 1890 gegründet. Es ähnelt demjenigen von 
Parma. Im Jahre 1891 hat es mit Beihilfe der Volksbank von Pieve 
di Soligo wichtige Maiseinkäufe für den Konsum ausgeführt, wobei es 


390 Miszellen. 


nicht nur den Mitgliedern günstigere Kaufbedingungen verschaffen und 
dem Wucher entgegensteuern wollte, sondern auch die weitere Aus- 
breitung der schrecklichen Krankheit Pellagre genannt, welche unter der 
sich mit Polenta nährenden armen Bevölkerung häufig ist, verhindern 
wollte. 

In Canneto Pavese wurde bereits im Jahre 1894, also vor der 
Gründung der französischen Syndikate eine Genossenschaft genannt 
Unione Viticola gegründet, zum Zwecke des billigen Wareneinkaufes 
für die Landwirtschaft und den Weinbau und für den günstigen Ver- 
kauf der Trauben — in letzterer Beziehung hat die Genossenschaft 
günstige Ergebnisse erzielt. 

Weitere landwirtschaftliche genossenschaftliche Syndikate giebt es 
in Mailand, Roucade, S. Dona di Piave, Forli etc. 

Endlich kommen wir zu den katholischen landwirtschaftlichen 
Unionen (Cercles, Unions Agricoles), welche als Syndikate funktionieren. 
Dieselben sind gegründet worden durch die Opera dei Congressi e dei 
Comitati cattolici in Italia, werden durch den Klerus geleitet, und haben 
sich besonders in Oberitalien stark entwickelt. Auf ihre Propaganda 
ist die Gründung von mehr als 700 katholischen Raiffeisenkassen, be- 
kannt unter dem Namen des Don Louis Cerutti, zu verdanken. Diese 
Organisation wurde auf dem 10. italienischen katholischen Kongreß in 
Genua im Jahre 1892 geplant zu dem Zwecke, die sozialistische Pro- 
paganda niederzuschlagen. Wir erwähnen unter diesen Syndikatunionen 
zuerst die katholische landwirtschaftliche venezianische Union, welche 
im Jahre 1892 in Treviso gegründet wurde zu dem Zwecke, die sämt- 
lichen katholischen Associationen der Gegend zu vereinigen. Sie befaßt 
sich mit dem Einkauf von künstlichem Dünger und von Sümereien, mit 
dem gemeinsamen Verkauf der landwirtschaftlichen Produkte, mit der 
genossenschaftlichen Versicherung gegen den Hagel, Feuersbrunst und 
Viehsterblichkeit. 

Eine andere katholische landwirtschaftliche Union, l'Unione cattolica 
en voie d'organisation wurde im Jahre 1894 gegründet, und bildet einen 
Vereinigungspunkt für alle kleineren katholischen Associationen der 
Lombardei, wie landwirtschaftliche Kassen, Meiereigenossenschaften, 
landwirtschaftliche Arbeitergenossenschaften, Viehversicherungs-Gesell- 
schaften etc. Der besondere Zweck der Union besteht darin: erstens 
gemeinsame Einkäufe und Verkäufe von Sämereien, landwirtschaftlichen 
Instrumenten, künstlichen Dünger und andere Waren zu betreiben, und 
sie direkt bei der Fabrik einzukaufen; zweitens die Gründung von allen 
solchen Genossenschaften, welche die Landwirtschaft schützen und ver- 
teidigen, zu propagieren. Im übrigen funktioniert die Union als land- 
wirtschaftliches Centralsyndikat. Die Zahl der der Union angegliederten 
Associationen beträgt nahe an 300. Im Jahre 1895/96 war der Kassen- 
umsatz 100000 L., im darauf folgenden Jahre fast das doppelte. Die 
offizielle Zeitschrift der Union ist la Cooperazione Popolare, Rivista 
cattolica di agricoltura pratica, welche in Parma unter der Redaktion 
von Don Louis Cerutti erscheint, und das Specialorgan der Centralkasse 
der landwirtschaftlichen katholischen Kassen bildet, die in Parma ihren 


Miszellen. ‘391 


Sitz hat. Diese Zeitschrift ist ein Hauptblatt für die Landwirtschafts- 
kultur, einer der Redakteure ist der berühmte Agronom Stanislaus 
Solari. 

Einer der besonderen Zwecke der Union ist die Entwickelung der 
Versicherungen. Im Jahre 1896 hat sie im Einverständnis mit der katho- 
lischen landwirtschaftlichen venezianischen Union eine Versicherungs- 
genossenschaft, la Societa cattolica d’assicuratione, sowohl Hagel- als 
Feuersicherungs-Gesellschaft, welche in Verona ihren Sitz hat, gegründet. 
Auch kleine lokale Viehversicherungs-Gesellschaften sucht die Union zu 
propagieren. Endlich ist es ihr besonderes Streben, das landwirtschaft- 
liche Facherziehungswesen zu heben, und zwar mit Hilfe von Vorlesungen 
über den Gebrauch der Mineraldünger und über das System Solari. 
Die Seele der Union ist Ambrogio Portaluppi. 

Die Unione cattolica agricola Bergamesca wurde nach demselben 
Modell am 14. Juni 1894 gegründet. Aber sie ist nicht regional, sondern 
lokal. Sie versucht die Landwirte moralisch, intellektuell und ökono- 
misch zu heben und sie zu vereinigen, um der antichristlichen und 
antisozialen Propaganda zu steuern. Ihre Mittel sind landwirtschaft- 
liche Kassen, Versicherungen, gemeinsame Einkäufe, Vorlesungen und 
Veröffentlichungen, sowie juristische Belehrungen. Der Präsident ist 
der Graf St. Medolago Albani. 

Weitere derartige katholische landwirtschaftliche Unionen finden 
sich in Parma, Novara, Turin etc. 

Gestatten wir uns nunmehr einen Ueberblick über die bisher be- 
sprochenen landwirtschaftlichen Syndikate Italiens. Diejenigen, welche 
sich Sindicato oder Consorzio nennen, sind nur in der Anzahl von 
60—75 vorhanden (wenigstens bis zum Jahre 1898), von denen 50 
genossenschaftlich organisiert sind. Dazu kommen aber noch die vielen 
Comices, landwirtschaftlichen Unionen, Cercles, welche als wahrhaftige 
Syndikate funktionieren, während eine ganze Reihe kleinerer landwirt- 
schaftlicher Associationen als initiale landwirtschaftliche Syndikate zu 
denken sind. Die Regierung unterstützt und subventioniert das Syndikat- 
wesen; dasselbe tun die Kommunen. Der Landwirtschaftsminister hat 
ihnen oft Erleichterungen zugestanden und ihre Entwickelung gefördert, 
besonders durch Ausschreibung eines öffentlichen Wettstreites. Dieser 
letztere wurde durch ein Königl. Dekret vom 3. April 1900 gesetzlich 
festgelegt, mit der Begründung, zwischen „den landwirtschaftlichen 
Gesellschaften, welche sich mit dem gemeinsamen Einkauf von Maschinen, 
Düngermitteln, Sämereien befassen, wird ein Konkurs eröffnet, wobei 
10 Preise, jeder zu 600 L. ausgesetzt werden“. Ein zweiter der- 
artiger Konkurs, besonders für die kleineren landwirtschaftlichen Syn- 
dikate gedacht, wurde durch die Regierung im Jahre 1897 ausgeschrieben. 
Im übrigen sind die Meiereigenossenschaften. die landwirtschaftlichen 
Konsumgenossenschaften, die cantinie sociali, die Viehversicherungs- 
gesellschaften, die Produktions- und Arbeitsgenossenschaften diesem 
Vorgange der Regierung gefolgt und haben ebenfalls mit Erfolg Wett- 
streite abgehalten. Bei dem offiziellen Konkurs erhielt das Syndikat von 
Turin den ersten Preis. 


392 Miszellen. 


Es erübrigt, ein Wort zu sagen über die Föderation der landwirt- 
schaftlichen Syndikate. Nach einigen Versuchen, die Syndikate von 
Piemont, Venezien und Umbrien regional zusammenzufassen, bildete sich 
im Jahre 1892 die Federazione italiana dei consorzio agrari mit dem 
Sitze in Plaisance, welcher indessen später nach Rom verlegt wurde. 
Ihre besondere Aufgabe ist es, den nicht, genossenschaftlichen Sydikaten 
zu Hilfe zu kommen und die Geschäfte der kleinen initialen landwirt- 
schaftlichen Syndikate zusammenzufassen. Diese Federation ist also im 
Grunde eine Art Zentralsyndikat. Indessen ist sie als Genossenschaft 
organisiert und genießt alle Vorteile des italienischen Handelskodex. 
Die Kassenführung besorgt ihr die Volksbank in Plaisance. Der 
Ehrenpräsident ist Luzzatti, der geschäftsführende Präsident Enea 
Cavalleri und der Direktor Raineri, Präsident der Volksbank in Parma. 
Alle Associationen, welche als Syndikate funktionieren, wie die Comices, 
dürfen ihr beitreten. Im September 1896 waren ihr 103 Gesellschaften 
angegliedert, nämlich 17 Syndikate, 86 Comices, und außerdem einige 
Volksbanken. Jede Association zeichnet für 5 Aktien, deren Anfangs- 
wert 5 L. betrug. Dieser Aktienwert steigt im Verhältnis zur Er- 
höhung der Reserve und betrug im September 1896 42 L. Die 
Eintrittgebühr beträgt 5 L.  Einzelmitglieder wurden 258 gezählt, 
das Kapital betrug 17000 L., die Reserve 12595 L.; der Umsatz 
betrug im Jahre 1895 mehr als 2 Mill. L. Zum Programm der 
Föderation gehört der gemeinsame Verkauf der landwirtschaftlichen 
Produkte, deren sie schon 1893 nach Frankreich abgesetzt hat. Weiter 
vermittelt die Föderation zwischen der Regierung und der Landwirt- 
schaft, versucht die Gesetzgebung zu ihren Gunsten zu beeinflussen, 
und ist bestrebt, Tarifermäßigungen durchzusetzen. Auch als Agentur- 
genossenschaft, ähnlich wie die Gesellschaft Pellervo in Finnland, ist sie 
thätig, und regt zu Syndikatsgründungen in den verschiedenen Provinzen 
Italiens an. Sie hat 2 Filialen, eine in Castelfranco, die andere in 
Macerata. 

Man muß im Auge behalten, daß die italienischen Syndikate, im 
Gegensatz zu den französischen, sich in der Hauptsache nur mit dem 
Einkauf von landwirtschaftlichen Konsumartikeln befassen, mit Aus- 
nahme einiger Gegenden Oberitaliens. Abgesehen von den katholischen 
landwirtschaftlichen Unionen, deren Programm sehr erweitert ist, sind 
die italienischen Syndikate landwirtschaftliche Einkaufs- 
genossenschaften. Allerdings ist vorauszusehen, daß diese Syndi- 
kate mit der Zeit ihre Wirksamkeit ausdehnen werden. Schon heute 
darf man sagen, daß sie außerordentlich viel Gutes für die italienische 
Landwirtschaft getan haben. Die Produktion ist sowohl eine größere 
geworden, als eine einträglichere. Die Kultur ist bedeutend ver- 
bessert worden, das System Solari hat die Getreidekultur zu einer ein- 
träglicheren gemacht. Die Verwendung des Mineraldüngers ist eine 
allgemeine geworden: man hat ausgerechnet, daß die italienische Land- 
wirtschaft im Jahre 1895 für etwa 30 Mill. L. Mineraldünger ein- 
gekautt hat. 


Miszellen. 393 


Nachdruck verboten. 


VI. 
Beiträge zur englischen Betriebsstatistik. 


Von Dr. G. Brodnitz, Privatdozent in Halle a, S. 


Im folgenden bringen wir einige Angaben über einzelne Zweige 
der englischen Industrie, die derselben Quelle entstammen, wie die kürz- 
lich von uns veröffentlichte Betriebsstatistik der dortigen Textilindustrie !). 
Es liegen ihnen wiederum die Berichte zu Grunde, die im Jahre 1898 
der Zentralstelle der englischen Fabrikinspektion von allen mit 
motorischer Kraft arbeitenden Betrieben über die im Jahre 
1897 durchschnittlich beschäftigte Arbeiterzahl gemacht wurden. Für 
alle übrigen Betriebe fehlt bekanntlich jeder einigermaßen zuverlässige 
Nachweis. Immerhin haben auch schon die uns zur Verfügung stehen- 
den Zahlen trotz ihrer Lückenhaftigkeit einigen Wert. Einmal lassen 
sie erkennen, wie weit in den betreffenden Industriezweigen sich auch 
der Klein- und Mittelbetrieb der motorischen Kraft bedient, sodann 
geben sie ein Bild der absoluten Ausdehnung des Großbetriebes, 
so daß in dieser Hinsicht sogar ein Vergleich mit den entsprechenden 
Angaben der deutschen Betriebsstatistik von 1895 möglich ist?) Der 
relative Anteil der einzelnen Betriebsklassen ist natürlich aus unseren 
Tabellen nicht zu ersehen, da eben die ganzen ohne motorische Kraft 
arbeitenden Betriebe fehlen, wodurch vor allem der Klein- und Mittel- 
betrieb mehr zurücktritt, als es den Tatsachen entspricht. 

Wir finden zunächst in Tabelle 1 S. 395 die Betriebsstatistik der 
Schneiderei. Sie gliedert sich folgendermaßen : 


| Betriebe | Proz. Personen | Proz. 
— — Le ES == L 
Kleinbetrieb 9 | 3,36 | 36 0,09 
Mittelbetrieb 83 30,97 2 263 5,36 
GroBbetrieb 176 65,07| 39 896 94,55. 
zusammen | 268 | 100,00 | 42 195 | 100.00 


Es läßt sich hieraus ersehen, daß der motorische Betrieb fast aus- 
schließlich auf den Großbetrieb beschränkt ist. Nur Leeds, der Hauptort 
der ganzen Industrie, weist einen stärkeren Anteil des Mittelbetriebes 
auf. Es ist dies wohl auf die dort übliche Einrichtung gemeinschaft- 
licher Fabrikgebäude zurückzuführen, die von einer großen Maschine 
mit Dampfkraft versehen werden und deren einzelne Räumlichkeiten 
man dann getrennt vermietet, wie wir dies in der englischen Textil- 
und Kleineisenindustrie des öfteren finden. Der Großbetrieb der Schnei- 
derei hat in England eine weit größere Ausdehnung als in Deutschland. 
So zählen wir Betriebe mit mehr als 100 Personen: 


1) In unseren ,Vergleichenden Studien über Betriebsstatistik und Betriebsformen 
der englischen Textilindustrie“. 
2) Vergl. Statistik des Deutschen Reichs, N.F. Bd. 113, S. 116, 118, 124. 


394 Miszellen. 


D 


in Deutschland 11 mit 1678 Personen, 

„ England 115 , 35 388 Y 
Und während unser größter Betrieb nur 237 Personen zählt, finden wir 
in England 12 Betriebe mit mehr als 500, darunter 3 mit mehr als 
1000 Personen !). 

Nicht ganz so groß, jedoch immer noch erheblich, sind die Unter- 

schiede in der Entwickelung der Schuhmacherei. Für sie ergibt sich 
in England (Tabelle 2 S. 395): 


| Betriebe | Proz. | Personen Proz. 

Kleinbetrieb 77 7,03 243 0,27 
Mittelbetrieb 496 45,30 | 13 144 14,80 
GroBbetrieb 522 47,67 | 75 423 84,93 
zusammen | 1095 |100,00| 88 810 | 100,00 


Hier tritt der Mittelbetrieb allgemein stärker hervor, da, wie schon 
Marshall zeigte 2, die Verwendung mit Dampf betriebener Nähmaschinen 
in der englischen Schuhfabrikation immer üblicher wird. Demgemäß ist 
auch die Ausdehnung des Großbetriebes der deutschen nicht so sehr 
überlegen wie in der Schneiderei. Schuhfabriken mit mehr als 100 Per- 
sonen finden wir: 

in Deutschland 103 mit 16011 Personen 
„ England 251 „ 56073 » 

Was die absolute Größe der Betriebe anlangt, bleibt Deutschland 
wiederum in bescheideneren Grenzen: bei uns wird kein Betrieb mi 
mehr als 500 Personen gezählt, die englische Statistik dagegen führ 
12 Betriebe mit 500—1000 und 2 Betriebe mit mehr als 1000 Per 
sonen auf. 

Beachtenswert ist die relativ große Zahl der weiblichen Arbeiter. 
Ihre Zahl ist bei uns geringer, weil durchweg mehr Handarbeit ver- 
langt wird, die in der Schuhmacherei den Männern vorbehalten ist. 

Es zeigt sich wiederum eine starke geographische Konzentration, 
hauptsächlich in Leicester und Northampton, ähnlich wie Massachusetts 
das Zentrum der nordamerikanischen Schuhindustrie geworden ist, die 
überhaupt in ihrer Entwickelung eine gewisse Aehnlichkeit mit eng- 
lischen Verhältnissen zeigt. Man zählt nämlich 3): 

in England 1095 Fabriken mit 88810 Personen 
„ den Verein. Staaten von Nordamerika 1600 " » 142 922 A 

Im großen Durchschnitt beschäftigt also in beiden Ländern jede 
Fabrik 89 Personen. Die gesamte Ausdehnung der Industrie ist in den 
Vereinigten Staaten wesentlich mit durch den Export gerade nach England 
gefördert worden, das, unterstützt durch die Gleichheit der Moden, ein 
Drittel des amerikanischen Gesamtexportes an Schuhwaren aufnimmt. 

Wir wenden uns von der Bekleidungsindustrie zunächst zur Uhren- 
fabrikation (Tabelle 3 S. 396): 


1) Möglicherweise sind jedoch Betriebe der Konfektion mitgezählt worden. 

2) Elements of Economies of Industries, 3. ed. p. 164. 

3) Vergl. Journal des Economistes vom 15. Dezember 1902, p. 384: L'Industrie 
de la Chaussure aux Etats-Unis. 


395 


Miszellen. 


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- 54 = au = . Ee 


396 Miszellen. 


Tabelle 3. Uhrenfabrikation. 


Zu- Zahl der Betriebe und der darin beschüftigten Personen in der Grófenklase 
sammen der Betriebe mit . . . . Personen 
z zi |11— | 51— |101— |201— | 501— | mehr als | 
Bezirk 1 | 2 3—516—10| an |21—50' ‘560 | 200 | 500 1000 | 109i 
Bein Pos geg gleja lle le] g |s| é SlEISIE SIE IE € 
o © 0,0 o- oo o, EN 2 2 o o E © Q o © o v V 
á _| | Beaelalela & jdm à [Al à alé Ale lA] à lé, E 
North ] opges 8| 292 | 3 | 2| 35 3 116| 2 138. | | 
West London 1| 28 [ AA | 28 | | 
Warwik 8 |1041 216 1! 8| 1j 25 187, 1309| 1 506| 
Birmingham 16| 785| 1| 1 1| 5| 3| 24| 4| 511 4| 132| 1| 55| 1145| 1|372|. | 
Liverpool 3| 798 2 1, 791 
Uebrige Bezirke zu- | 
sammen 28| 482| 4| 4| 1| 2| 7/25| 6 50| 6/104] A 95 1|202 
Summa | 6413426! 5| 5| 1| 2 13/46 10) 82 12|190 12] 396| 5| 380 1/145 31883. 211297 | 
| Betriebe ; Proz. | Personen | Proz. 
Kleinbetrie b 19 29,69 | 53 | 1,55 
Mittelbetrieb 34 53,12 | 668 19,49 
Großbetrieb II 17,19] 2705 78,96 
zusammen | 64 | 100,00 | 3426 | 100,00 


Der Großbetrieb beschränkt sich auf Birmingham und Warwik (Coven- 
try), wo man sich mit der Massenfabrikation beschäftigt. Sonst halten 
sich die Betriebe in bescheidenen Grenzen, so daß Deutschland hier eine 
erhebliche Ueberlegenheit zeigt. Die absolut größte Ausdehnung ist 
zwar in beiden Ländern gleich, je 2 Betriebe mit 500—1000 Personen. 
Aber Betriebe mit mehr als 100 Personen finden wir zusammen: 

in Deutschland 25 mit 6118 Personen 
» England 6 , 2325 i 

Aehnlich ist die Entwickelung der Gold- und Silberverarbeitung in 

England (Tabelle 4): 


Tabelle 4. Gold- und Silberverarbeitung. 


Zu- | Zahl der Betriebe und der darin beschäftigten Personen in der Größenklasse 
sammen der Betriebe mit . . . . Personen. 
i | dl jM— | 51 101— 201— | 501— | mehr als 
Bezirk | 1 | 2 posu] 20 2150| oo | 200 | 500 | 1000 | 1000 
Betr. Pers. VTT S zl 7" P : DECH CUSTO e cl E n ; 
see sel Esel] CR IS) EIE s S s 
| SIE ES £a a & (m'a lñle lé] à Al Re 
London 15| 122| 1 il 3 6 416 4 33 2 33! d 21 | | | | | 
Birmingham 127 5456 | | Jar\as| 9| 74/20 313 ddl ne 5 690 
5 | 45 5 3 3| 3453| 3 | 
Uebrige Bezirke zu- | | | 
| sammen 15| 171| t| 1, 1 a 7124: 3 31.3 ii E 1| 94 i Gel 
Summa | 57 15749 2| 2i 2 A 822 85 16 [128/24 375 /511731/32|2277| 3453| 3690 | T 


E Betriebe | | Proz. | Personen | Prok: 


Kleinbetrieb 28 — 17,84 Er 95 1 ,95 
Mittelbetrieb 91 57,96! 2234 38.86 
GroBbetrieb — 38 | 24,201 3420 | 59,49 


zusammen | 157 100,00| 5749 |100,00 


Miszellen. 397 

Dieser Industriezweig ist noch stärker lokalisiert: der Großbetrieb 
mit Maschinen hat seinen Sitz in Birmingham, während alle feineren 
Arbeiten in London ausgeführt werden. Aber selbst unter Nicht- 
berücksichtigung der rein handwerksmáligen Betriebe werden, wie unsere 
Zusammenstellung zeigt, noch 40 Proz. aller Arbeiter in Klein- und 
Mittelbetrieben beschäftigt !). 

Eine Tatsache ergeben also auch diese Tabellen: daß die Ent- 
wickelung zum Großbetriebe hin durchaus keine gleichmäßige ist. 
Während dieser in der englischen Bekleidungsindustrie stark und weit 
mehr als in Deutschland ausgebildet ist, haben wir in der Uhrenfabrikation 
und der Gold- und Silberverarbeitung wesentlich andere Verhältnisse, 
obgleich doch die Vereinigten Staaten zeigen, daß auch diese Industrie- 
zweige den Riesenbetrieben zugänglich sind. 

Zum Schluß sei noch auf eine Tabelle hingewiesen, die unlängst 
von der englischen Fabrikinspektion selbst auf Grund der auch von uns 
benutzten Zahlen zusammengestellt worden ist?). Sie bezieht sich allein 
auf die Stadt London und gibt für alle Industriezweige einmal die Zahl 
aller Fabriken und ihrer Arbeiter, sodann die Zahl der Fabriken mit 
mehr als 100 Arbeitern. Eine weitere Unterscheidung ist nicht vor- 
genommen. Es ergibt sich, daß in der englischen Hauptstadt von 
8478 Betrieben mit 353 288 Beschäftigten in diese Klasse 748 Betriebe 
mit 199630 Beschäftigten gehören. Auf die einzelnen Industriezweige 
verteilen sie sich in sehr verschiedener Weise. So findet sich kein 
derartiger Betrieb in der Zement-, Glas-, Ziegel-, Emaille-, Feilen-, 
Messer- und Uhrenfabrikation, um nur die wichtigsten Gruppen zu 
nennen. Selbst von den 125 Elektrizitätswerken beschäftigen nur zwei 
mehr als 100 Arbeiter. Auf der anderen Seite haben derartige Betriebe 
einen großen Anteil einmal natürlich an Gasanstalten (19 von 32), am 
Schiffs- und Bootsbau (10 von 40) und Wagenbau (14 von 77), aber 
auch an der Wäschekonfektion (18 von 44), Konservenherstellung (12 
von 22) und an Bäckerei, Biskuit- und Konfitürenherstellung (30 von 
129 Betrieben). 

Im ganzen könnte danach der Anteil des Großbetriebes außerordentlich 
hoch geschätzt werden. Doch ist zu erwägen, daß gerade bei dieser 
Tabelle die Mängel der benutzten Erhebungen besonders hervortreten. 
Denn London ist, wie Ch. Booths eingehende Untersuchungen zeigen ), 
noch immer eine Hauptstätte des reinen Kleinbetriebes, der hier un- 
berücksichtigt bleibt. 

Immerhin ist es erfreulich, daß man nun auch in England an der- 
artigen statistischen Zusammenstellungen mehr Interesse nimmt. Um 
so dankbarer wäre man, wenn einmal eine vollständige Gewerbestatistik 
der britischen Industrie in Angriff genommen würde. 


1) Ein Vergleich mit den deutschen Angaben, die einen viel größeren Anteil des 
Großbetriebes aufweisen, ist nicht angängig, da sie die Bijouteriewarenindustrie mit um- 
fassen. 

2) Annual Report of the Chief Inspector of Factories and Workshops for the year 
1901, Part II, p. XII und 57. 

3) Charles Booth, Life and Labour of the people in London, Vol. IX, p. 56. 


398 Miszellen. 


Nachdruck verboten. 


VII. 
Landwirtschaftlicher Export in England. 


Von Dr. Hermann Levy. 


Der Export von Stammbaumvieh gewinnt in der englischen Land- 
wirtschaft mehr und mehr Bedeutung. Die Zucht ausgezeichneter Vieh- 
waren ist eines jener Produktionszweige, deren Erweiterung die englischen 
Landwirte unter dem Druck der ausländischen Konkurrenz besonders 
lebhaft erstreben. In der Stammbaumviehzucht haben die Engländer 
ein gewisses Monopol, das von dem Wettbewerb der ausländischen 
Landwirtschaft bisher noch nicht eingeschränkt ist. Dies zeigen uns 
die wachsenden Exportziffern, welche Mr. Rew, ein Beamter des land- 
wirtschaftlichen Ministeriums, in einem Aufsatze veröffentlicht hat (Journal 
of the Formers Club. The development of the Pedigree Live Stock 
Interest in Great Britain, London 1901). Die Ziffern stellen uns den 
Export derjenigen Tiere dar, welche mit Zertifikaten der Zuchtgesell- 
schaften (Breed Society) versehen ins Ausland versandt wurden. Es ist 
daher anzunehmen, daß die Zahl aller exportierten Tiere noch etwas 
größer ist. Immerhin gibt die folgende Tabelle einen gewissen Ueber- 
blick. Es betrug der Export von 


Stammbaum- 
in den Jahren Pferden Rindvieh Schafen 
1861—1865 4 302 481 3773 
1866—1870 4342 540 3727 
1871—1875 3913 723 4756 
1876—1880 3 606 626 2818 
1881—1885 6619 3048 5277 
1886—1890 11 370 2003 7404 
1891—1895 14 490 4629 7167 
1896—1900 32 909 3345 8705 


Wir ersehen aus diesen Zahlen, welche starke Zunahme der Export 
von Stammbaumvieh in den letzten 40 Jahren erfahren hat. Der Export 
der Pferde betrug in der Periode 1896—1900 ca. 8mal, der des Rind- 
viehes ca. 6mal, der der Schafe ca. 2!/,mal so viel wie in der Periode 
1861—1865. 

Auch der Wert der Ausfuhr zeigt eine beträchtliche Steigerung. 
Es betrug der Wert des Exports von 


1861—1865 1896—1900 
£ £ 
Stammbaum-Pferden 238 378 - 755 341 
» Rindvieh I2 173 114 519 


D Schafen 23 469 100 188 


Miszellen. 399 


Der Wert des exportierten Rindviehes und der exportierten Schafe ist, 
wie wir sehen, in einem noch stärkeren Maße gestiegen wie die Anzahl 
der exportierten Tiere. Besonders interessant aber ist die aus der ersten 
Tabelle ersichtliche Tatsache, daß der Export des Stammbaumviehes erst 
in den 80er Jahren einen bemerkenswerten Aufschwung genommen hat, 
Bekanntlich beginnt mit dem Jahre 1879 die englische Agrarkrisis. 
Der Getreidebau und die Produktion von Fleisch geringerer Qualität 
büßt mit dem Anwachsen der überseeischen Konkurrenz seit dieser Zeit 
immer mehr an Rentabilität ein. Man denkt nicht daran, die Rentabilität 
der alten Produktionszweige durch hohe Schutzzölle künstlich zu er- 
halten. Es gilt vielmehr, neue Produktionszweige heranzubilden, in 
denen eine ausländische Konkurrenz nicht stattfindet. Unter diesen 
neuen Produktionszweigen gewinnt aber nun die Zucht von Stammbaum- 
vieh eine besondere Bedeutung, vor allem für den großen Pächter. So 
sehen wir die Exportziffern, welche in der Zeit von 1861—1880 stag- 
nierten, ja sogar eine leichte Abnahme zeigten, nach 1880 plötzlich rapide 
wachsen und zwar mit Uebereinstimmung in allen drei von uns ge- 
nannten Kategorien. Die Zahl der exportierten Pferde beträgt in dem 
Zeitraume von 1881—1885 ca. 2mal, die des Rindviehes ca. 5mal, die 
der Schafe ca. 1,5mal so viel wie in den vorangehenden 5 Jahren. Auch 
die Zahl der Zuchtgesellschaften hat sich in den letzten Jahrzehnten 
rasch vermehrt. Es gibt jetzt in England mehr als 50 solcher Gesell- 
schaften, welche sämtlich für die von ihnen herausgegebenen öffentlichen 
Stammbaumlisten die Verantwortung tragen. 

Nach einer mir ungedruckt vorliegenden Liste der Shorthorn Society 
erreichte deren Export an Shorthorns im Jahre 1902 allein die Zahl von 
864. Davon wurden exportiert: 


nach Stück nach Stück 
Canada 464 Australien 6 
Südamerika 145 Schweden 5 
Vereinigte Staaten 115 Jamaika 4 
Rußland 85 Japan 3 
Südafrika 26 Indien 2 
Deutschland 8 Neuseeland 1 


Aehnliche Angaben aus Berichten der Zuchtgesellschaften finden sich 
in dem Aufsatze von Rew vor. Sie zeigen, daß auch Holland, Oesterreich, 
Italien, Dänemark und die Schweiz Abnehmer englischen Stammbaum- 
viehes sind. Bei der Mannigfaltigkeit des Absatzmarktes können wir 
also wohl eine weitere Steigerung des Exports für die Zukunft erwarten. 

Die Vorteile, welche die englischen Pächter aus der Rasseviehzucht 
ziehen, traten in dem Verhöre der letzten Agrarenquete (1894—1896) 
deutlich zu Tage. Auch wurde in einem der Ausschußberichte aus- 
drücklich hervorgehoben (Final Report of her Majestys Commissioners 
appointed to inquire into the subject of agricultural Depression, London 
1897, p. 254), daß „in vielen Grafschaften Pächter, die sich durch die 
Zucht bestimmter Viehtypen, durch die Zucht von Stammbaumvieh oder 
Stammbaumschafen, sowie durch ihr Gestüt einen Stamm zu machen 


400 Miszellen. 


gewußt haben, Vorteile genossen, die kein Preisfall auf- 
heben konnte“. 

Die wachsende Bedeutung des Stammbaumviehexportes ist aber ein 
neuer Beweis, daß die englische Landwirtschaft nicht, wie viele meinen, 
zu Grunde geht, sondern daß sie nur einen Umwandlungsprozeß durch- 
macht. Der Getreidebau, vor allem auf schlechten Böden, und die 
extensive Viehzucht muß immer mehr eingeschränkt werden. Natürlich 
geht dieser Prozeß nicht schmerzlos vor sich. Viele müssen leiden und 
zu Grunde gehen, weil sie den Weg zu neuen, rentableren Produktions- 
zweigen nicht finden oder finden wollen. Der von uns behandelte ist 
einer dieser Produktionszweige Diejenigen aber, welche sich um 
seine Weiterbildung bemühen, haben nicht nur pekuniäre Vorteile aus 
ihm gezogen, sondern sich auch damit das Verdienst erworben, als echte 
Nachfolger Bakewells an dem Fortschritt der Landwirtschaft mitgewirkt 
zu haben. 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 401 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands 
und des Auslandes. 


1. Geschichte der Wissenschaft. Encyklopädisches. Lehrbücher. Spezielle 
theoretische Untersuchungen. 


Bernheim, Ernst (Prof. d. Geschichte, Univ. Greifswald), Lehrbuch der histo- 
rischen Methode und der Geschichtsphilosophie. 3. u. 4., völlig neu bearbeitete Aufl. 
Leipzig, Duncker & Humblot, 1903. gr. 8. X—781 SS. M. 15.—. 

Kindermann, C. (Prof. d. NatOekon., Heidelberg), Volkswirtschaft und Kunst. 
Jena, G. Fischer, 1903. gr. 8. 46 SS. M. 1.—. 

Platter, Jul. (Prof. d. Staatswissensch., eidg. Polytechnik., Zürich), Grundlehren 
der Nationalökonomie. Kritische Einführung in die soziale Wirtschaftswissenschaft. 
Berlin, J. Guttentag, 1903. gr. 8. XI—588 SS. M. 11.—. 

Rein, W. (Prof., Jena), Ethik und Volkswirtschaft. Eine Skizze. Berlin, J. Harr- 
witz Nacht, o. Jahr (1903). 24 SS. M. 0,50. (Soziale Streitfragen. Herausgeg. von 
Ad. Damaschke, Heft 13.) 

Schmidt, Rich. (Drot, Univers. Freiburg i/B.), Allgemeine Staatslehre II. Bd., 
1. Teil: Die verschiedenen Formen der Staatsbildung. 1. Kapitel (Abteilung 1: Die 
älteren Staatsgebilde. Leipzig, C. L. Hirschfeld, 1903. gr. 8. X—399 SS. M. 12,50. 
(A. u. d. T.: Hand- und Lehrbuch der Staatswissenschaften in selbständigen Bänden, 
begründet von K. Frankenstein, fortgesetzt von Max v. Heckel. III. Abteilung: Staats- 
und Verwaltungslehre. II. Bd. 1. Teil.) 


Cauderlier, Em., L'évolution économique du XIX” siècle (Angleterre, Belgique, 
France, Etats-Unis). Paris, Giard & Brière, 1903. gr. in-8. 246 pag. fr. 4,50. (Table 
des matières. Livre I: Transformations radicales dues à la science et à l'industrie depuis 
le début du XIX" siècle. — L'ancien régime corporatif; sa phase d'équilibre, sa déca- 
dence. Le nouveau régime économique; sa force de diffusion, son principe. — Exposé 
historique de l'évolution économique en Angleterre; progrès énormes des travailleurs 
anglais. — Le ressort de l'évolution industrielle; ses effets sur la marche des salaires 
et sur celle des profits. — Exposé historique de l'évolution économique en France. 
Déclin des tendances révolutionnaires. — Exposé historique de l’évolution économique 
en Belgique. K. Marx et le manifeste du parti communiste. Constitution du parti 
ouvrier belge. La filature du lin depuis cent ans de Flandre. — Livre II: Angleterre : 
Les nombres indicateurs. Salaires des métiers du bâtiment en Angleterre. Salaire 
agricoles. Tous deux suivent les mouvements des salaires industriels. Baisse du prix 
des subsistances. Toutes les consommations augmentent. Alcool, bière et tabac; cent 
trente-deux milliards bien employés. Le XIX* siècle triple les ressources de l'ouvrier 
anglais. — France: Hausse des salaires agricoles et ceux du bâtiment. Tous deux suivent 
les mouvements des salaires industriels. La défaite des dogmes marxistes. Baisse du 
prix des subsistances. Effets du régime protectionniste. Hausse des loyers. Le XIX* 
siècle double les ressources du travailleur français. Le peuple se nourrit beaucoup mieux. 
Budget annuel de quatre milliards en vins, cidres, bières, alcools. Progrès rapides de 
l'alcoolisme dans les villes et dans les campagnes. — Livre III. Développement des 
moyens de transport au XIXe siècle. — Belgique: Hausse simultanée des salaires dans 
l'industrie, l'agrieulture, la construction et les métiers. Baisse du prix des subsistances. 
Le XIX* siècle augmente les ressources de l'ouvrier dans la proportion de 100 à 270. 
— Etats-Unis d'Amérique: Leur expansion industrielle; leur concurrence menace de 
plus en plus l'Europe. — etc.) 

Laurie, S. S., Studies in the history of educational opinion from the renaissance. 


Dritte Folge Bd. XXV (LXXX). 26 


402 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Cambridge, at the University Press, 1903. 8. VI—261, cloth. 6/.—. (Contents: The 
renaissance, 1320—1600. — The modern period, from 1600: Francis Bacon, 1561—1626. 
— Comenius, the sense-encyclopaedist and founder of method, 1592—1671. — John 
Milton, the classical encyelopaedist, 1608—1674. — John Locke, the English ratio- 
nalist, 1632 — 1704. — Herbert Spencer, the modern sense-realist.) 

Pierson, N. G., Principles of Economies, translated from the Dutsch by A. A. 
Wotzel. Vol. I. London, Macmillan, 1902. gr. 8. 10/.—. (Contents: Economie laws. 
— The method of economies. — The origin of value in exchange. — The rent of land 
and houses. — Interest on capital. — The wages of labour. — Money. — etc.) 

Almanacco dei socialisti per l'anno 1903. Lodi, tip. nuova, 1903. 12. 80 pp. 
e 6 tavole. 1. 0,40. 

Ciccotti, Ettore, Psicologia del movimento socialista: note e osservazioni. Bari, 
G. Laterza e figli, 1903. 12. 317 pp. LA 

Labriola, Antonio (prof) In memoria del manifesto dei comunisti. 3* ediz. 
aggiuntavi la traduzione del manifesto. Roma, E. Loescher di Bretschneider & Regen- 
berg, 1902. 12. 118 pp. (Saggi intorno alla concezione materialistica della storia, I.) 

Pinsero, Nic. (prof), Elementi di economia politica. Modica, G. Maltese, 1902. 
8. VII—292 pp. 1. 3.—. 

Puglia, Ferdin. (prof), La funzione del diritto nella dinamica sociale. Messina, 
A. Trimarchi, 1903. 8. XXXV—162 pp. 1. 3.—. (Contiene: Individus e società. — 
Il dinamismo sociale. — L'idea della giustizia o del diritto e la sua funzione sociale.) 

Meereboom, M. O., Socialisme en malthusianisme. Amsterdam, C. Daniels, 
1903. 8. 76 blz. fl. 0,30. 

Vandervelde, Em., Het verval van het kapitalisme. Voordracht gehouden voor 
de jonge balie te Brussel op 7 IV 1892. Gent 1903. 8. 26 blz. 


2. Geschichte und Darstellung der wirtschaftlichen Kultur. 

Beck, Ludwig, Die Geschichte des Eisens in technischer und kulturgeschicht- 
licher Beziehung. Abteilung V, das XIX. Jahrh. von 1860 an bis zum Schluß. Braun- 
schweig, Fr. Vieweg & Sohn, 1903. gr. 8. VII—1419 SS. mit 344 Textabbildgn. M. 40.—. 

Duncker, Herm., Das mittelalterliche Dorfgewerbe (mit Ausschluß der Nahrungs- 
mittelindustrie) nach den Weistumsüberlieferungen. Leipzig, (L—ger Druckerei) 1903. 
gr. 8. XI—137 SS. M. 2.—. 

Ganz, Hugo (Wien), Reiseskizzen aus Rumänien. Berlin, H. S. Hermann, 1903. 
gr. 8. 154 SS. M. 2.—. (Aus dem Inhalt: Die Bevólkerung. — Die Finanzen. — Die 
Donaustüdte Braila und Galatz. — Jüdische Wohlfahrtsbestrebungen. — Die rumänische 
Wirtschaft und deren Zukunft.) 

Goetze, K. (Rektor der Stadtknabenschule, Demmin), Geschichte der Stadt Demmin. 
Demmin, Frantzsche Buchhandl., 1903. gr. 8. XII—520 SS. mit 30 Plänen und An- 
sichten. M. 6,50. 

Nübling, Eugen, Ulm unter Kaiser Karl IV. (1347—1378.) Ein Beitrag zur 
deutschen Städte- und Wirtschaftsgeschichte. Ulm, Gebr. Nübling, 1902. 8. CXVI— 
310 SS. M. 7,50. 

Pohle, Lud w. (Prof, Frkft. a/M.), Bevölkerungsbewegung, Kapitalbildung und 
periodische Wirtschaftskrisen. Eine Betrachtung der Ursachen und sozialen Wirkungen 
der modernen Industrie- und Handelskrisen mit besonderer Berücksichtigung der Kartell- 
frage. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 1902. gr. 8. 92 SS. M. 1,60. (Erweiterte 
Ausgabe eines auf dem 13. evangelisch-sozialen Kongreß in Dortmund gehaltenen Vortrages.) 

Schmaltz, K. (Pastor), Geschichte der Hofgemeinde zu Schwerin. Schwerin, F. 
Bahn, 1903. 8. VII—102 SS. M. 1,80. 

Trauer, Ed., Chronik des Dorfes Marieney i. Vogtl. bis zur Einführung der 


sächsischen Landesverfassung. Plauen i. V., A. Kell, 1903. gr.8. 111 SS. mit 1 Karte. 
M. 2,40. 


Blondel, Georges, La situation économique comparée de la France et de l'étranger. 
Paris, Victor Lecoffre, 1903. 8. VI—44 pag. fr. 0,40. 

Courtet, M., Etude sur le Sénégal. Productions, agriculture , commerce, ethno- 
graphie, travaux publies, main-d'oeuvre. Paris, Aug. Challamel, 1903. 8. fr. 4,50. 


Deschamps, Ph., La Russie au 20° siècle. Paris, Guillaumin & C*, 1902. 8. 
284 pag. fr. 3,50. 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 403 


Métin, Alb., L'Inde d'aujourd'hui. Etude sociale. Paris, Arm. Colin, 1903. 8. 
304 pag. fr. 3,50. (Table des matières: Diversité de l'Inde. — Une exception: Les 
Parsis et l'influence Européenne. — Le sentiment religieux indou. — Passé et présent 
de l'ISIam aux Indes. — Principautés indigènes. —  L'administration anglaise: 1. Les 
deux services, le civil et le militaire; 2. La ville et la société anglaises; 3. La méthode. 
— L'opposition indigene: 1. L'instruction publique; 2. Le prolétariat intellectuel; 3. Le 
mouvement national; 4. Les cótés faibles de l'opposition. — La culture indienne et ses 
charges: 1. L'Inde rurale et l'exportation européenne; 2. La propriété foncière et l'ad- 
ministation; 3. Part de la culture dans l'impót et les travaux publics; 4. Emigration. 
Famines. — Ancienne et nouvelle industrie: 1. Artisans et marehands; 2. Les Européens 
et le commerce des produits de la petite industrie. 3. Commencement de la grande 
industrie. 4. Condition des ouvriers.) 

Rapport du Consulat général de Belgique à Yokohama. Yokohama, le 18 juillet 
1902. gr. 8. (enthalten in Recueil consulaire, tome 118, 3° livraison) Bruxelles, impr. 
P. Weissenbruch, 1903, pag. 177 à 328. 

Vossion, Louis, L'Australie nouvelle et son avenir. 2° éd. Paris, Guillaumin 
& C^, 1903. 8. 270 pag. fr. 3,50. 

Bacou, E. M., The Hudson river from Ocean to source. London, Putnam's Sons, 
1903. 8. 18/.—. 

Gibbins, Henry de Beltgens, Economie and industrial progress of the cen- 
tury. London, Chambers, 1903. 8. 556 pp. 5/.—. 


3. Bevölkerungslehre und Bevólkerungspolitik. Auswanderung 
und Kolonisation. 


Ademeit, Wilh., Beiträge zur Siedlungsgeographie des unteren Moselgebietes. 
Stuttgart, J. Engelhorn, 1903. gr. 8. 104 SS. M. 3,90. (A. u. d. T.: Forschungen zur 
deutschen Landes- und Volkskunde, hrsg. von (Prof.) A. Kirchhoff, Bd. XIV, Heft 4.) 

Dove, Karl (Prof.), Deutsch-Südwest-Afrika. Berlin, W. Süsserott, 1903. gr. 8. 
VI—208 SS. mit Karte. M. 4.—. Süsserotts Kolonialbibliothek, Bd. V.) 

Kolonialhandelsadreßbuch 1903. VII. Jahrg. Berlin, Unter d. Linden 40, 
1903. gr. 8. 198 SS. mit der Karte der Kolonien in Buntdruck. M. 1,50. (Herausgeg. 
von dem Kolonialwirtschaftlichen Komitee.) 

Müller, G. (Pfarrer zu Groppendorf), Entwickelung und Stand der evangelischen 
Missionsarbeit in den deutschen Kolonien. Berlin, Buchhdl. der Berliner evangelischen 
Missionsgesellschaft, 1903. 8. 33 SS. M. 0,30. 

Vossberg-Reckow, Der Grundgedanke der deutschen Kolonialpolitik. Berlin, 
H. Paetel, 1903. gr. 8. 60 SS. M. 1,20. 

Decharme, Pierre (redacteur au Ministère des colonies, Paris), Compagnies et 
sociétés coloniales allemandes. Paris, Masson E C", 1903. gr. in-8. XII—305 pag. 
fr. 6.—. 

Bourne, H. R. Fox, Civilisation in Congoland: a story of international wrong 
doing. With a prefatory note by (Sir) Charl. W. Dilke. London, P. S. King & Son, 
1903. gr. 8. XVI—311 pp. with map, cloth. 10/.6. (Contents: King Leopold's project 
(1876—1884). — The Berlin conference (1884—1885). — The Congo State's commen- 
cement (1885—1889). — Early explorations and enterprises (1855—1890). — The 
Brussels conferenee (1889—1890). — Commercial developments (1890—1893). — Anti- 
selavery erusading (1890—1894). — International complieations (1894— 1895). — Admi- 
nistrative abuses (1894—1897). — Raids and rebellions (1895—1899). — Monopolist 
persecutions (1897—1901). — Belgium’s inheritance (1901—1902). — The Congo States 
neighbours, — The outlook.) 


4. Bergbau. Land- und Forstwirtschaft. Fischereiwesen. 

Bericht über die III. Hauptversammlung des deutschen Forstvereins. (30. Ver- 
sammlung deutscher Forstmünner) zu Leipzig vom 15. bis 20. IX. 1902. Berlin, Jul. 
Springer, 1903. gr. 8. 240 SS. M. 3.—. 

Gruner, H. (Prof, z. Zt. Rektor d. kgl. landw. Hochschule, Berlin), Die Marsch- 
ländereien im deutschen Nordseegebiete einst und jetzt. Rede. Berlin, Parey, 190%. 
gr. 8 18 SS. 

Jahrbuch der deutschen Landwirtschaftsgesellschaft. Herausgeg. vom Direktorium. 


26* 


404 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Bd. XVII. Berlin, P. Parey, 1902. Lex.-8. XVII—694 SS. M. 6.—. (Inhalt: Die 
Entwickelung der dtsch. Landwirtschaftsgesellschaft vom 1. X. 1901 bis dahin 1902. — 
Die Winterversammlung 1902 zu Berlin. — Die 17. Wanderversammlung zu Mannheim. — 
Die 16. Wanderausstellung Mannheim. — Berichte über Unternehmungen der Gesell- 
schaft. — etc.) 


de Launay, L., Les richesses minérales de l'Afrique. Paris, Ch. Béranger, 1903, 
8. 395 pag. 

A tutorat returns, 1902. Tables showing the total produce and yield per 
acre of the principal crops in each county of Great Britain with summaries for the 
United Kingdom. London, printed by Wyman & Sons, 1903. gr 8. VII—33 pag. 
(Parl. pap.) 

Coffee. Extensive information and statistics. Amsterdam, J. H. de Bussy, 1903. 
gr. 8. 110 blz. fl. 1,20. (Reprinted from the original edition published by the Inter- 
national Bureau of the American Republics.) 

Vietoria. — Annual report of the Secretary for mines and water supply to J. 
Balfour Burton (Minister of mines and water supply for Victoria), including reports on 
the working of part III of Mines Acts 1890 and 1897, Water supply. etc. ete. during 
the year 1901. Melbourne, R. S. Brain printed, 1902. gr. Folio. 

Almanacco del giornale di agricoltura „l’Italia Agricola" per l'anno 1903. Pia- 
cenza, tip. V. Porta, 1903. 8. 206 pp. 1. 2.—. 

Vacirca, Ant., Il problema agrario in Sicilia, con prefazione di Napol. Cala- 
janni. Palermo, A. Reber, 1903. 8. IV—150 pp. 1. 2.—. 


5. Gewerbe und Industrie. 

Brants, Victor, La petite industrie contemporaine. Paris 1902. 
V. Lecoffre. VIII + 230 pp. 

Die gesetzgeberische Aktion zu Gunsten des Handwerkes scheint 
bei uns zu einem gewissen vorläufigen Abschluß gelangt zu sein; man 
will offenbar erst die Wirkungen der neuen Organisation abwarten, bevor 
man weitere Schritte unternimmt. Eine nochmalige Umschau über die 
Lage und die Ziele des gewerblichen Mittelstandes ist gerade darum wohl 
angebracht. Der Verfasser, Professor an der katholischen Universität 
Lówen, hat sich wiederholt in kleineren Aufsátzen mit dem Gegenstande 
beschäftigt; er kennt in umfassendster Weise die gesamte einschlägige 
Literatur Deutschlands, Oesterreichs, Belgiens und hat diese Länder 
selbst bereist. Das Urteil eines Ausländers über unsere Verhältnisse 
muß von besonderem Werte sein, zumal wenn man so eingehende Studien 
gemacht und den umfangreichen Stoff so völlig beherrscht. Brants be- 
handelt die Darstellung der tatsächlichen Verhältnisse nur kurz; er legt 
vielmehr das Hauptgewicht auf die wirtschaftspolitische Seite, d. h. auf 
die Mittel zur Erhaltung und Stärkung der Kleingewerbetreibenden. 
Denn er geht davon aus, daß gerade diese soziale Gruppe zum Wohle 
des Ganzen unentbehrlich sei und daß ihre Erhaltung ein Hauptstück 
der Sozialpolitik werden müsse: der Grund ist (S. 157) Unabhängigkeit, 
konservativer Geist, Gleichgewicht, Sicherheit, Familiensinn, die alle in 
besonderem Maße dem Handwerke eigen seien. Sein Standpunkt ist im 
ganzen der der fortgeschritteneren katholischen Schriftsteller, wie er 
denn z. B. den Anschauungen des Prof. Hitze nahe steht. Dabei hält 
er sich von Uebertreibungen oder engherziger Auffassung der Dinge 
frei. Er ist durchaus davon überzeugt, daß man den Fortschritt nicht 
künstlich aufhalten weder könne noch solle, daß das Kleingewerbe nicht 
„immobilisiert“ werden dürfe. Aber was noch zu retten und zu er- 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 405 


halten sei von dem selbständigen Handwerke — dafür dürfe kein Opfer 
gescheut werden, wenn er sich auch letzthin der Erwägung nicht ver- 
schließen kann, daß manches in diesem gewerblichen Mittelstand sehr 
faul aussieht. 

Es ist erklärlich, daß diese Grundauffassung auch die Darstellung des 
Tatsächlichen stark beeinflußt. Der Verf. wiegt sich bezüglich der Zukuntt 
des Handwerks in ziemlichem Optimismus und er glaubt an eine weitere 
Stärkung der Kleinindustrie, wenn nur die richtigen Mittel angewendet 
werden. Er bietet hierin wohl das Gegenstück zu W. Sombarts 
modernem Kapitalismus, bei dem der Siegeszug des Großbetriebes auf 
allen Gebieten als ein unaufhaltsamer erscheint. Brants stützt seine 
Diagnose und Prognose im wesentlichen auf die Ermittelungen der amt- 
lichen Statistik in Deutschland und Frankreich. Dagegen verwertet er 
die Ergebnisse der Handwerkerenquete des „Vereins für Sozialpolitik“ 
gar nicht, obwohl wir erst ihr die wesentlichsten Aufschlüsse verdanken. 
Er meint von ihr (S. 38), daß sie ,forcément ne porte que sur des cas 
particuliers (?), comporte et réserves et critiques“. Es ist dasselbe merk- 
würdige und schiefe Urteil, das seiner Zeit in Köln und auch anderwärts 
Professor Hitze abgegeben. Aber mit diesen Bemerkungen wird man doch 
den prinzipiellen Aufklärungen, die man erst jener Enquete verdankt, 
nicht gerecht. Denn die Statistik als solche gibt nur dann Antwort auf 
die Fragen, wenn man sie richtig interpretiert. Aber aus den bloßen ganz 
äußerlichen Daten derer, die sich selbständige Kleinmeister nennen, 
ist doch kein weitgehender Schluß auf einen Fortbestand zu machen. 
Die äußere Form des Handwerkes besagt über den inneren Gehalt 
noch rein gar nichts. Und von dieser tausendfachen inneren Zersetzung 
und weitdringenden absoluten Abhängigkeit spricht Brants nichts: für 
ihn deckt sich der Handwerker, der sich selbst „selbständig“ nennt 
und den die Gloriole der eigenen Werkstatt im eigenen Heim umgibt, 
auch mit dem wirtschaftlich unabhängigen. An diesem xgwrov 
deine scheint mir aber die ganze Auffassung des Verfassers zu leiden. 

Denn gerade jene angebliche „Autonomie“ ist es, die das charakte- 
ristische Merkmal des Kleingewerbes ausmachen soll. Aber Br. kommt zu 
diesem Ergebnis nur, indem er die Selbständigkeit ganz formell und äußer- 
lich faßt. Er kennt doch auch die tatsächlichen Verhältnisse nicht, wenn 
er behauptet, daß man die Notwendigkeit oder Nützlichkeit eines Groß- 
betriebes der Maurer, Gärtner, Tapezierer, Schornsteinfeger nicht be- 
greifen könne (S. 80). Entsprechend stellt er der gewerblichen Mittel- 
standspolitik die Aufgabe (S. 76): Mittel zu suchen, um das Handwerk 
zu heben, auf den umstrittenen Gebieten zu kämpfen, die gegenwärtigen 
Positionen mindestens zu bewahren, womöglich zu verbessern, endlich 
neue Gebiete zu erobern. Aber ich halte es nicht für angängig, eine 
einzelne Klasse aus dem gesamten zeitlichen Zusammenhang heraus- 
zugreifen und ihr, unbekümmert um die vorhandenen Beziehungen und 
Tendenzen, ein besonderes Ziel anweisen zu wollen, das der Lage der 
Dinge nach unmöglich ist. Ein hinreichendes Feld der Betätigung wird 
dem Kleingewerbe und dem Handwerk sicherlich gewahrt bleiben, wie 
auch Conrad in seiner Volkswirtschaftspolitik hervorhebt. Es ent- 


406 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


spricht jedoch durchaus nicht mehr den heutigen Tatsachen, wenn B. 
behauptet (S. 26): „Le petit industriel fait d’ordinaire un produit 
complet; parfois il en fait plusieurs, rarement il n'en fait qu'une partie. 
Mais il travaille avec soin, souvent en artiste". Denn das geht doch 
aus allen neueren Untersuchungen über die Frage hervor, und vor allem 
ist dieser Nachweis wohl Sombart in der Hauptsache gelungen, daf 
die innere Abhängigkeit von der Großindustrie eine unaufhaltsame und 
unabwendbare ist. Dem vermógen die vorgeschlagenen Mittel keinen 
Abbruch zu tun. 
' Brants ist einsichtig genug, nicht durch Gewaltmaßregeln retten zu 
wollen, was nicht zu retten ist. Er steht nicht auf dem Standpunkte 
des Reaktionàrs, dem die moderne Entwickelung eine Abirrung von dem 
Richtigen ist. Aber einmal sieht er die Vergangenheit des Hand- 
werkes entschieden zu günstig an; er verkennt z. B. ganz, worauf 
Bücher mit soviel Nachdruck hingewiesen, dal das Handwerk selbst 
erst ältere Formen des Gewerbebetriebes verdrängt und sich in einem 
bestándigen Kampfe mit diesen „Störern“ und „Bönhasen“ der älteren 
Zeit befunden hat; daß die Differenzierung zwischen dem -ärmeren und 
reicheren Meister bereits im 15. und 16. Jahrhundert eine außerordentlich 
grole gewesen; dab die üble Lage der Sitzgesellen zu jahrhundertelangen 
Gesellenkämpfen geführt hat, die keineswegs immer ein erfreuliches 
Licht auf die ältere Handwerksgeschichte werfen. Andererseits 
überschätzt er für die Gegenwart infolge seiner irrigen Auffassung über die 
„Selbständigkeit“ des Kleinmeisters ganz erheblich die Tragweite einer 
künstlichen und gesetzlichen Organisation. Dabei wird es nicht einmal 
klar, ob er einer Zwangsorganisation das Wort redet, obgleich er zu- 
gibt, daß deren Erfolge in Oesterreich bisher sehr gering gewesen und 
in keinem Verhältnis zu dem großen geschaffenen Organismus stehen. 
Es ist schade, daß er auf die Ausführungen von Wäntig, Gewerbliche 
Mittelstandspolitik, gar nicht eingeht, ja das Buch geflissentlich ignoriert; 
allerdings bleibt ja danach an den österreichischen Versuchen kein 
gutes Haar: sie bedeuten ein vollkommenes Fiasko der erstrebten Neu- 
belebung. Die Genossenschaften haben hier gänzlich versagt und sie 
haben den Umwandlungsprozeß des alten Handwerkes nicht aufzuhalten 
vermocht, obwohl Regierung und Parteien seit 20 Jahren ihm alle 
Sympathien entgegengebracht (vergl. Philippovich, Referat über 
die Handwerkerfrage auf der Generalversammlung des Vereins für Sozial- 
politik 1897). Die Fragen der äußeren Organisation reichen eben an 
die innere Struktur des Betriebes, des Absatzes, der Kapitalkonzentration 
und Konsumveränderung, was alles ausschlaggebend für die Lage des 
Kleingewerbes ist, in keiner Weise heran. Uebrigens muß Brants auch 
für Deutschland (S. 206) zugeben, daß die Hoffnungen, die die Mittel- 
standspolitiker auf die Schaffung der neuen Organisation — der fakul- 
tativen Zwangsinnungen und der Handwerkerkammer — setzten, sich 
bisher nur sehr teilweise erfüllt haben. Die Schwierigkeiten liegen eben 
auf ganz anderem Gebiete. 

Brants verkennt die Schattenseiten des heutigen Kleingewerbes 
durchaus nicht: ihren Mangel an Initiative und ihr zu starkes Vertrauen 


` 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 407 


auf staatlichen Schutz; den Individualismus im Kampfe gegen die Kon- 
kurrenz ; die üble Lage der Gehilfen und die Lehrlingszüchterei; den Mangel 
an Hygiene, wie er an dem Beispiel der Unsauberkeit in Bäckereien 
anführt; den Mangel an Anpassungsfühigkeit, an kaufmännischer Ge- 
schicklichkeit; auch ist er weit davon entfernt, das Familienleben der 
Handwerker durchgängig als ein Paradies anzusehen. Aber er meint, 
daß sich auf allen diesen Gebieten außerordentlich viel tun ließe — sei 
es durch genossenschaftlichen Zusammenschluß der Handwerker selbst, 
als Werk-, Rohstoff-, Magazingenossenschaften, sei es durch staatliche 
Unterstützung; so auf dem Gebiete des Lehrlingswesens, der Ausstellungen 
und Prämiierungen, der Erschließung “eines besseren und billigeren 
Kredites durch Handwerker- und Innungsbanken, durch Flüssigmachung 
der Sparkassenfonds und anderes. Er will überall mit Vorsicht zu Werke 
gehen, ohne sich zu großen Illusionen hinzugeben. Es ist hier nicht der 
Ort, in eine eingehendere Erörterung der einzelnen Maßnahmen einzutreten: 
eine ganze Reihe von ihnen halte ich für empfehlenswert und durch- 
führbar: so vor allem die Beschränkung des Borgsystems durch Ver- 
besserung der Kredit- und Scheckeinrichtungen u.v.a. Die Frage des 
Befähigungsnachweises läßt er offen, obwohl er den österreichischen 
Verwendungsnachweis für ungenügend erklärt, Auch die Ausdehnung 
der Arbeiterschutzbestimmungen auf das Handwerk erörtert er auf- 
fallenderweise nicht, so sehr gerade dies von den vorgeschritteneren 
Sozialpolitikern verlangt wird. Von der allgemeinen Zugänglichmachung 
der elektrischen Kraft erwartet er für das Handwerk eine Verlangsamung 
(S. 156) der Konzentrationstendenz: es wird dabei meines Erachtens ganz 
übersehen, daß die Anwendung sich erst rentiert in einem großen arbeits- 
teiligen Betrieb, wo die Werkzeuge voll ausgenutzt werden können. 
Man sieht, der Verf. gibt ein vollständiges durchgeführtes Hand- 
werkerprogramm nach dem einen Leitsatz (S. 14): „das Handwerk mul 
erhalten werden aus Gründen der Allgemeinheit; aber es muß sich ent- 
sprechend der neuzeitlichen Entwickelung umbilden.“ Der Verf. ist 
jedoch radikaler als er selbst denkt. Denn ein so modernisiertes Hand- 
werk, das mit motorischer Kraft: arbeitet, das sich eventuell zu großen 
kartellierten Produktivgenossenschaften (S. 118) zusammenschließt, das 
Scheck- und Giroverkehr benutzt, das magazinfühig wird und womöglich 
selbst ein großes Warenhaus einrichtet: das ist mit all diesen Um- 
formungen und all ihren Konsequenzen schon ein anderes geworden. 
Es würde in dieser Form auch kaum noch die große Zahl von Existenzen 
mitzuschleppen vermögen, die heute einen Teil des Handwerkerprole- 
lariates ausmachen! Diese verschiedenen Bestandteile innerhalb des 
Kleingewerbes scheidet jedoch B. gar nicht. Nur der Tauglichste aber 
verdient wirklich erhalten zu werden. Denn nicht darauf kommt es 
an, zu zeigen, daß ein Teil der Kleinmeister und Handwerker noch 
besteht und mit allen jenen Mitteln auch noch ferner bestehen kann: 
das wird von niemandem bestritten. Sondern der Nachweis wäre zu 
führen, daß sie tatsächlich ein selbständiges Dasein haben und daß 
ihnen in Zukunft eine eigene sichere aussichtsreiche Domäne bleibt. 
Dieser Nachweis ließ sich natürlich nicht führen. Und doch ist dies 


408 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


die Vorbedingung für die Möglichkeit eines selbständigen Kleingewerbes, 
widrigenfalls der Anpassungsprozef an die modernen Betriebsformen 
nur aufgehalten wird. Denn alle jene Mittel gewährleisten noch nicht 
einen wirtschaftlich unabhängigen „Stand“, dessen Fortbestehen 
eine soziale Notwendigkeit wäre und zu dessen Erhaltung eine berufliche 
Organisation überhaupt beitragen könnte. 


Leipzig. F. Eulenburg. 


Bericht der Zentralanstalt für unentgeltlichen Arbeitsnachweis in Mannheim 
(S. 1, 17) über das Geschäftsjahr 1902, Mannheim, Hofbuchdr. Hahn & C*, 1903. gr. 4. 
19 SS. 

Bringmann, August, Geschichte der deutschen Zimmererbewegung. I. Bd. 
Stuttgart, J. H. W. Dietz, Nachf., 1903. gr. 8. XII—400 SS. mit 12 Taf. M. 6.—. 

Dietzel, H. (Prof, Univ. Bonn), Das Produzenteninteresse der Arbeiter und die 
Handelsfreiheit. Ein Beitrag zur Theorie vom Arbeitsmarkt und vom Arbeitslohn. 
Jena, G. Fischer, 1903. gr. 8. VIII—118 SS. M. 3.—. 

Doren, Alfr., Deutsehe Handwerker und Handwerkerbruderschaften im mittel- 
alterlichen Italien. Berlin, R. L. Prager, 1903. gr. 8. IV—160 SS. M. 5.—. 

Erweiterung, die, der Erwerbsfühigkeit des weiblichen Geschlechts ohne Uni- 
versitätsstudium der Frauen und ohne Müdchengymnasien. Berlin, Wiegandt & Griebern, 
1903. 8. 31 SS. M. 0,50. 

Führer durch die Papierindustrie Deutschlands. Leipzig, Th. Weber, 1902. gr. 8 
43 SS. M. 3.—. 

Harms, Bernh., Die holländische Arbeitskammer, ihre Entstehung, Organisation 
und Wirksamkeit. Tübingen, J. C. B. Mohr, 1903. gr. 8. XII—198 SS. M. 5.—. 

Jahresbericht des Bundes der Industriellen. E. V. für das Geschäftsjahr 
1901/1902. Im Auftrage des Vorstandes herausgeg. vom (Generalsekretür) Wilh. Wend- 
landt. Berlin, Druck von H. Klokow, 1903. gr. 8. III—86 SS. 

Jahresbericht des deutschen Kellnerbundes Union Ganymed. Bezirksverein 
Berlin (NW 7) 1902/1903. Berlin, Januar 1903. gr. 4. 13 SS. 

Tschierschky, S., Kartell und Trusts. Vergleichende Untersuchungen über 
deren Wesen und Bedeutung. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1903. gr. 8. 
M. 2,80. 

v. Wiese, Leop., Beiträge zur Geschichte der wirtschaftlichen Entwickelung der 
Rohzinkfabrikation. Jena, G. Fischer, 1903. gr. 8. IV—221 SS. mit 3 Taf. M. 5.—. 


Bernard, F., Les caractères particuliers de l'industrie agricole. Montpellier, 
Coulet & fils, 1903. 8. 72 pag. 

Briat, Apprentissage. Rapport au nom de la Commission permanente. Enquete 
et documents. Paris, imprim. nationale, 1902. in-4. 489 pag. 

Congrès, troisième, national du syndicat national des ouvriers des postes, télé- 
graphes et téléphones, tenu à Paris (bourse du travail) les 23, 24 et 25 octobre 1902. 
Paris, impr. Mangeot, 1905. 8. 176 pag. 

Guillet, L. (prof. de technologie chimique au collège libre des sciences sociales), 
L'industrie des métalloides et de leurs dérivés. Paris, Gauthier-Villars, 1903. 8. 
187 pag. 

Lambert, A. (avocat à la Cour d'appel de Paris), Manuel de la propriété indu- 
strielle et commerciale. Brevets d'invention, marques de fabrique et de commerce, des- 
sins et modèles de fabrique, ete. Paris, Giard & Brière, 1903. 8. 252 pag. fr. 3.—. 

Raffalovich, A., La dynastie Krupp. Paris, Guillaumin & C'*, 1903. 8. 20 pag. 

de Seilhac, Léon, Les grèves. Paris, V. Lecoffre, 1903. 8. 256 pag. fr.2.—. 
(Table des matières: Les grèves d’autrefois. Les grèves d'aujourd'hui. — Le coût des 
grèves. — Rapide historique du mouvement gréviste. — Le droit de grève. — La grève 
et les socialistes, La grève générale. — Le scénario d'une grève. — Les différents 
types de grèves, — La conciliation et l'arbitrage. — Les conseils de conciliation.) 

Statistique des grèves et des recours à la conciliation et à l'arbitrage survenus 
pendant l’année 1901. Paris, imprim. nationale, 1902. gr. in-8. XVI—400 pag. (Publi- 
cation du Ministère du commerce, de l'industrie, des postes et des télégraphes, Direction 
du travail.) 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 409 


Annual report, XV", of the Board of mediation and arbitration for nine months 
ended Sept. 30, 1901. Albany, J. B. Lyon printed, 1902. gr. 8. 424 pp. (Publication 
of New York State Department of Labor.) 

Annual report, XIX", of the Bureau of Labor Statistics for the year ended 
Sept. 30, 1901. 2 parts. Albany, J. B. Lyon printed, 1902. gr. 8. IX—640 pp. and 
(part 2). 128 pp. (Contents: The economic condition of organized labor. — The labor 
laws of New York.) [Publieation of New York State Department of Labor.] 

Annual report, I", of the Commissioner of Labor and the XVI" annual report 
on factory inspection, 1901. Albany, J. B. Lyon printed, 1902. gr. 8. 615 pp. (Publi- 
cation of New York State Department of Labor.) 

Annual report, XXVI*, of his Maj—'s Inspectors of explosives, being their annual 
report for the year 1901. London, printed by Darling & Son, 1902. Folio. 230 pp. 
1/.10. ; 

Potter, H. Codman (Bishop of New York), The citizen in his relation to the 
industrial situation. Yale lectures. London, Harper & Brothers, 1902. 8. 248 pp. 
cloth. 4/.6. (Contents: The industrial situation. — The citizen and the working man. 
— The citizen and the capitalist. — The citizen and the consumer, — The citizen and 
the corporation. — The citizen and the State.) 

Atti del Consiglio dell’ industria e del commercio. Sessione ordinaria dell’ anno 
1901. Roma, tip. di Bertero & C., 1902. 8. 50 pp. (Annali dell' industria e del 
commercio.) 

Zaniboni, E., L'Alta Italia industriale e il problemo di Napoli: inchiesta del 
Pungolo con une prefazione di M. Ricciardi e une lettera di F. S. Nitti. Napoli, L. 
Pierro, 1903. 8. XIV—121 pp. 

Kooreman, P. J., De koelie-ordonnantie tot regeling van de rechtsverhouding 
tusschen werkgevers en werklieden in de residentie Oostkust van Sumatra toegelicht. 
Amsterdam, J. H. de Bussy, 1903. gr. 8. 61 blz. fl. 0.25. 


6. Handel und Verkehr. 

Gensel, Julius, Der deutsche Handelstag in seiner Eutwicke- 
lung und Tätigkeit, 1861—1901. Berlin (Carl Heymann) 1902. 184 SS. 
gr. 8°. 

Einer der kundigsten und unbefangensten Führer geleitet uns hier 
durch die Wandel-, um nicht zu sagen „Irr“-Gänge des deutschen 
Handelstages, einer Vereinigung von Handelskorporationen, von deren 
Geschichte uns die deutsche Literatur bisher wenig zu sagen gehabt 
hat. Sonderlich erfreulich kann ihm die Führung nicht immer gewesen 
sein; denn die Reise geht vielfach durch die öden Strecken unerquick- 
licher Geschäftsordnungs-Verhandlungen und nicht eben häufig auf aus- 
sichtsreiche Höhepunkte und durch fruchtbare Gefilde. Aber der Histo- 
riker muß seinen Stoff nehmen, wie er ihn findet und dem einigermaßen 
aufmerksamen Leser dieser Geschichte gewähren schon die Reflexe, 
welche die politische Geschichte der für Deutschland ereignisreichen 
Zeit auf die Arbeiten jener der wirtschaftspolitischen Entwickelung des 
Vaterlandes zugewandten Vereinigung wirkt, nicht geringes Interesse. 

Und das leuchtet aus der Darstellung deutlich hervor und das muß 
ınan dankbar anerkennen, daß der Handelstag in seiner 40-jährigen 
Tätigkeit keine Angelegenheit von wirtschaftspolitischer Bedeutung hat 
vorübergehen lassen, ohne zu ihr Stellung zu nehmen und sie mit 
Kräften allerersten Ranges im wohlverstandeuen öffentlichen Interesse 
zu gestalten und zu fördern, wenn auch seinen Bestrebungen von seiten 
der Staatsgewalt nicht immer die gebührende Würdigung zu teil ge- 
worden ist. Wo das letztere nicht geschah, hat es vielleicht öfter an 
dem gehörigen Nachdruck, an dem dem deutschen Kaufmann nicht nur 


410 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


als einzelnem, sondern auch als Glied einer großen Korporation noch 
allzu sehr fehlenden Selbstgefühl und Rückgrat, als an den guten Gründen, 
mit der der Handelstag seine Sache vertrat, gefehlt. 

Daß der Handelstag um die Schaffung von einheitlichem Maß und 
Gewicht, um die Geldwährung, um die rationelle Regelung unseres 
Bankwesens, um manche Fortschritte des Verkehrswesens, um die Ver- 
sicherungsgesetzgebung, um den Abschluß nützlicher Handelsvertrüge, 
endlich auch um die deutsche Steuer- und Zollpolitik sich große Ver- 
dienste erworben hat, erhellt aus Dr. Gensels lichtvoller und akten- 
mäßiger Darstellung deutlich. Und so wird niemand von den Hunderten, 
ja Tausenden, welche in irgend welcher unmittelbaren oder mittelbaren 
Beziehung zu dieser wichtigen Institution stehen, das schóne Buch un- 
befriedigt aus der Hand legen. Ein alphabetisches Inhaltsverzeichnis, 
in ein Personen- und Sachregister geteilt, erhöht dessen Brauchbarkeit 
wesentlich. 

Wenn der Verf. in einem Schlußworte anerkennt, daß der Handelstag 
dem Bedürfnis des Handels und der Industrie Deutschlands im groben 
und ganzen gut entsprochen, daß er eine treffliche Schule für manche 
im öffentlichen Leben hervorragend wirksame Männer gebildet habe, so 
ist das gewiß ebenso zu unterschreiben wie die letzten Sätze dieses 
Schlußwortes, wo es heißt: : 

„Daß von allen in diesen 40 Jahren gefaßten Beschlüssen nur ein 
verhältnismäßig kleiner Teil von unmittelbarem Erfolg begleitet ge- 
wesen ist, liegt in der Natur der Dinge begründet. Viele von den ge- 
gebenen Anregungen haben sich, wenn auch nicht sofort, doch im Laute 
der Zeit als fruchtbar erwiesen, und von manchen Schritten, die gegen 
den Rat des Handelstages getan worden sind, hat man nachträglich 
erkannt, daß es besser gewesen wäre, dem Rate zu folgen. Jedenfalls 
ist das Ansehn des Handelstages im Steigen begriffen. Und, wenn er 
fortfährt, mit demselben Sinne für das Wohl und die Ehre des Vater- 
landes, mit demselben Verständnis für die wirklichen Bedürfnisse des 
Handels und der Industrie als wichtiger Glieder des gesamten Volks- 
lebens und mit demselben Eifer, aber auch in derselben maßvollen Weise 
weiter zu arbeiten, dann wird er dereinst auch auf die weiteren Zeit- 
abschnitte seiner Tätigkeit mit Befriedigung zurückblicken können“. 


A. Emminghaus. 


Wiedfeldt, Genossenschaftliche Getreideverwertung im König- 
reich Sachsen. Eine agrarpolitische Untersuchung. Berlin (Paul Parey) 
1902. 47 SS. 

Eine der interessantesten Formen der den Landwirten viel gepredigten 
Selbsthilfe ist die genossenschaftliche Verwertung des Getreides, die 
freilich wiederum nicht verfehlt hat, den Widerstand der betroffenen 
Handelskreise hervorzurufen. "Wenn trotzdem in Preuflen und Bayern, 
zum Teil mit, zum Teil ohne staatliche Unterstützung der genossen- 
schaftliche Getreideverkauf einen steigenden Umfang nimmt, so ist das 
im wesentlichen als eine Konsequenz der Genossenschaftsidee zu er- 
klären: die durch die Bezugsgenossenschaften geschädigten Dünger- und 
Futtermittelhändler erklären, das Getreide nicht abnehmen zu wollen, 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 411 


wenn die Landwirte ihnen nıcht wieder Dünger- und Futtermittel ab- 
kaufen, und zwingen so diese selbst, wenn sie die Errungenschaft des 
genossenschaftlichen Bezugs nicht aufgeben wollen, den weiteren Schritt 
zum genossenschaftlichen Verkauf zu tun. Für diese in den klein- 
bäuerlichen Distrikten der Rheinprovinz von dem Referenten öfter be- 
obachtete Tatsache bringt Wiedfeldt zahlreiche Belege (S. 8, 11, 14, 17). 

Sachsen hat auch wie die Rheinprovinz und Schlesien gewagt, zur 
genossenschaftlichen Verarbeitung des Mehls und Getreides überzugehen, 
trotz der gerade in Sachsen so einflußreichen „Mittelstandsbewegung“. 
Die Bedeutung der Wiedfeldtschen Arbeit liegt in dem Nachweis, daß 
dieser Schritt, wie die Erfolge der Müllerei- und Bäckereigenossenschaft 
Oberes Müglitztal beweisen, volkswirtschaftlich berechtigt vom Stand- 
punkt der Produzenten wie der Konsumenten ist. Die Ewartung, daß 
Müllerei und Bäckerei in dem Maße ländliche Nebengewerbe werden 
wie die Brauerei, vielleicht auch wie die Brennerei, wenn auch nicht 
wie die Zuckerfabrikation, erscheint nicht unbegründet. 

Angehängt sind zwei kleinere Aufsätze über ländliche Müllerei- 
und Bäckereigenossenschaften in Frankreich. 


Bonn. W. Wygodzinski. 


Berndt, Wilhelm, Die Konkurrenzverhältnisse auf dem Welt- 
markt. Wien und Leipzig 1901. 

Eine kartographische Darstellung des Welthandels und des Welt- 
verkehrs nach dem Durchschnitt der letzten drei Jahre. Die Haupt- 
karte gibt ein Bild der wichtigsten Verbindungen zu Wasser und zu 
Lande, während sechs Nebenkarten durch verschiedene Farbengebung 
den Anteil der bedeutendsten Staaten am Handel der übrigen Länder 
darstellen. Das Ganze erscheint sehr geeignet für Unterrichtzswecke, 
um einen stärkeren Eindruck der wirtschaftlichen Machtverhältnisse zu 
geben, als bloße Zahlen dies vermögen. Leider sind alle Angaben über 
Ein- und Ausfuhr nur in österreichischer Währung gemacht. 


Halle a. S. . G. Brodnitz. 


Bericht der Auskunftei W. Schimmelpfeng. Januar 1903. Berlin 1903. 8. 24 SS. 

Bericht über den Getreide-, Ocl- und Spiritushandel in Berlin und seine inter- 
nationalen Beziehungen im Jahre 1902 erstattet von Emil Meyer (vereidetem Waren- 
und Produktenmakler) Berlin, Selbstverlag des Verfassers, 1903. Roy.-4. 36 SS. 

Bericht über Handel und Industrie von Berlin nebst einer Uebersicht über die 
Wirksamkeit des Aeltestenkollegiums im Jahre 1902 erstattet von den Aeltesten der 
Kaufmannschaft von Berlin. I. Teil. Berlin, gedruckt bei R. Boll, 1903. gr. Folio. 
108 SS. 

Bericht der Handelskammer in Bremen über das Jahr 1902 erstattet an den 
Kaufmannskonvent. Bremen, Druck von H. M. Hauschild, 1903. gr. 8. 85 SS. 

Bericht der Handelskammer zu Düsseldorf über das Jahr 1902. I. Teil. Düssel- 
dorf, Druck von L. Schwann, 1902, 31. XII. gr. 8. 177 SS. 

Cosack, Konr., Lehrbuch des Handelsrechts. 6. Aufl. Stuttgart, Ferd. Enke, 
1903. gr. 8. X—780 SS. M. 16.—. 

v. Damnitz, G., Die volkswirtschaftliche Bedeutung der Feldbahnen. Mit 2 An- 
hängen : 1. Die Feldbahnanlagen in Muskau; 2. Die Feldbahnanlagen im Bereich der 
Mecklenburg-Pommerschen Schmalspurbahnen. Berlin, E. Ebering, 1902. gr. 8. 
165 SS. M. 4.—. 

Geschäftsbericht über den Betrieb der Main-Neckar-Eisenbahn im Jahre 1901 
Darmstadt, J. C. Herbertsche Hofhuchdruckerei, 1902. Imp.-4. 8 SS. nebst XII Anlagen. 


412 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes, 


Gelpke, R. (Ingen.), Die Ausdehnung der Großschiffahrt auf dem Rhein von 
Straßburg nach Basel. Eine technische und wirtschaftliche Studie zur Förderung der 
Binnenschiffahrtsbestrebungen in der Schweiz. Basel, Hans Lichtenhahn, 1902. 8. 
26 SS. M. 1.—. . 

Gezeitentafeln für das Jahr 1904. Herausgeg. vom Reichsmarineamt. Redak- 
tion: Observatorium zu Wilhelmshaven. Berlin, S. Mittler & Sohn, 1903. 8. XII— 
267 SS. mit 14 Blättern in Steindruck, enthaltend Darstellungen der Gezeitenströmungen 
in der Nordsee, im englischen Kanal und der irischen See. 

Handelsgebräuche. Gutachten, erstattet von der Handelskammer zu Magde- 
burg auf gerichtliche Anfragen vom Jahre 1902. Magdeburg, Druck von E. Baensch jun., 
1903. Imp.-8. 28 SS. 

Handel und Industrie Ungarns im Jahre 1901. Herausgeg. von der Budapester 
Handels- und Gewerbekammer. Budapest, Pester Buchdruckerei, AG., 1902. gr. 8. 
VII—395 SS. 

Jahresbericht der Handelskammer zu Hamburg über das Jahr 1902. Ham- 
burg, Ackermann & Wulff Nachf., 31. XII. 1902. Lex.-8. 40 SS. 

Lage, die, der in der Seeschiffahrt beschäftigten Arbeiter. I. Bd. 2. Abteilung. 
Leipzig, Duneker & Humblot, 1903. gr. 8. 399 SS. M. 8,80. (Inhalt: Die wirtschaft- 
liche und technische Entwickelung der Seeschiffahrt von der Mitte des 19. Jahrhunderts 
bis auf die Gegenwart. — Entwickelung des Seehandels und seines Rechts, von (Prof.) 
Pappenheim. — Die Verhältnisse in den Emshäfen , von (Navigationslehrer Spillmann) 
in der Seefischerei von Gestemünde (Hafenmeister Duge), in Rostock und Wismar (D' 
Asmus), in Stettin Ur Meister), in den west- und ostpreußischen Häfen (Kapitän a. D. 
Dóbler) sowie in England (Henry W. Macrosty) und Frankreich (L. de Seilhac). [Schriften 
des Vereins für Sozialpolitik. Bd. 103.] 

Lenschau, Thom., Das Weltkabelnetz. Halle a/S., Gebauer-Schwetschke, 1903. 
gr. 8. 74 SS. mit Karte, M. 1,50. (A. u. d. T.: Angewandte Geographie. Hefte zur 
Verbreitung geographischer Kenntnisse in ihrer Beziehung zu Kultur und Wirtschafts- 
leben, Serie I, Heft 1.) 

Liste, amtliche, der deutschen Seeschiffe mit Unterscheidungssignalen, als Anhang 
zum internation. Signalbuche. Berlin, G. Reimer, 1903. gr. 8. 112 SS. kart. M. 1,60. 

Prinzhorn, Karl, Ueber die finanzielle Führung kaufmännischer Geschäfte und 
Unternehmungen. Berlin, H. Spamer, 1903. 8. 83 SS., geb. M. 1,50. 

Sehiffahrt, die, der deutschen Ströme. Untersuchungen über deren Abgaben- 
wesen, Regulierungskosten und Verkehrsverhültnisse. I. Bd. Leipzig, Duncker & Hum- 
blot, 1903. gr. 8. VIII—341 SS. M. 8,20. (Inhalt: Entwickelung des Abgabewesens 
und der Regulierungskosten der Elbschiffahrt 1871 bis 1900, von Geo. Bindewald. (Mit 
1 Karte.) -— Die Bedeutung der Wasserstraßen im östlichen Deutschland für den Trans- 
port landwirtschaftlicher Massengüter, von O. G. Giersberg. (Mit 1 graph. Darstellung.) 
— Die RE von Gust. Seibt. (Schriften des Vereins für Sozialpolitik. 
Bd. 100. 

Schriften des kaufmännischen Hilfsvereins für weibliche Angestellte zu Berlin. 
N' 3. Berlin, Verlag des Vereins, C. Seydelstr. 25, 1903. gr. 8. 24 SS. M. 0,15. 
(Inhalt: Fortbildungsschulzwang für jugendlicbe weibliche Handlungsgehilfen und 
Lehrlinge.) 

Verwaltungsbericht der königl. Württembergischen Verkehrsanstalten für das 
Etatsjahr 1901 (1. IV. 1901 bis 31. III. 1902). Stuttgart, J. B. Metzlersche Buchhdl., 
1903. Lex.-8. VI—400 SS. mit Karte. (Herausgeg. von dem kgl. Ministerium der aus- 
wärtigen Angelegenheiten, Abteilung für die Verkehrsanstalten.) 


Congrès international du commerce et de l'industrie tenu à Ostende du 26 au 
30 août 1902. Compte rendu complet des discussions, travaux et mémoires publié sous 
la direction de M. Jul. Hayem (secrétaire général adjoint) Paris, Guillaumin & C", 
1902. gr. in-8. 488 pag. fr. 10.—. 

Delaunay, P., Des ports francs. Y a-t-il intérêt à créer en France des ports 
franes? Paris, Giard & Briere, 1902. 8. 134 pag. 

Haguet, H. (directeur du „Journal des transports"), Le rachat des chemins de 
fer suisses et ses conséquences. 2* édition. Par., Béranger, 1903. 8. 128 pag. fr. 3.—. 

Yver, Georg., Le commerce et les marchands dans l'Italie méridionaleau XIII* 
& au XIV* siecle. Paris, Alb. Fontemoing, 1903. gr. in-8. VIII—437 pag. fr. 12.—. 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes 413 


(Table des chapitres: I'* partie. Conditions générales et manifestations de la vie écono- 


mique: 1. La politique commerciale des Angevins. — 2. Conditions générales du com- 
merce A l’époque angevine: (Les impôts; Les monnaies; Les poids et les mésures; 
l'usure.) — 3. La circulation des marchandises; La sécurité publique; Les routes; Les 
foires. — 4. L'industrie. — 5. L'agrieulture et le commerce des grains. — 6. La vie 
maritime. — II* partie. Les marchands: 1. Les marchands régnicoles. — 2. Nations et 
consuls. — 3. Marchands étrangers fréquentant la royaume de Sicile. — 4. Les Venetiens 


dans l'Italie méridionale. — 5. La conquéte florentine. — 6. Les opérations des compagnies 
florentines dans le royaume de Sicile. — etc. 

Foll, Arth., The failure of free trade as proved by the”foreign commerce of 
England. London, Drane, 1903. 12. 61 pp. 1/.—. 

Tables showing the progress of merchant shipping in the United Kingdom and 
the principal maritime countries. London, prindet by Wyman Sons, 1902. gr. Folio. 
87 pp. /.0,10. 

Tables relating to the trade of British India with British possessions and foreign 
countries, rg to 1901/02. London, printed by Wyman & Sons, 1903. Folio. 
119 pp. 1/.4. 

Thompson, Gordon, The canal system of England: its growth and present 
condition, with particular reference to the cheap carriage of goods. London, Fisher 
Unwin. s. 1. (1903). 12. 70—IV pp. 1/.6. 

Young, T. M., Manchester and the Atlantic traffic. London & Manchester, Sher- 
ratt & Hughes, 1902. Lex.-8. 84 pp. with a plan and illustrations. 3/.—. (Contents: 
Preface. — Canada. — New York. — Philadelphia. — Boston. — The cotton ports. — 
Marine insurance in the Manchester-Atlantie trade. — Jamaica.) 

Commissione centrale dei valori per le dogane. Atti per la sessione 1901—02. 
Roma, tipogr. di G. Bertero & C., 1903. 8. 414 pp. l. 4.—. (Annali dell’ industria e 
del commercio, 1902.) 

Magrini, Effren., I nuovi sistemi di ferrovie in Europa: ferrovie sotterrance, 
ferrovie ad una rotaia. Torino, Roux & Viarengo, 1903. 8. 99 pp. 1. 2.—. 

Handboek voor cultuur- en handelsondernemingen in Nederlandsch-Indre. XV* 
jaarg., 1903. Amsterdam, J. H. de Bussy, 1903. gr. 8. 12 en 1182 blz. fl. 8.—. 


7. Finanzwesen. 

Fuisting, B. (Wirkl. GORegR.), Die Einkommensbesteuerung der Zukunft in 
Anknüpfung an das preußische Einkommensteuergesetz. Berlin, C. Heymann, 1903. 
gr. 8. 276 SS. M. 6.—. 

Hoffmann, Albr. (FinzR. im k. sächs. Finanzministerium), Deutsches Zollrecht. 
I. Band: Geschichte des deutschen Zollrechts. Leipzig, Roßberg, 1902. gr. 8. XVI— 
456 SS. M. 11.—. 

Rostowzew, M., Geschichte der Staatspacht in der römischen Kaiserzeit bis 
Diokletian. Leipzig, Dieterich, 1902. gr. 8. 154 SS. M. 5,40 (aus „Philologus‘‘). 


Budget des recettes et des dépenses (du Département de la Seine) exercice 1902. 
Paris, imprim. nouvelle (association ouvrière) 1902. Roy. in-4. 221 pag. 

Dessart, E., Traité de l'impót foncier contenant l’exposé et le commentaire de 
la législation des règlements, de la jurisprudence et de la doctrine administrative sur 
la matière. Paris, Guillaumin & Ce, 1902. 8. 629 pag. fr. 7,50. 

Régime fiscal des valeurs mobilières en Europe. Tome II. Paris, impr. natio- 
nale, 1902. gr. in-8. 552 pag. 

Bollettino di legislazione e statistica doganale e commerciale. Anno XIX (Gennaio- 
Dicembre). Roma, stabilimento Calzone-Villa, 1902. Lex. in-8. (Pubblicazione del 
Ministero delle finanze, Direzione generale delle gabelle.) 

Libelli, Marsili, Per l'imposta progressiva. Firenze, tip. S. Giuseppe, 1905. 
gr. 8. 80 pp. 

Nina, L., L'imposta di successione nella scienza, nella storia el nel diritto ita- 
liano. Torino, Unione tip editrice, 1902. 8. 275 pp. 

Pich, Carlo (avvoc.), Le imposte personali e reali nel sistema delle imposte 
dirette, loro differenze principali e sonseguenze giuridiche, economiche e sociali di tali 
differenze. Torino, tip. eredi Botta, 1902. 8. 202 pp. 

Plebano, Achille, Storia della finanza Italiana dalla costituzione del Regno 


414 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


alla fine del socolo XIX. Volume III ed ultimo dal 1888—89 al 1900—01. Torino- 
Roma, Roux & Viarengo, 1902. gr. in-8. 590 pp. 1. 6.—. 

Relazione del Direttore generale alla Commissione di vigilanza sul rendiconto 
dell’ amministrazione del debito pubblico per l’esercizio dal 1° luglio 1901 al 30 giugno 
1902. Roma, tipogr. di Bertero & C., 1902. Imp. in-4. 286 pp. (Pubblicazione del 
Ministero del tesoro, Direzione generale del debito pubblico.) 

Gil y Pablos, Franc., Estudios sobre el credito público y la deuda pública 
española. Madrid, 1900. 


8. Geld-, Bank-, Kredit- und Versicherungswesen. 

Manes, Alfred, Dr. phil et jur, Die Haftpflichtversicherung, 
ihre Geschichte wirtschaftliche Bedeutung und Technik, insbesondere 
in Deutschland. Leipzig (C. L. Hirschfeld) 1902. 

Die Idee der Versicherung und die Erkenntnis von der hohen wirt- 
schaftlichen Bedeutung derselben hat sich im Laufe des 19. Jahrhunderts 
immer kräftiger Bahn gebrochen. Insbesondere aber bildet der Ausgang 
desselben für Theorie und Praxis des Versicherungswesens in Deutsch- 
land eine wichtige Epoche. Die Einführung der öffentlich-rechtlichen 
Arbeiterversicherung hat das Versicherungsprinzip trotz des ursprünglich 
bei den Gegnern aller Sozialreform vorhandenen offenen und latenten 
Widerstandes gegen diese Art der Fürsorge in weiten Kreisen volks- 
tümlich gemacht; sie hat indirekt auch zum weiteren Ausbau des privaten 
Versicherungswesens beigetragen und nach dieser Seite hin außerordent- 
lich befruchtend gewirkt. Die private Unfallversicherung und im engen 
Zusammenhang damit auch die Haftpflichtversicherung, die uns hier 
beschäftigt, haben ihre Entwickelung direkt im Anschluß an die Arbeiter- 
versicherungsgesetzgebung des Reiches genommen.  Allenthalben be- 
schäftigen sich spekulative Köpfe damit, die Versicherung für alle mög- 
lichen und unmóglichen Fälle zur Einführung zu bringen — zunächst 
ein Beweis dafür, daß man mit einem wachsenden Verständnis der 
breiten Schichten der Bevölkerung für die segensreiche Wirkung des 
Versicherungsprinzipes rechnet. Durch das Reichsgesetz vom 12. Mai 
1901, betr. die Beaufsichtigung der privaten Versicherungsunternehmungen, 
dem in Bälde ein Reichsgesetz folgen wird, welches einheitliche Grund- 
sátze für die Regelung des Versicherungsvertrages schaffen soll, ist end- 
lich die in Art. 4 der Reichsverfassung vorgesehene Betätigung der 
Gesetzgebung auf diesem Gebiete inauguriert worden, — ein mächtiger 
Anstoß dazu, daß sich weitere Kreise, Theoretiker wie Praktiker, 
nicht nur vom geschäftlichen, sondern auch vom wissenschaftlichen 
Standpunkte aus mit dieser vielverzweigten Materie näher befassen. 
In diesem inneren Zusammenhange beginnen sich die Versicherungs- 
wissenschaften als ein besonderes Spezialgebiet aus der Nationalökonomie 
herauszuheben und gerade auch in dieser Beziehung hat der Ausgang 
des 19. Jahrhunderts für das Versicherungswesen in Deutschland eine 
epochale Bedeutung. Während bisher auf den Hochschulen keine Ge- 
legenheit war, Versicherungswissenschaften im Zusammenhange zu 
studieren, vielmehr der Nationalökonom nur einiges über die volkswirt- 
schaftlichen Funktionen des Versicherungswesens in den allgemeinen 
Vorlesungen zu hören bekam, der Jurist die Lehre vom Versicherungs- 
vertrage vorgetragen erhielt und der Mathematiker in kurzen An- 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 415 


deutungen hörte, daß die Prinzipien der Wahrscheinlichkeits- und Aus- 
gleichungsrechnung auch in der mathematischen Statistik und in der 
Versicherungswissenschaft zur Anwendung gelangen könnten, werden 
nun diese Disziplinen: Versicherungsökonomik, Versicherungsrecht, Ver- 
sicherungsrechnung (und vielleicht später noch andere, wie Versicherungs- 
medizin) an verschiedenen Hochschulen im Zusammenhange vorgetragen 
für solche Studierende, welche später praktisch im Versicherungswesen 
tätig sein wollen, oder infolge ihres sonstigen Berufes mit dem Ver- 
sicherungswesen in Berührung kommen. Die erste diesem Zwecke 
dienende Einrichtung war das unter Lexis’ Leitung stehende königliche 
Seminar für Versicherungswissenschaften an der Universität Göttingen, 
in welchem auch der Autor des hier angezeigten Buches seine Aus- 
bildung genossen hat. Wir verdanken ihm schon manche wertvollen 
Arbeiten aus dem Gebiete des Versicherungswesens. Die Monographie 
über Haftpflichtversicherung behandelt einen der jüngsten, zugleich aber 
einen der interessantesten und schwierigsten Zweige der Privatver- 
sicherung. Bisher hatte weder die inländische noch ausländische Literatur 
eine nur einigermaßen erschöpfende Darstellung dieses Versicherungs- 
zweiges aufzuweisen. Es ist ein großes Verdienst des Verfassers, auf 
Grund eifrig gesammelten und nicht allgemein zugänglichen Materiales 
eine genaue Beschreibung der Praxis des Haftpflichtversicherungs- 
geschäftes geliefert und die theoretischen Unterlagen derselben eingehend 
untersucht zu haben. Diese theoretischen Untersuchungen gaben dem 
Verfasser Gelegenheit, an zahlreichen Stellen auch auf allgemeine Lehren 
der Versicherung näher einzugehen, und bekunden durchweg ein ver- 
ständiges Urteil. Wie der Titel des Buches besagt, ist vorwiegend die 
ökonomische Seite der Haftpflichtversicherung berücksichtigt; auf die 
Juristische Seite derselben ist um deswillen vorläufig nicht näher ein- 
gegangen, weil das in Aussicht stehende Reichsgesetz über den Ver- 
sicherungsvertrag es zweckmäßig erscheinen ließ, diese Materie einer 
besonderen Darstellung vorzubehalten. 

Die ältere Haftpflichtversicherung umfaßte bekanntlich nur die 
Ersatzpflicht des Betriebsunternehmers auf Grund des Reichshaftpflicht- 
gesetzes vom Jahre 1871; sie trat nur ein, wenn ein ersatzpflichtiger 
Unfall vorlag, für dessen Folge der Betriebsunternehmer einzutreten 
hatte. Sie wurde entweder streng getrennt von der Unfallversicherung 
betrieben, oder aber in mehr oder minder engem Zusammenhang mit 
einer Kollektiv-Unfallversicherung. Der Fehler des Reichshaftpflicht- 
versicherungsgesetzes war vor allem darin gelegen, daß dem Verunglückten 
die Beweislast für das Verschulden des Betriebsunternehmers oder seiner 
Organe zugeschoben war, eine Bestimmung, die zu zahllosen Prozessen 
und Mißstimmungen führte und im Falle der Unvermöglichkeit eines 
nicht versicherten Betriebsunternehmers die Verwirklichung des eigent- 
liches Zweckes des Gesetzes vereitelte. Die private Haftpflichtver- 
sicherung in ihrer älteren Form genügte daher nicht. Vom Jahre 1884 
ab sahen sich dann die Haftpflichtversicherungsgesellschaften veranlaßt, 
mit der reichsgesetzlichen Unfallversicherung zu rechnen, welche die 
Sicherstellung der Arbeiter gegen die wirtschaftlichen Folgen der bei 


416 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


der Arbeit eintretenden Unfälle in möglichst weitem Umfange bezweckte. 
Es war fraglich geworden, ob neben der reichsgesetzlichen Unfallver- 
sicherung noch Raum für die private Haftpflichtversicherung vorhanden 
war; wie auf dem Gebiete der Privatunfallversicherung sich Reformen 
vollzogen (indem man an Stelle der Kollektivunfallversicherung die 
Einzelunfallversicherung einführte), so war aber auch auf dem Gebiete 
der Haftpflichtversicherung schließlich die Folge der reichsgesetzlichen 
Versicherung die, daß die Privatgesellschaften sich einen Ausweg suchten 
und der privaten Haftpflichtversicherung neue Aufgaben stellten. Zu- 
nächst faßte man die Versicherung der sogenannten Haftpflichtreste ins 
Auge; da, wo die staatliche Unfallversicherung Lücken ließ (insofern 
durchaus nicht alle Angestellten versicherungspflichtig geworden waren, 
ebensowenig die betriebsfremden Personen), setzte die Privatversicherung 
ein. Daneben aber keimte der fruchtbare Gedanke auf Erweiterung des 
Gebietes. Der Begriff der Haftpflicht und der Haftpflichtversicherung 
wurde erweitert; nicht nur die Schadensersatzpflicht der Betriebsunter- 
nehmer. wird jetzt versichert, sondern auch die übrigen Kreise aller 
Berufsarten und Stände. Außer den Unfällen werden in der weiteren 
Entwickelung auch Gesundheitsschüden, innere Erkrankungen, Sach- 
schäden, Vermögensbeschädigungen im allgemeinen, die auf Grund einer 
Hattpflichtbestimmung zu ersetzen sind, in die Versicherung einbezogen. 
Diese Entwickelung des Haftpflichtversicherungsgeschäftes ist unter 
sorgfältiger Benutzung der Literatur und auf Grund der eingehenden 
Studien des Verfassers im ersten Kapitel des theoretischen Teils aus- 
führlich beschrieben; im zweiten Kapitel wird von der Stellung der 
Haftpflichtversicherung in der Volkswirtschaft, im dritten von den 
Unternehmungsformen gehandelt. Im speziellen und praktischen Teil 
werden die einzelnen Haftpflichtversicherungsarten näher beschrieben, 
als welche zu benennen sind: 

A. Die Versicherungen gegen Haftpflicht aus körperlichen Unfällen, 
inneren Erkrankungen und Sachbeschädigungen (allgemeine private, 
sportliche Haftpflichtversicherung, solche für Haus- und Grundbesitzer, 
Industrielle, Kaufleute und Handwerker, für das Transportgewerbe, für 
Hotels, Wirtschaften, Theater- und Vergnügungsetablissements, -— die 
allgemeine landwirtschaftliche Haftpflichtversicherung, solche für Bienen- 
züchter, — die Haftpflichtversicherung der Aerzte und Unternehmer von 
Heilanstalten, der Tierärzte, Hufschmiede, der Apotheker, Drogisten, 
Chemiker, — die Lehrerhaftpflichtversicherung, — die Versicherung von 
Vereinen, Korporationen, Gemeinden, Kommunalverbänden, Kirchen- 
gemeinden u. s. w.); B. Die Versicherung gegen Haftpflicht aus Ver- 
mögensschädigung (durch Amtshandlungen von Beamten, Rechtsanwälten 
und Notaren, — Versicherung von Beamtenkollegien, — die Bankiers- 
haftpflichtversicherung u. s. w.). 

Durch diesen beschreibenden II. Teil wird das Werkchen vor- 
nehmlich auch ein Handbuch für die Praxis; wir lernen hier die 
zahlreichen Spezialitäten eines Versicherungszweiges näher kennen, 
welcher seit Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches mit seinen ver- 
schärften Haftpflichtbestimmungen — welche dem sozialpolitischen 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes, 417 


Charakter der neueren Gesetzgebung entsprechen — entschieden an 
Bedeutung erheblich gewonnen hat. Referent hält die Darstellung des 
geschäftlichen Betriebes in seinen Einzelheiten für besonders verdienst- 
voll und wichtig für den Theoretiker wie den Praktiker. Wenn auf 
irgend einem Gebiete, kann gerade zumeist auf dem des Versicherungs- 
wesens eine theoretische Behandlung des Gegenstandes nur stattfinden 
unter der Voraussetzung einer genauen Kenntnis der Praxis, und die 
Praxis sich in richtigen Bahnen nur weiter entwickeln, wenn sie Nutzen 
aus der theoretischen Kritik bestehender Einrichtungen zieht. In letz- 
terer Beziehung war der Verfasser in seinem beschreibenden Teile 
vielleicht etwas zu zurückhaltend; zum Teil mit Recht, da die moderne 
Haftpflichtversicherung noch am Beginn ihrer Laufbahn steht und sich 
ein endgültiges Urteil über die Berechtigung einzelner Spezialitäten — 
für welche der Verfasser S. 266 noch andere, zum Teil weithergeholte 
Beispiele aufzählt — über die richtige Bemessung der Prämiensätze und 
andere Fragen heute noch nicht bilden läßt. Referent hätte aber jeden- 
falls gewünscht, daß der Verfasser gegenüber den neueren Versuchen, 
lebenslängliche Haftpflichtversicherung gegen einmalige Prämie zu ge- 
währen, energisch Stellung genommen hätte. Auch möchte der Unter- 
zeichnete aus Gründen, deren Entwickelung hier zu weit führen würde, 
sich durchaus nicht auf den Standpunkt des Verfassers stellen, welcher 
von dem der Haftpflichtversicherung zu Grunde liegenden Gedanken 
eine Revolution im ganzen Versicherungswesen erhofft, indem man viel- 
leicht dazu kommen wird, bei allen Versicherungen das Prinzip fallen 
zu lassen, daß für Fahrlässigkeit seitens der Versicherer nicht gehaftet 
wird. Der Verfasser hält die Scheu vor der Einbeziehung aller fahrlässig 
herbeigeführten Schüden in allen anderen Versicherungen für eine grolle 
Inkonsequenz (S. 267), namentlich in Anbetracht des Umstandes, daß 
die Haftpflichtversicherung als die Versicherung gegen Schäden aus 
eigener Fahrlässigkeit mit Erfolg betrieben wird und überall gesetzlich 
genehmigt ist. 

Kein Zweifel: die ganze Entwickelung des Versicherungswesens 
drängt zu einer immer liberaleren Fassung und Auslegung der Ver- 
sicherungsbedingungen, welche die Verpflichtung des Versicherers in 
tunlichst umfassender Weise garantieren — nie und nimmer aber wird, 
solange der private Versicherungsvertrag das Versicherungsgeschäft im 
großen beherrscht, dazu übergegangen werden können, daß die zu 
Gunsten des Versicherers getroffenen Kautelen alle aufgegeben werden. 
Nach dem ganzen Tenor seines Werkes stellt sich der Verfasser als 
ein aufrichtiger Freund der Privatversicherung dar; hätte er den am 
Schlusse hingeworfenen Gedanken weiter ausgesponnen, so hätte er 
sich sagen müssen, daß er in letzter Konsequenz der bedingungslosen 
Zwangsversicherung das Wort redet. Denn nur bei öffentlich-recht- 
lichen Institutionen läßt sich jener Gedanke voll in die Tat umsetzen. 
Nahe mit dieser Auffassung berühren sich übrigens die Ausführungen 
des Verfassers an der Stelle, wo er von der Einführung der Haftpflicht- 
versicherung bei den Berufsgenossenschaften spricht, welche er in der 
durch das Unfallversicherungsgesetz vom Jahre 1900 festgesetzten Form 

Dritte Folge Bà, XXV (LXXX). 21 


418 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


entschieden mißbilligt (S. 101 ff) Losgelöst von der oben berührten 
Frage, kann man dem Verfasser nur beistimmen, wenn er am Schlusse 
seiner Ausführungen über die Verfehltheit der jetzigen gesetzlichen Be- 
stimmungen wegen der berufsgenossenschaftlichen Haftpflichtversicherung, 
wie sie an der Hand der Entstehungsgeschichte des $ 23 genannten 
Gesetzes dargetan wird, entweder die Beseitigung der Regreßpflicht bei 
den Berufsgenossenschaften fordert, da ein drohendes Strafverfahren 
genügende Sicherheit gegen Fahrlässigkeit biete, oder aber, wenn die 
Beseitigung Bedenken errege, Kollektivhaftpflichtversicherung großer 
Unternehmerverbände bei einer Privatgesellschaft. Tatsächlich haben 
sich ja inzwischen bereits bei solchen Genossenschaften, welche sich das 
Recht, ihre Angehörigen gegen Haftpflichtfälle aller Art zu versichern, 
zu nutze gemacht haben, die sonderbarsten Konsequenzen ergeben: in 
Wahrung ihrer ursprünglichen Aufgabe hat die Genossenschaft zu be- 
weisen, daß der Genosse durch Fahrlässigkeit den Schaden verursacht 
hat und ersatzpflichtig ist; als Haftpflichtversicherer muß sie nachzuweisen 
bestrebt sein, daß der Genosse nicht haftpflichtig ist. . 

Daß der Verfasser bei seinem Versuche, eine auf alle "Fälle der 
Haftpflichtversicherung passende Definition derselben zu geben (S. 85), 
insbesondere auf die ökonomischen Grundlagen der Versicherung ge- 
nügend Wert legt, ist ganz besonders anzuerkennen. Wegen der Einzel- 
heiten hierzu und der trefflichen Ausführungen über das altruistische 
Moment der Haftpflichtversicherung, ihre Verwandtschaft mit der Rück- 
versicherung und ihre Stellung gegenüber der Personen- und Sach- 
versicherung mag auf das Studium des Buches selbst verwiesen werden. 
Dieses sei insbesondere auch den Gegnern der Haftpflichtversicherung 
empfohlen, welche vielfach in dieser eine im Widerspruch mit den guten 
Sitten stehende, vom volkswirtschaftlichen Standpunkte aus ungerecht- 
fertigte Einrichtung erblicken, die gar nicht in den Rahmen der Asse- 
kuranz passe. Vielleicht bekehrt sie die von Manes mit warmer Ueber- 
zeugung vorgetragene Auffassung von der hohen volkswirtschaftlichen 
Bedeutung dieses Versicherungszweiges. Und schließlich möchten wir 
wünschen, daß die vorliegende fleißige Arbeit dazu beitragen möge, bei 
den Praktikern der Versicherung die Ueberzeugung zu befestigen, daß 
die Pflege und Unterstützung gründlicher wissenschaftlicher Forschungen 
auf ihrem Arbeitsgebiete dem Versicherungsgeschäfte nur zum Vorteil 
gereichen kann. 


Frankfurt a. M. H. Bleicher. 


Veröffentlichungen des deutschen Vereins für Ver- 
sicherungswissenschaft. Herausgegeben von Dr. phil. u. jur. 
Alfred Manes, Generalsekretär des Vereins. Heft 1: Bericht über die 
am 12. Dez. 1902 abgehaltene wissenschaftliche Mitgliederversammlung 
des Vereins. Berlin (E. S. Mittler und Sohn) 1903 4 M. 

Der deutsche Verein für Versicherungswissenschaft beabsichtigt 
nunmehr neben seiner regelmäßig erscheinenden „Zeitschrift für die 
gesamte Versicherungswissenschaft“ in zwangloser Reihenfolge noch be- 
sondere „Veröffentlichungen“ herauszugeben, welche neben Versammlungs- 


AL. 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 419 


berichten insbesondere solche versicherungwissenschaftliche Arbeiten 
dauernden und erheblichen Wertes, die ihrem Umfange nach nicht in den 
Rahmen des Vereinsorganes passen, den Mitgliedern des Vereins und 
anderen Interessenten zugänglich machen sollen. Das 1. Heft enthält den 
Bericht über die am 12. Dez. 1902 in Berlin stattgehabte Mitgliederversamm- 
lung, durch welche der Verein, dessen einzige Tätigkeit seit 3-jährigem 
Bestehen die Herausgabe des Vereinsorganes gewesen war, zu neuem 
Leben erweckt worden ist. Schon der wissenschaftliche Inhalt dieser 
ersten Veröffentlichung ist ein reicher und läßt hoffen, daß der Verein 
seine Aufgabe, wie sie der neue Geschäftsführer in seiner von warmer 
Begeisterung für sein Amt getragenen Programmrede entwickelt hat, 
lösen wird. Diese Aufgabe ist: die Brücke zu schlagen zwischen Theorie 
und Praxis, die Aussprache herbeizuführen zwischen allen, die sich beruf- 
lich mit dem Versicherungswesen und der im Entstehen begriffenen Ver- 
sicherungswissenschaft befassen — zwischen dem mit der Aufsicht be- 
trauten Staatsbeamten, dem ausübenden Praktiker und dem Gelehrten — 
und endlich beizutragen zu einer weiteren Popularisierung des Versiche- 
rungswesens zu Nutz und Frommen der ganzen Volkswirtschaft. Möge 
speziell in den an jenem Versammlungstage konstituierten drei Fach- 
abteilungen für Versicherungsmathematik, für Versicherungsrecht und 
-Wirtschaft und für Versicherungsmedizin bald reiches Leben erblühen! 

Die erste größere Abhandlung des angezeigten Heftes gibt den 
Vortrag von RR. Dr. Pietsch, Zur Frage der Invaliditäts- 
versicherung wieder, in welchem von den Ergebnissen der im Reichs- 
versicherungsamte angestellten Untersuchungen über das Ausscheiden 
der Empfänger reichsgesetzlicher Inivalidenrenten aus dem Rentengenuß 
berichtet wird. Die Konstruktion einer solchen Ausscheideordnung, 
speziell die Berechnung von Invalidensterblichkeitstafeln ist 
auch für die Privatversicherung von eminenter Wichtigkeit; die hierzu 
von Direktor Gerecke (Berlin) gemachten Vorschläge sollen in der 
Fachabteilung für Versicherungsmathematik geprüft werden. Referent 
kann nur wünschen, daß die Frage auf breitester Grundlage in Angriff 
genommen wird; insbesondere kann wohl kein Zweifel darüber sein — 
worüber die Ansichten der Redner in der Versammlung allerdings aus- 
einandergingen — daß auch das Material bezüglich Unfall-Invalidität 
berücksichtigt, dabei allerdings getrennt behandelt werden muß. 

Von den beiden Referaten über die Aenderung der gesetz- 
lichen Haftpflicht der Reeder aus dem Frachtvertrage 
schlägt das eine (von Dr. Gütscho w-Hamburg) den Weg internationaler 
Vereinbarung, das von Generalsekretär Ulrich erstattete den von der 
Versammlung gutgeheißenen Weg nationaler Gesetzgebung vor, um unter 
anderem zu erzielen, daß solche Vertragsbestimmungen nichtig sind, welche 
die Haftung des Verfrachters für ordnungsgemäße Fürsorge für die 
Seetüchtigkeit und Ausrüstung des Schiffers und die ordnungsgemäße Be- 
handlung der Güter aufheben oder beschränken. — Die Referate von 
Dr. Goldschmidt (Gotha) und Direktor Dr. Jost (Magdeburg) be- 
handeln die Abgangsvergütung in der Lebensversicherung, 
bezüglich deren anerkannt wird, daß eine Steigerung des absoluten Aus- 


27* 


420 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


falles mit der Versicherungsdauer im Interesse der Sicherheit notwendig 
ist und keine Veranlassung besteht, die bei deutschen Gesellschaften 
geübte Praxis (Berechnung des Rückkaufspreises als eines mit der Ver- 
sicherungsdauer steigenden Wertes in Prozenten des Deckungskapitales) 
zu verlassen. Der in der Diskussion gestellte und der Abteilung für 
Versicherungsmathematik überwiesene Antrag, daß die im Vereine ver- 
tretenen Lebensversicherungsgesellschaften baldmöglichst eine Statistik 
aufnehmen sollen über den Verlauf der Sterblichkeit unter den in den 
letzten Jahren durch Rückkauf ausgetretenen Todesfallversicherten — 
um die Wirkung der Selektion beurteilen zu können — erscheint 
dem Referenten praktisch unausführbar, wenn man einwandfreies Material 
erhalten will. 

In interessanten Ausführungen berichtet der Meteorologe Dr. Süring 
(Berlin) über das Wetterschießen zum Zwecke der Verhütung 
von Hagelfällen, für welches sich praktische Erfolge nicht nach- 
weisen lassen und welches, wie der Vorsitzende, Generaldirektor Dr. Hahn 
(Magdeburg), darlegt, im großen Stile durchgeführt, weit größere finanzielle 
Aufwendungen erheischen würde, als an Prämien für den gemeinsamen 
Versicherungsschutz auszugeben sind, — Man sieht, das besprochene 
Heft bietet dem Versicherungsfachmann eine Fülle von Anregungen; 
die rasche Fertigstellung desselben verdient Anerkennung. 

Frankfurt a. M. H. Bleicher. 


Baumgartner, Eug., Philosophische Betrachtungen zum Bank- und Börsenwesen. 
Graz, Leuscher & Lubensky, 1903. gr. 8. 173 SS. M. 3.—. (Inhalt: Die Moral im 
Bank- und Bórsenwesen. — Die Zusammenbruchstheorie des Marxismus und die Banken. 
— Preis- und Werttheorie im Bank- und Bórsenwesen.) 

Beigel, R., Handbuch des Bank- und Bórsenwesens. Ein Nachschlagebuch für 
praktische Kaufleute, Juristen und Handelsschulen. Leipzig, B. F. Voigt, 1903. gr. 8. 
VIII—415 SS. M.-6.—. 

Geschäftsbericht der Bayerischen Landesvichversicherungsanstalt für das Ver- 
sicherungsjahr 1901/02. München, Druck von C. Gerber, 1902. 4. 10 SS. nebst 
1 graph. Darstellung. 

Geschäftsübersicht der Landesversicherungsanstalt Königreich Sachsen für das 
Jahr 1901. Dresden, Druck von W. Baensch, 1902. 4. 32 SS. u. Tabelle in Imp.-Folio. 

Heymann, Wilh. (Prakt. Arzt), Praktische Vorschläge zur Richtigstellung der 
deutschen Krankenkassenstatistik. Für den Verband der Aerzte Deutschlands zur Wah- 
rung ihrer wirtschaftlichen Interessen. Leipzig, Otto Regel, o. J. (November 1902). Folio. 
M. 2,25. 

Jahrbuch des allgemeinen Verbandes der deutschen landwirtschaftlichen Ge- 
nossenschaften für 1901. VIII. Jahrg. Darmstadt, Verlag des allgemeinen Verbandes, 
1902. gr. 4 301 SS. (Aus dem Inhalt: Statistik über die 1900er Geschäftsergebnisse 
von 6558 Verbandsgenossenschaften.) 

Kampffmeyer, Paul, Die Mission der deutschen Krankenkassen auf dem Ge- 
biete der öffentlichen Gesundheitspflege. Programmatische Gedanken zur Reform des 
Krankenversicherungsgesetzes. Frankfurt a. M., Verlag der sozialpolitischen Rundschau, 
1903. gr. 8 52 SS. M. 1,25. 

Lange, Ernst, Die finanziellen Grundlagen der deutschen Unfallversicherung 
und ihre rationelle Umgestaltung. Berlin-Grunewald, A. Troschel, 1903. gr. 8. 

Pommersche land- und forstwirtschaftliche Berufsgenossenschaft. Berichtsjahr 
1901. o. O. u. J. (Stettin 1902). 4. 19 SS. 

Spangenthal, S., Die Geschichte der Berliner Börse. (Bd. I von 1805 bis 1870 
reichend.) Berlin, Spangenthals Verlag, 1903. gr. 8. 151 SS. geb. M. 4.—. (Ein 
II. Bd., der die Zeit von 1871 bis zur Gegenwart behandeln soll, wird, nach der Ein- 
leitung, später erscheinen.) | 

Versicherung, die, der Mutterschaft. Aus dem Französischen von L. Frank, 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 49] 


Dr. Keifer und Louis Maingie übers. von Nina Carnegie Mardon. Leipzig, H. See- 
mann Nachfolger, 1902. 8. XV—101 SS. M. 2.—. 

Versicherungsunternehmungen, die privaten, in den im Reichsrate ver- 
tretenen Königreichen und Ländern im Jahre 1900. Wien, k. k. Hof- und Staats- 
druckerei, 1902. Roy.-4. 352 SS. 

Verwaltungsbericht der Reichsbank für das Jahr 1902. (Vorgelegt in der 
Generalversammlung am 6. März 1903.) Berlin, gedruckt in der Reichsdruckerei, 1903. 
4. 79 SS. 

Verwaltungsbericht des Direktors der Stüdtefeuersozietüt der Provinz Branden- 
burg für das Jahr 1902. Berlin, 26. I. 1903. Imp.-4. 9 SS. (Brandenburgischer 
Provinziallandtag, 29. Sitzungsper. N" 9.) 


Almanach de la coopération francaise pour 1903 (11* année) publié par le comité 
central de l'Union coopérative des sociétés françaises de consommation. Edité par E. de 
Boyve. Paris, impr. Mangeot, 1903. 12. 152 pag. fr. 0,40. 

Warner, Henry, The story of the Bank of England. A history of English 
banking and a sketch of the money market. London, Jordan & Sons, 1903. gr. 8. 
251 pp. cloth. 3/.6. (Contents: The period of monopoly, 1708 to 1826. — Before 
and after the Act of 1844. — The Bank's weekly return. — The issue and banking 
departments. — The store in the issue department. — Weekly differences in the return. — 
The Bank as agent of the mint. — The principal currency drains. — Banks and the 
creation of credit. — The battle of the banks. — The London money market. — The 
Bank rate and stock exchange securities. — The banks as stoekbrokers. — The short 
loan fund and the price of securities. — Panic years. — The banks and the publie. — 
Bank stock.) 

Luzzatto, Gino, I banchieri ebrei in Urbino nell età ducale: appunti di storia 
economica, con appendice di documenti. Padova, Societa coop. tipografica, 1902. 8. 
83 pp. 

Maffei, G. P. (ingegn.), Pensieri di un agente di assicurazione sulla vita. Torino, 
Bollettino delle assieurazioni, 1903. 12. 96 pp. 

Op welke wijze zullen de werkgevers voldoen aan de hun bij de ongevallenwet 
1901 opgelegde geldelije verplichtingen? Rapport van de commissie van werkgevers 
te Groningen. Groningen, erven B. van der Kamp, 1903. 8. 108 blz. 


9. Soziale Frage. : 

Diers, Marie, Die Mutter des Menschen. Gedanken zur Frauenfrage. Berlin, 
Alex. Duncker, 1903. 8. 88 SS. M. 1.—. 

Jahresbericht des Berliner Asylvereins für Obdachlose. Jahrg. XXXIV, 1902. 
Berlin, Verlag des Vereins, 1903. gr. 8. 15 SS. 

Zepler, G. (Frauenarzt, Berlin) Ueber die Notwendigkeit einer Krankenunter- 
stützung für Prostituierte und einige andere Maßnahmen zur Bekämpfung der Geschlechts- 
Krankheiten. Berlin, O. Coblentz, 1903. gr. 8. 32 SS. M. 0,60. 


National Temperance League's annual 1903. London, Office of the annual, 1903. 
8. 1/.—. 

Question, the, of English divoree. An essay. London, Richards, 1903. 8. 
182 pp. 2/.—. 

Cappelli, Ascanio, Conferenza contro il divorzio. Frosinone, tip. C. Stracca, 
1902. 8. 44 pp. 

Fonzo, Oreste, L'ordine della famiglia: separazione o divorzio? Milano, tip. 
A. Bazzi & G. Riboni, 1902. 12. 32 pp. 

de Meo, Mich., Adulterio e divorzio. Trani, V. Vecchi, 1902. 8. 176 pp. 
(Dissertazione di laurea.) 

Pagano, G., La pubblica assistenza in Roma. Roma, tip. A. Cerroni, 1902. 8. 28 pp. 

Vidari, Giovanni, Doveri sociali dell' età presente: letture educative popolari. 
Milano, U. Hoepli, 1903. 12. VIII—216 pp. 1. 2.—. 


10. Gesetzgebung. 
Friedberg, Emil (k. süchs. GehR. u. Prof., Leipzig), Lehrbuch des katholischen 
und evangelischen Kirchenrechts. 5. Aufl. Leipzig, B. Tauchnitz, 1903.  Lex.-8. 
XVI—650 SS. M. 15.—. 


422 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Fuisting, B. (Wirkl. GORegR.), Das preußische Einkommensteuergesetz vom 
24. VI. 1891 nebst Ausführungsanweisungen. Erläutert. 2. Aufl. bearb. von (Ur jur.) 
Strutz (GOFinzR.) Berlin, C. Heymann, 1903. 12. 503 SS. kart. M. 2,40. 

Gutachten über den vom k. k. Handelsministerium veröffentlichen Entwurf eines 
Musterschutzgesetzes. Herausgeg. vom k. k. Handelsministerium. Wien. k. k. Hof- und 
Staatsdruckerei, 1902. gr. 4. IV—317 SS. M. 6.—. 


Decugis, H., Les actions d'apport négociables en cas de fusion et les actions de 
priorité. Commentaire de la loi du 9 juillet 1902. Paris, L. Larose, 1903. 8. 76 pag. 
tr..2.—. 

Roby, Henry John, Roman private law in the times of Cicero and of the 
Antonines. 2 vols. London, Cambridge University press, 1903. 8. 576 and 574 pp. 
30/.—. 

Senhouse, R. M. Minton, Digest of workmens compensation cases. Vols 1—4. 
London, W. Clowes, 1903. 8. 3/.6. 

de Luca, Ermindo, Del concorso dei creditori e legatari separatisti coi non 
separatisti. Torino, fratelli Bocca, 1903. 8. 300 pp. 1. 5.—. 

Waterstaatswetgeving vóór 1813, toegelicht door J. Loosjes. Haarlem, Vinc. 
Loosjes, 1903. gr. 8. 8 en 142 blz. fl. 1,90. 


11. Staats- und Verwaltungsrecht. 

Bericht der Verwaltung des Armenwesens und der milden Stiftungen der Stadt 
Dortmund für das Verwaltungsjahr 1901 (1. IV. 1901—1902). Dortmund, Druck von 
W. Crüwell, 1903. gr. 4. 53 SS. 

Bischoff, Rud. (Stadtratssekr., Graz), Der Anspruch der Armenversorgung. Eine 
verwaltungsrechtliche Studie. Graz, Leuschner & Lubensky, 1903. gr.8. 77 SS. M. 1,40. 

Bonn. — Bericht über Stand und Verwaltung der Gemeindeangelegenheiten der 
Stadt Bonn während der Zeit vom 1. IV. 1901 bis 31. III. 1902. Bonn, Druck von 
J. F. Carthaus, Februar 1903. gr. 4. 158 SS. 

Düsseldorf. — Haushaltsetat für das Etatsjahr 1903 der Stadt Düsseldorf. 
2 Hefte (enthaltend 36 u. 14 Etats). Düsseldorf, L. Schwann, 1903. kl. 4. 

Duisburg. — Bericht über Verwaltung uud Stand der Gemeindeangelegenheiten 
der Stadt Duisburg für das Rechnungsjahr 1901. (1. IV. 1901 bis 31. III. 1902.) Duis- 
burg, Druck der D—ger Verlagsanstalt, 1902. gr. 4. 259 SS. — Haushaltsetat für das 
Etatsjahr 1902 mit 16 Anlagen. Ebd., Druck von F. H. Nieten, 1902. 4. 

Eichmann, Ed., Der recursus ab abusu nach deutschem Recht. Breslau, M. & H. 
Mareus, 1903. gr. 8. VIII—358 SS. M. 10. (Untersuchungen zur deutschen Staats- und 
Rechtsgeschichte, herausgeg. von (Prof.) O. Gierke. Heft 66.) 

Esslen, Jos., Gemeindefinanzen in Bayern. Geschichte der Entwickelung der 
Gemeindebesteuerung im rechtsrhein. Bayern vom Jahre 1800 bis zum ErlaB der Gemeinde- 
ordnung im Jahre 1869. München, H. Lüneburg, 1903. gr. 8. IV—160 SS. M. 4.—. 

Freund, Ismar, Die Regentschaft nach preußischem Staatsrecht unter Berück- 
sichtigung des in den übrigen deutschen Bundesstaaten geltenden Rechts. Breslau, 
M. & H. Mareus, 1903. gr. 8. 108 SS. u. Tabelle. M. 3,80. (A. u. d. T.: Abhand- 
lungen aus dem Staats- und Verwaltungsrecht, herausgeg. von (Prof.)Siegfr. Brie (Bres- 
lau). Heft 6.) 

Handbuch für das Deutsche Reich auf das Jahr 1903. Bearbeitet im Reichs- 
amte des Innern. Jahrg. XXVIIL Berlin, C. Heymanns Verlag, 1903. gr. 8. XXXVI— 
681 SS. kart. M. 6.—. 

Hildesheim. — Verwaltungsbericht des Magistrats zu Hildesheim für die Zeit 
vom 1. IV. 1901 bis 1. IV. 1902 nebst Rückblicken auf die Entwickelung seit 1890. 
Hildesheim, Druck von Gebr. Gerstenberg, 1903. kl. 4. 98 u. 75 SS. 

Jahresbericht über Stand und Verwaltung der Gemeindeangelegenheiten der 
Stadt Bielefeld für 1901. Bielefeld, Druck von F. Eilers, 1902. 162 SS. mit 6 Blatt 
Abbildgn. 

Jahresbericht über die Ergebnisse der Landeskommunalverwaltung für die 
Zeit vom 1. X. 1901/02. Sigmaringen, M. Liehner, 1902. gr. 8. 129 SS. 

Königsberg i. Pr. — Bericht über Verwaltung und Stand der Gemeindeangelegen- 
heiten der kgl. Haupt- u. Residenzstadt Kónigsberg i. Pr. wührend des Rechnungsjahres 
1. IV. 1901/1902, Königsberg, K—ger Allgem. Zeitungs-Druckerei, 1902. gr. 4. VIII— 
300 SS. mit 3 Tafeln graphischer Darstellungen. — Hauptübersicht über die der Stadt- 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 493 


hauptkasse zu K. i. Pr. zugewiesenen Verwaltungszweige pro 1. IV, 1901/1902. Ebd. 
gr. 4. 99 SS. 

Krick, Alfr., Der Bundesrat als Schiedsrichter zwischen deutschen Bundesstaaten. 
Leipzig, A. Deichert Nachf., 1903. 8. VIII—48 SS. M. 1.—. 

Mühlhausen i. Th. — Bericht des Magistrats der Stadt Mühlhausen i. Th. über 
den Stand und die Verwaltung der Gemeindeangelegenheiten von M. im Verwaltungs- 
jahre 1901/1902. Mühlhausen i. Th., Druck von Róth & Köhler, 1902. gr. 4. 41 SS. 

München-Gladbach. — Bericht über den Stand und die Verwaltung der 
Gemeindeangelegenheiten der Stadt M.-Gladbach für die Zeit vom 1. IV. 1901 bis 
31. III. 1902. M.-Gladbach, Druck von W. Hütter, 1903. 4. 92 SS. 

M.-Gladbach. Finalabschlüsse der Stadtkasse zu M.-Gladbach und deren Neben- 
fonds für 1901. M.-Gladbach, Druck von A. Korten, 1902. gr. 4. 148 SS. 

Rechenschaftsbericht, 71., des Obergerichtes und Kassationsgerichtes über das 
Jahr 1901. Erstattet an den h. Kantonsrat des Kantons Zürich. Winterthur, Buch- 
druckerei Geschw. Ziegler, 1902. 8. 184 u. 82 SS. 

Staatshandbuch, Hamburgisches, für 1903. Amtliche Ausgabe. Hamburg, 
gedruckt bei Lütcke & Wulff, 1902. kl. 4 415 SS. 

Stettin. — Verwaltungsbericht der Stadt Stettin vom 1. IV. 1901 bis dahin 1902. 
U. Spezialberichte. Stettin, Druck von F. Hessenland, 1902. gr. 4. 189 SS. 


Abribat, J. M., Le détroit de Magellan au point de vue international. Paris, 
Chevalier-Marescq & C", 1902. 8. 318 pag. 

Annuaire de la magistrature pour 1903. (France, Algérie et colonies), publié 
par Aug. Pédone. 12° édition. La Rochelle, impr. Texier & fils, 1902. 8. 284 pag. 

Conseil général du département de la Seine, II*"* session de 1901: Mémoires de 
M. le préfet de la Seine et de M. le préfet de police et procès-verbaux des délibérations. 
Paris, impr. municipale, 1902. gr. in-8. 1643 pag. — Conseil général ete. Dir: session 
de 1902: Mémoires de M. le préfet de la Seine et de M. le préfet de police. Paris 
1902. gr. in-8. 158 pag. 

Hess, J., La question du Maroc. Paris, Dujarric & C", 1903. 8. 458 pag. 

Lemire, Ch. (résident honoraire de France), La France et le Siam. Nos rela- 
tions de 1662 à 1903. Le traité de 1902. Paris, Aug. Challamel, 1903. 8. Av. cartes 
et gravur. fr. 2.—. 

Ville de Bruxelles. Rapport présenté au Conseil communal en séance du 
6 octobre 1902 par le collège des bourgmestre et &chevins. Bruxelles, typogr. E. Guyot, 
1902. 8. 452 pag. 

Annual report of the Registry Department of the city of Boston for the year 
1901. Boston, Municipal Printing Office, 1902. gr. 8. V —152 pp. 

Local taxation, England and Wales. Returns for 1900—01. Part I: Poor rate 
accounts. Valuation for the poor rate. 1/.1.—. Part II: Accounts of county councils. 
Lunatic asylums. /.0,6.—. Part VI: Accounts of burials boards and other local autho- 
rities, acting under the Burial Acts. 1/.—. Part VII: Accounts of school boards, 
harbour, dock and pier authorities, drainage boards, fisheries, rivers and commons con- 
servators, bridges and ferry trustees, commissioners of markets, ete. 1/.—. London 1903. 
gr. 8. (Parliam. pap.) 

Morey, Will. (Prof. of history and political science in the University of Rochester 
[Un. States], The government of New York State: its history and administration. Lon- 
don, P. S. King & Son, 1902. 8. 3/.—. (Contents: The dutsch and new Netherland. 


— New York as an English province. — New York as an American State. — Character 
of the State constitution. — Citizenship and the suffrage. — The central and local 
governments. — The administration of justice. — Police. — Education. — Charities. 


— Publie finances.) 

Ostrogorski, Democracy and the organisation of political parties. Translated 
from the French by Fred. Clarke. With a preface by James Bryce. 2 vols. London, 
P. S. King & Son, 1902. 8. 25/.—. 

Row-Fogo, J. (sometime examiner in polit. economy at Edinburgh), An essay 
on the reform of local taxation in England. London, P. S. King & Son, 1902. 8. 
6/.—. (Contents: Development of English rates and taxes. — The poor rate and its 
influence on local taxation. — The effects and the transfer of local rates. — The com- 
missioners’ proposals. — Local taxation according to ability. — Indirect local assess- 
ment of income. — National subventions. — The amalgamation of rates. — The methods 


424 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


of defraying expenditure on matters of local interest, — Payments founded on value 
received. — Rates on owners.) 


12. Statistik. 
Allgemeines. 


Lexis, W., Abhandlungen zur Theorie der Bevölkerungs- und Moralstatistik. 
Jena, G. Fischer, 1903. gr. 8. 253 SS. M. 6.—. 


Deutsches Reich. 

Beiträge zur Statistik der Stadt Essen. Im Auftrage des OBürgermeisters bear- 
beitet durch das statistische Amt. N' 5: Der Besuch des Essener Stadttheaters in den 
beiden letzten Spielperioden. Essen, Druck von E. Schoreck, 1902. gr. 4. 12 SS. 

Bericht des Medizinalrates über die medizinische Statistik des Hamburgischen 
Staates für das Jahr 1901. Hamburg, Leop. Voss, 1903. 4. 108 SS. mit 5 Abbildgn. 
im Text u. 9 Taf. 

Blau, Bruno, Kriminalstatistische Untersuchung der Kreise Marienwerder und 
Thorn. Zugleich ein Beitrag zur Methodik kriminalstatistischer Untersuchungen. Berlin, 
Guttentag, 1903. gr. 8. M. 2.—. (Abhdlgn. des kriminalistischen Seminars an der 
Universität Berlin. N. Folge Bd. II, Heft 2.) 

Geburten, Eheschließungen und Sterbefälle im preußischen Staate während des 
Jahres 1901. Berlin, Verlag d. kgl. statistischen Bureaus, 1903. Imp.-4. XXII—612 SS. 
(A. u. d. T.: Preußische Statistik (Amtliches Quellenwerk) Heft 178.) 

Jahrbücher, württembergische, für Statistik und Landeskunde. Herausgeg. von 
dem kgl. statistischen Landesamt. Jahrg. 1902. Stuttgart, W. Kohlhammer, 1903. 4. X XIV 
—291 SS. mit Kartenbeilagen. (Inhalt: Geschichtliches und Kulturgeschichtliches aus 
Gmünd, von Bruno Klaus (GymnasRektor). — Zur Geschichte des Nonnenklosters in 
Lauffen a. N., von Fr. (Frh.) v. Gaisberg-Schöckingen. — Ueber das Maßwesen und 
die Maße in der ehemaligen freien Reichsstadt Ulm, von A. Kölle. — Die Ergebnisse 
der Volkszählung vom 1. XII. 1900 für das KReich Württemberg. A. Tabellen. B. Be- 
sprechung, von (FinzR.) Losch, — Die Fleischteuerung des Jahres 1902 in Württem- 
berg. Denkschrift des k. statist. Landesamts. — etc.) 

Mitteilungen des herzoglich Anhaltischen statistischen Bureaus. Jahrg. 1903, 
N" 42. Weitere Ergebnisse der Volkszählung vom 1. XII. 1900 im Herzogtum Anhalt. 
Dessau, Hofbuchdruckerei Dünnhaupt, 1903. gr. 4. 29 SS. (Inhalt: Die ortsanwesende 
Bevólkerung nach der Staatsangehórigkeit, dem Religionsbekenntnis, dem Familienstand, 
den Haushaltungen, dem Alter und Geburtsjahr, nach Altersstufen, nach der Gebürtig- 
keit, nach Reichstagswahlkreisen, nach der Muttersprache; Die ermittelten Blinden und 
Taubstummen; Gemeinden und Wobnplàtze nach Größenklassen.) 

Mitteilungen des statistischen Bureaus des herzoglichen Staatsministeriums zu 
Gotha. Jahrgang 1902. Gotha, C. F. Thienemann, 1903. 4. 102 SS. (Inhalt: Volks- 
zühlung in den Herzogtümern Sachsen-Koburg und Gotha vom 1. XII. 1900. Abschnitt 1. 
Haushaltungen und ortsanwesende Bevölkerung ; Abschn. 2. Wohnstütten ; Abschn. 3—5: 
Ortsanwesende Bevölkerung nach Religionsbekenntnis und Staatsangehörigkeit; nach 
Alter, Geschlecht und Familienstand; nach dem Geburtsland.) 

Monatsberichte des statistischen Amts der Stadt Hannover für das Jahr 1902. 
Jahrg. VIII. Hannover, Berth. Pokrantz, 1903. Lex.-8. 122 SS. 

Preußische Statistik. (Amtliches Quellenwerk.) Herausgeg. in zwanglosen Heften 
vom kgl. statistischen Bureau. Heft 176. Das gesamte niedere Schulwesen im preußi- 
schen Staate im Jahre 1901. Teil III. Die öffentlichen Volksschulen in den einzelnen 
Kreisen und Oberämtern des preußischen Staates, mit Unterscheidung der Schulen in 
den Städten und auf dem Lande. Im Auftrage (des Herrn Kultusministers) bearbeitet 
vom kgl. statistischen Bureau. Berlin, Verlag des Bureaus, 1902. Imp.-4. 553 SS. 

Protokolle überdie Verhandlungen des Beirats für Arbeiterstatistik vom 13. XII. 
1902. Berlin, C. Heymanns Verlag, 1903. Folio. 30 SS. M. 0,40. (Drucksachen des 
Beirats für Arbeiterstatistik, Verhandlungen N° 2.) 

Schematismus des Bistums Breslau und seines Delegaturbezirks für das Jahr 1903. 
Breslau, fürstbischöfliche geh. Kanzlei, Druck von J. Nischkowsky, o. J. (1903). 170 SS. 

Statistik des Deutschen Reichs, Neue Folge, Bd. 144, 1. Abteilung. Berlin, 
Puttkammer & Mühlbrecht, 1903. Imp.-4. (Inhalt: Die Seeschiffahrt im Jahre 1901. 
I. Abteilung: Bestand der deutschen Seeschiffe (Kauffahrteischiffe); Schiffsunfälle an der 
deutschen Küste; Verunglückungen deutscher Seeschiffe. 175 SS. M. 4.—.) 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes, 495 


Statistik des Deutschen Reichs, Neue Folge, Bd. 144, II. Abteilung. (Inhalt: 
Die Seeschiffahrt im Jahre 1901. Bearbeitet im kais. statistischen Amt. Abteil. 2: See- 
verkehr in den deutschen Hafenplätzen ; Seereisen deutscher Schiffe. Berlin, Putt- 
kammer & Mühlbrecht, 1903. Imp.-4. 144 u. 132 SS. M. 4.—.) 

Statistik der im Betriebe befindlichen Eisenbahnen Deutschlands nach den An- 
gaben der Eisenbahnverwaltungen bearbeitet im Reichs-Eisenbahnamt. Bd. XXII. Rech- 
nungsjahr 1901. Berlin, Mittler & Sohn, 1903, größtes Imper.-Folio. 

Statistik der Knappschaftsvereine des preußischen Staates im Jahre 1901. Berlin, 
Ernst & Sohn, 1902. 4. 56 SS. 

Statistik der während des Rechnungsjahres 1901 in Köln in offener Armenpflege 
Unterstützten. Bearbeitet vom statistischen Amte. Köln (1902). 4. 15 SS. (Sonder- 
abdruck aus dem Verwaltungsbericht.) 

Statistik über die Volksschulen der Stadt Barmen im Schuljahre 1901. Barmen, 
Druck von D. B. Wiemann, 1902. gr. 4. 178 SS. 


England. 

London Statisties, 1900—1901 (vol. XI). Longon, P. S. King & Son, July 1902. 
gr. Folio. CXXVIII—803 pp. (Publication of the London County Council, Local Govern- 
ment and Statistical Department.) [Contents: Statistics relating to the life of the people: 
Population and houses; Health; Labour; Pauperism ; Reformatory and industrial schools ; 
Education ; Lunacy, ete. — Statistics relating to the publie services of London. — Statistics 
relating to London finance. — Statistics relating to the local government of London. — 
Statistical comparison between London and the rest of England.) 


Oesterreich. 


Gebarung, die, und die Ergebnisse der Krankheitsstatistik der nach dem Gesetze 
vom 30./3. 1888, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter, eingerichteten Kranken- 
kassen im Jahre 1900. Wien, k. k. Hof- und Staatsdruckerei 1902. 4. 163 SS. 

Gebarung, die, und Ergebnisse der Unfallstatistik der im Grunde des Gesetzes 
vom 28. XII. 1887, betreffend die Unfallversicherung der Arbeiter, errichteten Arbeiter- 
unfallversicherungsanstalten im Jahre 1900. Wien, k. k. Hof- und Staatsdruckerei, 
1902. 4. 279 SS. 

Oesterreichische Statistik. Herausgeg. von der k. k. statistischen Zentralkom- 
mission. LXI. Bd., Heft 1—4. Wien, C. Gerolds Sohn, 1902. Imp.-4. (Inhalt: Heft 1: 
Die Ergebnisse der Zivilrechtspflege mit EinschluB des Exekutions- und Konkursver- 
fahrens im Jahre 1898. Bearbeitet von dem Bureau der k. k. statistischen Zentralkom- 
mission unter Mitwirkung des k. k. Justizministeriums, XLVIII—179 SS. K. 7.—. 
Heft 2. Statistische Nachweisungen über das zivilgerichtliche Depositenwesen, die kumu- 
lativen Waisenkassen und über den Geschäftsverkehr der Grundbuchämter im Jahre 
1898. Bearbeitet von dem Bureau der k. k. statistischen Zentralkommission. XX XIII— 
114 SS. K. 4.—. Heft 3: Die Ergebnisse der Strafrechtspflege in den im Reichsrate 
vertretenen Kónigreichen und Ländern im Jahre 1898. Bearbeitet vom Bureau der 
k. k. statistischen Zentralkommission unter Mitwirkung des k. k. Justizministeriums. 
XLVI—161 SS. K. 6.—. Heft 4. Statistische Uebersicht (XXXI.) der Verhältnisse 
der österreichischen Strafanstalten und der Gerichtsgefängnisse im Jahre 1898.  Bear- 
beitet im k. k. Justizministerium. XXVII--91 SS. K. 4,60. [Die Hefte 1—3 des 
LXI. Bds. führen den Nebentitel: Statistik der Rechtspflege in den im Reichsrate ver- 
tretenen Kónigreichen und Ländern für das Jahr 1898, Heft 1 bis 3.] 


Schweiz. 

Mitteilungen, statistische, betreffend den Kanton Zürich. Herausgeg. vom kanto- 
nalen statistischen Bureau. Jahr 1900, Heft 1: Viehversicherungsstatistik für das Jahr 
1900. Winterthur, Buchdruckerei Geschwister Ziegler, 1902. 8. XXXI—131 SS. 

Schweizerische Handelsstatistik. Provisorische Zusammenstellung des Spezial- 
handels der Schweiz im Jahre 1902. Bern, Buchdruckerei A. Benteli, ausgegeben am 
16. II. 1903. Imp.-4. 16 SS. (Herausgeg. vom schweizerischen Zolldepartement.) 


Schweden. 
Bidrag till Sveriges officiela Statistik. A. Befolkningsstatistik. Ne foljd. XLII. 
1. Berättelse för År 1900, I. Afdelningen: Folkmängd vigde, födde och döde samt 
emigranter och immigranter (Trauungen, Geburten, Todesfälle nebst Aus- und Ein. 


426 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


wanderungen) Ar 1900. XXIII—55 pp. — F. Handel. Kommerskollegii berättelse 
för är 1901. XVII—238 pp. — I. Telegrafväsendet, ny följd 41. Berättelse för àr 
1901. XXVII—25 pp. — L. Statens jernvägstrafik 395: Allmän svensk jernvägstrafik 
för är 1900. (Statistik der gesamten schwedischen Eisenbahnen für das Jahr 1900.) 
32 & 36 pp. mit Karte. — L. Statens jernvägstrafik 40°: Kongl. jernvägs-styrelsens 
underdänige berättelse för är 1901. (Statistik der schwedischen Staatsbahnen für 1901.) 
121 pp. mit graphischer Darstellung. — M. Postverket. 38. Generalpoststyrelsens be- 
rättelse för är 1901. XXVI--62 pp. — N. Jordbruk och boskapsskötsel. Aarsväxt- 


berättelser för år 1902. (Ernteschätzungen für 1902.) 17 pp. — O. Landtmäteriet. 
XXXIV. Berättelse für àr 1901. 22 pp. (Landvermessungswesen.) — S. Almänna 
arbeten. 30. (Oeffentliche Arbeiten.) Berättelse för äret 1901. 101 pp. — U. Kom- 


munernas fattigvard och finanser. XXVII. Berättelse för år 1900. XXIV—112 pp. 
(Oeffentl. Armenpflege der Gemeinden und Gemeindefinanzen.) — Y. Sparbankstatistik. 
II. Postsparbanken. Berättelse för är 1901. XXIX—34 pp. Zusammen 11 Hefte. 
Stockholm 1902 & 1903. 


Asien (Japan). 
Jahrbuch, statistisches, des Kaiserreichs Japan. Jahrg. XXI. Tokio 1902. gr. 8. 
1206 SS. (Inhalt: Areal und Bevölkerung. — Öffentlicher Unterricht und Kultus. — 


Justizverwaltung, Polizei und Gefängniswesen. — Handelsmarine. — Landwirtschaft und 
Forstwesen, Jagd. — Betrieb der Salinen und der Bergwerke. — Außen- und Binnen- 
handel, Schiffahrt. — Aktiengesellschaften, Sparkassen. — Verkehrswesen zu Wasser und 
zu Land. — Oeffentliche Bauten. — Gesundheitswesen. — Oeffentliches Wohltätigkeits- 
wesen. — Finanzen. — Banken und Börse. — Wahlen. — Verwaltung. — etc.) [Text 
des Titels und des Inhalts in japanischer Sprache.) 

— (Britisch-Indien). 


India. — Census of 1901: Baroda. 3 parts. (Report. Tables. Provincial tables.) 
21/.—. Madras. 3 parts. (Report. Provincial tables. Imperial tables.) 15/.—. Ba- 
luchistan. Part III. (Provincial tables.) 7/.6. Calcutta and London, 1903. Folio. (Pu- 
blication of the Government of India and the India Office. 


Australien. 
Australasian statistics, for the year 1900. Adelaide (South Australia) 1902, 
gr. Folio. 64 pp. 
South Australia. Agricultural and live stock statistics for the year ending March 
31", 1902, with prefatory report. Adelaide, C. E. Bristow printed, 1902. gr. Folio. 
XXIV—69 pp. 


13. Verschiedenes. 


Daude, P. (Geh. RegR. u. UnivRichter) und M. Wolff (Privdoz.), Die Ordnung 
des Rechtsstudiums und der ersten juristischen Prüfung in den deutschen Bundesstaaten. 
Halle a. S., Buchhdl. des Waisenhauses, 1903. gr. 8. XVI—292 SS. M. 4,40. 

Eickhoff, R. (Mitglied des Reichstags), Berliner Schulreform. Braunschweig, Fr. 
Vieweg & Sohn, 1902. gr. 8. 25 SS. M. 0,50. 

Ferri, Enrico, Die positive kriminalistische Schule in Italien. Uebersetzung aus 
dem Italienischen von E. Müller-Róder. Frankfurt a. M., Neuer Frankfurter Verlag, 
1902. gr. 8. 64 SS. M. 1,20. 

Festschrift der öffentlichen Gesundheitspflege in Rheinland-Westfalen während 
der letzten Jahrzehnte von (Prof) Kruse und Laspeyres (Bonn) Bonn, Em. Strauß, 
1903. gr. 8. 25 SS. mit 6 Karten u. 3 Abbildgn. (Sonderabdruck aus dem Central- 
blatt f. allgem. Gesundheitspflege, Jahrg. XXII.) 

Geschichtskalender, deutscher, für 1902. Sachlich geordnete Zusammen- 
stellung der politisch wichtigsten Vorgänge im In- und Ausland, von (Prof. Karl 
Wippermann. I. Band. Leipzig, Grunow, 1903. gr. 8. XV—384 SS. geb. M. 6.—. 
(Inhalt: Das Deutsche Reich und Preußen. — Oesterreich-Ungarn. — Rußland. — Frank- 
reich. — Großbritannien und Irland. — Italien. — Spanien. — Belgien. — Niederlande. 
— Dänemark. — Schweden. — Osmanisches Reich. — Südafrika. — Ver. Staaten von 
Amerika, — Kuba. — Mexiko. — etc.) 

Helenius, Matti (Helsingfors, Finland), Die Alkoholfrage. Eine soziologisch- 
statistische Untersuchung. Jena, G. Fischer, 1903. Lex.-8. VI—334 SS. M. 6.—. 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes, 497 


Jahresbericht, XXXIII., des kgl. Landesmedizinalkollegiums über das Medizi- 
nalwesen im KReiche Sachsen auf das Jahr 1901. Leipzig, F. C. W. Vogel, 1902. 
gr. 8. 297 SS. $ 

Korum (Bischof von Trier), Unerbauliches aus der Diózese Trier. Darlegung der 
Verhältnisse höherer Töchterschulen in Trier, St. Johann und Kreuznach, mit Akten 
belegt. 3. Aufl. Trier, Druck und Verlag der Paulinusdruckerei, 1903. gr. 8. 48 SS. 
M. 0,60. 

Korrespondenz, politische, Friedrichs des Großen. XXVIII. Band. Berlin, 
Alex. Duncker, 1903. gr. 8. 515 SS. M. 15.—. 

Kriege, die, Friedrichs des Großen. III. Teil: Der siebenjührige Krieg 1756— 
1763. IV. Bd.: GroB-Jügersdorf und Breslau. Berlin, E. S. Mittler & Sohn, 1902. 
gr. 8. X—254 SS. u. Anlagen 52 SS. Mit 12 Karten, Plünen u. Skizzen. M. 15.—. 
(Herausgeg. vom Großen Generalstabe, kriegsgeschichtliche Abteilung II.) 

Legahn, A. (Berlin) Erbliche Belastung und Gattenwahl. Berlin, Vogel & Kreien- 
brink, 1903. kl. 8. 63 SS. M. 1,20. 

Lorenz, Karl, Die kirchlich-politische Parteibildung in Deutschland vor Beginn 
des 30jährigen Krieges im Spiegel der konfessionellen Polemik, München, C. H. Beck- 
sche Verlagsbuchhdl., 1903. gr. 8. IX—163 SS. M. 3,50. 

Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche. Begründet von 
J. J. Herzog, in 3. verbess. u. vermehrter Aufl. herausgeg. von Albert Hauck (Prof., 
Leipzig.) Band XII: Lutheraner-Methodismus. Leipzig, J. C. Hinrichssche Buchhdl., 
1903. gr. 8. 820 SS. geb. M. 12.—. 

Schieler, C. (ehemal. Prof. d. Theol., jetzt Prediger, Danzig), Dr Julius Rupp, 
ehemal. Privatdozent, Oberlehrer und Divisionsprediger zu Königsberg i. Pr. und die 
freie religiöse Bewegung in der katholischen und evangelischen Kirche Deutschlands im 
19. Jahrhundert. Dresden, E. Piersons Verlag, 1903. 8. XVI—336 SS. M. 6.—. 

Silber, Max (Arzt, Breslau), Womit sind die ansteckenden Geschlechtskrank- 
heiten als Volksseuche im Deutschen Reiche wirksam zu bekümpfen? Preisschrift, ge- 
krónt mit dem Preise des Herrn Kommerzienrat D' Wilh. Schwabe zu Leipzig, Vor- 
sitzender der Ortskrankenkasse für Leipzig und Umgegend. Leipzig, B. Konegen, 1902. 
gr. 8. 64 SS. M. 0,60. 

Stróhmberg, C. (Stadt- u. OArzt des Stadthospitals, Jurgew), Die Bekämpfung 
der ansteckenden Geschlechtskrankheiten im Deutschen Reich. Stuttgart, Ferd. Enke, 
1903. VI—87 SS. mit einer farbigen Uebersichtskarte. M. 2,80. 


Daniel, André, L'année politique 1902, avec un index alphabétique, une table 
chronologique, des notes, des documents et des pièces justificatives. X XIX""* année. 
Paris, Perrin & C^, 1903. 8. VI—430 pag. fr. 3,50. 

Fouillée, Alfr., Esquisse psychologique des peuples Européens. Paris, F. Alcan, 
1903. gr. in-8. XIX—450 pag. fr. 10.—. (Bibliothèque de philosophie contemporaine.) 

Richard (capitaine du 29* bataillon de chasseurs à pied), L'armée et les forces 
morales. Paris, Plon-Nourrit & C'*, 1902. 8. 246 pag. fr. 3,50. 

Annual report of the Board of regents of the Smithsonian Institution, showing 
the operations, expenditures, and condition of the institution for the year ending June 30, 
1901. Washington, Government Printing Office, 1902. gr. 8. LXVII—782 pp. with 
143 plates. 

Report, statistical, of the health of the navy for the year 1901. London, printed 
by Eyre & Spottiswoode, 1902. gr. 8. 173 pp. with 37 graphical tables. 2/.9. (Parl. pap.) 

Roosevelt, Theodore, American ideals and other essays. Social and political. 
London, Putnam's Sons, 1903. Roy.-8. 378 pp. with illustrations. 10/.6. 

Graziano, Gius. (della R. biblioteca nazion. di Torino), Umberto de Savoja. 
Bio-bibliografia. Torino, tipogr. G. Sacerdote, 1902. gr. in-8. 292 pp. con ritratto ad 
aequaforte di C. Turletti. 1. 10.—. 

Memoria correspondiente al año 1901 presentada á la Dirección general de in- 
strucciôn pública por el inspector nacional de instrucción primaria: Abel J. Pérez. 
Montevideo 1902. gr. 8. 296 pp. 

Dodsaarsagerne i Kongeriget Danmarks byer i Aaret 1901. Udgivet af det 
kgl Sundhedskollegium, ved J. Carlsen (D' med.) Kjobenhavn 1902. 4. (Ursachen 
der Todesfälle in den Städten des KReichs Dänemark im Jahre 1901.) 


498 . Die periodische Presse des Auslandes, 


Die periodische Presse des Auslandes. 


A. Frankreich, 


Journaldes Economistes. 62° année, Février 1903: La convention de Bruxelles 
est-elle conforme au principe du libre échange? par G. de Molinari. — Histoire d'une 
grève, par Paul Ghio. — Les lois et les moeurs dans les sociétés de secours mutuels, 
par A. de Malarce. — Le mouvement agricole, par L. Grandeau. — Revue des princi- 
pales publications économiques en langue française, par Rouxel. — Correspondance, par 
Frédér. Passy. — Bulletin: Lois relatives au régime des sucres; La crise des caisses 
d'épargne à Nantes. — ete. — Société d'économie politique (réunion du 5 février 1903): 
Nécrologie: M. Casasus; Discussion: De la nouvelle baisse de l'argent, de ses consé- 
quences, en partieulier au point de vue d'un certain nombre de pays asiatiques et 
amérieains (suite). — Chronique. 

Journal de la Société de Statistique de Paris. XLIV""* année, N° 1 et 2, Jan- 
vier & Février 1903: Procès-verbal de la séance du 17 décembre 1902. — Rapport au 
Ministre du commerce, de l'industrie, des postes et des télégraphes sur le mouvement 
de la population de la France en 1901. — Comment nous defendre contre le trust de 
lOcéan, par M. G. Cadoux (suite et fin). — Le coüt de la vie à Paris à diverses 
époques, par Gust. Bienaymé (art. 1 et suite & fin). — La population de l'Angleterre 
en 1901, par Paul Meuriot (art. 1). — Variétés: 1. La statistique des réclamations 
postales; 2. Production du eaoutehoue en 1901. — Chronique des transports, par Hertel. 
— Procès-verbal de la séance du 21 janvier 1903. — Les effets de commerce en 
France et à l'étranger: l'escompte. — Bibliographie: „Essai sur le prix du charbon en 
France au XIX” siècle, par Franc. Simiard", par Lucien March. — Chronique trimestrielle 
des banques, ehanges et métaux précieux, par Pierre des Essars. — etc. 

Revue générale d'administration. XXV'*" année, 1902, Novembre et Décembre: 
M. Edouard Laferrière, par Baudouin (procureur général à la Cour de cassation). — 
Le domaine des hospices de Paris depuis la Révolution, par Amédée Bonte (suite 2 
et 3). — Les sous-préfets, par Alb. Bluzet (ancien sous-préfet). — Introduction à l'étude 
du droit administratif frangais, par Maur. Haurion (prof. de droit administr. à l'Université 


de Toulouse) — Chronique de l'administration francaise. — etc. 

Revue d'économie politique. XVII* année, n? 1, Janvier 1903: L'économie poli- 
tique de M. Tarde, par Ern. Mahaim. — La culture indienne et ses charges, par Alb. 
Métin. — La réforme de l'instruction moyenne au point de vue social, par Wilh. Frei. 
— Chronique législative, par Edm. Villey. — ete. 

Revue internationale de sociologie. VI" année, N° 1, Janvier 1903: Après dix 
ans, par René Worms. — Discours prononcé à la séance d'ouverture de l'Ecole russe 


des hautes études sociales, le dimanche 16 IX 1902, par Anatole Leroy-Beaulieu. — De 
la criminologie des sociétés: le crime national, par Raoul de la Grasserie (pag. 15—48). 
— Société de sociologie de Paris, séance du 10 XII 1902: L'invention, comme moteur 
de l'évolution sociale. Observations de E. Delbet. Discussion par Ch. Limousin, P. Gri- 
manelli, Ed. Salomon, A. Lévy-Oulmann, F. Gaucher. — Revue de livres. — etc. 


B. England. 


Contemporary Review. February 1903: The government and the London edu- 
cation problem, by T. J. Macnamara. — Morocco and the powers, by S. L. Bensusan. 
— Senor Sagasta, by John Foreman. — Sounday in the country, by Ashton Hilliers. 
— The prize of corn in war time, by W. Bridges Webb. — The South African natives, 
by Alfr. A. MacCullah. — The value of a degree, by Will. Ramsay. — The mechanism 
of the air, by John M. Bacon. — The jews in Roumania, by Bern. Lazare. — Railways 
in China, by Demetr. C. Boulger. — The House of Commons and the army estimates, 
by ,Togatus." — Service and farm-service, by D. C. Pedder. — etc. 

Economie Review, the, published for the Oxford University branch of the Christian 
Social Union. Vol. XIII, N" 1. January 1903: Commercial education and University 
degrees, by Ernest Ritson Dewsnup. — Co-operation and the poor, by Henry W. Wolff. 
— The natural outcome of free trade, by G. Bing. — Some aspects of the native question 
in South Africa, by E. Fallaize. — Legislation, parliamentary inquiries and official 
returns, by Edw. Cannan. — etc. 


Die periodische Presse des Auslandes. 429 


Journal of the Institute of Actuaries: N° 210, January 1903: Opening address 
by the President, Will. Hughes. — The use of quadrature formulae and other methods 
of approximation for the calculation of survivorship benefits, by Jam. Buchanan. — 
The liability of life assurance companies to pay income tax upon income arising from 
investments in foreign countries. — IV" International Congress of Actuaries, 1903. — etc. 

Nineteenth Century, the, and after. N° 312 & 313, February and March 1903: 
An agricultural parcel post, by J. Henniker Heaton. — The effect of corn laws, a 
reply, by Harold Cox (Secretary of the Cobden Club). — A working man’s view of 
Trade Unions, by Jam. G. Hutchinson. — The present position of wireless telegraphy, 
by Ch. Bright. — The beginning of Toynbee Hall, a reminiscence, by (Mrs.) S. A. 
Barnett. — etc. — The agitation against England’s power, by (Prof.) A. Vambery. — 
The success of American manufacturers, by John Foster Fraser. — The new education 
authority for London, by E. Lyulph Stanley. — Macedonia and its revolutionary com- 
mittees, by G. F. Abbot. — Agricultural education in the Netherlands, by John C. Medd. 
— The effects of the corn laws, a rejoinder, by (Sir) Guilford L. Molesworth. — The 
erusade against professional criminals, by (Sir) Rob. Anderson. — Social reform: The 
obligation of the Tory party, by (Sir) John Gorst. — etc. 


C. Oesterreich-Ungarn. 


Mitteilungen des k. k. Finanzministeriums. Jahrg. VIII, 1902, Heft 4: Rede 
des Finanzministers D' Ritter Bóhm v. Bawerk anläßlich der Einbringung des Staatsvor- 
anschlages für das Jahr 1903. — Die österreichischen Banken im Jahre 1901. — Ergeb- 
nisse der Verzehrungssteuer im Jahre 1900. — Nachweisung der Ergebnisse der indivi- 
duellen Verteilung jener Alkoholmenge, welche von den unter die Konsumabgabe fallen- 
den Branntweinbrennereien in je einer Betriebsperiode zum niedrigeren Satze dieser 
Abgabe erzeugt werden darf. — Ergebnisse des Tabakverschleißes in den im Reichsrate 
vertretenen Königreichen und Ländern im I. Semester 1902. — Die Salinen Oesterreichs 
im Jahre 1900. — Kassaerfolg des Stempel-, Tax- und Gebührengefälles im Jahre 1901 
(verglichen mit jenem des Vorjahres). — Gebührenerleichterungen bei Konvertierung 
von Hypothekarforderungen im Jahre 1901. — Nachweisung der in den Jahren 1899, 
1900 und 1901 aus den Verlassenschaften eingehobenen gesetzlichen Vermächtnisse (Fonds- 
beiträge). 1 

Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung. Organ der Ge- 
sellschaft österreichischer Volkswirte. XII. Bd., 1903, Heft 1: Die Notenbankfrage in 
der Schweiz, von L. Landmann. — Das österreichische Gewerbe im Zeitalter des Merkan- 
tilismus, von H. Rizzi. — Verhandlungen der Gesellschaft österreichischer Volkswirte. 
— August Meitzen, von K. Th. v. Inama-Sternegg. — Ueber staatliches Archivwesen 
in Oesterreich, von M. Mayr. — etc. 

Bulletin de l’Institut international de statistique. Tome XIII, livraison 2. Buda- 
pest, imprim. Athenaeum, 1902. Lex. in-8. 434 pag. (Table des matieres: Compte- 
rendu de la Bim session de l’Institut international de statistique tenue à Budapest du 
29 septembre au 4 octobre 1901. II. volume. Rapports, communications et mémoires 
présentés à la session II*"* série: Les procédés de la statistique agricole, par E. Lévas- 
seur. — Rapport sur le dernier recensement, par J. Bertillon. — L'évaluation de la 
richesse nationale, par Fr. Fellner. — De la méthode suivie pour l'enquéte statistique, 
faite en Hongrie en 1899, sur la production industrielle, par L. de Hegyeshalmy. — 
Armenkataster als Grundlage der Armenstatistik, von E. Mischler. — Du meilleur mode 
à indiquer au point de vue statistique international pour la confection des bilans des 


Sociétés anonymes, par A. Neymarck. — Sur la méthode la plus simple de mesurer la 
fécondité des mariages, par Z. Ráth. — Zur Theorie der Privatwirtschaftsstatistik, von 
G. Schnapper-Arndt. — Des moyens de la politique industrielle en Hongrie et ses 
résultats, par A. Szterényi. — Du poids comparatif des charges fiseales qui pesent sur 


la propriété immobiliere et sur les valeurs mobilieres en France, par L. Vacher. — 
Natalité, mortinatalité et mortalité enfantine selon le degré d'aisance dans quelques 
villes et un nombre de communes rurales dans les Pays-Bas, par C. A. Verrijn-Stuart. 
— Des points de vue sociaux et économiques dans les dénombrements effectués à la fin 
du XIX*"* et au commencement du XX*"* siècle, par A. Vizaknai. 


E. Italien. 


Giornale degli Economisti, Febbraio 1903: Dell’ indice unico (studio di semiologia 
eeonomica), per F. Coletti. — Il trattato con l’Austria-Ungheria e la clausola dei vini, 


430 Die periodische Presse des Auslandes. 


per A. Bertolini. — Sul contratto d’affitto „a ventennale“ e sulle condizioni dell’ agri- 
coltura in provincia di Trapani, per A. Bruttini. — Polemiche: A proposito del massimo 
di ofelimità; L’acquedotto Pugliese, per V. Pareto. — Municipalizzazione dei pubblici 
servigi, per G. Montemartini. — Cronaca (Legname e zucchero), per A. Papafava. — etc. 

Rivista della beneficenza pubblica, delle istituzioni di previdenza e di igiene 
sociale. Anno XXX, N°1, Gennaio 1903: Dell’ assistenza ai bambini lattanti illegittimi, 
per Romano Romani. — Il questionario ministeriale sui servizi della pubblica beneficenza, 
per Enrico Stiatti. — Inchiesta sull’ assistenza in Francia, per T. Minelli. — Cronaca: 
Per i minorenni detenuti; L'azione ed i progressi della „Casa benefica di Torino“; 
XI Congresso internationale d'igiene e demografia (Sept. 1903, Brüssel). — etc. 


H. Schweiz. 


Monatsschrift für christliche Sozialreform. Redaktion (Prof.) J. Beck, Frei- 
burg (Schweiz) Jahrg. XXV, 1903, N° 2, Februar: Notwendigkeit des Kinderschutzes, 
von K. Beck (Arzt in Sursee [Schweiz]. — Der neue schweizerische Zolltarif, von 
E. Laur. — Zeitschriftenschau, von C. Decurtius. — Für die sozialen Vereine: Skizze 10. 
Staatshilfe. — etc. 

Schweizerische Blätter für Wirtschafts- und Sozialpolitik. Halbmonatsschrift. 
Jahrg. XI, 1903, Heft 1: Das Sachenrecht (1) des Entwurfes zum schweizerischen Civil- 
gesetzbuch in der Expertenkommission, von (Prof.) H. Oser (Freiburg, Schweiz). — 
Verband schweizerischer Erziehungsvereine, von J. R. Eppler (Pfarrer, Unterkulm). — 
Soziale Chronik. — Statistische Notizen. — ete. — Jahrg. XI, 1903, Heft 2: Mittel 
und Einriehtungen zur Förderung und Durchführung des Realkredites, von W. Marcusen 
(Prof., Univ. Bern). — Zur Reform des schweizerischen Banknotenwesens, von J. Ernst 
(Adjunkt des Inspektorates der schweizerischen Emissionsbanken, Bern). — Soziale 
Chronik. 

M. Amerika. 


Annals, the, of the American Academy of Political and Social Science. Vol. XX, 
N° 3, November 1902: Responsibility of the National Bank in the present crisis, by 
Alb. S. Bolles. — Is the United States Treasury responsible for the present monetary 
disturbance? by Fred. A. Cleveland. — The currency of the Philippines islands, by 
Ch. A. Conant. — The financing of the South African war, by F. R. Fairchild. — The 
work of the promoter, by Edw. Sherwood Meade. — The independent treasury vs. 
bank depositories; a study in State finance, by Ch. S. Potts. — Trusts and prices, by 
J. A. Hourwich. — Communication: The test of the Minnesota primary election system, 
by Frank Maloy Anderson. — etc. 

Bulletin of the Department of Labor. N° 43, November 1902: Report to the 
President on anthracite coal strike by C. D. Wright (Commissioner of Labor). — Agree- 
ments between employers and employees. — Italian bureau of labor statistics. — Digest 
of recent reports of State bureaus of labor statisties: Massachusetts; North Carolina ; 
Ohio; Virginia. — etc. 

Political Science Quarterly. Edited by the faculty of political science of Columbia 
University (Boston). Vol. XVII, N^ 4, December 1902: Authoritative arbitration, by 
J. B. Clark. — The Commission and the railways, by H. T. Newcomb. — The muni- 
eipal referendum, by John R. Commons. — Radical democracy in France, by W. M. 
Sloane. — Senators by popular vote, by John W. Burgess — San Francisco labor 
movement, by Th. Walker Page. — Record of political events, by J. W. Garner. — etc. 

Quarterly Publications of the American Statistical Association. New series, 
N° 60, December 1902: The vital statistics of the Census of 1900, by Fred. L. Hoff. 
mann (pag. 127—202). 

Yale Review, the. Vol. XI, N° 4, February 1903: The passing of Pacific blockade, 
by Theod. S. Woolsey. — The poverty of an English town (York), by David J. Green. 
— The centralisation of bank-note issues in Sweden, by A. W. Flux. — Industrial 
bonds, by Lyman S. Spitzer. — Comment: Some paradoxes of the anthracite coal strike ; 
The coming of age of English trade unionism; The American Economie Association. — 
Notes: English legislation in 1902; The coal strike hearings; Coóperative undertakings 
of Danish eraftsmen. — etc. 


Die periodische Presse Deutschlands. 431 


Die periodische Presse Deutschlands. 


Annalen des Deutschen Reichs. Jahrg. XXXVI, 1903, N° 2 u. 3: Zum künftigen 
Gesetz über die Verwaltung der Einnahmen und Ausgaben des Deutschen Reichs, von 
W. Thrün (Schluß). — Versuche über allgemeines Staatsrecht, von A. Affolter (Solo- 
thurn) (Art. I u. Schluß.) — Vorbesprechung über das Kartellwesen vom 14. XI. 1902. 
— Zolltarifgesetz vom 25. XII. 1902. Nebst Anlage dazu (Zolltarif). — Skizzen und 
Notizen: Die Art der Ausübung des Anfechtungsrechts, nach der Konkursordnung und 
dem Anfechtungsgesetze ; Die Begnadigung jugendlicher Verurteilter nach österreichischem 
Rechte. — Die Stellung des aufsichtführenden Richters. — etc. 

Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik. Herausgeg. von Heinrich Braun. 
Bd. XVIII, Heft 1 u. 2, 1903: Beruf und Besitz, von (Prof.) Werner Sombart (Breslau). 
— Die Revision des sehweizerischen Fabrikgesetzes, von F. Schuler (ehemal. schweiz. 
Fabrikinspekt.). — Die Rückkehr nach dem Lande, von (Prof.) Emil Vandervelde (Mit- 
glied der Deputiertenkammer, Brüssel) — Das Reformprogramm für die Wohnungs- 
und Ansiedlungsfrage in Deutschland, von Karl v. Mangoldt (Dresden). — Gesetz- 
gebung: Gesetzgeberische Fortschritte auf dem Gebiet des Wohnungswesens, von 
H. Lindemann (Stuttgart - Degerloch.) — Die Arbeitsbedingungen bei Vergebung 
öffentlicher Arbeiten in Frankreich, von Raoul Jay (Prof., Paris). — Der neue öster- 
reichische Gesetzentwurf zu Hintanhaltung der Trunksucht, von (Prof.) Max Gruber 
(München). — etc. 

Finanzarchiv. Zeitschrift für das gesamte Finanzwesen. XX. Jahrg., 1903, 
I. Bd.: Die Finanzpolitik Rumäniens in ihrer neuesten Gestaltung und die für die 
Sanierung der Finanzkrisis getroffenen Maßnahmen, von G. D. Creanga. — Die Novelle 
von 1902 zum deutschen Branntweinsteuergesetz, ven Georg Schmauser (kgl. OZollAss., 
München). — Geschichte und Kritik des Oktrois im Großherzogtum Hessen, von (Reg.- 
Ass.) Georg Hellwig. — Die sächsische Steuerreform vom Jahre 1902, von Georg 
Schanz. — etc. 

Mitteilungen vom Verband deutscher Patentanwälte, Jahrg. III, N° 1, Januar 
1903: Die Kostenerstattung bei Zurücknahme der Nichtigkeitsklage, von (JustizR.) 
A. Seligsohn. — Eingabe des Vorstandes betreffend Titelbezeichnungen der Gebrauchs- 
muster. — etc. 

Neue Zeit, die, Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie, Jahrg. XXI, 1903, 
Bd. I, N° 17—21, vom 24. I. — 21. II. 1903: Pour le roi de Prusse. Eine Ent- 
gegnung von Frz. Mehring. — Die badische Landwirtschaft und die Getreidezólle von 
Em. Eichhorn. — Industriewucher, von Gust, Hoch (II. Art.) — Wohin treiben wir? 
von Oda Olberg (Genua) — Das Ziehkinderwesen, von Henriette Fürth. — Ein alt- 
preußischer Demokrat (Franz Ziegler) von F. Mehring. — Sombarts „historische Sozial- 
theorie“, von Max Adler (Art. II). — Das Jahrhundert des Kindes, von Oda Lerda- 
Olberg. — Der Lehrermangel, von Otto Rühle. — Sozialpolitische Umschau, von Em. 
Wurm. — Die Metamorphose eines Skeptikers, von Casimir v. Keller. — Die rheinisch- 
westfälische Industrie und ihre Arbeiter, von Wilh. Düwell. — Pflanzen als Lebewesen, 
von Kurt Grottewitz. — Zentrum und Sozialdemokratie in Preußen. — Eine wahl- 
statistische Studie, von Wilh. Stein. — Parteimoral, von G. Bernhard. — Heinrich 
Heine als Politiker, von W. Th. Meyer. — Die große Arbeiterhatz in Argentinien, 
von German Avé-Lallemand. — Eine moderne Frau vor hundert Jahren, von H. B. 
Adams-Lehmann. — Zur Biographie Lassalles, von Franz Mehring. — Der norwegische 
Vereinsgesetzentwurf, von Erik Brunte. — Das Hamburger Schulwesen, von C. Schaum- 
burg. — Notiz: Die Entwickeluug des Textilgewerbes in Bayern, von Marcel. — Krise 
und Kartell, von Heinrich Cunow. — Der Massenstreik der Eisenbahner in Holland, 
von Herm. Gorter. — Eine Ungeschichte Amerikas, von Maximilian Bach (London). 
— ete. 

Politisch-Anthropologische Revue. Monatsschrift für das soziale und geistige 
Leben der Völker. Jahrg. I, N" 11, Februar 1903: Anthropologische Untersuchungen 
an jugendlichen Personen (I. Art.), von G. Marina. — Einwanderung und Bevölkerungs- 
bewegung in den Verein. Staaten, von R. Kuczynski. — Die Bedeutung der Kartelle für 
das wirtschaftliche Leben der Vólker, ven Fritz Flechtner. — Soziale und anthropologische 
Ideen in der Hygiene, von Alex Koch. — Bekleidung und Sittlichkeit, von Gust. Fritsch. 


432 Die periodische Presse Deutschlands. 


— Der philosophische Idealismus, von W. Kinkel. — etc. — No. 12, März 1903: 
Anthropologische Untersuchungen an jugendlichen Personen, von G. Marina (IL. Art.) — 
Ueber die Beziehungen der Anthropologie zur Geschichte und Politik, von L. Wilser. — 
Das Problem der Ahnentafeln, von E. Devrient. — Ueber Björnsons „Monogamie und Poly- 
gamie“ und die einschlägigen Forschungen Westermarcks, von Christian v. Ehrenfels. — 
Zur Frage des Ziehkinderwesens, von A. Just. — Entwickelungspädagogik, von H. Buhmann. 
— Zur Psychologie des Kunsttriebes, von J. Lübke. — Nachtrag zum Aufsatz: Bekleidung 
und Sittlichkeit, von Gust, Fritsch. — ete. 

Preußische Jahrbücher. 111. Bd. Heft 3, März 1903: Politischer Sinn bei 
Deutschen und Russen, von Arn. Diezmann. — Condorcet und der demokratische Gedanke, 
von (Prof.) P. Sakmann (Stuttg.). — Die Berechnung der Legislaturperiode in Preußen, 
von Ad. Arndt (GehOBergR., Prof., Königsberg). — Der planmäßige Domänenankauf in 


in den Provinzen Westpreußen und Posen, von (LandR.) Petersen. — etc. 

Rechtsschutz, gewerblicher, und Urheberrecht. Jahrg. VIII, N° 1, Januar 1903: 
Das Vorbenutzungsrecht in der Union, von R. Wirth. -— Versuch einer Statistik der 
Patenterteilungen in Rußland, von (PatentAnw.) C. v. Ossowski. — Die rechtliche Be- 
deutung des Inkrafttretens der Internation. Union im Deutschen Reiche für die An- 
meldungen, von F. Damme. — Gewährt das Urheberrechtsgesetz einen Schutz gegen 
unbefugte Titelentnahmen? von Karl Schaefer. — Die Aenderung des britischen Patent- 
gesetzes, von J. F. Iselin (barrister at law, London). — ete. 


Verwaltungsarehiv. Zeitschrift für Verwaltungsrecht und Verwaltungsgerichts- 
barkeit. Bd. XI, Heft 2/3, November 1902: Die deutsche Staatssprache, von (GehJustR., 
Prof.) Zorn (Bonn). — Gerichtsbarkeit und Verwaltungshoheit, von (GehOJustR., Prof.) 
F. Vierhaus (Berlin). — Die Verhältniswahl, ihre theoretischen Grundlagen und ihre 
praktischen Ziele, von (RegAss.) P. Siller (Berlin). — Ueber die Straßenreinigungspflicht 
der Hausbesitzer, von (GehRegR. Prof.) Gust. Cohn (Göttingen). — Geistliche als Mit- 
glieder von Schuldeputationen, von (Privdoz., StadtR.) J. Jastrow (Charlottenburg). — 
Die Veränderung von Gemeindegrenzen und ihre Rechtsfolgen, von (PolizeiR.) O. Stephan 
(Kiel). — ete. 

Zeitschrift für Sozialwissenschaft. Herausgeg. von (Prof.) Jul. Wolf (Breslau). 
Jahrg. VI, 1903, Heft 2: Das sozialókonomische System J. F. Brays, von (RegRef.) Erh. 
v. Heintze (I. Art.). — Die Entwiekelung Japans, von M. v. Brandt (Gesandter a. D.). 
— Friderizianischer Sozialismus, von (PrivDoz.) Max Fleischmann. — Die Rechtsstellung 
der Frau im Vorentwurf eines schweizerischen Zivilgesetzbuches in vergleichender Dar- 
stellung mit dem deutschen und österreichischen Recht, von Anna Mackenroth (Dr., 
Rechtsanw., Zürich). — Miszellen: Stutzer gegen Bebels Gesetz von der unbegrenzten 
Steirerungsfühigkeit der Bodenerträge, ete. 

Zeitschrift für die gesamte Staatswissensehaft, Jahrg. LIX, 1903, Heft 1: Der 
Kampf um die adeligen Güter in Bayern nach dem dreißigjährigen Kriege und die ersten 
bayerischen Amortisationsgesetze, von Arth. Cohen. — Zur Frage der Errichtung eines 
obersten Rechnungshofes für das Königreich Württemberg mit besonderer Berücksichtigung 
der bestehenden Einrichtungen im KReich Bayern und Sachsen, von O. Reinhard. — 
Die Beschleunigung der Verladung und Beförderung des Frachtstückgutes auf den Eisen- 
bahnen und die Regelung des Stückgutdienstes auf den k. k. österreichischen Staats- 


bahnen, von (Frh. zu) Weichs-Glon. — Das Wesen der Ministerverantwortlichkeit im 
monarchischen Staat, von Rich. Psssow. — Beiträge zur Artelkunde, von Herm. Beck. 
— ete. 


Frommannsche Buchdruckerei (Hermann Pohle) ia Jena, 


Georg Brodnitz, Die Krisis der englischen Arbeiterbewegung. 433 
Nachdruck verboten, 


VIII. 
Die Krisis der englischen Arbeiterbewegung. 


Von 
Georg Brodnitz, Halle a. S. 


Englische Verhältnisse haben lange Zeit hindurch eine starke Ein- 
wirkung auf Deutschland ausgeübt. Waren es zuerst philosophische 
und literarische Einflüsse gewesen, die sich geltend machten, so waren 
es später politische und wirtschaftlich-soziale. Manche Anschauungen 
der Engländer auf diesen Gebieten sind bei uns viel entschiedener 
und extremer vertreten worden, als im britischen Reiche selbst. Als 
wir aus einem mehr politischen in ein mehr sozialpolitisches Zeit- 
alter getreten waren, da meinte man vielfach, in England ein soziales 
Dorado, für den Praktiker wie für den Theoretiker, erblicken zu können. 
Diesem böte die englische Entwickelung Gegenheit, in exakter 
Weise seine Theorien zu bilden und zu prüfen, denn bei dem wirt- 
schaftlichen Vorsprung Englands gegenüber Deutschland könnten wir 
uns ein genaues Bild machen, welchen Weg auch wir gehen würden 
und welche Maßnahmen wir ergreifen müßten, wenn dieser Weg uns 
ebenfalls zum „sozialen Frieden“ führen sollte, Damit ergebe sich 
der außerordentliche Wert der englischen Verhältnisse auch für den 
Praktiker: er habe nur die gleichen Mittel anzuwenden, um zum 
gleichen Ziel zu kommen. 

Man zweifelte nicht, daß England den „sozialen Frieden“ bereits 
erreicht habe, und man wurde nicht müde, uns die englischen Ar- 
beiterorganisationen als die Grundlage desselben in den glänzendsten 
Farben zu schildern. Aber je entschiedener man eine gleiche Aus- 
gestaltung der Arbeitervereine auch bei uns geradezu als das alleinige 
Mittel zur Herstellung befriedigender Zustände hinstellen wollte, desto 
energischer wurde der Widerspruch gegen diese Theorien laut. Und 
diese Stimmen mußten sich mehren, je klarer es wurde, daß der so- 
ziale Friede Englands nichts anderes war als höchstens ein sozialer 
Waffenstillstand, der von einer neuen Kampfperiode abgelöst wurde. 
Die Veränderung der Sachlage forderte auch Unparteiische zur Nach- 
prüfung jener Theorien und der tatsächlichen Gestaltung der Ver- 
hältnisse geradezu heraus!). Jetzt waren die Gegner der Arbeiter- 


1) Biermer, Die britische Arbeiterbewegung. Jahrbuch der Internat. Vereinig. f. 
vergl. Rechtswiss. u. Volkswirtschaftslehre, 1898, S. 131. 
Dritte Folge Bd. XXV (LXXX). 28 


434 Georg Brodnitz, 


organisationen im Vorteil, und wie man früher nur ihre günstigen 
Seiten hatte sehen wollen, so wurde jetzt energisch alles ausgenutzt, 
was gegen sie zu sprechen schien. 

Gerade die gegenwärtige Krisis der englischen Arbeiterbewegung 
hat wiederholt Veranlassung gegeben, ihre Vorzüge zu negieren, da- 
für aber die Nachteile, die eine weitere Verbreitung ähnlicher Ein- 
richtungen in Deutschland mit sich bringen müßte, aufs entschiedenste 
hervorzuheben. Man ist hierin unserer Ansicht nach zu weit gegangen. 
Indem man die eigentlichen Ursachen der neuesten Entwickelung 
außer acht ließ, legte man zu großes Gewicht auf die äußeren Er- 
scheinungen der Krisis und erhielt, da man ihnen ohne genauere 
Nachprüfung traute, nicht nur ein falsches Bild der gegenwärtigen 
Situation, sondern wurde auch verhindert, die voraussichtlichen 
Folgen richtig einzuschätzen. 

Der Eintritt der Krisis kann niemand in Erstaunen setzen, der 
die gesamte Entwickelung der englischen Arbeiterbewegung unbe- 
fangen überblickt. Auch der soziale Waffenstillstand von 1850 bis 
in die 80er Jahre hinein war nur durch ein Zusammentreffen ver- 
schiedener, für die Arbeiter außerordentlich günstiger Momente er- 
möglicht worden. Das Aufsteigen des englischen Arbeiterstandes 
fällt in die glänzendsten Zeiten des englischen Unternehmertums, in 
die Jahrzehnte, in denen sich England seine Herrschaft auf dem 
Weltmarkte eroberte. „Daraus ergeben sich für die Arbeiterschaft 
die wichtigen Folgen: eine überaus günstige Gestaltung der Arbeits- 
marktverhältnisse; stetig wachsende Nachfrage nach Arbeit, geringe 
Arbeitslosigkeit; Geneigtheit und Fähigkeit des Unternehmers, dem 
der Gewinn in Strömen zufließt, den Arbeiter besser zu entlohnen, 
ihn an dem Goldregen bis zu einem gewissen Grade teilnehmen zu 
lassen. Und neben dieser eigentümlichen wirtschaftlichen Verum- 
standung,. die in keinem Lande sich wiederholen konnte, weil ihm 
die nachstrebenden, inzwischen erstarkten Nationen die Alleinherr- 
schaft auf dem Weltmarkt streitig machten, die höchst absonderliche 
Gestaltung, die das politische Parteileben in England erfahren hat“!). 

Das Schaukelsystem der englischen Politik war für die Inter- 
essen der Arbeiter wie geschaffen: es enthob sie der Notwendigkeit, 
eine selbständige Politik zu betreiben. Wechselseitig bemühten sich 
die Parteien, ihre Stimmen durch legislative Konzessionen für sich 
zu gewinnen, die bei der günstigen Wirtschaftslage von den Unter- 
nehmern nicht bekämpft wurden. 

Es kam aber noch ein weiteres hinzu, das in das Gebiet der 
Imponderabilien gehört, aber doch von großem Einfluß auf die Ar- 
beiterbewegung war: die Stimmung des Publikums. Ihre beste Zeit 
war frei von großen, die ganze Existenz und Weiterentwickelung des 
englischen Staates berührenden politischen Fragen. Man hatte Muße, 
sich mit den inneren, sozialen Verhältnissen zu beschäftigen. Und 
wenn es auch richtig ist, daß weder Carlyle noch Ruskin die eng- 


1) Sombart, Sozialismus und soziale Bewegung im 19. Jahrh., 3. Aufl., S. 36. 


Die Krisis der englischen Arbeiterbewegung. 435 


lische Arbeiterbewegung auf ihre Höhe gebracht haben, so ist es 
doch beachtenswert, daß diese „Sozialideologen“ sich überhaupt Gehör 
verschaffen konnten. Das war nur möglich in einer Zeit, in der 
man wirtschaftlich und politisch eine unbestrittene Machtstellung 
einnahm. Da konnten sich die Interessen des Publikums den Ar- 
beitern zuwenden und darauf hinwirken, daß man sie an den glän- 
zenden Erfolgen der Arbeitgeber partizipieren ließ. 

Alle diese, die Arbeiterbewegung begünstigenden Umstände, 
haben sich nun in den letzten Jahren geändert. England sah seine 
überragende Stellung bedroht, es wurde unruhig in seiner „splendid 
isolation“. Fragen tauchen auf, die wichtiger sind als ein Gewerk- 
vereins- oder Fabrikgesetz, Fragen, von deren richtiger Entscheidung 
die ganze Zukunft abhängt. 

Die veränderte Situation wirkt bald auf die inneren Verhältnisse 
ein. Die Schaukelpolitik ist bedroht: auf der einen Seite eine feste 
Majorität, die energisch an die Lösung der neuen Fragen herangeht, 
auf der anderen eine durch dieselben Fragen zersplitterte liberale 
Partei. Das Publikum muß zu ihnen Stellung nehmen: die Imperial 
Federation, der Imperial Zollverein, die Armeereform und der Wieder- 
aufbau Südafrikas stehen im Vordergrund der Interessen; hier ruht . 
die Entscheidung, das fühlt ein jeder. Und je schärfer die imperia- 
listische Strömung hervortritt, desto weniger Aufmerksamkeit kann 
man der Arbeiterbewegung widmen. 

Man war früher der Ansicht, die imperialistische Politik werde 
in England von Unternehmern und Arbeitern geschlossen betrieben 
werden. Diese würden erkennen, daß nur die Expansion, wirtschaft- 
licher wie politischer Natur, im stande wäre, die englische Industrie 
auf ihrer Höhe zu erhalten und ihnen Arbeit und hohe Löhne zu 
gewähren!). Aber die jüngste Phase des englischen Imperialismus 
hat die Billigung der Arbeiter bisher nicht gefunden, denn es zeigte 
sich, daß die neue Richtung die Arbeiterbewegung durchaus ungünstig 
beeinflußt. 

Zwar hat der „konstruktive“ Imperialismus die Arbeiterfrage 
ausdrücklich in sein Programm aufgenommen ?), aber es fehlt auch 
nicht an Stimmen, die eine günstige Einwirkung desselben, wenigstens 
auf die Gewerkvereine, für ausgeschlossen halten). Nicht etwa, daß 
man plötzlich alle Fürsorge für die Hebung der arbeitenden Klassen 
aufgegeben hätte. Im Gegenteil, die Arbeiterschutzgesetzgebung 
schreitet erfreulich weiter, zumal der Workmen’s Compensation Act 
mit seinen Ergänzungen und das neue Fabrikgesetz bilden einen be- 


1) Georg Adler, Die Zukunft der sozialen Frage, 1901, S. 63. 

2) Hewins, Der Imperialismus und seine voraussichtliche Wirkung auf die Handels- 
politik des Vereinigten Königreichs. Schriften des Ver. f. Sozialpolitik, Bd. 91, S. 117. 

3) J. A. Hobson, The Economie Taproot of Imperialism. Contemporary Rev., 
August 1902, p. 230: Trade Unionism and Socialism are thus the natural enemies of 
Imperialism, for they take away from the „imperialist“ classes the surplus incomes 
which form the economie stimulus of Imperialism . . . We shall perceive that the 
tendency of Imperialism is to crush Trade Unionism. 


28* 


436 Georg Brodnitz, 


deutenden Fortschritt. Auch die Bildungsbestrebungen, University 
Extension und Settlements, nehmen einen guten Fortgang; neben 
der Londoner Toynbee Hall ist nun in Oxford gerade während der 
letzten Jahre in Ruskin Hall ein viel weiter gehendes Volkser- 
ziehungsinstitut entstanden, und ein Oxforder College hat erst un- 
längst den entscheidenden Schritt getan, einen durch die University 
Extension ausgebildeten Arbeiter als vollberechtigtes Mitglied des 
Lehrkörpers aufzunehmen. 

Trotzdem kann kein Zweifel darüber bestehen, daß die ganze 
Arbeiterbewegung heute weit weniger Interesse erregt, als in früheren 
Zeiten. Eine Teilnahme, wie sie etwa zur Zeit des großen Dock- 
arbeiterausstandes sich zeigte, wäre heute nicht denkbar. Ja, die 
Stellung des Publikums den Arbeitern gegenüber ist in der letzten 
Zeit teilweise geradezu feindselig geworden. Entscheidend hierfür 
war vor allem der südafrikanische Krieg, der von den demokratischen 
Arbeitern mißbilligt wurde und sie in den Ruf von „Proboers* 
brachte. Die Folgen davon zeigten sich schon bei den Parlaments- 
wahlen von 1900, indem die Zahl der Arbeitervertreter von 12 auf 
9 herunterging. 

Der Krieg war den arbeitenden Klassen um so weniger sym- 
pathisch, als er auch eine finanzielle Belastung notwendiger Lebens- 
mittel, wenn auch nur in geringer Höhe. mit sich brachte. Eine 
größere Hinneigung zu indirekten Steuern wäre in England wohl 
auch sonst früher oder später eingetreten !), aber man empfand es 
unangenehm, daß man gerade Tee und Zucker, dann auch Getreide 
besteuerte, den gleichzeitig vorgeschlagenen Scheckstempel aber wieder 
fallen ließ. Der Finanzminister erklärte den Kornzoll für geeigneter, 
da seine geringe Höhe doch keinen Einfiuß auf die Brotpreise aus- 
üben könne. Als sich aber trotzdem in manchen Fällen das Gegen- 
teil feststellen ließ, suchte Sir Michael Hicks-Beach diese Heran- 
ziehung der arbeitenden Klassen als politische Notwendigkeit hin- 
zustellen: er erklärte am 12. Mai 1902 im Unterhause, daß er anderen- 
falls ja einen Zweifel an ihrer Vaterlandsliebe zum Ausdruck ge- 
bracht hätte; die Aermsten seien ebenso patriotisch wie die Reichsten 
und ebenso bereit, die Last des von ihnen gebilligten Krieges zu 
tragen; Reiche gäbe es nur wenige, deshalb wäre es feige, ihnen alle 
Kosten aufzubürden, da sie sich infolge ihrer geringen Zahl bei den 
Wahlen gar nicht dagegen wehren könnten ?). Tatsächlich haben 
aber die arbeitenden Klassen durchaus nicht so allgemein, wie der 
Finanzminister es hinstellen wollte, den Krieg gebilligt, und das 
„Arbeiterparlament“, der 1902 in London tagende Gewerkvereins- 
kongreß, unterließ es auch nicht, als Antwort auf die Ausführungen 


1) Hewins a. a. O. S. 116 und 118; Economic Journal 1900: Some Economie 
Aspects of the War (Artikel von Sir Robert Giffen und L. L. Price). 

2) Vgl. über diese Ausführungen den , Economist" vom 17. Mai 1902: The 
Chancellor of the Exchequer on his defence. 


Die Krisis der englischen Arbeiterbewegung. 437 


des Ministers eine entschiedene Resolution gegen die Getreidezólle 
zu fassen!). 

Viel wichtiger aber als diese Vorgünge waren die mehr und 
mehr hervortretenden Veründerungen in der wirtschaftlichen Situation 
Englands. Die Arbeiterbewegung hatte ihre Höhe pari passu mit 
der gesamten industriellen Entwickelung erreicht, und als diese 
sich bedroht fühlte, mußte eine Rückwirkung auch auf die Arbeiter- 
bewegung eintreten. 

Biermer wies schon vor einigen Jahren darauf hin, wie sich „jen- 
seits des Kanals, seitdem sich die dortige Industrie und der Groß- 
handel in ihrer so lang behaupteten Monopolstellung eingeengt sehen, 
eine eigentümliche Unruhe und Unsicherheit geltend macht“ ?). Viel- 
leicht das erste Anzeichen dieser Nervosität war der Merchandise 
Marks Act — ein vollständiger Fehlschlag. Die Konkurrenz nahm 
trotz und teilweise sogar wegen der Marken zu. Man meinte, sie 
arbeite mit unlauteren Mitteln, aber der Erfolg des Made in Germany 
erwies das Gegenteil, und die Rundfrage, die Chamberlain 1897 über 
den Grund der zunehmenden Konkurrenz an alle Kolonien richtete, 
ergab, daß sie vollkommen „fair“ sei. Diese Erklärung wird kaum 
dazu beigetragen haben, die Unruhe der englischen Industriellen zu 
mindern. Im Gegenteil, wir sehen sie wachsen, von Williams’ „Made 
in Germany“ bis zum Ceterum censeo Germaniam esse delendam 
der Saturday Review. 

Zu allem Ueberfluß hatte die englische Industrie aber nicht nur 
nach außen hin Schwierigkeiten. Die Gewerkvereine hatten sich in 
den günstigen Zeiten eine feste Position errungen, sie boten einen 
erprobten Rückhalt, und die Arbeiter waren nicht geneigt, erkämpfte 
Vorteile aufzugeben und etwa durch geringere Lohnansprüche die 
Situation der Unternehmer zu erleichtern. Und jetzt treten noch 
die „neuen“, aggressiven Gewerkvereine auf, die sich selbst als figh- 
ting bodies bezeichnen, stets bereit, den Kampf aufzunehmen. Für 
die englische Industrie war es zweifellos ein unglückliches Zusammen- 
treffen, daß die Entstehung des neuen Unionismus gerade in die 
Periode wirtschaftlicher Schwierigkeiten fiel. 

Alles das wirkte darauf hin, die nervöse Spannung zu erhöhen, 
und da sie sich nach außen nicht wirksam entladen konnte, wandte 
sie sich nach innen. Die englischen Arbeitgeber sahen ihre Kon- 
kurrenten unbehindert von einer Gewerkvereinsbewegung großen 
Stiles. Sie glaubten daher vielfach, gerade hierin den Grund ihrer 
Stärke sehen zu müssen. Nun lag der Gedanke nicht mehr fern, 
sich auf das gleiche Niveau mit der Konkurrenz zu bringen, indem 
man daran ging, die Macht der Trade Unions zu brechen, um dann 
die Ansprüche der Arbeiter, die Löhne, herabzudrücken und womög- 
lich einen Vorsprung vor dem Ausland zu gewinnen. 


1) Die Brotpreise sind übrigens ungeachtet der Zölle im Jahre 1902 im all- 
gemeinen niedriger als gewöhnlich geblieben. 
J'ai" Os 197 


438 Georg Brodnitz, 


Diese Idee trat bei dem großen Maschinenarbeiterstreike 1896/97 
hervor. Mit Recht konnte Brentano damals von einer „atomistischen 
Reaktion‘ der Unternehmer sprechen !). Sie vermochten jedoch ihren 
Plan nicht durchzusetzen. Wenn die Maschinenbauer auch nach- 
geben mußten, so wurde doch die prinzipielle Wiederanerkennung 
des gemeinsamen Arbeitsvertrages erreicht. Zu optimistisch war es 
aber, wenn Brentano daraufhin meinte, es sei hierdurch „der alte 
Ruf der englischen Arbeitgeber, daß sie keine romantische Politik 
der Wiedereinführung untergegangener Herrschaftsverhältnisse ver- 
folgten, wiederhergestellt* ?). Soweit es sich um den offenen 
Kampf gegen die Gewerkvereine handelte, haben die englischen 
Unternehmer allerdings ihre atomisierenden Neigungen aufgegeben. 
Ein letzter Rest hiervon besteht nur noch in dem Streite des Marquis 
von Penrhyn mit den Arbeitern seiner Schieferbrüche in Bethesda 
(Nordwales), der mit Unterbrechungen seit 1896 besteht. Er ist 
hervorgerufen durch die Weigerung des Marquis, mit der Organi- 
sation seiner Angestellten in Unterhandlung zu treten, und hat durch 
seine lange Dauer und die herrschende Erbitterung außerordentlich 
unglücklich auf die ganze dortige Gegend eingewirkt. Viele Familien 
sind ausgewandert. andere sind vollständig in zwei Heerlager ge- 
spalten. Die wenigen Arbeitslustigen mußten durch die Polizei zu 
den Brüchen und zurück eskortiert werden, und wiederholt wurde 
die Requisition militärischer Hilfe notwendig 3). Die Arbeiter haben 
sich in ihrer Not sogar unmittelbar an den König gewandt, jedoch 
ohne Erfolg, da die Krone in diesen Streit nicht eingreifen kann. 

Von solchen Einzelfällen abgesehen, hat man, wie gesagt, den 
offenen Kampf aufgegeben, nicht aber den Wunsch, die Macht 
der Gewerkvereine auf die eine oder die andere Weise zu brechen. 
Man begann das Publikum nervös zu machen mit dem ständigen 
Hinweis auf die wachsende Konkurrenz anderer Länder, in denen 
die Gewerkvereine keinen Einfluß hätten und deren Industrie 
wesentlich aus diesem Grunde so außerordentlich gedeihe*). Den 
Trade Unions und ihrem Terrorismus suchte man allmählich die 
ganze Schuld an den bestehenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten in 
die Schuhe zu schieben. Schon während des Maschinenbauerstreikes 


1) Brentano, Die atomistische Reaktion in England. Soziale Praxis 1897, No. 11 
und 12. Vergl. auch ebenda 1898 Sp. 187 den Brief K. S. Watsons: es gebe Unter- 
nehmer, „die von oben herab handeln, herrisch und unverständig, welche am liebsten 
die Unions zertrümmerten und lediglich ihren eigenen Weg gingen“. Doch sei dies die 
Minderheit. 

2) Handwörterbuch d. Staatswiss. Art. „Gewerkvereine (England)‘“, 2. Aufl. Bd. IV, 
S. 638. 

3) Bericht des Grafschaftsrates im „Standard“, 23. Januar 1903. 

4) Ein gutes Beispiel aus neuester Zeit bildet der Artikel ,,German versus British 
Trade“ in der „Times“ (Weekly ed. 4. April 1902): If as a nation we continue to 
advance, it cannot be denied that Germany progresses still more rapidly. It is in part 
due, no doubt, to many special advantages which she enjoys... there is no trade 
unionism in the British sense, if trade unionism and sense may be 
mentioned together in one sentence. — Aehnlich „Times“ vom 5. Dezember 
1902: English and Continental Glass Making. 


Die Krisis der englischen Arbeiterbewegung. 439 


hatte man die Meinung verbreitet, es handele sich um einen Kampf, 
wer Herr im Hause sein solle, und sorgfältig nutzte man jetzt jede 
übertriebene Forderung und jeden Uebergriff, wie er zumal von den 
jungen, aggressiven Vereinen des öfteren verübt wurde, gegen die 
Arbeiterorganisationen überhaupt aus. 

So wußte man gegen die Gewerkvereine Stimmung zu machen, 
und der Erfolg blieb nicht aus. Denn nur aus dem Umschwung der 
öffentlichen Meinung erklärt sich die völlige Veränderung der recht- 
lichen Lage der Unions, die allmählich ohne jedes Eingreifen der 
Gesetzgebung Platz gegriffen hat. Schlag auf Schlag ergingen ge- 
richtliche Urteile gegen die Gewerkvereine, die geeignet waren, die 
Wünsche der Unternehmer der Erfüllung ganz erheblich näher zu 
bringen. Nicht etwa, daß die Richter irgendwie direkten Einflüssen 
zugänglich waren oder in Widerspruch zu den Grundsätzen des eng- 
lischen Rechtes traten — das braucht nicht erst betont zu werden. 
Aber auf der anderen Seite wäre es zu der neuen Gesetzesinterpre- 
tation ohne die anhaltende gewerkvereinsfeindliche Strömung nicht 
gekommen. 

Das erste dieser Urteile, in der Sache Allan v. Flood, erging 
bald nach der Beendigung des Maschinenbauerstreikes am 14. Dez. 
1897. Hier wurde der Anfang damit gemacht, den Arbeitern den 
Kampf gegen die Unternehmer zu erschweren. Immer weiter wurde 
der Begriff dessen, was bei einem Ausstand als „ungesetzlich“ im 
Sinne der Gewerkvereinsgesetze von 1871 und 1875 anzusehen sei, 
interpretiert, viel weiter, als jemals früher. Streikposten, die sich 
nicht auf die Nachrichtenübermittelung beschränken, dürfen nicht ge- 
stellt werden; schwarze Listen von „blacklegs“ oder von Unter- 
nehmern, die solche beschäftigen, sind verboten; strafbar ist es, Ge- 
werkvereinler von einem solchen Betriebe abzurufen; ungesetzlich 
ist die Drohung, von einem Unternehmer Kunden fernhalten zu 
wollen, ebenso wie der Beschluß, kein Material einer bestimmten 
Firma zu verarbeiten, welche einer anderen während eines Streikes 
Lieferungen machte. 

All das bezeichnete man als strafbare „unlawful means“, und 
man erreichte es hierdurch, daß nach dem Urteil nicht nur den 
Beteiligten, sondern auch hervorragenden Juristen, ein erfolgreicher 
Streik heute nahezu unmöglich gemacht worden ist!) Bei weitem 
am wichtigsten aber ist die Entscheidung, die am 22. Juli 1901 vom 
Oberhause zu Gunsten der Taff Vale-Eisenbahn erging. Diese Gesell- 
schaft hatte, ungeachtet des Umstandes, daß nach den bisherigen 
Grundsätzen eine Trade Union civilrechtlich nicht haftbar gemacht 
werden konnte, den Gewerkverein der Eisenbahner auf Ersatz des 
anläßlich eines Streikes entstandenen Schadens verklagt. Der Richter 
erster Instanz entsprach dem Antrag der Eisenbahngesellschaft, die 


1) Ueber die einzelnen Urteile wird regelmäßig in der „Sozialen Praxis“ berichtet. 
Eine zusammenhängende Darstellung gibt Georges Howell, Labour Legislation, Labour 
Movement and Labour Leaders. London 1902, S. 478 ff. 


440 Georg Brodnitz, 


zweite Instanz entschied umgekehrt zu Gunsten des Gewerkvereins, 
das Oberhaus aber als höchste Instanz stellte das erste Urteil wieder 
her. Zur Begründung zog man den Umstand heran, daß im Gewerk- 
vereinsgesetze von 1871 nicht ausdrücklich bestimmt sei, ein Verein 
dürfe nicht haftbar gemacht werden. Es sei zwar richtig, daß die 
Union keine juristische Persönlichkeit sei, so daß sie an sich nicht 
verklagt werden könne. Aber auf der anderen Seite stellte sie doch 
eine „legal entity“ dar, deren Vermögen nicht in der Luft schweben 
könne und daß deshalb der Verfolgung vor den Gerichten zugänglich 
gemacht werden müsse. 

Dieser Gedanke ist an sich vollkommen richtig!) und ist auch 
von eifrigen Verteidigern der Gewerkvereine, wie S. und B. Webb, 
anerkannt worden?). Bedenklich ist nur, daß er durch einfache Inter- 
pretation von Gesetzen, die man 25 und 30 Jahre hindurch im ent- 
gegengesetzten Sinne ausgelegt hatte, durchgeführt wurde und zwar 
gerade in dem Augenblicke, in dem es vollkommen zweifelhaft ge- 
worden war, was alles als „unlawful means“ anzusehen sei, für die 
man haftbar gemacht werden könnte. Die Stellung der Gewerk- 
vereine wird dadurch doppelt prekär. Ist sie gegen früher schon 
schwieriger, weil sie nunmehr für jedes Versehen ihrer Organe 
haften müssen, so kommt hinzu, daß sie bei der Unsicherheit der 
ganzen Rechtslage ihren Beamten gar keine Instruktionen für den 
Fall eines Streikes geben können, ohne befürchten zu müssen, die 
Grenze des Erlaubten zu überschreiten. 

Damit ergibt sich die einschneidende Bedeutung der neu ge- 
schaffenen Rechtslage für die Trade Unions. Sie sehen sich vor die 
Alternative gestellt, in Zukunft auf einen Streik überhaupt zu ver- 
zichten, oder aber Gefahr zu laufen, daß für ein Versehen eines 
ihrer Organe ihr gesamtes Vermögen haftbar gemacht wird, d. h. 
daß die Summen, die allmählich für Versicherungszwecke u. s. w. 
gesammelt waren, mit einem Schlage verloren gehen. Um welche 
Beträge es sich hierbei handeln kann, beweist gerade der Fall der 
Taff Vale-Eisenbahn, die 540 000 M. Schadenersatz beanspruchte °). 
Es liegt somit auf der Hand, daß durch die neue Gesetzesinterpretation 
ein sehr starker psychischer Druck ausgeübt wird, sich des Streikes 


1) Aehnlich bestimmt auch unsere Civilprozeßordnung $ 50 Abs. 2, daß ein 
nicht rechtsfühiger Verein verklagt werden kann. 

2) Die neueste Geschichte des Gewerkvereinswesens im Vereinigten Königreich 
und ihr vermutliches Ergebnis. „Soziale Praxis“ 1902 Sp. 609 ff. 

3) Die Taff Vale-Angelegenheit ist jetzt erst ganz zum Abschluß gekommen. 
Nachdem das Oberhaus die prinzipielle Frage der Haftbarkeit bejaht hatte, entwickelte 
sich ein weiterer Prozeß, ob von dem Gewerkverein der Eisenbahner auch wirklich 
ungesetzliche Maßnahmen getroffen worden seien. Diese Frage bejahte die Kings Bench 
am 19. Dezember 1902, überließ aber die weitere Festsetzung der Höhe der Entschädigung 
dem Richter. Am 11. Februar 1903 kam jedoch ein Vergleich zustande, demzufolge 
der Gewerkverein der Taff Vale-Gesellschaft 460 000 M. als Ersatz des Schadens und 
der Prozeßkosten zu zahlen hat. Schon vorher hatten die Eisenbahner ihre Kosten 
anf 1000000 M. angegeben. Ihr Gesamtvermögen belief sich 1900 auf 4 901 120 M., 
ihr Jahreseinkommen auf 1 456 420 M. bei 1 043 100 Ausgaben. Der Verein wird dem- 
naeh durch den Prozeß sehr schwer, aber keineswegs vernichtend getroffen. 


Die Krisis der englischen Arbeiterbewegung. 441 


zu enthalten, da es immer ungewisser wird, welche Maßnahmen als 
ungesetzlich angesehen werden, und die Arbeiter nicht leichten Herzens 
die Aussicht auf Versorgung aus dem Vereinsvermögen riskieren 
werden. 

Die Beurteilung, welche die neue Rechtslage in England fand, 
war eine sehr verschiedene. Die Blätter, welche den Unternehmern 
nahe stehen, sahen in ihr eine entschiedene Verbesserung. Der 
„Standard“ führte aus, erst durch sie werde der soziale Friede 
wirklich angebahnt, denn nun würden die Arbeiter nicht mehr bei 
jeder Differenz mit dem Arbeitgeber gleich zum Streik schreiten, 
sondern sie würden sie durch friedliche Ueberredung aus der Welt 
zu schaffen suchen; so würde sich die Zahl der Arbeitsstreitigkeiten 
zusehends mindern. Allerdings verrät der „Standard“ nicht, was 
die Arbeiter tun sollen, wenn ihr Versuch zu friedlicher Ueberredung 
erfolglos bleibt. Offenherziger ist die „Times“. Sie hat wiederholt!) 
ihrer Freude Ausdruck gegeben, daß es endlich gelungen sei, des 
„organisierten Terrorismus“ Herr zu werden. Bei der augenblicklichen 
Lage sei der Beginn eines größeren Streikes aussichtslos; damit ist 
also, das kann man zwischen den Zeilen lesen, den Wünschen der 
Unternehmer Genüge getan. Aber auch in den Kreisen der Gewerk- 
vereinler selbst sah man die veränderte Situation anfangs nicht als 
ungünstig an. So äußerte Richard Bell, der Generalsekretär der 
zunächst betroffenen Eisenbahner, die Hoffnung, das Gefühl der 
Verantwortlichkeit und die Möglichkeit, durch einen unüberlegten 
Schritt das ganze Vermögen zu riskieren, werde die Disziplin inner- 
halb der Vereine stärken und werde alle Mitglieder veranlassen, 
den Anordnungen der Führer strikt nachzukommen. Auch werde 
die Stellung der Gewerkvereine dadurch eine bessere, daß sie jetzt 
jedem Unternehmer die Garantie eines haftbaren Kontrahenten böten, 
die er bei einzelnen unorganisierten Arbeitern nicht habe?). 

Seither hat aber eine pessimistische Auffassung die Oberhand 
gewonnen. Zumal die älteren Führer der Gewerkvereinsbewegung 
betonten, daß diese sich in einer entschiedenen Krisis befinde®). Man 
mußte daher zusehen, eine Besserung herbeizuführen. So wandte 
sich das parlamentarische Gewerkvereinskomitee unter Führung von 
Charles Dilke am 6. Februar 1902 an den Minister des Innern, um 
ihm die schweren Folgen der Taff Vale-Entscheidung vorzuführen. 
Der Minister gab nur eine sehr ausweichende Antwort: es handle 
sich um so schwierige Rechtsfragen, daß man sich vorläufig noch ab- 
wartend verhalten müsse, da ev. nicht nur eine Aenderung der Spezial- 
gesetze, sondern des gemeinen Rechtes erforderlich würde Zum 
Schluß verwies er die Deputation auf die in Aussicht genommene 
parlamentarische Erörterung der ganzen Angelegenheit, die denn 
auch am 14. Mai 1902 stattfand. An diesem Tage beantragten die 


1) Zuletzt anläßlich des eben erwähnten Urteils im Leitartikel vom 20. Dez. 1902. 
2) Vgl. „Soziale Praxis“. 1901, Sp. 1146. 
3) Howell, a. a. O. S. 455. 


442 Georg Brodnitz, 


4 


Abgeordneten Beaumont und Bell (der Generalsekretär der Eisen- 
bahner) die Anwendung gesetzgeberischer Maßnahmen, welche es 
verhindern sollten, daß die Arbeiter durch das neue „Juristenrecht“ 
in eine ungünstigere rechtliche Lage gebracht würden, als sie das Par- 
lament im Gewerkvereinsgesetze von 1875 ihnen habe gewähren 
wollen. Zur Begründung wies Beaumont auf die Taff Vale-Ent- 
scheidung hin und verlangte, wenn man die Gewerkvereine wie ju- 
ristische Personen haftbar machen wolle, ihnen auch die entsprechen- 
den Rechte einzuriumen. Gegen die Resolution wandte sich 
namens der Regierung der Attorney General. Er verteidigte die 
Entscheidungen der Gerichte, da sie nur das gemeine Recht auch auf 
die Gewerkvereine zur Anwendung brächten; diese müßten für ihre 
Organe so gut haften, wie ein Arbeitgeber für seine Angestellten. 
Darauf beantragte Haldane, wenigstens eine Kommission zur Kodi- 
fikation des Gewerkvereinsrechtes einzusetzen, das durch die ver- 
schiedenen, einander teilweise widersprechenden Urteile ganz in Ver- 
wirrung gebracht sei. Diesen Antrag unterstützten auch die liberalen 
Parteiführer Campbell- Bannerman und Asquith, er wurde jedoch 
vom Minister des Innern zurückgewiesen. Darauf wurde mit ge- 
ringer Majorität, 203 gegen 174 Stimmen, eine Gegenresolution 
Renshaws angenommen, es seien keine legislativen Schritte zu tun, 
da sich das bestehende Gewerkvereinsrecht als ausreichend erweise. 
Somit war der Versuch der Gewerkvereinler, auf diesem Wege eine 
Aenderung der Situation herbeizuführen, gescheitert‘). Es wurden 
seither verschiedene andere Vorschläge gemacht. So tauchte der 
alte Plan wieder auf, die provident funds ganz von der trade funds 
zu trennen, um erstere dem Zugriff der Unternehmer zu entziehen. 
Dieser Vorschlag ging vom parlamentarischen Gewerkvereinskomitee 
aus, wurde aber auf das Anraten der Rechtsgelehrten abgelehnt. 
Ebensowenig drang das London Trades’ Council mit der Anregung 
durch, freiwillige Strikeposten-Organisationen zu gründen, die unab- 
hängig und ohne Verantwortlichkeit der Vereine vorgehen sollten, so 
daß man diese nicht mehr haftbar machen könnte. Dagegen spricht 
jedoch die Erfahrung, daß sich ein größerer Streik ohne einheitliche 
Direktiven nicht durchführen läßt. 

Vor der Hand hat man sich auf eine strengere Fassung der 
Statuten beschrünken müssen, um Fehlgriffe der leitenden Organe 
tunlichst zu vermeiden. So haben die Eisenbahner die Bestimmung 
gestrichen, daß der Vorstand zweifelhafte Stellen der Satzungen selb- 
ständig auslegen dürfe. 

Es ist hiernach klar, daß die englischen Gewerkvereine durch 
die neu geschaffene Rechtslage und die vorläufige Unmöglichkeit, 
einen Wandel hierin zu schaffen, in eine außerordentlich schwierige 
Lage gekommen sind. Gerade die einsichtsvollsten und ruhigsten 
Führer betonen, wie kritisch die gegenwärtige Situation ist ?). 


1) Der Antrag soll jedoch in dieser Session wieder eingebracht werden. 
2) Howell, a. a. O. 


Die Krisis der englischen Arbeiterbewegung. 443 


Merkwürdigerweise hat man aber in Deutschland diesen Wandel 
in der britischen Arbeiterbewegung, abgesehen von der Tagespresse, 
keineswegs gebührend gewürdigt, um sich dafür aber um so ein- 
gehender mit gewissen Begleiterscheinungen der gegenwärtigen Krisis 
zu beschäftigen. Denn nur eine sekundäre Bedeutung können wir 
den mannigfachen Versuchen der englischen Presse, die Trade Unions 
auch in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht zu diskreditieren, zu- 
schreiben, wie dies auch seitens der Gewerkvereine selbst geschah. 

Gewisse Bestrebungen in dieser Richtung machten sich schon 
während des Maschinenbauerstreiks geltend, um neuerdings weit ent- 
schiedener hervorzutreten. Zuerst behauptete man nur im allge- 
meinen und bei Besprechung anderer Fragen, die Gewerkvereine 
verschuldeten den Rückgang der englischen Industrie, indem sie durch 
systematische „restriction of output" die Produktion verteuerten 
und konkurrenzunfähig machten. Aber man glaubte sich damit trösten 
zu können, daß auch Deutschland und Amerika nicht dauernd von 
diesen Uebeln verschont bleiben würden!) Dann wurden spezielle 
Klagen über die Bauhandwerker geäußert; das Bauen werde immer 
langwieriger und kostspieliger, da die Arbeiter vorsätzlich alles in 
die Länge zögen. Hiergegen wird von einem Architekten das Ein- 
greifen der Gesetzgebung und die Androhung schwerer Strafen ver- 
langt, da die bisherige Rechtsprechung nicht ausreiche?). Diese Aus- 
führungen werden wieder von Benjamin Taylor unterstützt: die Trade 
Unions seien einst geschaffen zum Schutze der Arbeiter gegen die 
Uebergriffe des Kapitals, heute aber strebten sie ihrerseits danach, 
sich die Kapitalisten zu unterwerfen: „it is Trade Unionism that 
cripples us by enhancing the cost of production and by constantly 
restricting the output‘). 

Während es sich aber hier immer um vereinzelte Stimmen han- 
delte, nahm es nun gegen Ende des Jahres 1901 die „Times“ in die 
Hand, einen vollständigen Feldzug gegen die Gewerkvereine zu er- 
öffnen. Unter dem Titel „The Crisis in British Industries" ließ sie 
vom November 1901 bis zum Januar 1902 eine Reihe von 11 Ar- 
tikeln erscheinen, die sich ausschließlich gegen die Trade Unions 
richteten und in ganz England Aufsehen machten, denn seit langer 
Zeit waren so starke Angriffe gegen die Arbeiterorganisationen nicht 
erhoben worden. Die Artikel sind nur gezeichnet „from a correspon- 
dent“, aber es ist jeder Zweifel ausgeschlossen, daß ihr Verfasser 
eine den einflußreichen Unternehmerkreisen sehr nahe stehende und 
von ihnen mit Nachrichten versehene Persönlichkeit ist. 

Der Gewührsmann der „Times“ ist mit außerordentlichem Ge- 
schick vorgegangen. Er gibt zunächst ohne weiteres zu, daß sich 


1) Benjamin Taylor, The Decline of British Commerce. North American Review, 
October 1900. 

2) William Woodward, The British Workman and his competitors. Nineteenth 
Century, März 1901. 

3) Benjamin Taylor, How Trade Unionism affeets British Industries. North 
American Review, August 1901. 


444 Georg Brodnitz, 


die Zahl der Arbeitsstreitigkeiten gewalttätigen Charakters in Eng- 
land sehr gemindert habe. Man dürfe jedoch darauf nicht zu viel 
Gewicht legen, denn dieser Fortschritt werde teilweise schon dadurch 
aufgewogen, daß manche Industrien noch immer unter den Nach- 
wirkungen früherer Kämpfe zu leiden hätten, während andere den 
Frieden nur dadurch sich erkauft hätten, daß sie den Forderungen 
der Arbeiter nachgegeben und die unvermeidlichen Mehrkosten der 
Produktion auf die Konsumenten abgewälzt hätten. Schließlich aber 
— und das sei das Schlimmste — habe man auch nur den Teufel 
durch Beelzebub ausgetrieben. Denn wenn jetzt weniger Gewalt- 
tätigkeiten vorkämen, so sei der Grund hierfür wesentlich auch darin 
zu suchen, daß an Stelle des „neuen‘ (d. h. aggressiven) Unionismus 
ein „neuerer“ getreten sei, der harmlos aussähe, aber wegen seiner 
latenten Form viel gefährlicher sei; die Gewerkvereinler brächten 
das Prinzip der restriction of output oder des Ca’ canny, wie sie 
selbst zu sagen pflegten, systematisch zur Durchführung. Planmäßig 
schränken sie — so behauptet der Korrespondent der „Times“ — 
die Arbeitsleistung ein, während Arbeitsdauer und Ar- 
beitslohn gleich bleiben. Auf diese Art können sie in Zukunft 
jeden Streik vermeiden, da sie es nun selbst in der Hand haben, 
wie viel sie für den Arbeitslohn leisten wollen. Werde hierdurch 
schon die gesamte Industrie in ihrer Existenzfähigkeit bedroht, so 
seien die politischen Folgen des Ca’ canny noch weit gefährlicher, 
denn dieses System stelle sich dar als eine Vermengung der Ge- 
werkvereinstheorien mit den Forderungen des extremen Sozialismus. 
Man hoffe, durch Beschränkung der Arbeitsleistung den Unternehmer 
zur Einstellung immer neuer Arbeiter zn zwingen, und nachdem man 
alle Arbeitslosen untergebracht habe, werde man selbst den Betrieb 
in die Hand nehmen. Das sei das Ziel, dem die sozialistischen 
Führer mit Hülfe der Gewerkvereine zustrebten. 

Der Verfasser bringt nun gleich im ersten Artikel Beweise für 
die Herrschaft des Ca'canny. Er beschäftigt sich zunächst mit dem 
Baugewerbe und zeigt, wie dieses unter den geringen Leistungen der 
Maurer zu leiden habe. Daran schließen sich dann im folgenden 
Schilderungen aus allen wichtigeren Industrien Englands vom Schiffs- 
und Maschinenbau bis zur Möbelfabrikation und Goldschlägerei. 
Ueberall nichts als beschränkte Leistung, Widerstand gegen die Ein- 
führung neuer Maschinen, Terrorismus gegenüber den Arbeitgebern 
und den nicht unierten Arbeitern. Der Schlußartikel „The Board of 
Trade and its Labour Department“ nimmt dann eine besondere 
Stellung ein, indem er sich nicht mehr gegen die Gewerkvereine. 
sondern gegen die Regierung richtet. Es ist bekannt, daß diese 
verdienstvolle Führer und Verteidiger der Gewerkvereinsbewegung 
im Handelsministerium und im Arbeitsamt angestellt hat. Diese 
werden nun, teilweise unter Namensnennung, scharf angegriffen und 
der Regierung der Vorwurf gemacht, daß sie sich der Trade Unions 
in unzulässiger Weise zum Nachrichtendienste bediene, daher auch 
ein unzuverlässiges Bild selbst erhalte und in den amtlichen Ver- 


Die Krisis der englischen Arbeiterbewegung. 445 


öffentlichungen weiter verbreite. Mit dem Verlangen, das Labour 
Department umzugestalten in ein Industrial Intelligence Department 
schließt der Verfasser seine Ausführungen. 

Dieselben haben natürlich lebhafte Erörterungen in der eng- 
lischen und amerikanischen Presse zur Folge gehabt. Freunde und 
Gegner der Gewerkvereine haben prüfend oder ergänzend zu ihnen 
Stellung genommen. In eigenartiger Weise wurde das Vorgehen der 
„Times“ aber in Deutschland aufgenommen. Während man, wie er- 
wähnt, den vorangehenden, überaus wichtigen Gerichtsentscheidungen 
kaum Beachtung geschenkt hatte, sprach man nun diesen Artikeln 
außerordentliche Bedeutung zu. Ohne sie eingehender zu prüfen, 
ohne zu fragen, was sie veranlaßt habe und welchem Zwecke sie 
dienen, nahm man sie als vollgültigen Beweis der Schädlichkeit der 
ganzen Gewerkvereinsbewegung; ihre Theorien verglich man mit 
geistigen Bacillen, Sporen und Pilzen, gegen die es keine Absper- 
rungs- und Abtötungsmittel gäbe: „gegen die Gefahren, die sie mit 
sich führen, schützt nur die Erkenntnis ihrer Schädlichkeit, und um 
diese zu erwerben, bedarf es vor allem der Kenntnis der Tatsachen 
und der denselben zu Grunde liegenden Ursachen und Motive* !). 
Diese Kenntnis glaubte man durch Verbreitung der englischen An- 
klagen fördern zu müssen, und wenn man auch zugab, daß sie wohl 
kaum unparteilich seien, meinte man doch, auf Grund derselben eine 
„vernunftgemäße Beschränkung des Koalitionsrechtes* fordern zu 
können ?). 

Auch wir werden hier keine Prüfung der Einzelheiten jener 
Artikel vornehmen. Wollte man diese in zuverlässiger Weise durch- 
führen, so müßte man dem Vorgange der amerikanischen Regierung 
folgen, die Professor J. H. Gray speziell zur Untersuchung der 
Frage nach England entsandte, inwieweit dort eine restrietion of 
output auf seiten der Arbeitnehmer oder der Arbeitgeber festzu- 
stellen sei?). Wir wollen nur den Geist, in dem jene Anklagen ver- 

1) von Brandt, Die Krisis in der englischen Industrie. Zeitschrift für Sozial- 
wissenschaft, 1902, 8. 153. 

2) von Reiswitz, Ca ’canny (Nur immer hübsch langsam!) Ein Kapitel aus der 
modernen Gewerkschaftspolitik. Berlin 1902, S. 4 und 87 ff. 

3) Nach der „Frankfurter Zeitung“ vom 13. August 1902 hat auch in Sachsen im 
Auftrage der amerikanischen Regierung eine Umfrage über etwa zu Tage getretene Nach- 
teile der Gewerkvereinsbewegung stattgefunden. Man wird gut tun, die Berichte über 
diese Erhebungen abzuwarten. Zur Orientierung über die Frage des Ca’canny sei hier 
die hierüber bereits vorhandene Literatur zusammengestellt. Die Aufsätze von Brandts 
sind schon erwähnt, ebenso die Schrift von v. Reiswitz, die im wesentlichen nur eine 
Vebersetzung aus der „Times“ enthält (vgl. hierzu Weinhausen in der nationalsozinlen 
„Zeit“ vom 9. Oktober 1902 und Legien in der „Neuen Zeit“ vom 4. Oktober 1902); 
ferner Nótzel in der „Gegenwart“ vom 14. und 21. Februar 1903. Aus der englischen 
Literatur seien vor allem die Erörterungen in der „Times“ selbst hervorgehoben, die 
sich an ihre Angriffe während der Zeit vom November 1901 bis März 1902 an- 
schlossen; von Fachschriften das Monthly Journal der United Builders’ Labourers’ Union, 
März 1902; sodann Clement Edwards, Do Trade Unions limit the output? Contempo- 
rary Rev., Januar 1902; Hugh Bell, The crisis in British Industry. National Rev, 
April 1902. Th. Good, A Defence of trade unionism. Westminster Rev., November 


1902; sehlieBlich John Martin, Do Trade Unions limit Output? im amerikanischen 
Political Science Quarterly, September 1902. 


446 Georg Brodnitz, 


faßt sind, beleuchten. Sie sind uns vor allem ein bedeutsames 
Zeichen der gegenwärtigen Krisis des englischen Wirtschaftslebens, 
und wir hoffen, den richtigen Zusammenhang klarstellen zu können. 

Der Gewährsmann der „Times“ hat seinen Artikeln bezeichnender 
Weise die Ueberschrift gegeben: The Crisis in British Industries. 
Man muß diese zum Ausgangspunkt nehmen, wenn man die gegen- 
wärtige Lage richtig beurteilen will. Die Umstände, welche die kri- 
tische Situation der englischen Industrie herbeigeführt haben, sind 
bekannt. Allerdings darf man von einer ,Krisis* hier nur cum grano 
salis sprechen. Es handelt sich vorläufig nur darum, daß England 
in seiner alles überwiegenden Monopolstellung im Welthandel be- 
droht ist. Die auslündische Konkurrenz nimmt in einer Weise zu, 
die auf die englischen Industriellen sehr beunruhigend wirkt. Die 
Welt ist heute nicht mehr auf England allein angewiesen, im Gegen- 
teil, sie findet bei seinen Konkurrenten mehr Entgegenkommen. Der 
britische Kaufmann hält an seiner Sprache, seinem Maß- und Ge- 
wichtssystem fest, er vermag nicht einzusehen, daß er heute seine 
Kunden aufsuchen und sich ihren Wünschen anpassen muß, wenn er 
nicht ins Hintertreffen geraten will. Die Jahrzehnte hindurch un- 
angefochten behauptete Stellung auf dem Weltmarkt hat etwas ein- 
schläfernd auf den englischen Gewerbefleiß eingewirkt. Einsichtige 
Beurteiler klagen darüber, daß man sich noch immer nicht dazu auf- 
raffen kann, alle Vorteile der modernen Technik sich zu nutze zu 
machen, um mit Deutschland und Amerika gleichen Schritt halten 
zu können. Zahlreiche Beispiele liefern den Beweis, daß die englische 
Industrie vielfach gerade durch die rückständige Politik der Unter- 
nehmer in diesen Fragen geschädigt wird !). 

Die Nachlässigkeit der Arbeitgeber, ihr schlechtes Beispiel konnte 
natürlich nicht anspornend auf die Arbeiter einwirken. „Man wird 
nicht irre gehen“, schreibt ein Gegner der Gewerkvereine, „wenn 
man annimmt, daß der Ca'eannysm der Arbeiter in einem gewissen 
Sichgehenlassen der Arbeitgeber, was wir Loddrigkeit nennen würden, 
eine bedenkliche Unterstützung gefunden hat“ ?). Mehr noch aber 
haben andere Umstände dahin geführt, die Arbeiter an der vollen 
Anspannung ihrer Kräfte zu hindern. Es zeigt sich dabei eine ganz 
ähnliche Erscheinung, wie bei den Arbeitgebern. Hatten diese 
sich in den günstigen Zeiten nach außen eine gesicherte Stellung 
erworben, auf die sie pochten, so hatten die Arbeitnehmer durch 


1) So berichtet jüngst die „Times“ selbst (weckly ed. 6. Februar 1903: Machinery 
in the Boot Trade) von der tadelnswerten Praxis der Maschinenfabrikanten in Leicester, 
neuerfundene Maschinen nicht zu verkaufen, sondern nur gegen sehr hohen Zins zu ver- 
mieten. Zugleich werden die Stiefelfabriken gezwungen, ihre sämtlichen Zuschneide-, 
Näh- und anderen Maschinen von einem Fabrikanten zu beziehen, da selbst die Miete 
nicht gestattet wird, falls Maschinen anderen Ursprungs gleichzeitig daneben benutzt 
werden. Es liegt auf der Hand, daß es hierdurch der Stiefelindustrie unmöglich ge- 
macht wird, für die einzelnen Prozesse jeweils die neuesten und besten Maschinen zu 
benutzen, so daß sie mit der zunehmenden amerikanischen Konkurrenz nicht Schritt 
halten kann. 

2) von Brandt, a. a. O. S. 421, 


Die Krisis der englischen Arbeiterbewegung. 447 


ihre großen Organisationen das Gleiche für sich im Inneren erreicht. 
Im Gefühl des starken Rückhalts, den diese gewährten, wurden sie 
oft zu einer unrichtigen Politik verleitet und oft genug mag der 
Einzelne in diesem Bewußtsein weniger fleißig gearbeitet haben, 
als ein nicht organisierter Arbeiter. Dieser Mangel an Strebsamkeit 
machte sich dem großen Publikum namentlich durch das Vordringen 
der Gewerkvereine unter den Handwerkern des täglichen Lebens 
fühlbar. So verläßt ein Tapezier, der eine ganze Wohnung einrich- 
tet, seine Arbeit mit dem Glockenschlage 6 und verschiebt die Be- 
festigung von einem oder zwei Bildern, die allein noch übrig sind, 
auf den nächsten Tag, um nur ja die festgesetzte Arbeitszeit nicht 
zu überschreiten. Oder — um einen anderen uns berichteten Fall 
anzuführen — ein Gasarbeiter, der längere Zeit in einer Wohnung 
gearbeitet hat, weigert sich, eine kleine Reparatur an der Wasser- 
leitung, die er sehr wohl besorgen könnte, vorzunehmen, weil das 
Sache des Rohrlegers sei. 

Weit schlimmere Folgen hat eine derartige Einhaltung der 
„demarcation of labour“ natürlich für die Industrie. Ist es beispiels- 
weise doch auf den Schiffswerften am Tyne hierüber zu einem hef- 
tigen Streite zwischen den Schiffszimmermeistern (Shipwrights) und 
den übrigen Zimmerleuten (Joiners) gekommen, und als ein Schieds- 
gericht unter Thomas Burt, selbst einem der angesehensten Arbeiter- 
führer, zu Gunsten der Shipwrights entschied, unterwarfen sich die 
Zimmerleute nicht, sondern begannen einen mehrmonatlichen Streik, 
so daß die Werkstätten still stehen mußten, ohne daß die Unter- 
nelımer es verhindern konnten. 

Ein gutes Beispiel einer verkehrten Gewerkvereinspolitik gibt 
auch die ,Times* in dem ersten ihrer Artikel, das deshalb auch 
geschickter Weise so vorangestellt wird. Es heißt dort, durchschnitt- 
lich habe ein Maurer vor 30 Jahren 1200 Steine täglich gelegt, vor 
20 Jahren immer noch 1000, jetzt aber sei der Satz infolge der 
„go-easy“-Politik auf 400 heruntergegangen. Aber auch diese Leistung 
werde nur bei Privatbauten erreicht. Bei öffentlichen Gebäuden, 
namentlich für Londoner Behórden, werde lange nicht so viel er- 
zielt: in einem Falle seien durchschnittlich nur 70 Steine (!?) tüg- 
lich gelegt worden. Die „Times“ glaubte auch ein Statut eines Bau- 
gewerkvereins entdeckt zu haben, das ausdrücklich ein solches System 
beschrünkter Arbeitsleistung vorschreibe; es stellte sich jedoch her- 
aus, daß es sich hierbei um das Statut einer seit 33 Jahren aufge- 
lósten Trade Union in Bradford handle, das man bereits 1867 der 
damals tagenden Gewerkvereinskommission als Beweis der allgemeinen 
Schädlichkeit der Arbeiterorganisationen vorgelegt hatte. Aehnliche 
Mißgeschicke sind der „Times“ auch sonst noch widerfahren !), und 


1) Vergl. besonders Clement Edwards in der Contemporary Rev., Januar 1902, 
der verschiedene Punkte als vollkommen unrichtig erweist. Einzelne Klagen der 
„Times“ charakterisieren sich von selbst, z. B. die Entrüstung über die verkürzten 
Dienststunden der Eisenbahner, die nun in ihren Mußestunden etwas Schuhmacherei 
nebenbei betreiben und so den Berufsschustern „das Brot vor dem Mund wegschnappen“. 


448 Georg Brodnitz, 


selbst der Bericht über das Baugewerbe ist nicht frei von Ueber- 
treibungen. 

Gegen ihn ist nicht nur von 16 Gewerkvereinen, sondern auch 
von S. und B. Webb Protest erhoben worden. Die Sekretäre der 
angegriffenen Trade Unions bestritten uns gegenüber vollständig alle 
erhobenen Anschuldigungen. Nur einer meinte, man arbeite heute 
weniger, da man eben kein „weißer Sklave“ sei. Eine absonder- 
liche Begründung der geringeren Leistungen wurde auch bei einer 
Diskussion hierüber in der Londoner Toynbee Hall geäußert, indem 
dem Mangel an künstlerischen Entwürfen die Schuld beigemessen 
wurde; es sei eben bei der gleichmäßigen Wiederholung immer der- 
selben häßlichen Bauten die Liebe zur Arbeit und die tatsächliche 
Leistung zurückgegangen. Man erkennt hierin leicht mißverständ- 
liche und mißverstandene Lehren John Ruskins. 

Unbefangene Fachleute bestätigten "uns, daß die Klagen über 
Rückgang der Leistungsfühigkeit im Baugewerbe berechtigt seien, 
auch wenn man nicht gerade an die 70 Steine und an ungeschrie- 
bene go-easy-Regeln glaube. Man muß aber erwägen, daß gerade 
in diesem Gewerbe (wie in der Baumwollindustrie) das ,driving* und 
die Beschäftigung von „bell-horses“ sehr beliebt war. Deshalb sind 
die Klagen über die Maurer schon historisch. Vor 30 Jahren hob 
Brentano !) bereits das Ungehórige ihrer Gewerkvereinspolitik her- 
vor; es war den Mitgliedern ausdrücklich verboten, bei ihren Wegen 
schnell zu gehen: man beschränkte die Zahl der Ziegel, die ein 
Gehülfe auf einmal tragen durfte und verlangte, daß sie auch wirk- 
lich getragen und nicht etwa in größerer Zahl auf Karren ge- 
schoben würden. Also schon in jener Zeit Ca’ canny! 

Gerade von deutscher Seite ist ja auch schon wiederholt darauf 
hingewiesen worden, daß die englischen Gewerkvereine in ihren Forde- 
rungen in Bezug auf Beschränkung der Arbeitszeit vielfach zu weit 
gegangen sind und einen den allgemeinen Interessen schädlichen 
Weg betreten haben. Nicht minder mag in einzelnen Fällen ihr 
Widerstand gegen die Einführung neuer Maschinen unbegründet 
gewesen sein, obgleich auch die Unternehmer hierbei nicht immer 
schuldlos waren, indem sie die Arbeiter nicht, wie in der amerika- 
nischen Industrie, an dem erhöhten ökonomischen Erfolg partizipieren 
lassen wollten ?). 

Sicherlich haben die englischen Unternehmer mancherlei Anlaß 
zu Klagen über ihre Arbeiter, aber die vorhandenen Uebelstände 
sind keineswegs neu. Selbst der aggressive Unionismus bestand 
schon zur Zeit der Royal Commission on Labour, die sich trotzdem 
zu Gunsten der Gewerkvereine aussprach. Nicht die Fehler der 

1) Arbeitergilden der Gegenwart Bd. 2, S. 46, 69. 

2) Klagen hierüber werden jedoch auch in Amerika laut. Vergl. „Restriction of 
output in Amerien“, in der „Times“, weekly ed. 19. Dezember 1902. Es heißt hier 
ausdrücklich: The restriction of output caused by a deliberate adoption of the ,,ca' canny“ 


principle with the idea of making work for a greater number of men is scarcely heard 
of in Amerika. 


Die Krisis der englischen Arbeiterbewegung. 449 


Trade Unions haben seither zugenommen, sondern ihr Einfluß, und 
diese Tatsache in Verbindung mit der kritischen Gesamtlage hat zu 
den jetzigen Angriffen geführt. 

Es muß doch jedem unbefangenen Leser auffallen, daß man sie 
mit der Behauptung eröffnete, England sei auf dem besten Wege, 
durch die neueste Gewerkvereinspolitik dem Sozialismus ausgeliefert 
zu werden. Nun ist ja allerdings die Stellung der Trade Unions 
zum Sozialismus eine Zeit lang strittig gewesen. Als ihr Kongreß 
vor 10 Jahren zum ersten Male eine sozialistische Resolution annahm, 
meinte man vielfach, sie seien mit Pauken und Trompeten ins 
sozialistische Lager übergegangen. Aber die seitherige Entwickelung 
hat doch gezeigt, daß die Bemühungen, die Gewerkvereine ernstlich 
für die sozialistische Bewegung zu interessieren, ohne Erfolg bleiben. 
„Darüber kann kein Zweifel sein: Die Gewerkvereinler nehmen So- 
zialisten gern zu Verbündeten, zu Führern, zu Anregern. Allein 
wenn es zur Annahme ihrer Grundsätze, ihres Programms kommt, 
sind sie, wie „Justice“ klagt, zu zaghaft, das „Vorurteil“ macht sich 
zu stark geltend“!). Haben nicht gerade sozialistische Führer, wie 
Hyndman, Engels und Bernstein, es offen ausgesprochen, daß ihre 
Theorien gegenüber den englischen Arbeiterorganisationen versagten ? 
Und hat nicht der „Vorwärts“ nach der ablehnenden Haltung des 
Gewerkvereinskongresses zu. Swansea im Jahre 1901 von seinem 
Standpunkte aus der ganzen englischen Arbeiterbewegung die Toten- 
glocken läuten zu müssen geglaubt? 

e Nun erwäge man noch, daß obendrein die Idee des Ca’canny, 
mit dessen Hülfe die verbündeten Sozialisten und Gewerkvereinler 
nach der Behauptung der „Times“ ihre Herrschaft begründen wollen, 
von einem entschiedenen Gegner des Sozialismus herrührt! Denn 
der Plan, systematisch die Arbeitsleistung zu beschränken, wurde 
zuerst 1889 während des großen Dockausstandes von Richard Mc Ghee 
entwickelt, einem reichen Kaufmann, der sich für sozialpolitische 
Fragen, jedoch in ausgesprochen antisozialistischem Sinne, interessierte 
und von der National Dock Labourers’ Union zum Ehrenpräsidenten 
ernannt wurde. Er meinte, durch restriction of output die Bezahlung 
der Arbeit dem Gesetz von Angebot und Nachfrage entziehen zu 
können, indem die Regulierung allein den Arbeitern zufallen würde. 
Einen Erfolg hat er mit seinen Anregungen in keiner Weise gehabt ?). 

Das alles dürfte doch dem Gewährsmanne der „Times“ auch 
bekannt gewesen sein, und trotzdem stellte er jene Behauptungen 
auf? Dieser Widerspruch wurde erst gelöst durch eine zweite Artikel- 
serie, die er bald darauf unter dem Titel „Municipal Socialism“ er- 
scheinen ließ. Sie ist von seinen deutschen Anhängern gänzlich un- 
berücksichtigt geblieben, obgleich erst durch sie jene ersten Artikel 
in das richtige Licht gestellt wurden. Jetzt erst wurde es klar, 


1) H. W. Wolff, Die sozialistische Bewegung in England. Jahrb. f. Nat., 1901, 
8. 363. 
2) Clement Edwards, a. a. O. 


Dritte Folge Bd. XXV (LXXX). 29 


450 Georg Brodnitz, 


weshalb er dort gerade den Londoner Grafschaftsrat als den schwersten 
Stein des Anstoßes bezeichnet und was er mit seiner Drohung von 
der kommenden Sozialistenherrschaft gemeint hatte. 

Man muß sich erinnern, daß seit der Reform der Selbstver- 
waltungsbehörden die Arbeiter einen großen Einfluß in allen Kom- 
munalangelegenheiten erlangt haben. So wußten sie die Aufnahme 
der „fair wages“-Klausel in die Verträge der städtischen Behörden 
durchzusetzen und damit die Unternehmer zur Anerkennung der 
Trade Unions-Forderungen zu zwingen. Aber sie gingen noch weiter, 
sie begannen obendrein den Unternehmern, die schon von der aus- 
ländischen Konkurrenz bedrängt waren, auch manche der ertrag- 
reichsten Gebiete im Inneren durch ,Municipalisierung* von Elektri- 
zitäts- und Gaswerken, von Pferdebahnen etc. zn versperren. 

Dieses Zusammentreffen äußerer und innerer Schwierigkeiten 
erbitterte die englischen Unternehmer derart, daß sie durch den 
Gewährsmann der „Times“ rund heraus erklären, „that the well-being 
of British local government, the vigorous assaults by foreign rivals 
on our industrial and commercial position and the best interests of 
the nation at large all lend emphasis to the demand, that carte 
blanche should not be given to socialists, semi-socialists, trade- 
unionists, political agitators and faddists of all deseriptions“. Hier 
ist es nun endlich offen ausgesprochen, welches die Gründe und 
welches das Endziel der ganzen Angriffe: hervorgerufen sind sie 
durch das gleichzeitige Wachsen einerseits der ausländischen Kon- 
kurrenz, andererseits des Einflusses der Trade Unions; ihr Ziel ist, 
da man die ausländische Konkurrenz erfolgreich nicht zu unterdrücken 
vermochte, wenigstens die Macht der Gewerkvereine zu brechen. 
Mit anderen Worten: die Anklagen sind nichts als cine neue Form 
der atomistischen Reaktion, und ihre letzte Ursache ist nicht im 
Verhalten der Gewerkvereine, sondern vor allem in der Machtlosigkeit 
gegenüber den Erfolgen der ausländischen Industrie zu suchen. 

Es ist kein Zufall, daß diese Angriffe zusammenfallen mit der 
ungleich wichtigeren Veränderung der rechtlichen Situation der Ge- 
werkvereine. Hier hatte man einen großen Erfolg errungen. Nun 
galt es, weiterhin ihren sozialen und wirtschaftlichen Einfluß zu 
brechen !). 

Ein ähnliches Verfahren hat man in England schon einmal an- 
gewandt: 1867 erklärte der Lordoberrichter Cockburne, der 1851 ein 
Gutachten zu Gunsten der Gesetzlichkeit der Trade Unions erstattet 
hatte, die Gewerkvereine nur für ein Hemmnis der Industrie, für 
unerlaubt und dadurch für unfähig, Eigentum zu erwerben. Und 
kaum war diese Verschlechterung der rechtlichen Lage eingetreten, 


1) Es ist daher irrig, wenn man das Vorgehen der „Times“ als eine Folge der 
nenen Gerichtsentscheidungen ansieht: man habe die Gewerkvereine diskreditieren wollen, 
damit sie nicht etwa bei den nächsten Parlamentswahlen sich eine einfluBreichere Ver- 
tretung verschaffen und eine neue Gesetzgebung herbeiführen könnten. (Vergl. Legien, 
Neueste Scharfmacherpraktiken, in der „Neuen Zeit“ vom 4. Oktober 1902.) Der Zu- 
sammenhang ist richtig erkannt, jedoch die gemeinsame letzte Ursache übersehen. 


Die Krisis der englischen Arbeiterbewegung. 451 


als, ganz wie gegenwärtig, die „Times“ mit ihren Anschuldigungen 
gegen die Arbeiterorganisationen hervortrat und ihnen die Sheffielder 
Verbrechen in die Schuhe zu schieben suchte. Eine Parallele zwischen 
damals und heute zu ziehen liegt wohl nahe. 

Einzelne Vertreter der Unternehmerinteressen sind seither noch 
weiter gegangen. Sie fordern die Arbeitgeber geradezu zum offenen 
Kampfe gegen die Arbeitervereine auf: „Wir müssen die Unions zer- 
schmettern*, lehrt einer von ihnen !). „Wenn wir das erreicht haben, 
wird es keine Arbeitsstreitigkeiten mehr geben. Wären die Arbeit- 
geber Herren im Hause, so würden Maschinen und Arbeitsmethoden 
weit schneller verbessert werden, die Produktion wäre größer und 
billiger, der Unternehmergewinn größer und die Löhne höher. Alle 
die absurden Produktionsbeschränkungen wären beseitigt und Groß- 
britannien könnte wieder unter den gleichen Bedingungen wie alle 
übrigen auf dem Weltmarkte konkurrieren.“ 

Es kann natürlich nicht fehlen, daß auch die englischen Gewerk- 
vereinler die eigentliche Ursache des gegen sie geführten Kampfes 
suchen, und auch bei ihnen bricht sich die Erkenntnis Bahn, worum 
es sich in Wahrheit handelt. 

Sie fühlen, daß die schwierige Lage der Industriellen selbst 
sie zum Kampfe geführt hat und daß nur deren Besserung den 
Frieden wieder herstellen kann. Zum Beweis sei hier der Jahres- 
bericht des Gewerkvereins der Buchdruckergehilfen angeführt ?). 
Der Sekretär, den wir als einsichtigen Mann kennen lernten, führt 
dort aus, die „Times“ schiebe die Krisis der englischen Industrie zu 
Unrecht den Trade Unions in die Schuhe: „Ich behaupte vielmehr, 
daß diese Krisis die Folge des sich immer nachteiliger fühlbar 
machenden Einflusses der Entwickelung fremder Konkurrenz ist, die 
gleichmäßig von den ausländischen Regierungen wie von unserem 
falschen Finanzsystem unterstützt wird. Man nennt dieses irrtüm- 
lich ,Freihandel*, tatsächlich ist es weiter nichts als freie Konkurrenz 
des gesamten Auslandes auf allen Gebieten der Industrie, ohne 
Schutz oder Erschwerung irgendwelcher Art. Der ausländische 
Industrielle und seine Arbeiter verdrängen so eine gewisse Menge 
heimischer Ware und heimischer Arbeit. Das nötigt den englischen 
Arbeitgeber, wenn er konkurrenzfähig bleiben will, zu Lohnreduk- 
tionen und führt zu Streitigkeiten mit den Arbeitern, da man sich 
der wahren Sachlage nicht bewußt wird. Wir können das Auslanıl 
nicht tadeln, daß es durch unsere offenen Türen eindringt. Wir 
sehen die einzige Hilfe dagegen in einem Hand-in-Hand-Gehen von 
Kapital und Arbeit, um Reziprozität im Verkehr mit dem Ausland 
zu erlangen. Wir brauchen einen das ganze britische Reich um- 
fassenden Vorzugstarif. 

Unter einem vernünftigen Schutzzollsystem werden wir Arbeiter 


1) T. S. Cree, Business Men and Modern Economies, Glasgow 1903, p. 26. 
2) Operative Printers Assistants’ Society. Twelfth Annual Report for the year 
ending December 28th, 1901, p. 12. 
29% 


452 Georg Brodnitz, 


zwar eine geringe Prämie zahlen müssen, aber dafür werden wir 
größere Rentabilität für die Unternehmer und dadurch wieder höhere 
bóhne für uns erzielen. Das wird zum erheblichen Teil den Anlaß 
aller Arbeitsstreitigkeiten beseitigen“ !). 

Und in diesem Ideengang trifft der Gewerkvereinssekretär be- 
reits mit Vertretern der Großindustrie zusammen. „Hören Sie doch 
endlich auf, unsere Arbeiter und ihre Vereine aller möglichen Ver- 
fehlungen zu bezichtigen, zu denen nichts anderes als unser Wirt- 
schaftssystem sie zwingt!“ ruft ein Industrieller seinen Konkurrenten 
zu und knüpft daran eine leidenschaftliche Anklage der vernichtenden 
Wirkungen des Freihandels: er mache die Industrie unrentabel, er 
mache die Unternehmer nervös, er verhindere die genügende Aus- 
bildung der Arbeiter — und für all das wolle man die Trade Unions 
verantwortlich machen, denen man das beste Zeugnis ausstellen 
könne ?). 

Das Dogma vom Freihandel ist in England längst erschüttert. 
Ueber die Forderungen, die einst Howard Vincent aufstellte, ist man 
erheblich hinausgegangen. Niemand wunderte sich mehr, als am 
13. Februar 1902 David Mc Iver im Unterhause beantragte, die Ein- 
kommensteuer sogleich auf die Hälfte herabzusetzen und dafür Wert- 
zölle von 5 Proz., für Fabrikate von 10 Proz. einzuführen. Gewiß 
war dies nur die Aeußerung einer unmaßgeblichen Stelle, aber man 
kann doch annehmen, daß auch die Regierung mit den Getreide- 
zöllen einen vorsichtigen Versuch machen wollte. Darin wird man 
bestärkt durch die jüngsten Aeußerungen des Ackerbauministers in 
der Landwirtschaftskammer zu Leicester am 10. Januar 1903. Der 
„Standard“ berichtet über seine Ausführungen: „Was Einfuhrzölle 
anlangt, gehöre er nicht zu denen, die Unmögliches verlangen, und 
jede Art eines Schutzzollsystems gehöre hierzu. Das würde ihnen 
(den Landwirten) keine Partei und keine Regierung zur Zeit be- 
willigen. Wenn das Verlangen nach Schutzzöllen jemals Aussicht 
auf Erfolg haben wolle, müsse es von den großen Industriezentren aus- 
gehen, und dort könne es sich wohl früher erheben, als Viele heute 
noch glauben (Beifall). Sie hätten jetzt gesehen, daß die Kornzölle, 
die Hunderttausende einbrachten, die Konsumenten nicht mit einem 
Pfennig belasteten. Die Brotpreise seinen nicht gestiegen, und es 
wäre danach ein interessanter Versuch, wie weit man die fremde 
Einfuhr überhaupt in dieser Weise zahlen lassen könne, ohne die 
Konsumenten zu schädigen. Er halte die Kornzölle für einen prak- 
tischen Versuch auf diesem Gebiete“ 3). 


1) Aehnlich, wenigstens in Bezug auf Amerika, spricht sich der 165. Vierteljahrs- 
bericht der Amalgamated Society of Boot and Shoe Makers vom 14. Januar 1901, 
S. 5, aus. 

2) G. Byng, Protection. The Views of a Manufacturer. London, Eyre and Spottis- 
woode, 1901; besonders p. 174—178 und 247. 

3) Ganz ähnlich hat sich der Parlamentssekretär im Handelsamt Bonar Law am 
22. Januar 1903 in Glasgow geäußert. Vergl. „Standard“ vom 11. und 23. Januar 1903. 
Ueber die schutzzöllnerischen Wünsche agrarischer Kreise unterrichtet eingehend Ridder 
lMaggard: Rural England, London 1902, 


Die Krisis der englischen Arbeiterbewegung. 453 


Nun, die großen Industriezentren haben schon angefangen, ihre 
Wünsche zu äußern !), und wenn sie in ihrem „cry of protection“ 
erst durch die Arbeiterstimmen unterstützt werden, sollte dann nicht 
der Moment gekommen sein, auf den der Minister hinweist? Fehlt 
es doch auch nicht an anderen Symptomen, die auf einen gewissen 
Wandel der bisherigen Anschauungen schließen lassen. Erinnert sei 
hier nur an die Erörterungen aus Anlaß der Brüsseler Konferenz, 
insbesondere an die Auseinandersetzung Yves Guyots mit dem 
Sekretär des Cobdenklubs. Ferner tagen gegenwärtig zwei Kommis- 
sionen, deren eine über Maßregeln zum Schutze der englischen 
Kohlenschätze beraten soll, während die andere sich mit der Ein- 
wanderungsfrage beschäftigt. Dieser wurde unlängst von einem 
Londoner Polizeibeamten ein vollständiger Gesetzentwurf vorgelegt 
zum Zwecke der Fernhaltung von „undesirable aliens“, die augen- 
blicklich in manchen Zeitungen eine ständige Rubrik bilden. 

Uns will scheinen, daß es richtiger ist, diese Symptome schon jetzt 
aufmerksam zu verfolgen, statt auf Grund der englischen Verhältnisse 
eine „vernunftgemäße Einschränkung des Koalitionsrechtes* zu ver- 
langen. Zumal der gegenwärtige Augenblick scheint wenig hierzu 
geeignet, in dem man darangeht, die Untersuchungen über die Unter- 
nehmerverbände zu veranstalten — wenn wir auch nicht in den Arbeiter- 
organisationen das alleinige Hilfsmittel gegen deren Uebergriffe 
zu sehen vermögen ?). 

Es scheint keineswegs ausgeschlossen, daß es in England zu 
einem Bündnis zwischen der herrschenden Partei und den Arbeitern 
kommt, wenn erst die südafrikanischen Angelegenheiten mit allen 
ihren Folgen zur Ruhe gekommen sind, und daß dann den Arbeiter- 
organisationen für die Unterstützung der neuen Wirtschaftspolitik die 
Wiederherstellung ihrer früheren Rechte gewährt wird. 

Allerdings haben sie bisher nur bei den Liberalen Entgegen- 
kommen für ihre Wünsche gefunden. Gerade in der jüngsten Zeit 
haben Lord Tweedmonth und Asquith, der schon am 14. Mai 1902 
im Parlament für die Unions eingetreten war, die Revision des Ge- 
werkvereinsrechts für einen liberalen Programmpunkt erklärt). Die 
liberale Partei hat auch am 1. April 1903 den Antrag des Arbeiter- 


1) Vergl. die oben erwähnte Schrift G. Byngs, sowie dessen „Fiscal Problems of 
To-Day" in der Fortnightly Rev., September 1902. 

2) So hatte Kulemann dem 26. Deutschen Juristentag (Berlin 1902) Leitsätze über 
die Kartellfrage vorgelegt, deren 5. lautet: Die bisher zur Bekämpfung der Kartelle 
vorgeschlagenen Mittel des Zivilrechts, des Strafrechts und des Verwaltungsrechts sind 
nicht allein praktisch unausführbar, sondern aueh unberechtigt. da sie grundsätzlich die 
Unterdrückung oder wenigstens die möglichste Beschränkung des Kartellwesens be- 
zwecken. An Stelle dieser auf den unmittelbaren Eingriff der Staatsgewalt abzielenden 
mechanischen Mittel ist vielmehr eine auf Erhaltung des wirtschaftlichen Gleich- 
gewichts gerichtete und auf die Eigenkraft der Beteiligten gestützte organische Rege- 
lung zu empfehlen, die in der Begünstigung der gewerkschaftlichen Bestrebungen der 
Arbeiter, insbesondere soweit sie auf Erhöhung des Arbeitslohnes gerichtet sind, zu schen 
ist. Die gesteigerte Kaufkraft der Arbeiterklasse wird zugleich dem gewerblichen Mittel- 
stande und der Landwirtschaft zu gute kommen. 

3) Bei dem Festessen des „Eighty Club“ am 6, Februar 1903, 


454 Georg Brodnitz, Die Krisis der englischen Arbeiterbewegung. 


vertreters Crooks, die Regierung solle die Wahlunkosten aus Staats- 
mitteln bestreiten und den Abgeordneten Diäten bewilligen, um eine 
entsprechend starke Arbeitervertretung zu ermöglichen, im Unter- 
hause unterstützt, und gedenkt aus politischen Gründen in der 
nächsten Zeit die oben erwähnten Vorgänge in Penrhyn zu einer 
parlamentarischen Aktion zu benutzen. Aber die Arbeiter werden 
sich trotzdem schwerlich der zersplitterten und führerlosen Partei 
anschließen, um ihr zum Siege zu verhelfen und durch sie ihre 
Zwecke zu erreichen. Natürlich werden diese Fragen erst in Zu- 
kunft zu entscheiden sein. Vorläufig steht nur fest, daß sich die 
Arbeiter am nächsten Wahlkampf sehr energisch beteiligen und tun- 
lichst zahlreiche eigene Vertreter aufstellen, die übrigen Kandidaten 
aber eingehend auf ihre Stellungnahme zur Reform der Gesetzgebung 
prüfen werden. Man hat in den Kreisen der deutschen Sozial- 
demokratie daraus schon den Schluß ziehen wollen, daß es im näch- 
sten Parlament zur Bildung einer eigenen Arbeiterpartei kommen 
werde, deren Führung Sozialisten übernehmen würden !). Aber das 
Labour Representation Committee hat ausdrücklich trotz aller Zu- 
sammenarbeit mit sozialistischen Organisationen die von ihnen ein- 
gehrachten Resolutionen und den Antrag auf Bildung einer selb- 
ständigen Partei abgelehnt. Die weitere Stellungnahme zu den großen 
Parteien bleibt daher abzuwarten. Doch sei daran erinnert, daß auch 
bei den Wahlen von 1874, als es sich für die Arbeiter ebenfalls um 
eine Aenderung der Streikgesetzgebung handelte, die dann 1875 zur 
Durehführung kam, der Sieg der Konservativen durch die Unter- 
stützung der Arbeiter errungen wurde. 

Während man bei uns die englischen Vorgänge in einer Weise 
verwertet, die kaum zur Förderung des „sozialen Friedens“ bei- 
tragen kann, bricht sich jenseits des Kanals seither die Ueberzeugung 
doch wieder Bahn. daß Kapital und Arbeit bei friedlichem Zusammen- 
wirken beide am besten fahren. Man erkannte, daß das „Wake up“ 
des englischen Thronfolgers allen Kreisen gelte. Ein wichtiges 
Zeichen hierfür ist die Reise, die Mr. Mosely wesentlich auf seine 
Kosten mit Vertretern der bedeutendsten Gewerkvereine nach den 
Vereinigten Staaten unternommen hat, um gemeinschaftlich mit ihnen 
zu untersuchen, was man von den Vettern jenseits des Ozeans lernen 
könne. Und auch die „Times“, auf die man sich hei uns stützt, ist 
unlängst zu dem Schlusse gekommen 2): „Arbeitnehmer und Arbeit- 
geber in England haben in gleicher Weise zu lernen, daß „die gute 
alte Zeit“ für sie vorbei ist und kaum jemals wiederkehren wird*. 
Das ist der Kernpunkt und die Ursache der gegenwärtigen Krisis. 


1) M. Beer in der „Neuen Zeit“ vom 20. September 1902, 
2) Leitartikel am 27. Dezember 1902. 


Ernst Pistor, Ein Beitrag zur Psychologie des amerikanischen Arbeiters. 455 


Nachdruck verboten. 


IX. 


Ein Beitrag zur Psychologie des amerika- 
nischen Arbeiters'). 


Von 


Ernst Pistor, Gr. hess. Regierungsassessor, 


Durch den starken Aufschwung, den die Industrie des Landes 
in den letzten Jahren erhalten, ist die Arbeiterbewegung ungemein 
gefördert worden. Der Arbeiter sah die großen Gewinne, die die 
Industrie abwarf und glaubte die Zeit gekommen, sich einen Anteil 
daran zu sichern. In seinem Zusammenschluß fand er von dritter 
Seite keinen Widerspruch. Die Organisationen waren von dem 
großen Publikum und damit von der Regierung anerkannt. Ja, die 
Sympathie eines großen "Tee des Volkes neigte sich ihnen zu. 
Die Gründe hierfür sind in der Abneigung zu finden, die der Durch- 
schnitts-Amerikaner, soweit unbeeinflußt, gegen die gewaltigen Kapital- 
zusammenlegungen hat, welche ihm als der Industrie und der Frei- 
heit des Amerikaners in gleicher Weise gefährlich erscheinen. Auch 
mag die Beschäftigung der Gebildeten mit der „sozialen Frage“ und 
die damit erlangte Einsicht, daß eine Aufhaltung der Entwickelung 
für Amerika verderblich werden könnte, sowie die Furcht vor revolu- 
tionären Erscheinungen eben dahin gewirkt haben. So konnte die 
Arbeiterbewegung ungehindert von Dritten ihre Kräfte sammeln und 
gegen das Kapital führen. Die Folge dieser Anerkennung ist eine 
im großen und ganzen bei allen Unvollkommenheiten gemäßigteRichtung ` 


1) Die amerikanische Literatur über die Arbeiterbewegung ist nicht reichhaltig. 
Zur Charakterisierung des Arbeiters und der Arbeiterführer bietet sie wenig. Aber 
gerade die persönlichen Eigenschaften der in Betracht kommenden sind für die Erklärung 
der bestehenden Verhältnisse wichtig. Es füllt dies dem Ausländer, der einen Ver- 
gleichungsmaßstab mitbringt, mehr auf, wie dem Amerikaner; daher die schwache Be- 
tonung dieses Momentes in der amerikanischen Literatur. Um mir darüber Rechenschaft 
geben zu können, habe ich monatelang mit Arbeitern zusammen gelebt und auch mit 
ihnen gearbeitet. Die Beobachtungen, die ich dabei machen konnte, habe ich durch 
den Verkehr mit Arbeiterführern, Professoren, Beamten und Industriellen zu ergänzen 
gesucht. New York Ende 1902. 


456 Ernst Pistor, 


ihrer Bestrebungen. Sozialistische oder anarchistische Ideen finden 
ex officio keine Vertretung in den Arbeitervereinen (Unions)!) und 
sind auch als Privatansicht nur in den untersten Schichten zu finden. 
Mr. Gompers, der Präsident der „American federation of labor“, der 
größten Arbeiterorganisation in U.S.A., erklärte mir gegenüber, daß 
er der Politik fernstehe. Und tatsächlich existiert keine Arbeiter- 
partei, sondern nur eine republikanische und eine demokratische. 
Sie beide buhlen um die Stimmen der Arbeiter. Wer gerade am 
Ruder ist, der sucht sich die Gunst der Arbeiter und damit ihre 
Stimmen zur nächsten Wahl zu erhalten, während die andere Partei 
goldene Berge verspricht, um mit Hilfe der Arbeiterstimmen obenan 
zu kommen. Eine Vertretung des Arbeiters im Kongreß als „Ar- 
beiter* existiert nicht. Er wählt den Vertreter der einen oder anderen 
Partei und fährt damit auch am besten, da sie ihn beide bei guter 
Laune erhalten müssen. 

Um ein Bild der Bewegung zu geben, móchte ich versuchen, 
den amerikanischen Arbeiter zu zeichnen. Das Individuum bildet 
das Material, aus dem der Geist des Landes in Wechselbeziehung 
beeinflußt und beeinflussend seine Gebilde aufbaut. Wir werden da- 
durch auf die Zusammensetzung der Arbeiterschaft geführt. Eine 
Unterscheidung des Arbeiters nach verschiedenen Kategorien gemäß 
seinen persönlichen Eigenschaften und seinem Verhältnisse zum Lande 
ist dabei nicht zu umgehen. Es kann diese Unterscheidung nur als 
eine oberflüchliche betrachtet werden und ist für jeden, der die Ver- 
hültnisse aus eigenen Anschauungen kennt, überflüssig. Für jeden 
anderen mag sie jedoch nützlich sein, da die Arbeiterschaft Amerikas 
auf keinen Fall ein einheitliches Ganze bildet, sondern infolge der 
Einwanderung eine ungleichmäßige Zusammensetzung zeigt. Dabei 
mag bemerkt werden, daß der Ausdruck ,amerikanisiert^, der unten 
gebraucht ist, insofern als unterscheidende Bezeichnung seine Be- 
rechtigung hat, als der erziehende Einfluß, den Amerika auf alle 
diejenigen ausübt, die von ihm berührt werden können, ein außer- 
ordentlich großer ist. Die Menschen sind hier mehr auf sich selbst 
gestellt. Wenn einmal aus den untersten Klassen emporgekommen, 
fällt es einem tüchtigen Menschen nicht schwer, sich weiter in die 
Hóhe zu arbeiten. Das Fehlen von Klassen, das sich in mancher 
Beziehung als Mangel fühlbar macht, hat doch sicher die Wirkung, 
die an weniger bevorzugtem Platze Geborenen zu hoffnungsvollem 
Aufstreben anzuspornen. „Every body has a chance“ ist ein Zauber- 
wort, das denjenigen, der es fühlt. d. h. der „amerikanisiert“ ist, zu 
einem konservativ denkenden Mann macht. 

Zu der ersten Kategorie móchte ich rechnen: den Vollblut- 
Amerikaner, der meist ein tüchtiger gelernter Arbeiter ist, ferner 
den Amerikaner fremder Abkunft, soweit er durchaus amerikani- 
siert ist, und alle diejenigen Eingewanderten, die sich auf derselben 


1) Ich benütze für Arbeitervereine den englischen Ausdruck „Unions“, die meist 
Gewerkvereine (trade unions) sind. Daneben werden „Unions“ gefunden, die ohne 
Rücksicht auf die Zugehörigkeit zu einem Gewerbe gebildet sind (Federal-Unions). 


Ein Beitrag zur Psychologie des amerikanischen Arbeiters. 457 


ökonomischen Stufe befinden, z. B. ein deutscher gelernter Ar- 
beiter, der mit einem kleinen Kapital herüberkommt und prosperiert. 
Er ist oder wimi Vollbürger im ganzen Sinne des Wortes, d. h. er 
hat nicht allein die Rechte, sondern auch die Pflichten, die Amerika 
von seinen Angehörigen verlangt, voll erkannt. Er bildet das kon- 
servative Element in der Arbeiterschaft. Als die zweite Kategorie 
können diejenigen Arbeiter angesehen werden, die schon halbwegs 
amerikanisiert sind: das Verständnis für die amerikanischen Staats- 
einrichtungen, mit den großen Anforderungen, die sie an Intelligenz 
und Urteilsreife stellen, beginnt ihm aufzugehen. Er spricht, schreibt 
vielleicht englisch und entwickelt sich im ganzen auf den Arbeiter 
der ersten Kategorie hin. Was unten von diesem gesagt werden 
wird, hat auch für ihn, wiewohl in geringerem Maße, Geltung. 
Seine Ansichten sind, wie diejenigen des anderen, mäßig, wenn auch 
weniger fest begründet. Seine Kinder werden zum mindesten in den 
Reihen der ersten Kategorie gesehen werden. Die dritte Kategorie 
umschließt einen großen Teil der jüngst Eingewanderten und die- 
jenigen, die schon länger im Lande sind, soweit sie in ihrer Zu- 
sammenpferchung in einzelnen elenden Stadtteilen der großen Städte 
durch ihre schlechte Lage und Unkenntnis des Landes wie der 
Sprache von amerikanischem Einfluß nicht berührt worden sind. 
Während wir in der zweiten Kategorie viele Deutsche finden, besteht 
die dritte mehr aus Slaven, Italienern und russischen Juden. New 
York und Chicago sind die Hauptplätze für diese Arbeiter. Sie sind 
durchaus unwissend, viele Analphabeten ohne politisches Verständnis 
und doch in 5 Jahren stimmfähig. Soweit katholisch, stehen sie 
unter dem Einfluß der katholischen Kirche, soweit nicht, unter dem 
der politischen Parteien, die ihre Stimmen kaufen!). Sie werden 
verstärkt durch die Schar der Wanderburschen (tramps), die arbeits- 
scheu im Sommer durchs Land streichen und nur im Winter in die 
Städte ziehen, um dort Arbeit zu erlangen. Sie sind ein Gegenstand 
der Furcht, soweit ihre untersten Schichten in Betracht kommen, 
aber auch ein Objekt zahlloser, privater und öffentlicher Wohltätig- 
keitsbestrebungen, die sich mit ihrer Hebung und Erziehung be- 
schäftigen. Sie bilden gewissermaßen die dunkle Ecke im amerikani- 
schen Staat — ungekannt — unerforschlich. Niemand kann wissen, 
was diese unwissenden Massen eines Tages vielleicht aus ihren Quar- 
tieren aufstört und sie den Brand der Revolution über das Land 
tragen läßt. Manchmal ertönt ein lauter Ruf nach strengerer Aus- 
schließung der Einwanderung. Ein Gesetz verbietet bereits die Ein- 
wanderung von Chinesen. Ein anderes sucht die Einwanderung von 
Europäern unter Kontrakt zu verhindern. Neue Stadtschulen 
werden erbaut, Einwanderungsschulen aus privaten Mitteln errichtet. 
Und doch kann die Erziehung mit der Einwanderung nicht Schritt 
halten 21. Diese Kategorie hat mit den beiden ersten, soweit sie auf 


1) Der Preis einer Stimme bei Wahlen schwankt zwischen 8 und 20 M. 

2) In manchen Teilen von New York ist es unmöglich, den Sehulzwang voll- 
ständig durchzuführen; infolge der großen Anzahl der Schulpflichtigen können sie dort 
nur einen halben und nicht einen ganzen Tag Unterricht erhalten. 


458 Ernst Pistor, 


dieser Stufe verharrt, nichts gemein. Sie bildet eine fremde un- 
gleichartige Masse im Staat. Zwei Punkte sind jedoch dabei im 
Auge zu behalten: Bei der Prosperität des Landes ist die Möglichkeit 
für jeden nicht ausgeschlossen, sich heraufzuarbeiten. Diese wird in 
dem Grade größer, als sich das Individuum von der zusammenge- 
drängten Masse loslöst und unter den Einfluß amerikanischen Lebens 
kommt, was auch bei geringer ökonomischer Erhebung der Fall sein 
kann. Auch ist, wie das Aufsteigen einzelner, ein langsames Heben 
ganzer Nationalitätenmassen zu beobachten. So wohnen nicht mehr 
Iren und Deutsche, sondern russische Juden und Italiener in den 
schlimmsten Quartieren New Yorks. Aber wenn auch die Indi- 
viduen wechseln, wenn sogar eine Rasse an die Stelle einer anderen 
Rasse tritt, das Bild, das diese unterste Kategorie darstellt, bleibt 
dasselbe, da stets neuer Zuwachs ihr Schwinden verhindert. Dieser 
dritten Kategorie kann, soweit der Süden in Betracht kommt, der 
auf der entsprechenden Stufe stehende Teil der Negerbevölkerung 
angegliedert werden. Doch ist die Negerfrage in U.S.A. eine Frage 
für sich, die eine gesonderte Behandlung verlangt, und nur die 
Notwendigkeit einer Einleitung im großen rechtfertigt ihre Er- 
wähnung hier. 

Kehren wir zur ersten Kategorie zurück. Was uns bei diesem 
Arbeiter am meisten in die Augen springt, ist, daß er eigentlich 
kein Arbeiter in unserem Sinne ist. Er gehört seinen Anschau- 
ungen und der intellektuellen Ausbildung nach mehr der Be- 
völkerungsschicht an, die unserer Mittelklasse entspricht. —Dlickt 
man in Philadelphia von dem hohen Turm des Stadthauses über 
den Rauch und Dampf der ungeheuren Fabrikstadt, so sieht man 
nach der Peripherie hinziehend und zwischenlaufend unzählige 
asphaltierte, saubere Straßen, die von Tausenden kleinen Ar- 
beiterhäusern gebildet werden. 4 Zimmer, Küche und Bade- 
zimmer, das, nebenbei gesagt, eifrig benutzt wird, eine kleine 
Veranda vor dem Hause, die Einrichtung einfach, doch gediegen, der 
Tisch sauber, sogar mit einem gewissen Komfort gedeckt, das ist 
das Heim dieses Arbeiters. Viele dieser Häuser gehören den Ar- 
beitern zu eigen; viele Arbeiter sparen daraufhin. Seine Frau ist 
oft besser erzogen als er — wenn jung, kleidet sie sich mit dem 
Bestreben, den „neuesten Schnitt" zu erreichen, was hier bei Massen- 
fabrikation billiger und doch eleganter Kleidungsstücke leichter mög- 
lich ist als in Europa: wenn alt, zeigt ihr Kleid den Stempel wohl- 
feiler, aber behäbiger Wohlhabenheit. Hr: hat eine relativ gute 
Erziehung in der Volksschule erhalten, die durch Abendschule und 
durch „öffentliche Vorträge mit freiem Eintritt“ vielleicht noch er- 
gänzt worden ist. Er liest eine tägliche Zeitung, die meist das 
billigste Blatt seines Wohnortes ist. Arbeiterblätter von Bedeutung 
existieren nicht, die Nachfrage nach solchen fehlt. Der Arbeiter, so- 
weit er regelmäßig Zeitungen liest, fühlt sich in seinem 
Privatleben mehr als Bürger, wie als Arbeiter. Er dünkt sich nicht 
schlechter als ein Ladenbesitzer oder Farmer oder überhaupt jeder 


Ein Beitrag zur Psychologie des amerikanischen Arbeiters. 459 


beliebige amerikanische Bürger und unterscheidet sich von dem 
ersteren auch nicht viel mehr, als durch eine etwas geringere Selb- 
ständigkeit des Urteils. Das Bewußtsein, einer bestimmten Klasse 
anzugehören, ist ihm als Individuum durchaus fremd. Es soll damit 
nicht gesagt werden, daß das Gefühl der Notwendigkeit der Arbeiter- 
organisation nicht vorhanden sei, dieses ist sogar in den Kreisen der 
genannten Arbeiter sehr stark. Aber es entspringt nicht einem Gefühl 
des Hasses gegen eine Unternehmer- oder Kapitalistenklasse, sondern 
vielmehr einem auf kühler Ueberlegung basierten politischen Talent, 
das ihn befähigt, sich zu verbinden, ohne dazu die Vorspiegelung 
utopistischer Glücksträume nötig zu haben. Ich möchte dies als eine 
Art „sozialen Instinkts* bezeichnen, den er mit allen Amerikanern 
gemeinsam hat. 

Infolge der demokratischen Verfassung, des Fehlens ausgeprägter 
Klassen mit ererbten Rechten und des Zweiparteiensystems ist das 
Land — nicht „horizontal, sondern vertikal“ — geteilt. Man mag über 
einen Vorfall der inneren Politik mit einem Arbeiter, einem Laden- 
besitzer, einem Börsenmann oder einem Senator reden, man wird, 
wenn die öffentliche Meinung sich gewissermaßen in einzelnen Formeln, 
die die Streitfrage decken, kristallisiert hat, stets nur zwei Anschau- 
ungen hören, republikanisch und demokratisch. Ob Senator oder 
Arbeiter, die Frage, ob er der einen oder der anderen Partei ange- 
hört, wird nicht durch die Zugehörigkeit zu einem „Stande“ beant- 
wortet. Es kommt dem Arbeiter ein Gefühl der Klassenzugehörigkeit 
mit seinen Mitarbeitern erst in dem Augenblick, in dem ein Handeln 
in diesem Sinne von ihm verlangt wird. Dann tritt er aus seinem 
Privatleben heraus, tritt in den gemeinschaftlichen Wirkungskreis 
der Arbeiter in den „Unions“ ein. Erst dann fühlt er sich mehr 
alsein Glied der vereinigten Arbeiterschaft, dennals 
ein Glied des Staates, als Bürger. Aufihn,als Privat- 
mann, hat die Vereinigung wenig Einfluß, sie faßt ihn 
nur als Arbeiter. Die „Union“ erscheint ihm als notwendiges 
Anhängsel seiner täglichen Arbeit, die diese angenehmer und gewinn- 
reicher machen soll. Sie muß deshalb, um ihm vernünftig 
und praktisch zu erscheinen, mit dieser Arbeit eng 
verbunden, aufder Angehörigkeit zueinem bestimmten 
Gewerbe aufgebaut sein. Er hat gewissermaßen 3 Röcke — 
Sonntags-, Arbeits- und Unionrock. Hat er den ersteren an, so ist 
er „Gentleman“ und Bürger der Vereinigten Staaten, trägt er den 
zweiten, so ist er der geschickte und fleißige Maschinist, Schreiner ete. 
Mit dem dritten geht er zur Unionzusammenkunft. In ihm fühlt er 
sich ganz als Angehöriger der Arbeiterschaft seines Gewerbes und 
auch der ganzen Arbeiterschar und agitiert dort mit derselben 
Energie, mit der er vielleicht am Tage den Hammer geschwungen 
hat. Im ganzen Lande finden wir dieselben Männer. In San Fran- 
. Cisco von etwas rauherem und sorgloserem (don't care) Schlag, dem 
Charakter Kaliforniens entsprechend. In New Orleans vielleicht etwas 
weniger konservativ und unruhiger. Im großen und ganzen überall 


460 Ernst Pistor, 


derselbe gutmütige, vernünftige und gerecht denkende Arbeiter, der 
sich und seiner Familie neben dem bloßen Lebensunterhalt auch 
einen kleinen Anteil an den Freuden des Lebens sichern kann. Die 
Löhne sind durchweg weit höher, als die der gelernten Arbeiter 
Europas, auch wenn man die höhere Miete, den höheren Preis 
mancher Lebensmittel und vor allem Luxusartikel (Cigarren, Bier etc.) 
in Betracht zieht. Die besten Arbeiter arbeiten meist nicht länger 
als 8 Stunden!). Für die gelernten Grubenarbeiter und Maschinisten 
gilt dies fast ausnahmslos. Daß trotzdem in Anbetracht der unteren 
Arbeiterschichten, besonders soweit sie nicht Unions angehören, und 
der Kinder- und Frauenarbeit ungeachtet der Gesetzgebung große Miß- 
stände in Amerika bestehen, ist bekannt. Die Frage liegt wohl nahe, 
warum der Arbeiter, soweit er sich in den besprochenen Verhält- 
nissen befindet, nicht ,,zufrieden‘* jeder Agitation entsagt. Wer 
Amerika kennt, wird sich darüber nicht wundern. Ein jeder sucht 
hier mit Ungeduld seine materielle Lage zu verbessern und das 
Recht, mit gesetzlichen Mitteln darauf hinzuwirken, wird dem Ar- 
beiter so wenig bestritten wie jedem anderen. Ja, man hört allge- 
mein die Meinung äußern, daß diese „hoffnungsvolle Unzufriedenheit“ 
(„hopeful discontent“) des Arbeiters mit zur Größe Amerikas bei- 
trägt, da die Anstrengung, seine Lage zu verbessern, eine Anspan- 
nung aller seiner Kräfte involviert. Man glaubt, daß diese 
Unzufriedenheit den Arbeiter nicht unbescheiden, auf 
jeden Fall aber strebsamer und tüchtiger macht?) Ich 
habe es versucht, ein Bild des amerikanischen Arbeiters der ersten 
Kategorie meiner Einteilung zu geben. Behalten wir im Auge, daß 
der Arbeiter der zweiten Kategorie dieselben Züge, nur unent- 
wickelter zeigt, so fällt wohl auch auf seine Erscheinung ein klares 
Licht. Die dritte Kategorie haben wir als ungleichartig für sich allein 
betrachtet. 

Die Unionbewegung entnimmt nun ihr Material aus allen drei 
Kategorien. Doch bestehen die ältesten und stärksten „Unions“ 
aus Mitgliedern der ersten oder der ersten und zweiten Kategorie. 
Naturgemäß bestimmt sich damit auch die Politik der 
„Unions“ nach ihrer Zusammensetzung neben anderen, 
später zu erwähnenden Einflüssen. Je konservativer 
das Element, das die „Union“ bildet, je mehr die Männer 
der ersten Kategorie auf die Leitung bestimmend ein- 
wirken, desto vernünftiger und ruhiger ist der Kurs. 


1) In der Stadt New York arbeiteten von allen Lohnarbeitern (Final Report of 
the Industrial Commission pro 1902): 


8 Stunden 13,1 Proz. 


I 363 n 

A 10 » 48 " 

über 10 T 2 o 
100,0 Proz. 


2) Auch in den leitenden Kreisen der Politik ist diese Ansicht gewöhnlich, Teh 
hörte sie ınir gegenüber Mr. Right (Commission of Labor) äußern. 


Ein Beitrag zur Psychologie des amerikanischen Arbeiters. 461 


Ehe wir weiter gehen, müssen wir auf die Gefahr hin, Bekanntes 
zu wiederholen, einen Blick auf die Geschichte und Art der Organi- 
sationen werfen. 

Die ersten Anfänge der Unionbewegung reichen bis zum Jahre 
1806 zurück, doch blieben sie bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts 
bedeutungslos. Dann begannen die auf Gewerbezusammengehörigkeit 
aufgebauten ,, Unions“ (trade Unions) zu wachsen. In den 60er und 
TOer Jahren nahmen sie besonders in der Eisen-, Schuh-, Cigarren- 
industrie und unter den Druckerei- nnd Eisenbahn-Angestellten einen 
starken Aufschwung. Die 80er Jahre brachten ein rapides Zusammen- 
fließen sowohl der zu „Unions“ als auch der nicht zu „Unions“ ge- 
hórenden Arbeiter in dem neu gegründeten Orden der Knights of 
labor (Ritter der Arbeit). Dieser Orden versuchte einen Zusammen- 
schluß der einzelnen Arbeiter als Angehörige einer Arbeiterklasse 
ohne Rücksicht auf die bestehenden Unions zustande zu bringen. 
Vorübergehend gewann er viel Anhünger — 1866 hatte er ca. 700 000 
Mitglieder — heute ist ihm keine Bedeutung mehr beizumessen. Wie 
oben bemerkt, ist der bessere Arbeiter für die Arbeiterbewegung 
nur zu haben, wenn sie im engeren Anschluß an sein 
Gewerbe stattfindet. Er ist zu praktisch, um Zukunftsträumen 
nachzujagen. Zufrieden mit den Staatseinrichtungen, erstrebt er das 
Nächstliegende: Ein kräftige Vertretung der Interessen seines Ge- 
werbes. Erst auf dieser Basis entwickelt sich sein Verständnis 
für Interessen der Arbeiterschaft im allgemeinen. Dieser bessere 
Arbeiter (besonders erster Kategorie) aber ist das Rückgrat der ganzen 
Bewegung. Die Sympathien der geringeren Arbeiterschaft für eine 
Organisation sind flüchtig und ohne Bestand. Mit ihnen läßt sich 
keine Koalition ausbauen. Da die besseren Arbeiter nach einem 
kurzen Rausch zu ihrem alten Prinzip zurückkehrten, so brach der 
Orden der Ritter der Arbeit zusammen. An seine Stelle trat die 
American Federation of Labor (abgekürzt A. F. of L.. Dieser Ver- 
band sucht eine Vereinigung aller Arbeiter nach dem System 
der Gewerbeangehörigkeit zu stande zu bringen. Mitglieder 
sind nicht die einzelnen Arbeiter (wie dies bei den 
Knights of Labor der Fall war), sondern „Unions“ oder, 
Soweit sie zu größeren Verbänden zusammengetreten 
sind, diese größeren Unionverbünde. Während die Mit- 
glieder der „Unions“ von 1887 an aus dem Orden der „Knights of 
Labor“ wieder austraten, hielten sie in den „Unions“ fest zusammen, 
ja bis zur industriellen Krisis im Jahre 1893 war ein stetes An- 
wachsen der einzelnen Unions und Unionverbände zu bemerken. 
Von 1893—95 fällt die Zahl der Organisierten; nimmt dann wieder 
zu, um in den letzen Jahren der Prosperität des Landes eine über- 
raschende Höhe zu erreichen. 

Als die American Federation of Labor — A. F. of L. — im Jahre 
1887 fest konstituiert wurde, benützte sie die vorhandenen Unions, 
Sich als eine Zusammenfassung dieser zur einheitlichen Verfolgung 
gemeinsamen Zwecke darstellend. Man kann somit den jetzigen Zu- 


462 d Ernst Pistor, 


á 


stand damit illustrieren, daß man die „Unions“ mit Tausenden von 
kleinen, nach dem Prinzip der Gewerbezusammengehörigkeit auf- 
gerichteten Gebäuden vergleicht, die unter sich wieder, sowohl in 
Rücksicht auf gleiches Gewerbe (z. B. alle Glasarbeiterunions der 
U. S. A), als auch im Hinblick auf ihre lokale Lage (alle Unions einer 
Stadt), eng verbunden sind. Die A. F. of L. aber gliche in diesem 
Bilde einer ungeheuren Halle, die noch luftig und ungefestigt über 
alle die kleinen Gebäude und Gebäudekomplexe hingebaut ist, deren 
Bauart in ihrer Einfachheit und guter Fundamentierung oft eine 
größere Dauer zu verbürgen scheinen, als das kompliziertere Ge- 
bilde der A. F. of L. Selbstverständlich hat die A. F. of L. durch 
ihre Agitation neue „Unions“ geschaffen, auch berücksichtigt sie 
die Formation von „Unions“, deren Mitglieder verschiedenen 
Gewerben angehören. Doch werden diese „Unions“ nur als „pro- 
visorische* angesehen. Sobald genügend Mitglieder eines Gewerbes 
in diesen sogenannten ,Federal Unions* sich befinden, um eine 
,Gewerbeunion* (trade union) zu gründen, soll sofort diese ins 
Leben gerufen werden!) Die feste Basis der A. F. of L. wird 
also vor allem durch die „Unions“ gebildet, die schon bei Ent- 
stehung der A. F.ofL. fest gefügt dastanden, und die Ent- 
wickelung der A. F. of L. wird zu einem grofien Teil da- 
von beeinflufit werden, ob und wie weit sie der Politik 
der älteren und stärkeren Unionverbände folgen wird. 
Dies ist für unten zu machende Folgerungen von Wichtigkeit. Zwei 
Punkte sind hier noch zu bemerken. Einige der stärksten Unions- 
verbände sind der A. F. of L. nicht beigetreten, vor allem die der 
sogenannten Bruderschaften der Eisenbahnangestellten (brotherhood 
of Engineers, fire men, conducters and train men)?) Diese 
glauben in ihrer alten Organisation eine so starke Vertretung 
zu besitzen, daß sie den Allgemeinverband entbehren können. Auch 
sind sie in ihrer am weitesten fortgeschrittenen Entwickelung, und 
der damit Hand in Hand gehenden größeren Abschließung ihrer Reihen, 
in einen gewissen Gegensatz zu der A. F. of L. getreten, die vor allem 
jetzt die Zahl der organisierten Arbeiter vermehren will 
und daher eine umfassendere, nicht exklusive Politik treibt. Es 
existieren außerdem viele Einzelunions, die sich der A. F. of L. noch 
nicht angegliedert haben. Doch hängen sie mit dieser durch die Gleich- 
artigkeit ihrer Bestrebungen zusammen und ihr Beitritt ist, wenn 
die A. F. of L. weiter prosperiert, für den größten Teil derselben 
wohl nur eine Frage der Zeit. Genaue Zahlen festzustellen ist bei 
der Unzuverlässigkeit der Berichte und dem rapiden Wechsel un- 
móglich?). Die A. F. of L. gibt die Anzahl ihrer Mitglieder auf 


1) Constitution of the A. F. of L. Article VIII (Section Il). 

2) Im Westen entwiekelt sich gerade jetzt eine Vereinigung von Grubenarbeitern, 
die ebenfalls außerhalb der A. F.ofL. steht. Sie vertritt radikalere Ideen, und es ist 
nicht unmöglieh, daß (in Anbetracht ihrer gemischten Zusammensetzung) die Sozial- 
demokratie teilweise ein Wirkungsfeld dort findet. 

3) Report of Samuel Gompers S. 11. 1901, During the year (1901) we have 


Ein Beitrag zur Psychologie des amerikanischen Arbeiters. 463 


1100000 an; doch nach Nachrechnung der Beitragssumme er- 
scheint dies zu hoch gegriffen zu sein, was bei dem natürlichen 
Bestreben der „Unions“, die Mitgliederzahl möglichst hoch darzustellen 
und der Unmöglichkeit einer Kontrolle nicht in Erstaunen setzt. 
Schätzungsweise mag die Stärke der A. F. of L. auf 900 000—1 000 000 
angegeben werden, während die Anzahl aller Organisierten nicht weit 
von 1400000 entfernt sein wird. Doch kann das nächste Jahr bei fort- 
schreitender Prosperität des Landes schon ein erhebliches Anwachsen 
dieser Zahl bringen t). Die Landwirtschaft steht, wie natürlich, dieser 
Bewegung fremd, ja ablehnend gegenüber, da die Unions mit der 
Erhöhung der Löhne, die sie erreichen, auch die Löhne der land- 
wirtschaftlichen Arbeiter beeinflussen. Die in Betracht kommende 
Arbeiterschaft (mining manufacturing mechanical Industries) mag 
sich jetzt auf 7 000000 belaufen. Wie ersichtlich, ist der Prozentsatz 
ein ziemlich starker. Die Tatsache, daß die besseren Arbeiter 
allgemein „Organisationen“ angehören, verstärkt den Einfluß der 
Unions. Außerdem erhöht ein anderer Umstand noch ihre Kraft. 
Die Organisation ist im ganzen Lande nicht gleichmäßig verteilt. In 
manchen Orten sind die „Unions“ schwach. Ganze Gegenden sind 
,Union-frei*. Dafür beherrschen sie an anderen Orten viele Ge- 
werbe (vor allem das Baugewerbe) vollständig: „Die Konzentration 
ihrer Kräfte fördert sie mehr, als eine gleichmäßige Verteilung der- 
selben im ganzen Lande es tun könnte“, denn was den Erfolg für 
die Zukunft gewährleistet, sind die praktischen Resultate, die die 
Unionidee erzielt. Ein großer Sieg einer der Unions an irgend 
einem Orte macht im ganzen Lande Propaganda und fördert die 
Entstehung neuer Unions durch moralische Einwirkung. So bedeutet 
die Berufung des Präsidenten der großen Grubenarbeiterunion durch 
den Präsidenten Roosevelt zu einer Konferenz mit den Grubenbesitzern 
zur Beilegung des Kohlenstreiks (2. Oktober 1902) und die Ernennung 
eines Unionmannes in das Sechs-Männer-Schiedsgericht des Kohlen- 
streiks 1902 eine offizielle Bestätigung der Anerkennung der Union 
als ein bemerkenswerter, wirtschaftlicher Faktor und damit ein 
moralischer Sieg der Unionidee überhaupt ?). 

Der Plan der ganzen Organisation der A. F. of L. ist folgender: 
„Unions“, bestehend aus Arbeitern desselben Gewerbes, zu großen 
Verbänden aller ,, Unions“ des betreffenden Gewerbes im 
ganzen Lande (national and international „Unions“) zusammen- 
geschlossen. Diese Art des Zusammenschlusses bildet den Haupt- 
faktor. Daneben schließen sich die „Unions“ zu lokalen Verbänden 
zusammen. Beide Arten der Verbände haben Vertretung in der 
„Convention of the A. F. of L., so daß jeder Arbeiter dort zweimal 


formed and chartered 575 trade unions. 1902, During the year (1902) trade and federal 
unions 877. 

1) Vergl. American Federationist, Dezember 1902, S. 925. 

2) Gompers Pres. d. A. F. of L. Dezember 1902 im Federationist. A great victory 
has been won for the miners, for the cause of organized labor and for humanity. 
Material advantage is therefore inevitable. 


464 Ernst Pistor, 


vertreten ist. Doch während bei namentlicher Abstimmung in der 
„Convention“ der Vertreter der „national and international Unions“ 
für je 100 Mitglieder, die er vertritt, eine Stimme hat, was die 
Stimmenzahl bei großen Verbänden in die Tausend bringen kann, 
haben die lokalen Verbände stets nur je eine Stimme zur Verfügung. 
Es zeigt dies zur Genüge ihre geringere Bedeutung. Dieser Plan 
ist nun, wie ersichtlich aus der Existenz von Einzelunions, noch nicht 
durchgeführt. Entweder ist das Gewerbe überhaupt nicht organisiert, 
z. B. an einem kleinen Platze befinden sich nur einige Schreiner, 
einige Schlosser ete.: dann kommt es zu provisorischen Gebilden, 
aus denen aber sofort eine auf der Gewerbeangehórigkeit be- 
ruhende „Union“ herauswächst, wenn genügend Arbeiter desselben 
Gewerbes vorhanden sind. Oder das Gewerbe ist zwar organisiert 
und es bestehen einzelne „Unions“ in ihm, jedoch diese haben sich 
noch nicht in größeren Verbänden zusammengefunden. Solange diese 
Einzelunions als solche allein bestehen, haben sie ihre eigene Ver- 
tretung in der „Convention“. Treten sie zu „national oder inter- 
national unions“ zusammen, so geht ihre Vertretung in der dieser 
größeren Verbände auf. Abgesehen von dieser, durch den Kon- 
struktionsplan der A. F. of L. gedeckten Entwickelung, beginnt sich 
als Resultat der entsprechenden Trust- und Mergerbildung eine weitere 
Vereinigung zu vollziehen, nämlich die der zu einer und derselben 
Industrie gehörigen Gewerbe. Es bilden z. B. alle mit der Schuh- 
fabrikation zusammenhängenden Gewerbe an einem Orte eine Ver- 
einigung zur Wahrung gemeinschaftlicher Interessen. Sehr aus- 
geprägt finden wir dieselbe in den sogenannten „building trades“. 
Alle „Unions“ einer Stadt, die mit dem Hausbau zu tun haben 
(Maurer, Schreiner, Tapezierer, Anstreicher etc.) bilden eine Ver- 
einigung. Diese Verbände stehen als solche nicht mit der A. F. of L. 
in Verbindung. Die zu ihnen gehörigen „Unions‘ können natürlich 
durch die vorherbesprochene Organisation in der A.F. of L. vertreten 
sein und sind es auch meist. 

Die Zusammensetzung der A. F. of L. Ende 1901 und 1902 
war folgende: 


1901 1902 
1) National und International Unionverbünde 87 101 
2) Central bodies | -Lokélverb&nds 327 454 


State-federations f 


Diese stellen die Zusammenfassung von Tausenden von Unions und 
zwar derselben Unions nach zwei Systemen dar. Die Einzel- 
unions d. h. solche, die noch nicht zu „national oder international 
unions^ zusammengetreten sind, zeigen folgende Zahlen: 


1901 1902 
Tradeunions (Arbeiter desselben Gewerbes) 750 
Federalunions (Arbeiter verschiedener Gewerbe) 399 2026 


Viele derselben befinden sich schon in den Lokalverbänden. Aus 
den Federalunions sollen nach dem erwähnten Plane Tradeunions 
wachsen und diese sich zu national und international Verbänden zu- 
sammenfinden. 


Ein Beitrag zur Psychologie des amerikanischen Arbeiters. 465 


Das ist die Organisation, die die Arbeiter der drei Kategorien 
zusammenführt. Die Frage liegt nun nahe: Wer sind die An- 
führer dieser Massen, die Leiter dieser Unions, die 
offenbar durch ihre Stellung einen starken Einfluß 
auf die Politik der Unions ausüben müssen. Auch hier 
lautet die Antwort nicht für alle Unions gleich. Wo das konser- 
vative Element der Arbeiterschaft überwiegt, ist auch die Führer- 
schaft eine ruhige. Doch wo dies nicht der Fall ist, erstehen als 
Arbeiterführer selbstsüchtige Agitatoren; ihr oft geradezu gewissen- 
loses Treiben würde bei der sonst vernünftigen und ruhigen Natur 
des Amerikaners in Erstaunen setzen, fänden wir nicht in einer 
Eigentümlichkeit des dortigen Lebens die Erklärung. Der Ameri- 
kaner ist im jetzigen Stand seiner Entwickelung kein Idealist, son- 
dern ein Praktiker. — Das ganze Land blüht und wächst. — Bald 
hier, bald dort öffnen sich neue Quellen des Reichtums. — Kaum 
ist die Zeit der Goldfelderüberraschungen Kaliforniens vorüber, so 
kommen Nachrichten von reichen Funden in Alasca. — Tausende 
strömen dorthin. „Alles fließt“. — Ungeheuere Wertumsätze ge- 
bären über Nacht neue Dollar - Giganten. — Die Blätter bringen 
Berichte über den Millionär, der als Arbeiterjunge begann. Eine 
neue Eisenbahn ist in Sicht — eine fieberhafte Spekulation in Boden- 
werten beginnt. Die Nachricht von einem Agrikulturtrust bringt die 
Massen in Aufregung: „Eine neue Gelegenheit reich zu werden.“ — 
Im Süden werden Oelquellen entdeckt. New-Orleans träumt von 
Gold und Wachstum, wenn diese genügend ausgenützt sind und der 
Panamakanal fertiggestellt ist. — Wie ein Sturm braust die Nach- 
richt durch das Land, daß Mr. Morgan, der Finanzherkules von 
Amerika, die Kontrolle über eine weitere Eisenbahn erringen will. 
Ein Börsenkampf bis zur Unbarmherzigkeit beginnt. Papiere steigen 
von 100 auf 1000, um am abend nach der Schlacht wieder tiefer ge- 
sunken zu sein. Viele sind bankerott geworden und manche zu neuem 
Reichtum gekommen. — Und in dieser ganzen aufregenden Atmo- 
sphäre lebt der Amerikaner, lebt auch der amerikanische Arbeiter. 
Keine Schranken ererbter Standesrechte bauen sich vor ihm auf. 
Es ist nur das Geld, der Erfolg, der den Mann macht. Er sieht 
aus seinen Mitarbeitern einige zum größten Reichtum gelangen !). 
Mag auch der Einfluß geringer sein, wie in den Kreisen der Ge- 
schäftswelt, da ihm das Kapital fehlt, das ihn zum Mitspieler machen 
könnte, der Geist, der aus diesem drängenden Kampf mit dem 
fliehenden Geld aus den großen Städten aufsteigend über das ganze 
Land zieht, dieser Geist des Vorwärtsdringens, dieses Sehnens nach 
Aufsteigen, nach dem materiellen Erfolg, kann auch auf ihn nicht 
ohne Eindruck bleiben. Und jemehr er sich von dem 
ruhigen Arbeitsfeld entfernt, jemehr er Hand- mit 
Gehirnarbeit vertauscht, jemehr er in die Oeffentlich- 


1) Mr. Carnegie, der seine Stablwerke für 300 Mill. an den Steeltrust verkaufte, 
begann als Arbeiter. 
Dritte Folge Bd, XXV (LXXX). 30 


466 Ernst Pistor, 


keit tritt, desto stärker wirkt dies aufihn, desto lau- 
ter tönt der Ruf in sein Ohr: Go ahead — voran — auf 
würts — ein Ruf, der seit Benjamin Franklins Zeiten die Essenz 
der Lebensphilosophie eines großen und gerade des aktiven Teils 
des amerikanischen Volkes darzustellen scheint. Unter einem 
solchen Einfluß sehen wir vor allem die Leiter der 
„Unions“, und besonders die der jungen, weniger kon- 
servativen Unions stehen. Mit wachsender Bedeutung ihrer 
Stellung treten sie aus der ruhigen Arbeit der Werkstatt mehr in 
die Oeffentlichkeit, und damit in mannigfachere Beziehung zu den 
Regionen des amerikanischen Lebens, in denen dieser Geist seine 
eifrigsten Jünger hat. Auch bringt es die erwähnte Eigentümlichkeit 
des Landes mit sich, daß, wenn auch intelligente, doch in den jungen 
Unions gewiß, verschlagenere und rücksichtslosere Elemente an die 
Spitze treten. So ruft die „Go-ahead-Stimmung“ die egoistischen 
Streber vor die Front und wirkt auf sie wieder in ihrer exponierten 
Stellung am stärksten, sie in ihrer Anschauung befestigend. Da 
weiter bei dem unausgeprägten Klassenbewußtsein und dem mehr 
oder minder starken Streben Aller „als Individuum“ auf der 
sozialen Leiter emporzusteigen, derjenige, der die Arbeitssache verläßt 
und auf die Seite der Unternehmer übertritt, kein Ueberläufer, kein 
Verrüter ist, so steht auch von der Arbeiterseite seinem Strebertum 
nichts im Wege. Man läßt ihn ruhig ziehen und sagt ihm vielleicht 
mit einer gewissen Hochachtung ein „smart fellow“ nach. Ein solcher 
Uebertritt von der Arbeit zum Kapital ist nichts Ungewöhnliches, 
sondern eine alltägliche Erscheinung. Man schaut hier zu Lande 
eifrig aus nach „scharfen praktischen Männern“. Industrie und 
Politik, in deren Hintergrund meist auch ein gutbezahlter Posten 
winkt, bemühen sich um sie; teils um ihre Kräfte zu nützen, teils 
um sie von der Gegenseite als unangenehme Gegner herüberzuziehen 
und sie zum Schweigen zu bringen. Die Chancen für denjenigen, 
der einmal bemerkt, der bekannt geworden ist, sind 
daher groß. So drängen alle Verhältnisse den Arbeiterführer dahin, 
seinen persönlichen Vorteil im Auge zu haben, und die Mittel, mit 
denen er dieses Ziel erreicht, sind möglichst erfolgreiche turbulente 
Agitation, vor allem die Durchführung einer siegreichen 
Streikbewegung, wobei die Frage, ob der Streik gerechtfertigt 
war, erst in zweiter Linie in Betracht kommt. Es muß etwas 
gemacht werden. — Der Unionführer mußausderReihe 
der Konkurrenten hervorstechen, dann wird er von 
Kapital, Arbeit und auch Politik (in Rücksicht auf seinen 
persönlichen Einfluß) als ein Faktor erkannt werden, mit 
dem man rechnen muß. So wird er unmerklich der Ansicht 
zugeführt oder in ihr bestärkt, daß rücksichtslose Streikpolitik für 
die Arbeitersache das einzig Richtige sei, und die vielleicht unbe- 
wußte Erwägung des eigenen Vorteils, der wie nichts anderes die 
menschliche Urteilskraft verwirrt, mag ihm das als Forderung der 
„Kampfesrechte der Arbeit“ gegen das Kapital er- 


Ein Beitrag zur Psychologie des amerikanischen Arbeiters. 467 


scheinen lassen, was am Ende nur der Hebung seiner eige- 
nen Person dient und in Wahrheit der Arbeitersache schadet. - 
Daher die unruhige Politik so vieler Unions, das Inscenesetzen 
grundloser Streiks und die ganze mißständige Wirtschaft in der 
Arbeiterbewegung Amerikas, über die man so viele Klagen hört. 
Wohlbemerkt sind diese Mißstände in ihrem ganzen Umfang nur 
bei den jungen Unions, insbesondere dort zu finden, wo die schlechteren 
Elemente der Arbeiterschaft noch eine große Rolle spielen. Die 
älteren Unions, die mehr oder ganz aus gelernten Arbeitern 
bestehen, sind längst zu der Ansicht durchgedrungen, daß nur eine 
ruhige Politik der Arbeiterschaft zum Heil gereichen kann. Sie 
sind daher vorsichtig in der Wahl ihrer Leiter. Wenn, 
wie später berührt werden wird, die Tendenz der Unions im all- 
gemeinen dahin geht, die unruhigeren Elemente abzustoßen und die 
Leitung in demselben Maße uneigennütziger und damit mäßiger sich 
gestaltet, als dies schon geschieht, so ist für die Zukunft eine fort- 
Schreitende Besserung dieses Uebelstandes mit Sicherheit zu er- 
warten. Auch sehen wir jetzt schon bei den Leitern der 
größeren Verbände (national und international Unions und 
A.F.ofL.)eine durchaus konservative Haltung. Sie haben 
eine ihrem Ehrgeiz entsprechende Stellung errungen, gedenken 
nicht mehr zu wechseln, und für sie ist gerade umgekehrt jeder 
Streik nur die Ursache von Mühe, Arbeit und Unannehmlichkeiten. 
Außerdem stehen sie auf einem durchaus höheren Niveau, als die 
Leiter der Einzelverbände, teils, weil ihre größere Intelligenz sie 
auf den hervorragenden Platz gestellt, teils, weil sich das Amt seinen 
Mann schafft. Ein Mann mit dem Wirkungskreis des Präsidenten 
der A.F.ofL. muß über einen weiten Blick verfügen, und die 
größere Verantwortung wird eine nüchternere und objektivere Politik 
zur Folge haben. Allerdings dringen diese Männer bei dem 
Fehlen einer strengen Disziplin in dem Allgemeinverband und in 
vielen Einzelunions, das überall dort zu beobachten ist, wo die un- 
ruhigeren Elemente eine Rolle spielen, oft nicht mit ihrer Ansicht 
durch. Die Berechtigung der Annahme, daß eine Aenderung zum 
Besseren, sowohl was Disziplin als auch was die Güte des Arbeiters 
und Führermaterials und damit die ganze Politik der , Unions" be- 
trifft, eintreten möge, wird wesentlich von der Beantwortung 
der Frage abhängen, ob eine „exklusive Tendenz“ der 
Unions anzunehmen ist. Solange die untersten Schichten 
der Arbeiterschaft in den ,Unions* eine Rolle spielen, ist eine 
Aenderung zum Besseren ausgeschlossen. Solange die Tore der 
Unions für die minderen Elemente, insbesondere der dritten Kategorie, 
offen sind, solange werden dieselben Mißstände in Wirkung bleiben. 
Wie bemerkt, verschwindet diese unterste Kategorie nicht, sondern 
ergänzt sich fortwährend durch neuen Zuzug. Und doch ist es 
gewissermaßen eine Lebensfrage für die „Unions“, ein von soliden 
Grundsätzen beherrschtes System auszubauen. Wie ist ihnen dies 
Du 


468 Ernst Pistor, 


möglich, wenn sie nicht die Elemente ausstoßen, die sie weder er- 
ziehen, noch beherrschen können. 

Verschiedene Gründe wirken hier zusammen, um den Unions die 
exclusive Richtung zu geben. Wie schon bemerkt, haben wir es nicht 
mit einem Kampf einer Arbeiterklasse gegen eine Unternehmer- 
klasse zu tun, sondern mit einem Zusammenschluß der einem 
Gewerbe Angehörenden. Der bessere, höher stehende Arbeiter 
fühlt daher nur so lange mit den unteren Schichten der Arbeiterschaft, 
als dieser der Erreichung seines Zieles nicht im Wege ist. Solange 
aber die Vereinigung mit ihm ein Hindernis für seine Entwickelung 
ist, muß er ihn notwendigerweise fallen lassen. Unzulänglichkeit der 
Führer, Fehlen jeder Disziplin und die daraus folgende Unzuver- 
lässigkeit bei Durchführung von Kontraktabschlüssen, das sind Vor- 
würfe, die, wie bemerkt, für den einen Teil der Unions berechtigt 
sind, doch als Argumente gegen die Unionbewegung über- 
haupt können sie keine vollständige Geltung beanspruchen. Alle 
diese Uebelstünde nehmen in dem Maße ab, in dem die 
besseren Arbeiter der Union die Oberhand gewinnen. 

Da diese Mißstände die Kraft der Koalitionen schwächen, vor allem 
den Unternehmer an der Anerkennung der Unions und damit Berück- 
sichtigung ihrer Forderungen hindert, außerdem den „Unions“ natur- 
gemäß das Bestreben inhäriert. eine Lohnfestsetzung auf breiter, mehr 
die minderen Arbeiter begünstigenden Basis zu schaffen, so haben die 
besseren und besten Elemente auf die Dauer nur Nachteile von 
einer solchen Vereinigung zu befürchten. Sie werden sich also 
bei der ersten günstigen Gelegenheit diese Last vom Halse zu 
schaffen trachten. Sie werden versuchen, eine „Reinigung 
der Unions“ herbeizuführen. Die Möglichkeit hierzu liegt in der 
Einführung hoher Anforderungen, die man beim Eintritt stellt, und 
vor allem in der Beschränkung der Lehrlingszahl, die langsam eine 
Monopolisierung eines Gewerbes durch die dasselbe beherrschenden 
„Unions“ herbeiführen kann. Dabei ist noch zu bemerken, daß die- 
jenigen Arbeiter, die mehr «das konservative Element darstellen, als 
gelernte und besser bezahlte Arbeiter über einen höheren Grad von 
Lebenserziehung verfügen. Ihre Erhebung über das Niveau des 
gewöhnlichen Handarbeiters mag durch die stärkere Ausprägung 
der sozialen Instinkte ein festeres Zusammenhalten gewährleisten. 
Während also schlechte Zeiten die untersten Schichten auseinander- 
treiben, mögen sie diese Arbeiter gerade umgekehrt zu einem festeren 
Zusammenschluß unter sich, im Gegensatz zu dem dann abbröckelnden 
minderen Material, führen. Ein Beweis für die exklusive 
Tendenz liegt in der jetzt schon zu beobachtenden Ab- 
schließung vieler, und gerade der krüftigsten Unions 
dureh hohe Beitrittsgelder und Beschrünkung der 
Lehrlingszahl. Die meisten Maurer-Unions verlangen einen Bei- 
trag von dem Eintretenden, der zwischen 40 und 80 M. schwankt. 
Die Anstreicher New Yorks einen solehen von 100 M.; manche 
kleine, aber kräftige „Unions“ einen solchen von 400 M. Glasblaser 


Ein Beitrag zur Psychologie des amerikanischen Arbeiters. 469 


lassen Amerikaner für 20 M., Fremde für 200—400 M. eintreten. 
Es mögen diese Beiträge in dem Versicherungssystem der Union zum 
Teil ihre Erklärung finden. Auf jeden Fall wirken sie ausschließend. 
Die Proportion zwischen der Zahl der Lehrlinge und der der Aus- 
gelernten ist in vielen Unions auf 1:5, in manchen sogar auf 1:15 
beschränkt, je fortgeschrittener, besser und stärker organisiert die Union 
ist, desto strenger sind die Einschränkungen, mit denen sie ihre Reihen 
abzuschließen sucht. Gegenüber diesen Tatsachen kann 
schwer der Ansicht ausgewichen werden, daß die Ten- 
denz des ganzen Unionsystems in Amerika eine ex- 
klusive ist. Es mag dagegen eingewandt werden, daß die Politik 
der A. F. of L., die einstweilen nur die Zahl ihrer Anhänger zu 
erhöhen versucht, dem widerspricht. Aber diese kann auf 
die Dauer keine andere Politik verfolgen als die 
großer Unionverbände, die als Organisationen fester 
zusammengefügt sind. Sie steht oder fällt mit ihnen. Jede 
große Bewegung, und mit einer solchen haben wir es hier zu tun, 
scheint am Anfang einen gewissen Ueberschuß an Energie zu ent- 
wickeln, der sie in weitere Kreise übergreifen läßt, als die sind, die 
tatsächlich später die Ernte einbringen. So mag auch hier vielleicht 
die Entwickelung eine stärkere Abstoßung der unteren Schichten der 
Arbeiterschaft und einen exklusiveren Zusammenschluß der oberen 
Schichten bringen. Die Parallele mit den mittelalterlichen Zünften, 
die durch ihre Exklusivität einen besonderen Gesellenstand geschaffen, 
der sich nach Entstehung der Großindustrie zu unserem Arbeiter aus- 
wuchs, ist nicht unmöglich. Daß nach dem Ausscheiden der konservativen 
Elemente, auch wenn es den Ausgeschlossenen gelingen sollte, sich unter 
sich wieder zu organisieren, die Politik der Massen eine radikalere Fär- 
bung annehmen kann, ist außer Frage. Es kommt hier alles größer, 
plötzlicher, gewaltsamer zur Erscheinung, als in Europa. Wie ein Feuer 
in den Prärieen, das der Sturm jagt, flammt jede Bewegung durchs 
Land, die Gemüter vom Atlantic bis zum Pacific, von den grünen 
Waldbergen der nordigen Seen bis zu den heißen Steppen Mexikos 
in Aufregung versetzend. So mögen diese Elemente den geeigneten 
Boden für sozialistische oder anarchistische Ideen bilden, die jetzt 
schon in den dunklen Quartieren New Yorks eifrig verkündet werden, 
oder es mag ein amerikanischer Tolstoj aufstehen, der die Auflehnung 
gegen den Egoismus der modernen Kultur, nicht wie jener als dulden- 
der, russischer Negativismus, sondern als tätiger amerikanischer Posi- 
tivismus predigt, und Millionen mit sich reißt. Ungeheurer Schaden 
vermag dadurch angerichtet werden, wenn auch kein Zweifel besteht, 
daß Amerika in seiner demokratischen Verfassung und in seinen regu- 
lären und Miliztruppen Kräfte besitzt, die teils vorbeugend, teils 
unterdrückend, das  Ueberhandnehmen dieser Gefahr verhindern 
könnten. 

Es sei erlaubt, auf eine andere, in Anbetracht der Exklusivität 
nicht unmögliche Entwickelung hinzuweisen. Es handelt sich dabei 
nicht um den Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit, sondern um 


470 Ernst Pistor, 


den zwischen Produzierenden und Konsumierenden. Die Vereini- 
gung gewaltiger Kapitalmassen unter der Diktatur einiger industrieller 
Giganten, die Monopolisierung ganzer Industrien schreitet unauf- 
haltsam vorwärts. In gleichem Tempo vollzieht sich der Zusammen- 
schluß besonders der gelernten Arbeiterschaft, wobei auch sie in ihrer 
exklusiven Tendenz dem Monopol zustrebt. Daß die Trusts und 
Mergers mit ihrer Entstehung stets auch die Preise erhöht haben, 
ist nicht durchweg erwiesen. Man weiß, daß sie große Gewinne aus 
der Verbilligung des Betriebs und anderen Vorteilen ziehen, die ein 
derartiger Zusammenschluß der Kräfte im Gegensatz zur Ein- 
zelunternehmung oder zum Kartell bietet und statistisch 
steht fest, daß ihre weitschauende Politik eine gleichmäßigere Regu- 
lierung der Preise zur Folge gehabt hat. Sie verschmähen es wohl, 
auf Kosten der Zukunft die Gegenwart auszurauben, auf die 
Dauer werden sie doch den Profit, der nach Lage der Verhältnisse 
der höchste ist, den sie erlangen können, anstreben. 

Bei Zollschutz kann der Teil der Industrie, der ein Monopol 
errichtet hat, die Preise bis zu der Höhe treiben, die den Eintritt 
freien Kapitals gewinnbringend erscheinen läßt. Die Möglichkeit 
dieses Eintritts bildet also eine Art „Regulator“. Ist aber nicht 
allein das Kapital, sondern auch die Arbeit monopo- 
lisiert oder nähert sie sich wenigstens diesem Sta- 
dium, so wird das neu eintretende Kapital sowohl 
Schwierigkeiten haben, die nötige Anzahl gelernter 
Arbeiter zu erhalten, als auch, wenn ihm dies möglich, 
in der Gefahr sein, von der Vereinigung des monopo- 
lisierten „Kapital und Arbeit“ erdrückt zu werden, in- 
dem dieser, bei Zustimmung des Arbeiters zur zeit- 
weisen Herabsetzung ihrer Löhne, eine billigere Pro- 
duktion möglich ist. Allerdings würde eine derartige Entwicke- 
lung mit ihrer Zunahme auch schon ein Gegengewicht in sich selbst 
tragen, da der Arbeiter ja zu gleicher Zeit auch auf der Seite der 
Konsumierenden steht; auch würde eine zu große Erhöhung der 
Preise eine starke Nachfrage nach außerhalb des Arbeitermonopols 
stehenden Arbeitern erzeugen und damit dieses brechen. Doch liegt 
die Möglichkeit eines wenigstens vorübergehenden Eintretens eines 
solchen Zustandes nicht fern. Ein Vorfall, der hier zu beobachten, 
gibt in dieser Richtung manches zu denken. Die Arbeiter der Glas- 
industrie sind stark organisiert. Sie haben es verstanden, durch ex- 
klusive Politik ihre Anzahl so zu beschränken, daß sie die Industrie, 
soweit „Arbeit“ in Betracht kommt, beherrschen, ja, daß aus Mangel 
an Arbeitern manche Betriebe gsschlossen werden mußten. Wir 
sehen als Resultat der Machtstellung dieses Unionver- 
bandes eine friedliche Regulierungaller Streitigkeiten 
zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber, aber auch 
ein gemeinsames Vorgehen gegen die Konsumierenden. 
Die erste Frage lautet: Was können wir vom Publikum erlangen, 
indem wir zusammenhalten ; die zweite Frage erst ist die der Gewinn- 


Ein Beitrag zur Psychologie des amerikanischen Arbeiters. 471 


teilung. Der hohe Preis der Fensterscheiben ist die Folge dieser 
Vereinbarung. Was hier in einer Industrie schon tatsächlich be- 
steht, kann für die Zukunft Ausdehnung auf andere erhalten. 

Ziehen wir das Resumee der ganzen Lage, so finden wir: Organi- 
sation der Arbeit nach dem Prinzip der Gewerbeangehörigkeit in 
Unions. Der größte Teil dieser Unions zusammengefaßt in einem 
Allgemeinverband (A. F. of L.), der ein noch ungleichmäßiges Bild 
bietet. Wir sehen in ihm alte Unions, meist bestehend aus amerika- 
nischen gelernten Arbeitern (erster Kategorie) die, fest geschlossen, 
eine gemäßigte Politik treiben, daneben aber andere, unentwickelte 
Unions, bei denen undisziplinierte, unruhige Elemente einem selbst- 
süchtigen Agitator folgen. Und blicken wir über sie alle als Ganzes, 
so erscheinen die Leiter der Bewegung in demselben Verhältnis 
konservativer und vernünftiger, in welchem sie an mehr verantwortungs- 
voller Stelle stehen. So kann man wohl sagen, daß die Haupt- 
leitung und das konservative Element der Arbeiter (erster und teil- 
weise zweiter Kategorie) in den alten Unions, und soweit es sich 
in den jungen Unions befindet, Streiks zu vermeiden sucht, daß 
aber die Unterleitung, soweit gestützt von der unruhigen Arbeiter- 
schaft, dazu aufgelegt ist, Schwierigkeiten vom Zaun zu brechen, 
— wodurch zur Zeit eine starke Belästigung und Schädigung der 
Industrie erzeugt wird. Die Reinigung der Unions (insbesondere 
von den Arbeitern der dritten Kategorie), die im Interesse der besseren 
Arbeiterschaft und der Unternehmer liegt, ist angesichts der exklu- 
siven Tendenz zu erwarten. Durch sie mag dieser Mißstand gehoben 
werden. Zu gleicher Zeit kann aber auch das Herausziehen der 
konservativen Elemente aus der übrigen Arbeiterschaft zusammen 
mit der Benachteiligung, die ein strenger Abschluß der oberen für 
die unteren Schichten mit sich bringt, hier radikalere Stimmungen 
erzeugen, was sich bei Krisen und eventueller Desorganisation zu 
einer sozialen Gefahr auswachsen mag. Betrachten wir die Sachlage 
unter Berücksichtigung des Gegensatzes zwischen Produzierenden und 
Konsumierenden und nicht des von Kapital und Arbeit, so scheint 
die Entwickelung im Hinblick auf die exklusive Tendenz der Unions 
auf einen Zusammenschluß von monopolisierter Arbeit und mono- 
polisiertem Kapital hinzudeuten, welcher die Gefahr der Benachteilung 
aller Außenstehenden (wie die ganze Landwirtschaft und Kapital und 
Arbeit — soweit sie nicht organisiert sind) nahe rücken dürfte. 

Die hier versuchten Ausblicke mögen nur als eine Hindeutung 
auf die Zukunft unter Betonung einer der kräftigsten Entwickelungs- 
bedingungen aufgefaßt werden. Bei der großen Mannigfaltigkeit der 
hier wirkenden Faktoren, bei der Möglichkeit des Auftauchens neuer 
Bedingungen, die die Bewegung hemmen, oder ihr eine andere 
Richtung geben, ist es schwer, ein Bild der Zukunft zu entwerfen. 
Doch kann bei aller Vorsicht der Schlußfolgerung angenommen 
werden, daß die augenblicklichen Zustände eine Entwickelung an- 
deuten, die ihre Hauptrichtung durch die Einwirkung der oben an- 
geführten Faktoren erhält. Lassen wir die Zukunft ganz aus dem 


472 Ernst Pistor, Ein Beitrag zur Psychologie des amerikanischen Arbeiters. 


Spiel, so können bei aller Anerkennung der Notwendigkeit derartiger 
Organisationen in Amerika, die Schattenseiten nicht übersehen werden. 
Abgesehen von den kleineren Nachteilen, denen sich auf der anderen 
Seite ebensoviele Vorteile wohl entgegenstellen lassen, bleiben zwei 
Hauptpunkte bestehen, die eine Schädigung der Industrie darstellen. 
Die Beunruhigung der Industrie durch unruhige Politik (Streiks etc.) 
und die Verteuerung der Arbeit, die mit der Entwickelung des 
Unionwesens gleichen Schritt hält. Die Größe und der Reichtum 
des Landes, seine Prosperität und die Findigkeit des Amerikaners, 
unter ausgedehnter Anwendung von Maschinen, die größten Resultate 
mit den Arbeitskräften, die er bezahlt, zu erzielen, haben zusammen 
mit dem kommerziellen Genie des Amerikaners diese Schwierigkeiten 
bis jetzt noch überwunden. Doch die Forderungen der Unions werden 
von Tag zu Tag mit größerer Kraft geltend gemacht und den fetten 
Jahren mögen dürre Zeiten folgen, die es der Industrie Amerikas 
schwer machen werden, diesen Anforderungen zu genügen, ohne sich 
damit selbst zu schädigen. 


Nationalökonomische Gesetzgebung. 473 


Nachdruck verboten. 


Nationalökonomische Gesetzgebung. 


I. 


Die wirtschaftliche Gesetzgebung des Deutschen Reiches 
im Jahre 1902. 


Von Dr. phil. Felix Wissowa (Berlin). 


Gesetz vom 30. Dezember 1901 zur Abänderung der Stran- 
dungsordnung (R.G.B. 1902 No. 1 S. 1 f.). 

Bekanntmachung vom 23. Januar 1902, betr. die Beschüftigung 
von Gehilfen und'Lehrlingen in Gast- und in Schank wirt- 
schaften (R.G.B. No. 4 S. 33 £.; 40). 


, Auf Grund des $ 120e der Gewerbeordnung hat der Bundesrat nachstehende Be- 
stimmungen über die Beschüftigung von Gehilfen und Lehrlingen in Gast- und 
in Schankwirtschaften erlassen: 

.. 1 1) In Gast- und in Schankwirtschaften ist jedem Gehilfen und Lehrling 
über 16 Jahre für die Woche 7mal eine ununterbrochene Ruhezeit von mindestens 
8 Stunden zu gewühren. Der Beginn der ersten Ruhezeit darf in die vorher- 
gehende, das Ende der siebenten Ruhezeit in die nachfolgende Woche fallen. 

. Für Gehilfen und Lehrlinge unter 16 Jahren muß die Ruhezeit mindestens 
H Stunden betragen . . . 

. „Die höhere Verwaltungsbehörde ist befugt, in Bade- und anderen Kurorten 
die Ruhezeit für Gehilfen und Lehrlinge über 16 Jahre in Gastwirtschaften wüh- 
rend der Saison, jedoch nicht über eine Dauer von 3 Monaten, bis auf 7 Stunden 
herabzusetzen. Neben dieser Ruhezeit müssen tüglich, abgesehen von den Mahl- 
zeiten, Ruhepausen in der Gesamtdauer von mindestens 2 Stunden gewährt werden. 

2) Der Zeitraum zwischen 2 Ruhezeiten, welcher auch die Arbeitsbereitschaft 
und die Ruhepausen umfaßt, darf in den Fällen der Ziffer 1 Abs. 1 höchstens 

16 Stunden, in den Fällen der Ziffer 1 Abs. 2 höchstens 15 Stunden und in den 
Fällen der Ziffer 1 Abs. 3 höchstens 17 Stunden betragen. 

3) Eine Verlängerung der in Ziffer 2 bezeichneten Zeiträume ist für den 
Betrieb bis zu 60mal im Jahre zulässig. Dabei kommt jeder Fall in Anrechnung, 
BER nur für einen Gehilfen oder Lehrling diese Verlängerung stattgefunden 


. 4) An Stelle einer der nach Ziffer 1 zu gewährenden ununterbrochenen Ruhe- 
zeiten ist den Gehilfen und Lehrlingen mindestens in jeder 3. Woche einmal eine 
ununterbrochene Ruhezeit von mindestens 24 Stunden zu gewühren. 

In Gemeinden, welche nach der jeweilig letzten Volkszühlung mehr als 
20000 Einwohner haben, ist diese Ruhezeit mindestens in jeder 2. Woche zu 
gewühren. 

In denjenigen Wochen, in welchen hiernach eine 24-stündige Ruhezeit nicht 
gewührt zu werden braucht, ist aufer der ununterbrochenen Ruhezeit von der 


474 Nationalökonomische Gesetzgebung. 


Lë qques Dauer (Ziffer 1) mindestens einmal eine weitere ununterbrochene 
Ruhezeit von mindestens 6 Stunden zu gewähren, welche in der Zeit zwischen 
8 Uhr morgens und 10 Uhr abends liegen muß. 

5) enthält Bestimmungen über die Verpflichtung des Arbeitgebers zur Anlage von 
Verzeichnissen der Gehilfen und Lehrlinge und der erteilten Ruhezeiten. 

6) Gehilfen und Lehrlinge unter 16 Jahren dürfen in der Zeit von 10 Uhr 
abends bis 6 Uhr morgens nicht beschäftigt werden. Außerdem dürfen Gehilfen 
und Lehrlinge weiblichen Geschlechts, welche nicht zur Familie des éise ae 
gehören, während dieser Zeit nicht zur Bedienung der Gäste verwendet werden, 

II. 7) Als Gehilfen und Lehrlinge im Sinne dieser Bestimmungen gelten 
solche Personen männlichen und weiblichen Geschlechts, welche im Betriebe der 
Gast- und der Schankwirtschaften als Oberkellner, Kellner oder Kellnerlehrlinge, 
als Köche oder Kochlehrlinge, am Buffet oder mit dem Fertigmachen kalter Speisen 
beschäftigt werden. Ausgenommen sind jedoch Personen, welche hauptsächlich 
in einem mit der Gast- oder der Schankwirtschaft verbundenen kaufmännischen 
oder sonstigen gewerblichen Betriebe beschäftigt werden, sofern ihre tägliche Ar- 
beitszeit in diesem Betrieb anderweiten reichsrechtlichen Vorschriften unterliegt. 

III. 8) Die vorstehenden Bestimmungen treten am 1. April 1902 in Kraft. 

Bis zum 31. Dezember 1902 ist Ueberarbeit (Ziffer 3) höchstens 45mal 


> 
on dem in Ziffer 6 Satz 2 enthaltenen Verbote sind diejenigen Personen 
ausgenommen, welche bei der Verkündung dieser Bestimmungen Kellnerinnen sind. 


Bekanntmachung vom 25. Januar, betr. das Verfahren bei An- 
trägen auf Verlängerung der Ladenschlußzeit (R.G.B. No.5 
S. 38—40). 

Bekanntmachung vom 31. Januar, betr. die Beschäftigung von 
Arbeiterinnen und jugendlichen Arbeitern in Cichorien- 
fabriken und den zur Herstellung von Cichorie dienenden Werk- 
stätten mit Motorbetrieb (R.G.B. No. 6 S. 42). 

Auf Grund des $ 139a der Gewerbeordnung hat der Bundesrat nachstehende 
Bestimmungen, erlassen. 

L In Cichorienfabriken sowie in solchen zur Herstellung von Cichorie dienen- 
den Werkstätten, in welchen durch elementare Kraft (Dampf, Wind, Wasser, Gas, 
Luft, Elektrizität u. s. w.) bewegte Triebwerke nicht bloß vorübergehend zur Ver- 
wendung kommen, darf Arbeiterinnen und jugendlichen Arbeitern in Räumen, 
in welchen Darren im Betriebe sind, während der Dauer des Betriebs eine Be- 
schäftigung nicht gewährt und der Aufenthalt nicht gestattet werden. 


Verordnung vom 3. Februar, betr. die Beaufsichtigung hes- 
sischer und bremischer privater Versicherungsunterneh- 
mungen (R.G.B. No. 7 S. 43). 

Die Beaufsichtigung wird dem Kaiserlichen Aufsichtsamte für Privatversicherung 
übertragen. 

Bekanntmachung vom 18. Februar, betr. gesundheitsschäd- 
liche und täuschende Zusätze zu Fleisch und dessen Zuberei- 
tungen (R.G.B. No. 9 S. 48). 

Auf Grund der Bestimmungen im $ 21 des Gesetzes, betr. die Schlachtvieh- 
und Fleischbeschau, vom 3. Juni 1900, hat der Bundesrat die nachstehenden Be- 
stimmungen beschlossen : 


Die Vorschriften des $ 21 Abs. 1 des Gesetzes') finden auf die folgenden 
Stoffe sowie auf die solche Stoffe enthaltenden Zubereitungen Anwendung. 

1) 2 21 Abs. 1 lautet: Bei der gewerbsmäßigen Zubereitung von Fleisch dürfen 
Stoffe oder Arten des Verfahrens, welche der Ware eine gesundheitsschädliche Beschaffen- 
heit zu verleihen vermögen, nicht angewendet werden. Es ist verboten, derartig zube- 


Nationalökonomische Gesetzgebung. 475 


Borsäure und deren Salze, Formaldehyd, Alkali- und Erdalkali-Hydroxyde und 
-Karbonate, schweflige Säure und deren Salze, sowie unterschwefligsaure Salze, 
Fluorwasserstoff und dessen Salze, Salicylsäure und deren Verbindungen, chlor- 
saure Salze. : 

Dasselbe gilt für Farbstoffe aller Art, jedoch unbeschadet ihrer Verwendung 
zur Gelbfárbung der Margarine und zum Fürben der Wursthüllen, sofern diese 
Verwendung nicht anderen Vorschriften zuwiderläuft. 


Bekanntmachung vom 1. März, betr. die Einrichtung und den 
Betrieb gewerblicher Anlagen zur Vulkanisierung von 
Gummiwaren (R.G.B. No. 12 S. 59— 63). 

Bekanntmachung vom 1. März, betr. den Fett- und Wasser- 
gehalt der Butter (R.G.B. No. 12 S. 64). 


Auf Grund des $ 11 des Gesetzes, betr. den Verkehr mit Butter, Käse, 
Schmalz, und deren Ersatzmitteln, vom 15. Juni 1897 hat der Bundesrat beschlossen: 
Butter, welche in 100 Gewichtsteilen weniger als 80 Gewichtsteile Fett oder in 
ungesalzenem Zustande mehr als 18 Gewichtsteile, in gesalzenem Zustande mehr 
als 16 Gewichtsteile Wasser enthält, darf vom 1. Juli 1902 ab gewerbsmäßig nicht 
verkauft oder feilgehalten werden. 


Bekanntmachung vom 5. März, betr. die Beschäftigung von 
Arbeiterinnen und jugendlichen Arbeitern in Glashüt- 
ten, Glasschleifereien und Glasbeizereien sowie Sand- 
bläsereien (R.G.B. No. 18 S. 65—71). 


Auf Grund der 88 120e, 139a der Gewerbeordnung hat der Bundesrat die 
nachstehenden Bestimmungen . . . erlassen: 

I. Die Beschäftigung von Arbeiterinnen und jugendlichen Arbeitern in Glas- 
hütten, Glasschleifereien und Glasbeizereien sowie Sandbläsereien unterliegt folgen- 
den Beschränkungen: 

1) Insolchen Räumen, in denen vor dem Ofen (Schmelz-, Kühl-, Glüh-, Streck- 
ofen) gearbeitet wird und in solchen Räumen, in denen eine außergewöhnlich hohe 
Wärme herrscht (Häfenkammern u. dgl.) darf Arbeiterinnen und Knaben unter 
14 Jahren eine Beschäftigung nicht gewährt und der Aufenthalt nicht gestattet 
werden. Ausnahmen hiervon kann der Bundesrat zulassen. 

2) In solchen Räumen, in denen Rohstoffe oder Glasabfälle zerkleinert oder 
arg werden, oder in denen mit flüssigem Fluorwasserstoffe gearbeitet wird, 

arf Arbeiterinnen und jugendlichen Arbeitern eine Beschäftigung nicht gewährt 
und der Aufenthalt nicht gestattet werden. 

3) Mit Arbeiten am Sandstrahlgebläse dürfen Arbeiterinnen und jugendliche 
Arbeiter nicht beschäftigt werden. 

4) Mit Schleifarbeiten dürfen Knaben unter 14 Jahren und jugendliche Ar- 
beiterinnen nicht beschäftigt werden. Mit denjenigen Schleifarbeiten, bei welchen 
die Glaswaren trocken geschliffen werden oder das Schleifrad nicht durch mecha- 
nische Kraft angetrieben wird, dürfen auch erwachsene Arbeiterinnen nicht be- 
schäftigt werden. Ausnahmen von ihrer Verwendung beim Trockenschleifen kann 
die höhere Verwaltungsbehörde auf Antrag des Arbeitgebers gestatten, sofern durch 
zweckentsprechende Betriebsanlagen für eine ständige wirksame Absaugung des 
entstehenden Staubes gesorgt ist. 

5) Junge Leute männlichen Geschlechts dürfen, soweit deren Beschäftigung 
nach diesen Bestimmungen zulässig ist, nur beschäftigt werden, wenn durch ein 
Zeugnis eines von der höheren Verwaltungsbehörde zur Ausstellung solcher Zeug- 
nisse ermächtigten Arztes dargetan wird, daß die körperliche Entwickelung des 
Arbeiters eine Beschäftigung ohne Gefahr für die Gesundheit zuläßt . .. 

II. In Glashütten, in denen die Glasmasse gleichzeitig geschmolzen und ver- 
arbeitet wird — abgesehen von denjenigen Spiegelglashütten, welche gewalztes 


reitetes Fleisch aus dem Ausland einzuführen, feilzuhalten, zu verkaufen oder sonst in 
Verkehr zu bringen. 


476 Nationalökonomische Gesetzgebung." 


Glas herstellen — dürfen für die Beschäftigung junger Leute männlichen Geschlechts 
bei den Arbeiten vor dem Ofen (Schmelz-, Kühl-, Glüh-, Streckofen) die Bestim- 
mungen des $ 136 der Gewerbeordnung mit folgenden Maßgaben außer Anwen- 
dung bleiben: 

1) Die Arbeitsschicht darf einschließlich der Pausen nicht länger als 12 Stunden, 
ausschließlich der Pausen nicht länger als 10 Stunden dauern. 

Die Gesamtdauer der Beschäftigung darf innerhalb einer Woche ausschließ- 
lich der Pausen 60 Stunden nicht überschreiten. 

Die Arbeit muß in jeder Schicht durch eine oder mehrere Pausen in der 
Gesamtdauer von mindestens einer Stunde unterbrochen sein. Unterbrechungen 
der Arbeit von weniger als einer Viertelstunde kommen auf die Pausen in der 
Regel nicht in Anrechnung. Eine der Unterbrechungen muß mindestens eine 
halbe Stunde dauern . .. 

e? Bei Tag- und Nachtarbeit muß wöchentlich Schichtenwechsel eintreten. 
Diese Bestimmung findet auf diejenigen Glashütten keine Anwendung, in denen 
die Beschäftigung so geregelt ist, daß für die jungen Leute zwischen je zwei Ar- 
beitsschichten eine Ruhezeit von mindestens 24 Stunden liegt. 

3) Während der Pausen für die Erwachsenen dürfen junge Leute nicht be- 
schäftigt werden. 

4) Zwischen je zwei Arbeitsschichten muß eine Ruhezeit von mindestens 
12 Stunden liegen. 

5) An Sonn- und Festtagen darf die Beschäftigung nicht in die Zeit von 
6 Uhr morgens bis 6 Uhr abends fallen. Die Vorschrift findet, wenn mehrere 
Festtage aufeinander folgen, nur auf den ersten Festtag Anwendung. 


III. In Glashütten, in denen die Schmelzschicht und die Verarbeitungs- 
schicht miteinander wechseln, dürfen für die Beschäftigung junger Leute männ- 
lichen Geschlechts bei den Arbeiten vor dem Ofen (Schmelz-, Kühl-, Glüh-, Streck- 
ofen), die Bestimmungen des $ 135 Abs. 3, $ 136 der Gewerbeordnung mit folgen- 
den Maßgaben außer Anwendung bleiben : 

1) Die Gesamtdauer der Beschäftigung darf innerhalb einer Woche ausschließ- 
lich der Pausen nicht mehr als 60 Stunden betragen. 

Innerhalb zweier Wochen darf von der Gesamtdauer der Beschäftigung in 
die Zeit von 6 Uhr abends bis 6 Uhr morgens nicht mehr als die Hälfte fallen. 

Die Dauer der Pausen muß für Schichten von höchstens 10 Arbeitsstunden 
mindestens eine Stunde, für Schichten mit längerer Arbeitszeit mindestens 1'/, Stunde 
betragen. Unterbrechungen der Arbeit von weniger als einer Viertelstunde Dauer 
werden auf die Pausen nicht in Anrechnung gebracht; eine der Pausen muß 
mindestens eine halbe Stunde dauern. 

2) In der Zeit von 6 Uhr abends bis 6 Uhr morgens darf die Beschäftigung 
ausschließlich der Pausen die Dauer von 10 Stunden nicht überschreiten. 

3) Während der Pausen für die Erwachsenen dürfen junge Leute nicht be- 
schäftigt werden. j 

4) Zwischen je zwei Arbeitsschichten muf eine Ruhezeit liegen, welche min- 
destens die Dauer der zuletzt beendigten Schicht erreicht. Innerhalb der Ruhe- 
zeit ist eine Beschüftigung mit Nebenarbeiten gestattet, wenn die jungen Leute 
vor Beginn oder nach dem Ende dieser Beschäftigung noch für eine Zeit von der 
Dauer der zuletzt beendigten Schicht ohne jede Beschäftigung bleiben. Die Dauer 
der Beschäftigung mit Nebenarbeiten kommt auf die Gesamtdauer der wöchent- 
lichen Arbeitszeit in Anrechnung. 

5) An Sonntagen darf die Beschäftigung nur einmal innerhalb zweier Wochen 
in die Zeit von 6 Uhr morgens bis 6 Uhr abends fallen. 

IV. und V. enthalten Bestimmungen über die von den Glashütten u. s. w. zu 
führenden Tabellen über die Arbeitszeiten und Pausen der jungen Leute. 


Bekanntmachung vom 5. März, betr. die Beschäftigung von 
Arbeiterinnen und jugendlichen Arbeitern in Rohzucker- 
fabriken, Zuckerraffinerien und Melasseentzuckerungs- 
anstalten (R.G.B. No. 13 S. 72). 


^ Nationalókonomische Gesetzgebung. 477 


Auf Grund des $ 139a Abs. 1 Ziffer 1 der Gewerbeordnung hat der Bundes- 
rat die nachstehenden Bestimmungen . . . erlassen: 

I. Die Beschäftigung von Arbeiterinnen und jugendlichen Arbeitern in Roh- 
zuckerfabriken, Zuckerratfinerien und Melasseentzuckerungsanstalten unterliegt fol- 
genden Beschränkungen: 

1) Arbeiterinnen und jugendliche Arbeiter dürfen zur Bedienung der Rüben- 
schwemmen, der Rübenwäschen und der Fahrstühle, sowie zum Transporte der 
Rüben und Rübenschnitzel in schwer zu bewegenden Wagen nicht verwendet werden. 

2) Im Füllhaus, in den Zentrifugenräumen, den Kristallisationsräumen, den 
Trockenkammern, den Maischräumen, den Räumen zum Decken des Brotzuckers, 
den Nutschräumen, den Trockenanlagen der Strontianziegeleien, sowie an anderen 
Arbeitsstellen, an welchen eine außergewöhnliche Wärme herrscht, darf Arbeiterinnen 
und jugendlichen Arbeitern während der Dauer des Betriebes eine Beschäftigung 
nicht gewährt und der Aufenthalt nicht gestattet werden. 


Bekanntmachung vom 30. März, betr. die Einrichtung und den 
Betrieb von Steinbrüchen und Steinhauereien (Steinmetz- 
betrieben) (RG.B. No. 16 S. 78—80). 


Auf Grund des $ 120e der Gewerbeordnung hat der Bundesrat die nach- 
stehenden Bestimmungen . . . erlassen. 

$ 1. In solchen Steinbrüchen und Steinhauereien, in denen regelmäßig 5 
oder mehr Arbeiter beschäftigt werden, müssen für die im Freien beschäftigten 
Arbeiter zur Unterkunft während der Arbeitspausen ausreichend große und wetter- 
dichte Räume vorhanden sein, welche genügend erhellt, mit einem dichten Fuß- 
boden versehen und bei kalter Witterung geheizt sind; sie müssen für jeden dauernd 
beschäftigten Arbeiter einen Sitzplatz enthalten. Auch müssen Vorrichtungen zum 
Wärmen der Speisen vorhanden sein . .. 

$ 9. In Steinbrüchen dürfen Arbeiter, die bei der Steingewinnung (dem 
Brechen, dem Unterschrämen, dem Hohlmachen, dem Herstellen und Besetzen von 
Bohrlöchern, dem Sprengen und dergleichen verwendet werden, nicht länger als 
10 Stunden täglich beschäftigt werden. 

In Steinbrüchen und Steinhauereien dürfen Arbeiter, die bei dem Bossieren 
oder der weiteren Bearbeitung von Sandstein verwendet werden, nicht länger als 
9 Stunden täglich beschäftigt werden. 

Ausnahmen von den vorstehenden Bestimmungen können von der unteren 
Verwaltungsbehörde zugelassen werden für Arbeiten, welche in Notfällen oder im 
öffentlichen Interesse unverzüglich vorgenommen werden müssen. Die Erlaubnis 
darf nicht für mehr als 2 Stunden täglich und höchstens auf die Dauer von 
14 Tagen erteilt werden. 

$ 10. In Steinbrüchen dürfen Arbeiterinnen und jugendliche Arbeiter nicht 
bei der Steingewinnung ($ 9 Abs. 1) oder bei der Rohaufarbeitung von Steinen 
beschäftigt werden. In Steinhauereien dürfen jugendliche Arbeiter nicht bei der 
trockenen Bearbeitung von Sandstein, Arbeiterinnen auch nicht mit anderen Arbeiten 
beschäftigt werden, bei denen sie der Einwirkung von Steinstaub ausgesetzt sind. 

Außerdem dürfen in Steinbrüchen und Steinhauereien Arbeiterinnen und 
jugendliche Arbeiter nicht beim Transport oder Verladen von Steinen beschäftigt 
werden. Für Schieferbrüche kann die höhere Verwaltungsbehörde Ausnahmen 
dahin zulassen, daß jugendliche Arbeiter beim Transport oder Verladen von Steinen 
mit ihren Kräften angemessenen Arbeiten beschäftigt werden dürfen. 


Gesetz vom 20. März, betr. die Feststellung des Reichs- 
haushaltsetats für das Rechnungsjahr 1902 (R.G.B. No. 17 S. 81—113). 


2 1. Der Etat wird für 1902 in Ausgabe und Einnahme auf 2 $03 188 115 M. 
(1971527823 M. fortdauernde, 180 560 423 M. einmalige Ausgaben des ordentlichen 
Etats und 151094819 M. einmalige Ausgaben des aufserordentlichen Etats) festgesetzt. 

$ 2. Der Reichskanzler wird ermächtigt, zur Bestreitung einmaliger außer- 
ordentlicher Ausgaben die Summe von 113 200 439 M. im Wege des Kredites flüssig 
zu machen. 

$ 3. Der Reichskanzler wird ermächtigt, zur vorübergehenden Verstärkung 


478 Nationalökonomische Gesetzgebung. 


der ordentlichen Betriebsmittel der Reichshauptkasse nach Bedarf, jedoch nicht 
über den Betrag von 275 Mill. M. hinaus, Schatzanweisungen auszugeben. 


Gesetz vom 20. März, betr. die Feststellung des Haushalts- 
etats für die Schutzgebiete auf das Rechnungsjahr 1902 (R.G.B. 
No. 17 S. 114—123). 


Der Etat der Schutzgebiete auf das Rechnungsjahr 1902 wird in Einnahme und 
Ausgabe auf 37 402 496 M. (im Vorjahre 36 608 600 M.) festgesetzt und zwar 1) für das 
ostafrikanische Schutzgebiet 8 051496 M. (im Vorjahre 8 491 000 AM.) 2) für Kamerun 
4236600 (8775 800) M., 3) für Togo 1650000 (1448 000) M., 4) für das südwest- 
afrikanische Schutzgebiet 9 458 900 (10451600) M., 5) für Neu-Guinea 822 000 (809 700) M. 
6) für die Karolinen, Palau und Marianen 338100 (311500) M., 7) für Samoa 
441400 (266 000) M., 8) für Kiautschou 12 404 000 (11 050 000) M. Die eigenen Ein- 
nahmen der Schutzgebiete betragen bei 1) 8 186 296, der Reichszuschufs 4 865 200 M. 
bei 2) 2031500, der Reichszuschufs 2 205100 M., bei 3) 685 000, der Reichszuschu/s 
1015 000 M., bei 4) 1824 000, der Reichszuschufs 7634900 M., bei 5) 100 000, der 
Reichszuschufs 722 000 M., bei 6) 33 100, der Reichszuschu/s 305 000 M., bei 7) 271000, 
der Reichszuschufs 170 400 M., bei 8) 360000, der Reichszuschufs 12044 000 M., ins- 
gesamt die eigenen Einnahmen der Schutzgebiete 8 440896 M., und der Reichszuschu/s 
28 961 600 M. 


Gesetz vom 22. März, zum Schutze des Genfer Neutralitäts- 
zeichens (R.G.B. No. 18 S. 125 f.). 

Bekanntmachung vom 6. Mai, betr. die Feststellung des Börsen- 
preises für Zucker (R.G.B. No. 24 S. 166), 


Der Feststellung des Börsenpreises für Zucker ist allgemein die Gewichtseinheit 
von 100 kg zu Grunde zu legen. 


Schaumweinsteuergesetz vom 9. Mai (R.G.B. No. 24 S. 155 
—163). 


8 1. Schaumwein aus Traubenwein, aus Obst- oder Beerenwein (Fruchtwein), 
sowie alle schaumweinähnlichen Getränke unterliegen, sofern sie zum Verbrauch 
im Inlande bestimmt sind, einer in die Reichskasse flieBenden Verbrauchsabgabe 
(Schaum weinsteuer). 

Schaumwein im Sinne dieses Gesetzes sind alle der Schaumweinsteuer unter- 
liegende Getränke. 

Schaumwein, welcher nachweislich der Verzollung unterlegen hat, bleibt von 
der Abgabe befreit. 

2) Die Schaumweinsteuer beträgt: 

a) für Schaumwein, der aus Fruchtwein ohne Zusatz von Traubenwein her- 
gestellt ist, 10 Pfennig für jede Flasche; 

b) für anderen Schaumwein und schaumweinähnliche Getränke 50 Pfennig 
für jede Flasche. 

Für jede halbe Flasche ist die Hälfte und für jede kleinere Flasche ein Viertel 
der auf die Flasche entfallenden Steuer zu entrichten . .. 

$ 3. Die Schaumweinsteuer ist vom Hersteller des Schaumweins mittels An- 
bringung eines Steuerzeichens an der Umschließung zu entrichten, bevor der fertige 
Schaumwein aus der Erzeugungsstätte entfernt oder innerhalb derselben getrunken 
wird. Die näheren Bestimmungen über die Form, die Anfertigung, den Vertrieb 
und die Art der Verwendung der Steuerzeichen trifft der Bundesrat. Er stellt 
dıe Voraussetzungen fest, unter welchen für verwendete Steuerzeichen ein unent- 
geltlicher Ersatz und für noch nicht verwendete Steuerzeichen ein unentgeltlicher 
Umtausch oder eine Rückzahlung gewährt werden darf. Steuerzeichen, welche 
nicht in der vorgeschriebenen Weise verwendet worden sind, werden als nicht vor- 
handen angesehen. ; 

. Die Anbringung eines Steuerzeichens ist nicht erforderlich, wenn der Schaum- 
wein vor der Entnahme aus der Erzeugungsstütte zur Ausfuhr unter amtlicher 
kostenfreier Kontrolle angemeldet wird. 

Gegen Sicherheitsstellung ist die Schaumweinsteuer für eine Frist von wenigstens 


Nationalökonomische Gesetzgebung. 479 


9 Monaten zu stunden. Für eine Frist bis zu 3 Monaten kann sie auch ohne 
Sicherheitsstellung gestundet werden. 

BY. Wer Schaumwein herstellen will, hat vor der Eröffnung des Betriebes der 
Steuerbehörde einen Grundriß und eine Beschreibung der Betriebs- und Lager- 
räume, sowie der damit in Verbindung stehenden oder unmittelbar daran an- 
grenzenden Räume vorzulegen. 

. Diejenigen Räume, welche zur Lagerung von fertigem unversteuertem Schaum- 
weine dienen sollen, bedürfen der Genehmigung der Steuerbehórde. 

iume, in denen der Ausschank oder der Verkauf von Schaumwein in ein- 

zelnen Flaschen betrieben wird, müssen auf Verlangen der Steuerbehórde von den 

erräumen für fertigen unversteuerten Schaumwein derartig getrennt sein, daß 

Schaumwein nicht anders als auf offener Straße in sie übergeführt werden kann. 

$ 9. Fertiger unversteuerter Schaumwein darf nur in den dazu genehmigten 
Lagerräumen gelagert, behandelt und verpackt werden. Ueber Zu- und Abgang 
desselben sind nach näherer Anordnung des Bundesrats Anschreibungen zu führen, 
welche der Bestimmung der Steuerbehörde entsprechend aufzubewahren und den 
Beamten zugänglich zu halten sind. 

Die Bestände sind von Zeit zu Zeit amtlich festzustellen und mit den An- 
schreibungen zu vergleichen. Von der Erhebung der Steuer für Fehlmengen ist 
abzusehen, wenn und soweit dargetan wird, daß eine Steuerhinterziehung nicht 
stattgefunden hat, sondern daß die Sue auf andere, eine Steuerschuld nicht 
begründende Umstände zurückzuführen sind. 

$ 13. Die Schaumweinsteuerzeichen sind an den Umschließungen so lange 
zu erhalten, bis diese geöffnet werden. 

Wer Schaumwein empfängt, welcher der Vorschrift des Gesetzes zuwider mit 
den erforderlichen Steuerzeichen nicht versehen ist, hat hiervon binnen 3 Tagen 
der Steuerbehörde Anzeige zu machen. 

Händler mit Schaumwein und Wirte sind verbunden, den Oberbeamten der 
Steuerverwaltung ihre Vorräte an Schaumwein zum Nachweise, daß solche mit den 
vorgeschriebenen Steuerzeichen versehen sind, auf Verlangen vorzuzeigen. 

. .8 28. Die Erhebung und Verwaltung der Schaumweinsteuer erfolgt durch 
die Landesbehörden. Für die erwachsenden Kosten wird den Bundesstaaten nach 
Maßgabe der vom Bundesrate zu erlassenden Bestimmungen Vergütung gewährt. 
Die Reichsbevollmüchtigten für Zólle und Steuern und die Stationskontrolleuro 
üben in Bezug auf die Ausführung des Schaumweinsteuergesetzes dieselben Rechte 
und Pflichten, welche ihnen bezüglich der Erhebung und Verwaltung der Zólle 
und Verbrauchssteuern beigelegt sind. 

Die außerhalb der gemeinschaftlichen Zollgrenze liegenden Teile des Reichs- 
pites zahlen an Stelle der Schaumweinsteuer einen entsprechenden Ausgleichungs- 

trag an die Reichskasse. 

. .881. Dieses Gesetz tritt am 1. Juli 1902 mit der Maßgabe in Kraft, daß 
für bestehende Fabriken die nach § 7 und § 8 Abs. 2 erforderlichen Anzeigen bei 
Vermeidung der im $ 19 vorgesehenen Ordnungsstrafen bis zum 1. Juni 1902 zu 
erstatten sind. 

Vom 1. Juli 1902 werden Landessteuern vom Schaumweine nicht mehr er- 
hoben. Schaumwein, der sich am 1. Juli 1902 außerhalb einer Schaumweinfabrik 
oder einer Zollniederlage befindet, unterliegt nach näherer Bestimmung des Bundes- 
rats der Schaumweinsteuer in Form einer Nachsteuer. 

Schaumwein im Besitze von Haushaltungsvorständen, die weder Ausschank 
noch Handel mit Getränken betreiben, bleibt, sofern die Gesamtmenge nicht mehr 
als 30 Flaschen beträgt, von der Nachsteuer befreit. 

Die übrigen Paragraphen betreffen die Verjährung der Steuer, Einzelheiten der 
Steuerkontrolle, weitere Strafbestimmungen, das Strafverfahren u. a. 


Abkommen vom 10. Mai, zwischen dem Deutschen Reiche 
und dem Großherzogtum Luxemburg wegen Begründung einer 
Gemeinschaft der Schaumweinsteuer (R.G.B. No. 31 S. 232 f). 


„Art. 1. Im Großherzogtum Luxemburg werden am 1. Juli 1902 vorläufige 
Bestimmungen über die Besteuerung des Schaumweins in Kraft treten, die mit 


480 Nationalökonomische Gesetzgebung. 


dem im Deutschen Reiche an dem gleichen Tage in Kraft tretenden Gesetz über 
denselben Gegenstand inhaltlich übereinstimmen werden. Mit Rücksicht hierauf 
soll vom 1. Juli 1902 an zwischen dem Deutschen Reiche und dem Großherzogtume 
Luxemburg eine Gemeinschaft der Schaumweinsteuer eintreten. 


Gesetz vom 20. Mai, betr. den Gebührentarif für den Kaiser 
Wilhelm-Kanal (R.G.B. No. 25 S. 167). 


Die nach $ 1 des Gesetzes vom 20. Juni 1899 mit dem 30. September 1%2 
ablaufende Frist, binnen welcher die Festsetzung des Gebührentarifs für den Kaiser 
Wilhelm-Kanal dem Kaiser im Einvernehmen mit dem Bundesrat überlassen bleibt, 
wird bis zum 30. September 1907 erstreckt. 


Bekauntmachung vom 24. Mai, betr. das Außerkraftreten des 
Freundschafts-, Handels- und Schiffahrtsvertrages mit 
dem Freistaate Salvador (R.G.B. No. 25 S. 168). 

Verordnung vom 26. Mai, zur Ausführung des Patent- 
gesetzes vom 7. April 1891 (R.G.B. No. 26 S. 169). 


Im Patentamte werden zwei weitere Abteilungen, Anmeldeabteilung IX und X 
gebildet, gegen deren Beschlüsse die Beschwerdeabteilungen I bezw. II zuständig sind. 


Bekanntmachung vom 27. Mai, betr. die Beschäftigung von 
Arbeiterinnen und jugendlichen Arbeitern in Walz- und 
Hammerwerken (R.G.B. No. 26 S. 170—173). | 


Auf Grund des $ 139a der Gewerdeordnung hat der Bundesrat die nach- 
stehenden Bestimmungen . . . erlassen: 

I. Die Beschäftigung von Arbeiterinnen und jugendlichen Arbeitern in Metall-, 
Walz- und Hammerwerken, welche mit ununterbrochenem Feuer betrieben werden, 
unterliegt folgenden Beschränkungen : 

1) Arbeiterinnen dürfen bei dem unmittelbaren Betriebe der Werke nicht 
beschäftigt werden ; 

2) Kinder unter 14 Jahren dürfen in den Werken überhaupt nicht beschäf- 
tigt werden. 

II. In Walz- und Hammerwerken, welche Eisen oder Stahl mit ununter- 
brochenem Feuer verarbeiten, dürfen für die Beschäftigung der jungen Leute männ- 
lichen Geschlechts bei dem unmittelbaren Betriebe der Werke die Beschränkungen 
des $ 136 der Gewerbeordnung mit folgenden Maßgaben außer Anwendung bleiben: 

1) Vor Beginn der Beschäftigung ist dem Arbeitgeber für jeden jugendlichen 
Arbeiter das von einem Arzte, der von der höheren Verwaltungsbehörde zur Aus- 
stellung solcher Zeugnisse ermächtigt ist, auszustellende Zeugnis einzuhändigen, 
nach welchem die körperliche Entwickelung des Arbeiters eine Beschäftigung in 
dem Werke ohne Gefahr für die Gesundheit zuläßt . . . 

2) Die Arbeitsschicht darf einschließlich der Pausen nicht länger als 12 Stunden, 
ausschließlich der Pausen nicht länger als 10 Stunden dauern. Die Arbeit muß 
in jeder Schicht durch Pausen in der Gesamtdauer von mindestens einer Stunde 
unterbrochen sein. 

Unterbrechungen der Arbeit von weniger als einer Viertelstunde kommen auf 
die Pausen in der Regel nicht in Anwendung. Ist jedoch in einem Betriebe die 
Beschäftigung der jugendlichen Arbeiter so wenig anstrengend und naturgemäß 
mit so zahlreichen, hinlängliche Ruhe gewährenden Arbeitsunterbrechungen ver- 
bunden, daß schon hierdurch eine Gefährdung ihrer Gesundheit ausgeschlossen 
erscheint, so kann die höhere Verwaltungsbehörde einem solchen Betrieb auf An- 
trag unter Vorbehalt des jederzeitigen Widerrufs gestatten, diese Arbeitsunter- 
brechungen auch dann auf die 1-stündige Gesamtdauer der Pausen in Anrechnung 
zu bringen, wenn die einzelnen Unterbrechungen von kürzerer als einviertelstündiger 
Dauer sind. Werden die jugendlichen Arbeiter in längeren als 8-stündigen Schichten 
beschäftigt, so muß eine der Pausen stets mindestens eine halbe Stunde dauern 
und zwischen das Ende der vierten und den Anfang der achten Arbeitsstunde fallen. 


Nationalökonomische Gesetzgebung. 481 


Die Gesamtdauer der Beschäftigung darf innerhalb einer Woche ausschließ- 
lich der Pausen 60 Stunden nicht überschreiten. 

Bei Tag- und Nachtbetrieb muß wöchentlich Schichtwechsel eintreten. Bei 
Betrieben mit täglich 2 Schichten darf für junge Leute die Zahl der in die Zeit 
von 8'/, Uhr abends bis 5'/, Uhr morgens fallenden Schichten (Nachtschichten) 
wöchentlich nicht mehr als 6 betragen. 

3) Zwischen zwei Arbeitsschichten muß eine Ruhezeit von mindestens 12 Stunden 

liegen. Innerhalb dieser Ruhezeit ist eine Beschäftigung mit Nebenarbeiten nicht 
estattet. 
" 4) An Sonn- und Festtagen darf die Beschäftigung nicht in die Zeit von 
6 Uhr morgens bis 6 Uhr abends fallen. In die Stunden vor oder nach dieser 
Zeit darf an Sonntagen die Beschäftigung nur dann fallen, wenn vor Beginn oder 
nach Abschluß der Arbeitsschicht den jungen Leuten eine ununterbrochene Ruhe- 
zeit von mindestens 24 Stunden gesichert bleibt. 

5) Wührend der Pausen für die Erwachsenen dürfen junge Leute nicht be- 
schäftigt werden. 

III. und IV. beziehen sich auf die von den Arbeitgebern zu führenden Verzeich- 
nisse der jugendlichen Arbeiter und Tabellen der gewährten Pausen sowie die auszu- 
hängenden Tafeln mit den Bestimmungen der Bekanntmachung. 


Seemannsordnung vom 2. Juni (R.G.B. No. 27 S. 175—211). 


Tritt an Stelle der Seemannsordnung vom 27. Dezember 1872. 


Gesetz vom 2. Juni, betr. die Verpflichtung der Kauffahr- 
teischiffe zur Mitnahme heimzuschaffender Seeleute 
(R.G.B. No. 27 S. 212—214). 

Tritt an Stelle des Gesetzes vom 27. Dezember 1822, betr. die Verpflichtung deut- 
scher Kauffahrteischiffe zur Mitnahme hilfsbedürjtiger Serleute. 

Gesetz vom 2. Juni, betr. die Stellenvermittelung für 
Schiffsleute (R.G.B. No. 27 S. 215—217). 

Gesetz vom 2. Juni, betr. Abänderung seerechtlicher Vor- 
schriften des Handelsgesetzbuchs (R.G.B. No. 27 S. 218—221). 

Enthält Abänderung der 22 481, 547—549, 558, 749 des Handelsgesetzbuchs , be- 
trit also Einzelheiten der Anrechte der Schifsleute auf Heuer und in Krankheits- 
Jüllen auf Verpflegung und Heilung, ferner die Teilung des Bergelohns bei Bergung 
eines Schiffes. 

Bekanntmachung vom 5. Juni, betr. den Aufruf und die Ein- 
ziehung der Noten der Bank für Süddeutschland in Darm- 
stadt (R.G.B. No. 29 S. 225). 

Bekanntmachung vom D. Juni, betr. den Anteil der Reichs- 
bank an dem Gesamtbetrage des steuerfreien ungedeck- 
ten Notenumlaufs (R.G.B. No. 29 S. 226). 

Nach dem Verzicht der Bank für Süddeutschland in Darmstadt auf das Recht 
zur Ausgabe von Banknoten hat sich der Anteil der Reichsbank an dem Gesamtbetrage 
des steuerjreien ungedeckten Notenumlaufes von 460 auf 470 Mill. M. erhöht. 

Bekanntmachung vom 18. Juni, betr. Aenderungen der Eisen- 
bahnverkehrsordnung (R.G.B. No. 32 S. 236). 

Betrifit die Beförderung von Leichen. 


Gesetz vom 20. Juni, betr. die geschäftliche Behandlung 

des Entwurfs eines Zolltarifgesetzes (R.G.B. No. 32 S. 235). 

Den Mitgliedern der vom Reichstage zur Vorberatung des Entwurfes eines 

Zolltarifgesetzes eingesetzten Kommission wird für die Teilnahme an den Sitzungen 
tte Folge Bd, XXV (LXXX). 31 


482 Nationalökonomische Gesetzgebung. 


der Kommission, welche während der Unterbrechung der Plenarverhandlungen des 
Reichstags stattfinden, ein Betrag von je 2000 M. aus der Reichskasse gewährt. 
Von dem gewährten Betrage werden die Tagegelder abgerechnet, welche ein Mit- 
lied der Kommission in seiner besonderen Eigenschaft als Mitglied eines deutschen 
andtages für dieselbe Zeit bezieht. Die hierzu im Gesamtbetrage von 60 000 M. 
STEE Mittel sind bei dem Etat des Reichstags außeretatsmäßig zu ver- 
ausgaben. 
Die näheren Bestimmungen erläßt der Präsident des Reichstag». 


Verordnung vom 26. Juni, zur Ausführung des Gesetzes, 
betr. die Freundschaftsverträge mit Tonga und Samoa und 
den Freundschafts-, Handels- und Schiffahrtsvertrag mit 
Zanzibar (RG.B. No. 39 S. 261). 

Gesetz vom 7. Juli, betr. den Servistarif und die Klassen- 
einteilung der Orte sowie Abänderung des Gesetzes über die Be- 
willigung von Wohnungsgeldzuschüssen (R.G.B. No. 34 
S. 239 f.). 

Gesetz vom 7. Juli, betr. die Abänderung des Branntwein- 


24. Juni 1887 
— — ————— (R.G.B. . . 243—252). 
16. Juni 1896 (R.G.B. No. 36 S. 243—252) 
Art. bà Ir 8$ 1, 2, 41 und 42 des Gesetzes, betr. die Besteuerung des Brannt- 
. Juni 1887 
weins vom 16. Juni 1895 werden in nachstehender Weise abgeündert: 

1 81 Abs. 4 und 5. Von der Verbrauchsabgabe befreit und bei Feststel- 
lung der nach dem vorstehenden maßgebenden Jahresmenge außer Ansatz bleibt: 

1) Branntwein, welcher ausgeführt wird; 

2) Branntwein, welcher zu gewerblichen Zwecken, zur Essigbereitung oder zu 
Putz-, Heizungs-, Koch- und Beleuchtungszwecken verwendet wird, Tach näherer 
Bestimmung des Bundesrats. Die Brennereibesitzer sind gegen Uebernahme der 
Kosten berechtigt, die amtliche Denaturierung ihres Branntweins in ihren Brenne- 
reien zu verlangen . .. 

2) § 2 Abs. 3—8. Von 5 zu 5 Jahren wird für die einzelnen bisher betei- 
ligten Brennereien und für die inzwischen entstandenen landwirtschaftlichen oder 
Materialbrennereien die Jahresmenge Branntwein, welche sie zu dem niedrigeren 
Abgabesatze herstellen dürfen (das Kontingent) neu bemessen. Die Neukontingen- 
tierung erfolgt im Laufe des letzten Jahres der jeweiligen 5-jährigen Periode für 
die folgenden 5 Betriebsjahre nach folgenden Grundsätzen: 

a) Regelmäßiges Verfahren. 

Die bisher beteiligten Brennereien werden nach Maßgabe der in den vorher- 
gehenden 5 Betriebsjahren durchschnittlich zum niedrigeren Abgabesatze herge- 
stellten Alkoholmengen weiter beteiligt. Bei Brennereien, die in einem oder meh- 
reren der 5 Jahre das Kontingent überhaupt nicht oder nicht vollständig herstellen, 
wird für diese Jahre gleichwohl die volle Kontingentsmenge als hergestellt ange- 
nommen, wenn wenigstens in einem der 5 Jahre das Kontingent vollständig her- 
gestellt worden ist. In Abfindungsbrennereien (8 13) werden die Kontingente auch 
dann als hergestellt angenommen, wenn dieselben in der Kontingentsperiode über- 
haupt nicht oder nicht vollständig hergestellt worden sind. 

b) Kontingentsminderung beim Betriebswechsel. 

Die für die einzelne Brennerei bei der Neukontingentierung in Rechnung zu 
stellende Alkoholmenge wird 

1) wenn eine diekmaischende Getreidebrennerei während der letzten 5 Betriebs- 
jahre zur Hefenerzeugung übergegangen ist, um ®/,, 

2) wenn eine Brennerei, die zuvor andere Stoffe als Getreide verarbeitet hat, 
in dieser Zeit zur Hefenerzeugung übergegangen ist, um die Hälfte, und wenn sie 
zur Getreideverarbeitung ohne Hefenerzeugung übergegangen ist, um "e gekürzt. 
Ist der Uebergang nur ein teilweiser gewesen, so erfolgt Kürzung zu einem ent- 


steuergesetzes vom 


Nationalökonomische Gesetzgebung. 483 


sprechenden Teile. Bei Wiederholung eines Betriebswechsels derselben Art findet 
eine erneute Kürzung nur insoweit statt, als die Aenderung der Betriebsart bei 
der früheren Kürzung noch nicht berücksichtigt ist. 

c) Neuveranlagung zum Kontingent. 

Die Neuveranlagung zum Kontingent findet statt: 

1) für die bis zum Beginne des letzten Jahres der jeweiligen Kontingents- 
periode neu entstandenen und betriebsfähigen hergerichteten landwirtschaftlichen 
und Materialbrennereien, 

2) für diejenigen bisher beteiligten landwirtschaftlichen Brennereien, deren 
wirtschaftliche Lage durch Verringerung oder Vergrößerung der regelmäßig be- 
ackerten oder sonst landwirtschaftlich genutzten Fläche während der letzten 5 Be- 
triebsjahre eine wesentliche Veränderung erfahren hat, 

3) für diejenigen landwirtschaftlichen Brennereien, welche als dickmaischende 
Getreide- oder als Hefebrennereien am Kontingent beteiligt waren und im Laufe 
der vorhergehenden 5 Jahre dauernd entweder zur Verarbeitung von Kartoffeln 
übergegangen sind oder die Hefenerzeugung aufgegeben haben, 

4) für diejenigen landwirtschaftlichen Brennereien, bei deren früherer Neu- 
ontingentierung wesentliche Veränderungen des Areals unberücksichtigt geblieben 
sind. 

Für die bezeichneten Brennereien ist nach dem Umfang ihrer Betriebsein- 
richtungen unter Berücksichtigung des beackerten oder sonst landwirtschaftlich ge- 
nutzten Areals und der gesamten wirtschaftlichen Verhältnisse sowie des Betriebs- 
umfanges anderer am Kontingent beteiligter Brennereien nach Anhörung zweier 
Sachverständigen aus den Kreisen der Besitzer landwirtschaftlicher Brennereien 
diejenige Alkoholmenge zu ermitteln, deren jährliche Herstellung als angemessen 
zu erachten ist. Der Bemessung des künftigen Kontingents ist von dieser Menge 
derjenige Teil zu Grunde zu legen, welcher dem Verhältnis entspricht, das in den 
ohne Neuveranlagung am Kontingent zu beteiligenden Brennereien derselben Art 
zwischen ihrer Gesamterzeugung und der von ihnen zum niedrigeren Abgabesatze 
hergestellten Alkoholmenge wärend der vorhergehenden 5 Jahre durchschnittlich 
bestanden hat. 

d) Falls die auf Grund der Vorschriften unter a, b und c in Rechnung zu 
stellenden Alkoholmengen 150000 1 übersteigen, werden sie um Lan, jedoch nicht 
unter den Betrag von 150000 1 herabgesetzt. 

Die auf Grund der Vorschriften unter e in Rechnung zu stellenden Alko- 
holmengen dürfen im Falle einer Neubeteiligung am Kontingent oder einer Kon- 
tingentserhóhung für landwirtschaftliche Brennereien 80000 I, für Materialbrenne- 
reien 8000 1 nieht übersteigen. 

e) Die auf Grund der Vorschriften unter b, c und d neu zugeteilten Kon- 
tingentsmengen sind bei der nüchsten Neubemessung auch für das letzte Jahr der 
vorangegangenen Verteilungsperiode in Rechnung zu stellen. 

Für Brennereien, welche bis zum 1. Oktober 1902 betriebsfähig hergerichtet 
sind, darf die in Rechnung zu stellende Alkoholmenge (S 2 des Gesetzes) 50000 1 
nicht überschreiten. Jedoch kann für neue Brennereien, welche bis zum 1. Oktober 
1901 betriebsfähig hergerichtet sind, diese Menge bis auf 80 000 1 bemessen werden, 
sofern die Verträge über den Bau des Brennereigebäudes sowie die erforderlichen 
Maschinen und Brenngeräte vor dem 16. April 1901 rechtsverbindlich abgeschlossen 
sind. Das Gleiche gilt für die bisher beteiligten Brennereien, sofern der Grund 
zur Neuveranlagung bereits vor dem 16. April 1901 bestanden hat. 

Die nach Abs. 3 unter b für den Fall der Neukontingentierung vorgesehenen 
Kontingentsmindernngen sind unbeschadet der endgültigen Festsetzung des Kon- 
tingents am Schlusse jeder Periode nach den dort bezeichneten Grundsätzen schon 
am Schlusse jedes Betriebsjahrs vorzunehmen. 

Landwirtschaftliche und Materialbrennereien, die zum gewerblichen Betriebe 
übergehen, dürfen Branntwein zu dem niedrigeren Abgabesatze nicht herstellen . . . 

3) $ 41. I. Die Erhebung der Maischbottichsteuer erfolgt nur noch in den 
landwırtschaftlichen Brennereien. 

Als landwirtschaftliche Brennereien gelten diejenigen während des ganzen 
Betriebsjahres ausschließlich Getreide oder Kartoffeln verarbeitenden Brennereien, 


31* 


484 Nationalökonomische Gesetzgebung. 


bei deren Betriebe die sämtlichen Rückstände in einer oder mehreren den Eigen- 
tümern oder Besitzern der Brennerei gehörenden oder von denselben betriebenen 
Wirtschaften verfüttert werden und der erzeugte Dünger vollständig auf dem den 
Eigentümern ... der Brennerei gehörigen ... Grund und Boden verwendet wird ... 

Brennereien, welche nach dem 1. September 1902 betriebsfähig werden, gelten 
nur dann als landwirtschaftliche Brennereien , wenn die für die Brennereien erfor- 
derlichen Rohstoffe an Kartoffeln und Getreide, mit Ausnahme von Roggen, 
Weizen, Hafer und Gerste, in der Hauptsache von den Besitzern der Brennereien 
selbst gewonnen sind. Bei Genossenschaftsbrennereien müssen die so gewonnenen 
Rohstoffe in der Hauptsache von den einzelnen Teilnehmern auch nach Verhältnis 
ihrer Beteiligung an der Brennerei geliefert und außerdem die sämtlichen Brenne- 
reirückstände von den Teilnehmern in gleichem Verhältnisse verfüttert werden. 
Der Bundesrat ist ermächtigt. im Falle von Mißernten Ausnahmen zu gestatten. 

II. Die Maischbottichsteuer beträgt 1,31 M. für jedes Hektoliterdes Rauminhalts 
der Maischbottiche und für jede Einmaischung. Bei der Steuerberechnung bleibt 
der überschießende Rauminhalt, welcher 25 1 nicht erreicht, außer Betracht. 

In Brennereien, welche nur während der Zeit vom 16. September bis 15. Juni 
nicht länger als 8!,, Monate betrieben werden, wird die Maischbottichsteuer, 

a) wenn an einem Tage durchschnittlich nicht über 1050 1 Bottichraum be- 
maischt werden, nur zu */,,, 

b) wenn an einem Tage durchschnittlich mehr als 1050, jedoch' nicht über 
1500 | Bottichraum bemaischt werden, nur zu 5/,,, 

€) wenn an einem Tage durchschnittlich mehr als 1500, jedoch nicht über 
3000 1 Bottiehraum bemaischt werden, nur zu ?/,, 
des im Abs. 1 festgesetzten Steuerbetrags erhoben. Gelangen während eines Kalender- 
monats in einer der bezeichneten Brennereien mehr als 1050, 1500 oder 3000 1 
Bottichraum durchschnittlich täglich zur Bemaischung, so wird für den Monat 
der entsprechend höhere Steuersatz erhoben. Wird die Betriebsfrist von 8';, Mo- 
naten überschritten, so ist der volle Maischbottichsteuersatz für die ganze Betriebszeit 
zu entrichten. 

III. Als Materialbrennereien gelten diejenigen Brennereien, welche während 
des ganzen Betriebsjahrs lediglich nıchtmehlige Stoffe mit Ausnahme von Melasse, 
Rüben und Rübensaft verarbeiten. 

Die Branntweinmaterialsteuer beträgt vom hl: 


a) Treber von Kernobst und eingestampfte Weintreber 0,25 M. 
b) Kernobst 0,35 „ 
c) Beerenfrüchte aller Art ... 0,45 „ 
d) Brauereiabfälle, Hefenbrühe, gepreßte Weinhefe und Wurzeln aller Art 0,50 ,, 
e) Trauben- und Obstwein, flüssige Weinhefe und Steinobst 0,85 „ 


Die Materialsteuer wird 

a) von denjenigen Brennern, welche in einem Jahre nicht mehr als 50 | reinen 
Alkohols erzeugen, nur zu *;,,, 

b) von denjenigen Brennern, welche in einem Jahre mehr als 50 l, jedoch 
M über 1 hl reinen Alkohols erzeugen, nur zu */,, der vollen Steuersätze er- 

oben ... 

4) $ 42. In den gewerblichen Brennereien findet die Erhebung der Maisch- 
bottichsteuer und der Branntweinmaterialsteuer nicht mehr statt. 

Als gewerbliche Brennereien gelten alle Brennereien, welche weder zu den 
landwirtschaftlichen noch zu den Materialbrennereien gehören. 

II. Von dem in gewerblichen Brennereien hergestellten Branntweine wird, 
soweit er der Verbrauchsabgabe unterliegt, ein Zuschlag zu dieser erhoben, welcher 
0,20 M. für das Liter reinen Alkohols Beträgt 

Bei solchen gewerblichen Brennereien, welche vor dem 1. April 1887 bereits 
bestanden haben und nicht mehr als 10000 1 Bottichraum an einem Tage bemaischen, 
tritt für den Umfang des vor dem 1. Oktober 1587 geübten Betriebs, nach näherer 
Bestimmung des Bundesrats, eine Ermäßigung des Zuschlags um 0,04 M. für das Liter 
reinen Alkohols ein. Bemaischen Brennereien dieser Art mehr als 10000 1, jedoch 
Hicht tiber 20000 1 Bottichraum, so beträgt diese Ermäßigung des Zuschlags 

02 M... 


Nationalökonomische Gesetzgebung. 485 


III. Auf Antrag sind auch landwirtschaftliche und Materialbrennereien von 
der EEN der Maischbottich- oder Branntweinmaterialsteuer freizulassen. 

Sofern hiervon Gebrauch gemacht wird, werden von dem hergestellten Brannt- 
vn folgende Zuschläge zur Verbrauchsabgabe für das Liter reinen Alkohols 
erhoben : 

a) an Stelle der Maischbottichsteuer ` 

1)in Brennereien, die in einem Jahre nicht mehr als 100 hl reinen Alkohols 
erzeugen, 

wührend derjenigen Monate, in denen sie ohne Hefenerzeugung betrieben 
werden 0,10 M., während derjenigen Monate, in denen sie mit Hefenerzeugung 
betrieben werden 0,14 M.; 

2) in Brennercien, die in einem Jahre mehr als 100, jedoch nicht über 150 hl 
reinen Alkohols erzeugen 0,11 bezw. 0,15 M., 

3) in Brennereien, die in einem Jahre mehr als 150, jedoch nicht über 300 hl 
reinen Alkohols erzeugen 0,12 bezw. 0,16 M., 

4) in Brennereien, die in einem Jahre mehr als 300, jedoch nicht über 500 hl 
reinen Alkohols erzeugen, 0,13, bezw. 0,17 M., 

5) in Brennereien, die in einem Jahre mehr als 500 hl reinen Alkohols er- 
zeugen, 0,16 bezw. 0,20 M. 

b) an Stelle der Branntweinmaterialsteuer ` 

1) soweit von einem Brenner in einem Jahre nicht mehr als 50 1 reinen 
Alkohols erzeugt werden 0,04 M., 

2) soweit .... mehr als 50, jedoch nicht über 1001... erzeugt werden 0,08 M., 

3) soweit... mehr als 100, jedoch nicht über 2001... erzeugt werden 0,12 M., 

4) soweit ... mehr als 200 1... erzeugt werden 0,20 M. 

Art. 1I. An Stelle der S8 43a, 43b, 43c, 43d und 43e des Gesetzes, betr. die 


24. Juni 1887? 


Besteuerung des Branntweins, vom i6. Juni 1895 treten folgende Bestimmungen: 


5 

1) § 43a. Neben den bestehenden Branntweinsteuern wird in denjenigen 
Brennereien, welche in einem Jahre mehr als 200 hl reinen Alkohols erzeugen, 
von der mehr erzeugten Alkoholmenge ein besonderer Zuschlag zur Verbrauchs- 
abgabe (Brennsteuer) erhoben, und zwar: 


für die Erzeugung über 200 bis 300 hl je 2 M. 


Te s » 300, 400 , ,2,0 , 
vor ux P » 400, 600 , „3 » 
LE DI Hi LU 600 LL 800 » » 3,50 » 
ITEMS x » $800 , 1000 , „4 » 
ds ; ; 1000 , 1200 , an 450 ,, 
H D H ” 1200 ,, 1400 » » 5 n 

Se E » 1400 , 1600 ,, , 5,50 „ 
Bigi 3 » 1600 , 1800 „ „6 y 
" , Di " 1800 hl n 6,50 » 


vom Hektoliter reinen Alkohols. 

In denjenigen Brennereien, welche ausschließlich Roggen, Weizen, Hafer und 
Gerste verarbeiten,. wird die Brennsteuer für die Erzeugung bis zu 300 hl über- 
MU nicht und für die Erzeugung über 300 hl bis zu 600 hl nur zur Hälfte er- 

oben. 

In landwirtschaftlichen Genossenschaftsbrennereien, die als solche am 1. April 
1895 bestanden haben, wird für den Umfang des damaligen Betriebes die Brenn- 
steuer nur zu */, der vorbezeichneten Sätze erhoben. 

In landwirtschattlichen Brennereien, welche im Laufe des Betriebsjahres Kar- 
toffeln oder Mais verarbeiten, wird außerdem für jedes in der Zeit vom 16. Juni 
bis 15. September hergestellte Hektoliter reinen Alkohols eine Brennsteuer von 
3 M. erhoben. Die Steuer fällt weg, insoweit für den Branntwein Zuschlag von 
mindestens 16 M. zu entrichten ist. In Brennereien, die in der Zeit vom 16. Juni 
bis 15. September der Maischbottichsteuer unterliegen, findet eine Ermäßigung 
statt, und zwar: 


486 Nationalökonomische Gesetzgebung. 


a) sofern während dieser Zeit an einem Tage durchschnittlich mehr als 1050, 
aber nicht über 1500 1 Bottichraum bemaischt werden, auf 1 M.; 

b) sofern während dieser Zeit an einem Tage durchschnittlich mehr als 150, 
aber nicht über 3000 1 Bottichraum bemaischt werden, auf 2 M.; 

außerdem bleiben die Brennereien, die während dieser Zeit an einem Tage 
durchschnittlich nicht über 1050 1 Bottichraum bemaischen, von der Steuer befreit. 
Die auf den Sommerbrand gelegte Brennsteuer ist auch zu erheben, soweit der 
Betrieb vom 16. September bis 15. Juni 8!/, Monate überschreitet- 


In denjenigen am Kontingent beteiligten gewerblichen Brennereien, die Melasse, 
Rüben oder Rübensaft verarbeiten, wird, insofern sie in einem Betriebsjahre eine 
Alkoholmenge herstellen, die das im Betriebsjahre 1804/95 inne gehabte Kontingent 
um mehr als ?/, übersteigt, die Brennsteuer um 6 M. für jedes weitere Hektoliter 
reinen Alkohols erhöht. In denjenigen Brennereien der bezeichneten Art, welche 
nicht kontingentiert sind, tritt die gleiche Erhöhung insoweit ein, als ihre Gesamt- 
erzeugung 20000 hl reinen Alkohols übersteigt; gehen diese Brennereien zur Er- 
zeugung von Hefe über, so wird von dem betreffendem Betriebsjahre an die Alkohol- 
menge, die der um 6 M. erhöhten Brennsteuer nicht unterliegt, um die Hälfte 

ekürzt. Nach dem 1. Juli 1895 neu entstandene oder neu entstehende Brennereien, 
ie Melasse, Rüben, Rübensaft oder Zellstoffe verarbeiten, unterliegen für ihre ge- 
samte Erzeugung einer erhöhten Brennsteuer von 15 M. mit der Maßgabe, daß 
auch für die Erzeugung bis zu 200 hl je 15 M. vom Hektoliter reinen Alkohols 
erhoben werden. 


Süßstoffgesetz vom 7, Juli (R.G.B. No. 36 S. 253—256). 


$ 1. Süßstoffe im Sinne dieses Gesetzes sind alle auf künstlichem Wege ge- 
wonnenen Stoffe, welche als Süßmittel dienen können und eine höhere Süßkraft 
als raffinierter Rohr- oder Rübenzucker, aber nicht entsprechenden Nährwert be- 
sitzen. 

82. Soweit nicht in den $$ 3 bis 5 Ausnahmen zugelassen sind, ist es verboten: 

a) Süßstoff herzustellen oder Nahrungs- und Genußmitteln bei deren gewerb- 
licher Herstellung zuzusetzen ; 

b) Süßstoff oder süßstoffhaltige Nahrungs- oder Genußmittel aus dem Aus- 
lande einzuführen; 

c) Süßstoff oder süßstoffhaltige Nahrungs- oder Genußmittel feilzuhalten oder 
zu verkaufen. 


$ 3. Nach näherer Bestimmung des Bundesrats ist für die Herstellung oder 
die le von Süßstoff die Ermächtigung einem oder mehreren Gewerbetreibenden 
zu geben. 

$ Die Ermächtigung ist unter Vorbehalt des jederzeitigen Widerrufs zu erteilen 
und der Geschäftsbetrieb des Berechtigten unter dauernde amtliche Ueberwachung 
zu stellen. Auch hat der Bundesrat in diesem Falle zu bestimmen, daß bei dem 
Verkaufe des Süßstoffes en gewisser Preis nicht überschritten, sowie ob und unter 
welchen Bedingungen eine Ausfuhr von Süßstoff in das Ausland erfolgen darf. 

8 4. Die Abgabe des gemäß $ 3 hergestellten oder eingeführten Süßstoffes 
ins Inland ist nur an Apotheken und solche Personen gestattet, welche die amtliche 
Erlaubnis zum Bezuge von Süßstoff besitzen. 

Diese Erlaubnis ist nur zu erteilen: 

a) an Personen, welche den Süßstoff zu wissenschaftlichen Zwecken ver- 
wenden wollen ; 

b) an Gewerbetreibende zum Zwecke der Herstellung von bestimmten Waren, 
für welche die Zusetzung von Süßstoff aus einem die Verwendung von Zucker 
ausschließenden Grunde erforderlich ist; 

c) an Leiter von Kranken-, Kur-, Pflege- und ähnlichen Anstalten zur Ver- 
wendung für die in der Anstalt befindlichen Personen ; 

d) an die Inhaber von Gast- und Speisewirtschaften in Kurorten, deren Be- 
suchern der Genuß mit Zucker versüßter Lebensmittel ärztlicherseits untersagt zu 
werden pflegt, zur Verwendung für die im Orte befindlichen Personen. 

$ 5. Die Apotheken dürfen Süßstoff außer an Personen, welche eine amtliche 


Nationalökonomische Gesetzgebung. 487 


rs ($ 4) besitzen, nur unter den vom Bundesrate festzustellenden Bedingungen 
abgeben. 

Die im $ 4 Abs. 2 zu b) benannten Bezugsberechtigten dürfen den Süßstoff 
nur zur Herstellung der in der amtlichen Erlaubnis bezeichneten Waren verwenden 
und letztere nur an solche Abnehmer abgeben, welche derart zubereitete Waren 
ausdrücklich verlangen. Der Bundesrat kann bestimmen, daß diese Waren unter 
bestimmten Bezeichnungen und in bestimmten Verpackungen feilgehalten und ab- 
gegeben werden müssen. 

Die zu c) und d) genannten Bezugsberechtigten dürfen Süßstoff oder unter 
Verwendung von Süßstoff hergestellte Nahrungs- oder Genußmittel nur innerhalb 
der Anstalt (zu c) oder des Ortes (zu d) abgeben. 

$ 11. Den Inhabern der Süfstofffabriken, die als solche bereits vor dem 
l. Januar 1901 betrieben worden sind und diese Fabrikation auch innerhalb der 
Zeit vom 1. April 1901 bis 1. April 1902 fortgesetzt haben, wird eine vom Bundes- 
rat unter Ausschluf des Rechtsweges festzustellende Entschüdigung gewührt. 

Die Entschädigung soll das Sechsfache eines Jahresgewinnes nach dem Durch- 
schnitte der Betriebsjahre 1808/1899, 1899/1900, 1900/1901 unter Annahme der 
Gewinnhóhe von 4 M. für jedes Kilogramm des innerhalb dieser Zeit hergestellten 
chemisch-reinen Süßstoffes betragen. 

Wird der Inhaber einer Süßstofffabrik gemäß $ 3 zur Herstellung von Süß- 
stoff für eigene Rechnung ermüchtigt, so tritt eine entsprechende Verminderung 
der Entschädigung ein; wird die Ermächtigung widerrufen, so ist die Entschädigung 
entsprechend nachzuvergüten. 

Die Inhaber der Fabriken sind verpflichtet, von der ihnen gewährten Ent- 
schädigung ihren Beamten und Arbeitern, die infolge des Verbotes aus ihrer Be- 
schäftigung entlassen werden, eine Entschädigung zu gewähren, die bei Arbeitern 
dem von ihnen in den letzten 3 Monaten vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes 
bezogenen durchschnittlichen Arbeitsverdienste, bei Beamten dem von ihnen in 
den letzten 6 Monaten vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes bezogenen Gehalt 
entspricht. 

8 13. Dieses Gesetz tritt mit dem 1. April 1903 in Kraft. Mit diesem Zeit- 
punkte tritt das Gesetz, betreffend den Verkehr mit künstlichen Süßstoffen, vom 
6. Juli 1898 außer Kraft. 


Bekanntmachung vom 22. Juli, betr. die wechselseitige Be- 
nachrichtigung der Militär- und Polizeibehörden über das 
Auftreten übertragbarer Krankheiten (R.G.B. No. 37 S. 257 f.). 

Die Bekanntmachung bezieht sich besonders auf Unterleibstyphus, Aussatz, Cholera, 
Fleckfieber, Gelbfieber, Pest, Pocken, Ruhr, Diphtherie und Scharlach. 

Vereinbarung vom 1. August, zwischen dem Deutschen Reiche 
und Belgien zur Regelung des Verkehrs mit Branntwein 
und Spirituosen an der deutsch-belgischen Grenze (R.G.B. No. 51 
S. 301 £). 

Art. 1. Steuerfreiheit bei der Ausfuhr von Branntwein und Spirituosen über 
die zuständigen Zollämter an der deutsch-belgischen Grenze wird nur unter der 
Bedingung gewährt, daß der Ausführende dem Ausgangsamt eine Bescheinigung 
vorlegt, aus der erhellt, daß die Ware bei der Zollbehörde des Einfuhrlandes 
ordnungsgemäß zur zollamtlichen Abfertigung angemeldet worden ist. 

Art. 2. Die Bestimmung des Art. 1 findet keine Anwendung auf alkohol- 
haltige flüssige Parfümerien, Kopf-, Zahn- und Mundwasser, die mit der Post in 
das Rusland versandt werden. 

Bekanntmachung vom 16. Oktober, betr. den Befähigungs- 
nachweis und die Prüfung der Maschinisten auf Seedampf- 
Schiffen der deutschen Handelsflotte (R.G.B. No. 41 S. 265). 

Bekanntmachung vom 16. Oktober, betr. die Außerkurssetzung 
der Zwanzigpfennigstücke aus Nickel (R.G.B. No. 42 S. 267). 


488 Nationalökonomische Gesetzgebung. 


Die Zwanzigpfennigstücke aus Nickel gelten vom 1. Januar 1908 ab nicht mehr 
als gesetzliches Zahlungsmittel, werden aber, soweit sie nicht durchlöchert oder im Ge- 
wichte verringert oder verfälscht sind, bei den Reichs- und Landeskassen bis zum 81. De- 
zember 1908 in Zahlung und zur Umwechselung angenommen. 

Bekanntmachung vom 22. Oktober, betr. die Einrichtung und 
den Betrieb der Roßhaarspinnereien, Haar- und Borsten- 
zurichtereien, sowie der Bürsten- und Pinselmachereien 
(R.G.B. No. 43 S. 269—274). 

Verordnung vom 16. November, betr. die Beaufsichtigung 
schaumburg-lippischer privater Versicherungsunterneh- 
mungen (R.G.B. No. 46 S. 279). 

Die Beaufsichtigung wird dem Kaiserlichen Aufsichtsamte für Privatversicherung 
übertragen. 

Verordnung vom 21. November, betr. die Rechte an Grund- 
stücken in den deutschen Schutzgebieten (R.G.B. No. 47 
S. 283 — 290). 

Verordnung vom 5. Dezember, betr. die Erfüllung der Dienst- 
pflicht bei der Kaiserlichen Schutztruppe für Südwest- 
afrika (R.G.B. No. 50 S. 297 — 299). 

Zolltarifgesetz vom 25. Dezember (R.G.B. No. 52 S. 303—441). 


Miszellen. 489 


Nachdruck verboten. 


Miszellen. 


VIII. 


Ledigenheime. 
Ein Beitrag zur Wohnungsfrage. 
Von Arthur Dix. 


Die Wohnungsfrage erscheint in ihrer öffentlichen Behandlung in 
Deutschland fast ausschließlich als eine Frage der billigen und guten 
Unterbringung von Familien des Arbeiter- und des Mittelstandes. 
Fast ganz vernachlässigt wird daneben die Frage der Unterbringung 
alleinstehender Personen. Wohl gibt es eine reichhaltige 
Literatur über die Schäden des Schlafstellenwesens; aber zu diesen 
negativen Feststellungen gesellen sich nicht annähernd in entsprechendem 
Maße positive Vorschläge für eine angemessene Beherbergung lediger 
Arbeiter. Erfreulicherweise steht es in der Praxis zum Teil besser; 
aber nur zum Teil. Vielfach ist auch hier die Rückständigkeit ebenso 
groß. Zumal in der größten Stadt des Reiches vermissen wir nahezu 
vollständig Maßregeln, die sich in dieser Richtung bewegen. Wohl 
ist in Berlin für die vorübergehende Unterbringung Obdachloser 
auf dem Wege der öffentlichen Wohltätigkeit manches geschehen, in 
wesentlich geringerem Umfange schließlich auch für den vorübergehenden 
Aufenthalt armer, aber nicht gänzlich mittelloser Personen — für die 
dauernde Beherbergung alleinstehender Arbeiter gegen angemessenen 
Entgelt dagegen so gut wie gar nichts. Auf einer ganz anderen Stufe 
steht in dieser Beziehung, wie wir später sehen werden, das rheinisch- 
westfälische Industriegebiet. 

Um die Notwendigkeit der Errichtung von Unterkunftshäusern für 
Einzelstehende in den Großstädten und Industriezentren zu begründen, 
müßte man alles wiederholen, was über das Schlafstellenunwesen an 
Material zusammengetragen worden ist. Angesichts der vielfachen 
Untersuchungen auf diesem Gebiet können wir jedoch den Tatbestand 
im allgemeinen als bekannt voraussetzen und uns auf eine Prüfung 
dessen beschränken, was gegen die hier hervortretenden schweren sitt- 
lichen und gesundheitlichen Schäden geschehen ist und weiter geschehen 
kann. 

Um sich ferner einen Begriff von dem Umfange zu machen, in 
dem Abhilfe erwünscht wäre, wird man sich die Ergebnisse der Volks- 


490 Miszellen. 


zählung in Bezug auf die Binnenwanderung vergegenwärtigen müssen. 
An dieser Binnenwanderung beteiligen sich in ganz hervorrageudem 
Maße die unverheirateten Arbeiter, und auch von den verheirateten ist 
bei der Wanderungsbewegung ein großer Teil „alleinstehend‘“, indem 
nur einzelne Familienmitglieder auf Erwerb in die Fremde ziehen und 
dort einzeln Unterkunft suchen müssen. Wir werden uns auch in 
diesem Punkte die nähere Begründung unter Voraussetzung der be- 
kannten Tatsachen ersparen kónnen und brauchen wohl nur daran zu 
erinnern, daß nach der letzten Volkszählung Berlin einen Ueberschul 
von 800000 Zuwandernden verzeichnete, Hamburg einen solchen von 
257 000 Köpfen, Rheinland-Westfalen über 550000, das Königreich 
Sachsen 254 000, München 248 000, die Provinz Brandenburg 177000, 
Leipzig 172000, Breslau 162 000, Elsaf-Lothringen 145 000, Dresden 
144 000, Charlottenburg 133 000, Frankfurt a. M. 130 000, Cóln 120 000, 
Nürnberg 118 000 u.s. f. Um den genauen Anteil der „alleinstehenden“ 
Arbeiter an diesen Ziffern festzustellen, dazu bedarf es noch weiterer 
Mitteilungen aus den Details der Volkszählung, die erst später zu er- 
warten sind. Daß es sich um viele Hunderttausend handelt, die in der 
Fremde als alleinstehende Personen untergebracht sein wollen, ist aber 
ohne weiteres klar. 

An den weitaus meisten Plätzen sind diese Personen nun ganz 
oder doch ganz überwiegend auf das Hausen in Schlafstellen angewiesen 
und nur in begrenzten Bezirken hat man für ihre besonderen Bedürf- 
nisse durch die Errichtung von Ledigenheimen, oder wie man die 
Unterkunftshäuser für Alleinstehende nun im Einzelfalle genannt haben 
mag, Sorge getragen. 

Wie wenig Beachtung die Frage trotz einer Reihe bedeutsamer 
Fortschritte in der Praxis doch in der öffentlichen Diskussion der 
Wohnungsfrage in Deutschland bisher gefunden hat, mag man daraus 
ersehen, daß nicht nur die ältere Litteratur sie nur ganz selten und 
beiläufig erwähnt, sondern auch auf dem großen internationalen Woh- 
nungskongreß in Düsseldorf, der die Wohnungsfrage nach den ver- 
schiedensten Seiten sehr eingehend behandelte, deutscherseits kaum ein 
Wort über diese Seite gefallen ist. Der dickbändige Kongreßbericht 
enthält überhaupt nur wenige Sätze von Ausländern über Ledigenheime: 
Einen kurzen Bericht über die Lodging Houses in Glasgow, eine Er- 
wähnung österreichischer Ledigenheime und einige Mitteilungen über 
Arbeiterasyle in Stockholm. Das sonst gründliche Referat von Legations- 
rat Hans von Nostitz über Wohnungsfürsorge im Königreich Sachsen 
erwähnt zwar beiläufig, daß in den großartigen Stiftungen des Biblio- 
graphischen Instituts in Leipzig neben 1824 Familienwohnungen 
40 Einzelwohnungen vorhanden sind, äußert sich aber mit keinem 
weiteren Wort hierüber, obwohl dem Verfasser, wie aus seinem großen 
Werk über die Lage der Arbeiter in England ersichtlich ist, das Muster 
der englischen Ledigenheime wohlbekannt ist. 

Die Mitteilungen der ausländischen Referenten des Wohnungs- 
kongresses zu unseren Thema beschränken sich auf folgendes: In 
Wien bezw. dem Fabriksvorort Floridsdorf hat die Arbeiterunfall- 


Miszellen. 491 


versicherungsanstalt für Nieder-Oesterreich ein Ledigenheim für 25 Per- 
sonen neben mehreren Familienhäusern erbaut. Es enthält 17 Zimmer 
für je eine Person (9,6 qm Fläche) und 4 Zimmer für je 2 Personen 
(13,5 qm). „Diese Zimmer sind einfach aber nett eingerichtet.“ Die 
Zimmer mit einem Bett werden zum Wochenpreise von 3 Kronen ver- 
mietet, wogegen in den Zimmern mit 2 Betten für jedes Bett 2,50 Kronen 
erhoben werden. Diese Preise sind einschließlich der Bedienung und 
Bettwäsche verstanden. Das Kapital verzinst sich in der Gesamtanlage 
mit 4 Proz. 

Aus Stockholm wurde über großes Schlafstellenelend berichtet. 
Mehr als die Hälfte der Arbeiterheime sind Schlafstellen. Die Anzahl 
der Schlafstelleninhaber beläuft sich auf fast 40000, d. i. ein Viertel 
der ganzen Arbeiterbevölkerung. Man zählte nicht weniger als 1182 
kleine Wohnungen, die fünf und mehr Schlafgänger beherbergen. Von 
diesen Schlafgängern waren obendrein 9 Proz. verheiratet! Von Be- 
strebungen, die angesichts dieser Zustände auf die Errichtung von 
Ledigenheimen hinzielen, weiß der Berichterstatter jedoch nichts zu 
melden. Er berichtet nur davon, daß in Arbeiterheimen, die als Wohl- 
fahrtseinrichtung für Familien gegründet sind, den Bewohnern in der 
Regel die Aufnahme von Schlafgängern verboten ist — eine Maßnahme, 
die jedenfalls nur zur Folge haben wird, daß die Schlafgänger auf 
schlechtere, nicht kontrollierte Stellen angewiesen bleiben. Den Inhabern 
der aus 2 Zimmern und Küche bestehenden Wohnungen in den Arbeiter- 
heimen ist aber erlaubt, das eine Zimmer an unverheiratete Arbeiter 
zu vermieten, wenn dieselben in städtischen Diensten beschäftigt sind. 
Für die Unterbringung Alleinstehender ist nur in den städtischen Asylen 
gesorgt, doch sind diese ausschließlich für die Zwecke eines vorüber- 
gehenden Aufenthalts in den alleräußersten Fällen bestimmt. Sie sind 
offenbar sehr unbeliebt und nur wenig besucht. „Gleichzeitig sind 
auch besondere Herbergen für Obdachlose von der Heilsarmee ein- 
gerichtet worden, welche stets von Besuchern überfüllt sind, und das 
private Herbergswesen floriert nach wie vor.“ Also nur von Herbergen 
für vorübergehenden Aufenthalt Armer und Obdachloser hören wir hier, 
nichts von Ledigenheimen für den dauernden Aufenthalt alleinstehender 
Arbeiter. 

Aus Amsterdam wurde in der Düsseldorfer Diskussion beiläufig 
erwähnt, daß dort Logierhäuser für weibliche Personen, wie sie für arme 
Frauen schon lange bestehen, jetzt auch für nicht ganz unbemittelte 
gebaut werden. Entsprechende Einrichtungen für Männer werden nicht 
erwähnt. 

In der Tat ist sowohl im Ausland wie in Deutschland für die Er- 
richtung von Ledigenheimen sehr viel mehr geschehen, als die erwähnten 
Kongreßverhandlungen erkennen lassen. Für Deutschland legt die dem 
Kongreß unterbreitete Festschrift des Rheinischen Vereins zur Förde- 
rung des Arbeiterwohnungswesens davon Zeugnis ab, auf die wir noch 
zurückkommen. Aus dem Auslande sei folgendes berichtet: 

Ein im Juni 1902 im österreichischen Abgeordnetenhause 
angenommenes Wohnungsgesetz, das sich die Förderung des Baues 


492 Miszellen. 


billiger Arbeiterwohnungen namentlich durch Steuerbefreiung zur Auf- 
gabe macht, enthält besondere Bestimmungen über Ledigenheime, 
Schlaf- und Logierhäuser. Es untersagt in den Wohnungen, die unter 
staatlicher Förderung (Steuererleichterung) gebaut sind, die After- 
vermietung und die Aufnahme von Schlafgängern. Ueber die Ledigen- 
heime ist folgendes bestimmt: 

Die Ledigenheime dienen zur Aufnahme von einzelnen Personen 
desselben Geschlechts in abgesonderten Wohnräumen. Jeder Wohnraum 
soll in der Regel nur von einer, höchstens aber drei Personen, bewohnt 
werden. Einzelstehende Personen verschiedenen Geschlechtes dürfen 
in einem und demselben Gebäude nur in voneinander vollkommen ge- 
sonderten Abteilungen untergebracht werden. Die Bodenfläche dieser 
Wohnräume zur Aufnahme einer Person hat mindestens 8 qm, zwei Per- 
sonen mindestens 12 qm, drei Personen mindestens 20 qm zu betragen. 
Schlaf-und Logierhäuser, welche zur gemeinsamen Beherbergung 
einzelstehender Personen desselben Geschlechtes bestimmt sind, können 
entweder nur von juristischen Personen oder von Arbeitgebern für die 
im eigenen Betriebe beschäftigten Arbeiter errichtet werden. 

Die Kaiser Franz Josef I. Jubiläumsstiftung für Volkswohnungen 
und Wohlfahrtseinrichtungen hat in den von ihr errichteten Gebäuden 
von Anfang an die Aufnahme von Bettgehern und Aftermietern grund- 
sätzlich ausgeschlossen und durch die Erbauung zweier Ledigenbeime 
für die Unterbringung von einzelstehenden Arbeitern und Arbeiterinnen 
nach englischem Muster vorgesorgt. Die Stiftung rechnet bei mäßigen 
Preisen und ausgedehnten Wohlfahrtseinrichtungen zur gemeinsamen, 
kostenfreien Benutzung auf eine Verzinsung von 3 Proz. Von den 
beiden Ledigenheimen ist das Männerheim mehr als das Frauenheim 
in Anspruch genommen. Die Stiftung steht im Begriff, noch ein zweites 
großes Ledigenheim für Männer zu errichten, 

An der Spitze schreitet auf dem uns hier beschäftigenden Gebiet 
unter den europäischen Staaten England. Dort war das öffentliche 
Logierhaus früher die Zuflucht der Aermsten der Armen, der wirtschaft- 
lich und sittlich Tiefstehenden, oft auch der Vagabunden, Arbeitslosen 
und des Gesindels. Seit die Gemeinden hier eingriffen, ist die Scheu 
der besseren Arbeiter vor den Logierhäusern verschwunden, sofern diese 
zeitgemäß eingerichtet sind. Der ledige Arbeiter findet dort abends 
stets sofort ein warmes und helles Zimmer, ein gutes Bett und meist 
auch eine gute und billige Kost. Nach Wunsch kann er allein sein 
oder geselligen Anschluß finden, Unterhaltung, Lektüre, Spiele u. s. w., 
dazu sichere Aufbewahrung seiner Habseligkeiten, was in den gewöhn- 
lichen Herbergen nicht immer der Fall ist — und das alles zu mäligen 
Preisen, die vor allem nach seinem Einkommen zugeschnitten sind. 

Die englische Wohnungsgesetzgebung unterscheidet 2 Arten von 
Wohnungen: solche für die Minderbemittelten, das sind die gewöhn- 
lichen Mietwohnungen (Houses let in lodgings) und die öffentlichen 
Logierhäuser (common lodging houses). Die erste Klasse umfaßt die 
Häuser, die von mehr als einer Familie gegen Wochenzins bewohnt 
werden, ohne daß Angehörige von mehr als einer Familie in einem 


Miszellen. 493 


Raume vereinigt sind. Die zweite Klasse umfaßt die Häuser, in welchen 
einander fremde, arme Personen für kürzere Zeit in demselben Raume 
untergebracht sind. ` 

London zählte schon im Jahre 1888 ca. 900 solcher Häuser, die 
zusammen 32000 Insassen hatten, auf das Haus im Durchschnitt 35, 
manchmal aber mehrere Hundert Personen. Der Schmutz und die 
Unreinlichkeit in diesen Häusern, die Gesellschaft, die sich dort be- 
wegte, mußten zu jener Zeit aber noch meist in hohem Grade Ab- 
scheu erwecken; die Wirkung dieser Unterkunft wurde noch ver- 
schlimmert durch den sittlichen Tiefstand der Eigentümer und Ver- 
walter solcher Häuser. Die Städte wurden nun ermächtigt, unter 
ministerieller Genehmigung Ortsstatuten zu erlassen über Ordnung 
und Reinlichkeit in diesen Logierhäusern, über die Zahl der Per- 
sonen in den Wohn- und Schlafräumen, über die Trennung der Ge- 
schlechter, über die Zufuhr von Wasser, Licht und Luft, Wegschaffung 
des Unrats, Aufstellung der Asch- und Abfallkästen, über die Aborte 
u. s. w. So wurden zunächst die schlimmsten Zustände beseitigt, was 
sich verbessern ließ, verbessert, die Erlaubnis zur Errichtung solcher 
Häuser mit größerer Vorsicht, schärferen Bedingungen und verstärkter 
polizeilicher und gesundheitlicher Aufsicht gegeben. Besonders wert- 
voll war es, daß viele Städte eigene Musterlogierhäuser (modell 
lodging houses) errichteten. 

Die Stadt Glasgow hat bereits 7 solcher städtischen Logierhäuser 
erbaut, in welchen zusammen über 2400 Personen nächtigen können. 
Eines derselben ist für Frauen, die anderen sind für Männer. Der 
Luftraum ist für eine Person 11,5 cbm, der Preis für eine Nacht 31], 
bis 41/, Pence (30—40 Pf). Die Häuser sind nach dem Kabinensystem 
errichtet, so daß jeder Gast seinen eigenen Schlafraum hat. 

Eine günstige Folge jenes Vorgehens war, daß die alten und 
schlechten privaten Logierhäuser nach und nach in Verruf kamen und 
die private Unternehmungslust das städtische Vorbild nachahmte. Neuer- 
dings hat Glasgow auch ein öffentliches Logierhaus für ganze Familien 
errichtet, das 160 Personen und deren Kindern Unterkunft gewährt. 
Dabei übernimmt die Anstalt auch die Pflege der Kinder während der 
Zeit, da die Arbeiter, und besonders die Mütter, auf Arbeit abwesend 
sind. Eine Witwe mit einem Kinde zahlt wöchentlich 3 sh. 2 d., eine 
Witwe mit 4 Kindern 4 sh, Witwer zahlen 1 sh. mehr; erwachsene 
Personen zahlen für das Frühstück 21/, Pf, das Mittagessen 4 Pf; 
ein Kind wird wöchentlich für 1 sh. 10 Pf, zwei Kinder werden für 
8 sh. 2 Pf., drei Kinder für 4 sh. verkóstigt. Speisesaal, Kinderkrippen, 
Wasch- und Baderäume sind frei und doch wird die Anstalt sich ver- 
zinsen. Die 7 Logierhüuser in Glasgow sind mit einem Kostenaufwand 
von rund 2 Millionen Mark erbaut und eingerichtet; die Summe ver- 
zinst sich nach den Mitteilungen des Glasgower Deputierten auf der 
Düsseldorfer Wohnungskonferenz mit 4—5 Proz. 

Auch der Londoner Grafschaftsrat hat 1892 ein großes Logier- 
haus, ein municipal lodging house, erbaut. Durch Errichtung eines großen 
Logierhauses in London hat sich Lord Rowton verdient gemacht. Das 


494 Miszellen. 


Londoner Rowtonhouse (eröffnet 1893 und jetzt im Besitze einer 
Aktiengesellschaft) und das municipal lodging house sind wohl die best- 
eingerichteten Musterlogierhäuser der Erde. In beiden Häusern be- 
finden sich außer den gut ausgestatteten Schlafräumen für 325 bezw. 
470 Personen, von welchen jede in einem besonderen Kabinette für 
sich schläft, mächtige Küchen, Speise-, Erholungs- und Lesezimmer, 
Bibliothek, Wasch- und Badeeinrichtung u. s. w. Der Preis für Bett 
und Nacht ist 6 Pence (50 Pf.), die Verzinsung rund 4 Proz. In 
Liverpool suchen täglich ungefähr 14 000 Personen Unterkunft für 
die Nacht. Im Jahre 1900 wurde dort für diese Bedürfnisse nach dem 
Muster des Londoner Rowton-Hauses ein Haus, Revington-house ge- 
nannt, errichtet für die Beherbergung lediger Männer. Das Haus ent- 
hält 500 getrennte Schlafräume (cubicles) zwei große Küchen, einen 
Lesesaal, einen Erholungssaal, Waschküchen, Badezimmer u. s. w. Die 
Miete für eine Nacht wird mit 6 Pence berechnet. Selbstverständlich 
herrscht in all diesen Anstalten eine strenge Hausordnung mit festen 
Stunden zum Schließen der Anstalt, zum Aufstehen der Gäste, Verbot 
des Rauchens in den Zimmern, sowie des Lärmens und Schreiens. 
Alkoholgenuß ist meist untersagt. Trunkenbolde und Unruhestifter 
werden unnachsichtlich ausgewiesen. Sehr wertvoll für die Bewohner 
solcher Häuser ist auch der bessere Umgang, den sie hier finden, die 
geistige und gesellschaftliche Anregung in den Mubestunden, die Mög- 
lichkeit, vielfach eine kleine, aber ausgewählte Bibliothek benützen zu 
können, was alles mildernd auf die oft rohen Sitten einwirkt. Wenigstens 
ein Bruchteil der alleinstehenden Arbeiter und Arbeiterinnen hat so 
eine billige, reinliche und gesunde Wohnung, ja vielleicht erst ein 
menschenwürdiges Dasein erhalten. Selbst bei den teuren Bodenpreisen 
der englischen Großstädte wird dabei noch eine genügende Verzinsung 
erzielt, während die Gegenleistung des Arbeiters im Verhältnis zu seinem 
Einkommen steht. Nur durch die Vereinigung vieler Räume in einem 
einzigen Hause ist es möglich, all diese Vorteile und Bequemlichkeiten 
zu so geringem Preise zu liefern. Vielfach wurden die Besitzer privater 
Logierhäuser dadurch zu wohltätiger Nacheiferung und Verbesserung 
ihrer Einrichtungen angespornt. 

Diejenigen Stellen, an denen zuerst das Bedürfnis nach Unter- 
bringung von Arbeitern, die außerhalb von Familien, eigenen oder 
fremden, zu übernachten gezwungen waren, sich fühlbar machte, sind 
neben den Großstädten namentlich die Bergwerke gewesen. Man ist auch 
hier, wo die Arbeiter aus meilenweilen Entfernungen zusammenkamen 
und nicht täglich nach ihrer Heimat zurückkehren konnten, an die Er- 
richtung von Schlafhäusern gegangen. Es mag deshalb hier die ge- 
nauere Schilderung eines solchen, das sich im Laufe der Zeit bewährt 
haben soll, folgen. 

In der Nähe der Grube Hasard bei Lüttich liegt das Arbeiter- 
hotel Louise; es bedeckt eine Bodenfläche von 1000 qm und faßt aufer 
dem Beamtenpersonal 200 Arbeiter. Es befinden sich in ihm ein Café, 
ein Erholungsraum für 100 Personen, Bäder,  Waschgelegenheit. 
Bibliothek etc. Die großen Schlafsäle sind durch 2,5 m hohe Scheide- 


Miszellen. 495 


wände in Zellen für 1—3 Personen geteilt: jeder Insasse hat ein eisernes 
Bett mit Strohsack, Seegrasmatratze, zwei Leintücher, zwei wollene 
Decken im Sommer, drei im Winter, einen Stuhl und einen Schrank zur 
Verfügung. Das Mobiliar jeder Zelle kostet 100 fr. Trotz strenger 
Hausordnung sollen die Insassen sehr zufrieden sein. Die drei Mahlzeiten 
erhält jeder Mann auf Bons, welche er für 14 Tage entnimmt. Die 
Ernährung soll vorzüglich sein, unter anderen werden mittags 125 g 
Fleisch verabreicht. Für 1 Frane 20 Centimes pro Tag erhält der 
Mann volle Nahrung in drei Mahlzeiten und ein Frühstück, welches er in 
der Grube verzehrt, Wohnung, Wäsche, besonders die seines Arbeits- 
anzuges. Das Reinigen der täglich frisch verabfolgten Wäsche geschieht 
mechanisch. — Dieses Hotel hat 180 000 fr. gekostet, es ist seit 1872 
eröffnet und gewöhnlich mit 200 Bergleuten belegt, teils Verheirateten, 
teils Junggesellen. Es hat sich so gut bewährt, daß 1875 ein zweites 
für 180 Arbeiter in gleichem Stil errichtet und zwischen diesen ein 
Arbeiterkasino zum Vergnügen und zur Zerstreuung der Bergleute er- 
baut wurde. 

In Deutschland sind es gleichfalls die Bergwerksbezirke, die 
zuerst mit Schlafhäusern ausgestattet worden sind. Allerdings scheint 
bier im allgemeinen keine große Neigung zu bestehen, das Schlafstellen- 
wesen aufzugeben. Wenigstens lagen 1890 von den 31814 ledigen 
Arbeitern der Hütten und Gruben Oberschlesiens trotz der Bemühungen 
der Verwaltungen in den Schlafhäusern nur 5,8 Proz., in Schlafstellen 
dagegen 27,6 Proz. und bei den Eltern 64 Proz.; von den 2974 Schlaf- 
stellen in Schlafhäusern waren nur 21683 belegt, d. h. ca. 80 Proz. 

Auch im Oberbergamtsbezirk Halle waren die mit Schlafhäusern 
gemachten Erfahrungen keine günstigen. So sind die größeren, 1873 
und 1874 auf den fiskalischen Braunkohlengruben bei Eggersdorf und 
Langenbogen erbauten Schlafhäuser nicht mehr in Gebrauch, und von den 
drei für 3—400 auswärtige Arbeiter bei Rüdersdorf errichteten waren 
1890 nur ein einziges und zwar mit 11 Maun belegt. Auch in Staßfurt 
beherbergte das für 100 Arbeiter erbaute Schlafhaus zu derselben Zeit 
nur 8 Mann. Dagegen sollen die auf den Privatwerken errichteten sehr 
einfachen Baracken, welche Kochgelegenheit zur Herstellung des eigenen 
Essens bieten, mehr gesucht sein. 

Die bedeutendsten Schlafhäuser, 9 an der Zahl mit 2414 Betten, 
besitzt die Mansfelder kupferschieferbauende Gewerkschaft, darunter 
eins mit 48 Betten für Mädchen. Trotz hygienisch vorzüglicher Ein- 
richtung, trotz Lesezimmer, Bibliothek, Kegelbahn etc. und trotz des 
geringen Preises von 5 Pfennig pro Tag im Sommer und 8 Pfennig im 
Winter für Wohnung, Licht und Feuerung, hat die Zahl der Benutzer 
so abgenommen, daß ein Teil dieser Bauten in Familienwohnungen um- 
gewandelt wurde. Die jungen Burschen lieben nun einmal nicht die 
strenge Hausordnung. 

In Westfalen, wo viele aus den östlichen Provinzen eingewanderte 
junge Leute beschäftigt werden, die vielleicht nur einmal jährlich nach 
Hause kommen, gibt es eine größere Reihe von Schlafhäusern, mit denen 
gleichzeitig eine Speisewirtschaft verbunden ist; zur Benutzung dieser 


496 Miszellen. 


besteht vielfach ein Zwang. Für dieses Gebiet liegen die umfassendsten 
Nachrichten in verschiedenen Denkschriften vor. Weitere Materialien 
liefert das Werk von Jäger über die Wohnungsfrage und das neue 
Handbuch der Arbeiterwohlfahrt. 

Die aus Anlaß der Düsseldorfer Ausstellung vom Verein für die 
bergbaulichen Interessen im Oberbergamtsbezirk Dort- 
mund herausgegebene Denkschrift über die Bergarbeiterwohnungen im 
Ruhrreviere zählt in diesem Reviere rund 26 000 im Besitz der Zechen 
befindliche Arbeiterwohnungen auf, in denen neben den Familien 
13649 ,Einlieger^ wohnen. Während die Unterbringung der Arbeiter- 
familien mit Sorgfalt und Erfolg gepflegt wird, kann über die Errichtung 
von Ledigenheimen nur wenig und Unbefriedigendes vermeldet werden. 
Ueber den Bau von Schlafhäusern und Menagen besagt die Denkschrift: 

Die unverheirateten Bergleute deutscher Nationalität ziehen eine 
Unterkunft in Familien der Unterbringung in Schlafhäusern vor; der 
Regel nach sind sie nur dort zum Bezug von Schlafhäusern oder Me- 
nagen zu bewegen, wo geeignete Unterkunft in Familien nicht zu er- 
halten ist. Fremde Arbeiter ohne Familie, besonders Polen und Italiener, 
geben dagegen vielfach dem billigeren Wohnen in Schlafhäusern und 
Menagen den Vorzug, namentlich den Schlafhäusern, wo sie für 2—3 M. 
monatlich wohnen und ihre Speisen sich selbst zubereiten können. Zur 
Zeit sind 14 Schlafhäuser, eingerichtet zur Unterbringung von ins- 
gesamt 500 Arbeitern, auf den Zechen des Ruhrkohlenreviers vor- 
handen. Von ihnen ist eins unbewohnt, während die anderen durchweg 
voll besetzt sind. Der Preis, welchen die Arbeiter hier zahlen, wechselt 
zwischen 1 und 5 M. monatlich, je nachdem lediglich Logis oder auch 
Licht und Brand gewährt und Kochherde nebst sämtlichen Hausgeräten, 
wie es seitens der Zeche Monopol geschieht, zur Verfügung gestellt 
werden. 

Weniger besucht, auch von fremden Arbeitern, sind die 20 vor- 
handenen Menagen, welche zusammen 1820 Arbeiter beherbergen und 
beköstigen können. Die Menagen der Zechen Prosper und Hansa, zur 
Aufnahme von 250 Arbeitern eingerichtet, stehen schon seit Jahren 
leer; die Menage der Zeche Hibernia war zur Zeit der Erhebungen nur 
mit 1 Mann, diejenige der Zeche Viktor mit 20 Mann besetzt, während 
die Einrichtungen für 96 und 120 Mann ausreichen. Eine größere An- 
zahl von Menagen ist wegen des anhaltend schlechten Besuches und 
anderer bervorgetretener Mißstände in Arbeiterwohnungen umgebaut. 
Die in den Menagen zu entrichtenden Sätze sind der Regel nach auf 
0,60 M. für Logis und Mittagessen, 0,80 M. für Logis, Mittag- und 
Abendbrot, 1 M. bis 1,30 M. für Logis und volle Pension einschließlich 
Instandhaltung der Leibwäsche bemessen. Bei einer Unterkunft in 
Familien stellt sich der Preis auf durchschnittlich 45 M. monatlich. 

Eine Verpflichtung zur Aufnahme von Kostgängern wird den In- 
habern von Mietswohnungen der Zechen nicht auferlegt. Die Aufnahme 
derselben bedarf der Regel nach in jedem Einzelfalle der Genehmigung 
der Zechenverwaltung und pflegt nur dann erteilt zu werden, falls es 
sich um nahe Anverwandte oder um Arbeiter der Zeche handelt. Bei 


Miszellen. 497 


Wohnungen mit einer besonders großen Zahl von Zimmern werden auch 
wohl in erster Linie diejenigen Arbeiter berücksichtigt, welche zur 
Aufnahme eines oder mehrerer auf der Zeche arbeitender Kostgänger 
geneigt sind. 

Umfassendes Material bietet die gleichfalls anläßlich der Düssel- 
dorfer Ausstellung und des 6. internationalen Wohnungskongresses vom 
Rheinischen Verein zur Fürderung desArbeiterwohnungs- 
wesens herausgegebene Festschrift. Sie hat auch die Aufmerksam- 
keit der Minister auf sich gelenkt. Der preußische Handelsminister und 
der Minister des Innern haben sie den sämtlichen Regierungspräsidenten 
übersandt und in ihrem Begleiterlaß auch ausdrücklich auf die Pflege 
der Ledigenheime hingewiesen. In dem Erlaß hieß es: „Besondere Be- 
achtung verdienen ferner die Darlegungen über die in der Rheinprovinz 
und in Westfalen begründeten Arbeiterheime für unverheiratete Per- 
sonen, die eine wichtige Ergänzung der polizeilichen, auf eine Regelung 
des Abmieter-, Kost- und Quartiergängerwesens gerichteten Maßnahmen 
bilden und vornehmlich geeignet erscheinen, den mit diesem verbun- 
denen Uebelständen erfolgreich entgegenzutreten.^ Die Regierungs- 
präsidenten wurden aufgefordert, zu erwägen, inwieweit ein Vorgehen 
nach den gleichen Richtungen auch für ihren Bezirk wünschenswert 
erscheint, und gegebenen Falls durch geeignete Anregungen auf ein solches 
hinzuwirken. 

Aus dieser Denkschrift heben wir die folgenden bemerkenswerten 
Mitteilungen über die Errichtung von Ledigenheimen im rheinisch- 
westfälischen Industriegebiete hervor: 

In Rheinlaud-Westfalen bestehen 9 katholische Arbeiterheime mit 
ca. 800 Betten, darunter das große und trefflich organisierte katholische 
Arbeiterinnenhospiz in M.-Gladbach, welches für 120—130 Personen 
Raum gewährt. Unter evangelischer Leitung stehen 4 Heime für 
Arbeiterinnen, drei in der Rheinprovinz und eins in Westfalen, das 
älteste davon seit 1869 in Barmen. Ferner sind zu nennen das Lydia- 
heim zu Elberfeld (für Arbeiterinnen) und das Mädchenheim zu Hagen, 
welches Mädchen aller Berufsarten Wohnung bietet. 

Die Gesellschaft für Volkswohlfahrt zu Duisburg-Hochfeld hat im 
Jahre 1898 ein Arbeiterhospiz, verbunden mit Vereinshaus, errichtet. 
Die Anstalt repräsentiert einschließlich Inventar einen Wert von 320 000 
Mark. Es sind 50 Betten vorhanden. Für Wohnung und Verpflegung 
sind per Tag 1,50 M. zu zahlen. Das Evangelische Vereinshaus zu 
Meiderich, welches mit Arbeiterheim, christlichem Hospiz und Herberge 
zur Heimat verbunden ist, gewährt Personen beiderlei Geschlechtes 
Unterkunft. Die Zahl der Betten beträgt 82, die durchschnittliche 
Belegung per Tag stellt sich auf 72. Für Wohnung sind per Tag 
1,290 bis 1,60 M., für Verpflegung 0,90 bis 1 M. zu zahlen. Erwähnens- 
wert ist ferner das Arbeiterheim St. Josefshaus zu Essen (Ruhr), dessen 
Wert sich einschließlich Inventar auf 275 000 M. stellt und in welchem 
85 Betten vorhanden sind. Das im Jahre 1892. errichtete Heim war 
bisher stets voll besetzt, nur in letzter Zeit, wahrscheinlich im 
Zusammenhang mit der niedergehenden Konjunktur, war die Belegung 

Dritte Folge Bd. XXV (LXXX). 32 


498 Miszellen. 


etwas geringer. Der Preis für Wohnung und Verpflegung stellt sich 
auf 1,50 M. per Tag. Das mit einem Kostenaufwande von ca. 100 000 
Mark erstellte Marienhospiz zu Aachen wurde im Jahre 1895 ins Leben 
gerufen. Dasselbe umfaßt neben verschiedenen anderen Wohlfahrts- 
einrichtungen (Haushaltungs- und Kleinkinderbewahrschule u. s. w.) 
eine Herberge für Fabrikarbeiterinnen, welche sonst — wie es in dem 
Statut des Hospizes heißt — in Fabrikräumen und Lagerhäusern zu 
nächtigen pflegen. Auch werden elternlose einheimische Mädchen gern 
aufgenommen. Die Verwaltung liegt in der Hand des aus 6 angesehenen 
Damen bestehenden Kuratoriums. Die unmittelbare Leitung aller in 
der Anstalt befindlichen Wohlfahrtseinrichtungen wird durch eine weib- 
liche Ordensgenossenschaft besorgt, deren Oberin in Gemeinschaft mit 
der Vorsitzenden des Kuratoriums alle die häusliche Disziplin betreffen- 
den Angelegenheiten regelt. Das ganze Unternehmen ist von dem Be- 
sitzer der St. Josefskirche als milde Stiftung überwiesen worden mit 
der Bedingung, daß die Verwaltung durch das bisherige Kuratorium 
auch fernenhin geführt werde. In dem Hospiz sind 55 Betten vor- 
handen, welche stets sämtlich belegt sind. Der Preis für die Nächtigung 
beträgt wöchentlich 60 Pfg., für Verpflegung einschließlich Wäsche per 
Tag 0,80. Die Aktiengesellschaft für gemeinnützige Bauten in Benrath 
hat neben einer bedeutenden Anzahl von Familienwohnungen auch ein 
sehr gut eingerichtetes Logier- und Speisehaus für Arbeiter mit einem 
Kostenaufwande von 233000 M. erbaut. Die Anstalt enthält 220 Betten 
und ist mit Badeeinrichtung (Einzelzellen und Schwimmbassin) und mit 
einem Dampfwaschapparat behufs Reinigung der Wäsche der Haus- 
insassen versehen. In nächster Zeit soll auch eine Bibliothek mit Lese- 
zimmer eingerichtet werden, auch ist die Anschaffung eines Billards 
ins Auge gefaßt, um die Bewohner noch mehr an das Haus zu fesseln 
und es ihnen angenehm zu machen. Es sind per Wohnung 30 und für 
Verpflegung 65 Pfg. per Tag zu zahlen. Daß die Anstalt bei diesen 
niedrigen Sätzen und wenn die Frequenz der Zahl der vorhandenen 
Betten nicht entspricht, sich nicht selbst erhalten kann, liegt auf der 
Hand. Es werden deshalb alljährlich von den an der Gesellschaft be- 
teiligten industriellen Werken Zuschüsse nach der Zahl der leerstehen- 
den Betten geleistet. 

Von Arbeitgebern ist in umfassender Weise für die Unterkunft 
ihrer unverheirateten Arbeiter gesorgt worden, einerseits, weil für letztere 
in angemessener Entfernung von der Arbeitsstätte anderweit kein Unter- 
kommen zu beschaffen war, andererseits aber auch, um dem für viele 
Familien schon so verderblich gewordenen Kostgängerwesen möglichst 
zu Steuern. Die von der Firma Krupp in Essen eingerichtete Menage 
ist mit etwa 500 Arbeitern belegt. Die Mahlzeiten werden gemein- 
schaftlich in dem großen Speisesaal eingenommen, außerdem dienen be- 
sonders möblierte Zimmer, in welchen Zeitungen ausliegen, dem ge- 
meinsamen Aufenthalt. Die Menage enthält auch eine kleine Bibliothek, 
ein Billard und ein Kegelspiel zur Benutzung durch die Arbeiter. Für 
die Menage gilt eine Hausordnung, welche auch die hygienische Er- 
ziehung der Arbeiter und die Gewöhnung derselben an Ordnung und 


Miszellen. 499 


Pünktlichkeit anstrebt. Jeder über 16 Jahre alte Arbeiter zahlt für 
Logis und Beköstigung pro Tag 80 Pfg., jeder unter 16 Jahre alte 
Arbeiter 60 Pfg. pro Tag. Die Firma hat ferne 2 Logierhäuser für 
besser gestellte Facharbeiter mit höheren Sätzen für Wohnung und 
Verpflegung eingerichtet. Die Verwaltung dieser Logierhäuser ist nach 
dem Wunsche ihres Gründers — des jüngst verstorbenen Firmeninhabers 
— den Mitgliedern auf möglichst freier Grundlage selbst 
überlassen. Die Mitglieder sollen als eine Familie betrachtet werden, 
deren aus ihrer Mitte gewählter Vertreter mit der Kruppschen Wohnungs- 
verwaltung zu verhandeln hat und der verantwortlich ist für alles, so- 
weit ein Familienoberhaupt der Wohnungsverwaltung gegenüber ver- 
antwortlich gemacht werden kann. Der Mietpreis beträgt für ein 
Einzelzimmer 10 M. monatlich, für ein mit 2 Betten belegtes Zimmer 
8M. pro Person. Für Kost werden 1,25 M. pro Tag berechnet. 

Ueber die Einrichtungen bei Krupp liegen an anderen Stellen aus- 
führlichere Mitteilungen vor. Im Handbuch der Arbeiterwohlfahrt finden 
sich auch Grundrisse der betreffenden Gebäude Auf der Kolonie 
Schederhof sind Logierhäuser für ledige Facharbeiter errichtet, die allen 
Komfort enthalten, um die jungen Arbeiter zur Weiterbildung anzuregen 
und sie von allzu frühem Heiraten abzuhalten. So ein Gebäude enthält 
außer den Logierzimmern für 30 Mann, teils einzeln, teils zu zweien in 
einem Zimmer, ein größeres Arbeitszimmer, einen Speisesaal, Waschraum, 
Putzzimmer, Badezimmer, Wohnung für den Verwalter, Küche etc. 

Die Firma Johann Wülfing & Sohn hat für die in ihrer Kamm- 
garnspinnerei zu Lennep beschäftigten Mädchen im Jahre 1886 ein 
Mädchenheim errichtet und dasselbe im Jahre 1898 durch einen Neu- 
bau erweitert, so daß dasselbe jetzt für 168 Arbeiterinnen Raum bietet. 
Die Aufnahme ist freiwillig. Zur Beaufsichtigung ist eine Vorsteherin 
angestellt, die auch allabendlich den Mädchen Unterricht im Stricken, 
Nähen und Flicken für eigenen Bedarf an Kleidungsstücken und Leib- 
wäsche erteilt. Für Wohnung und volle Beköstigung hat jede Arbeiterin 
über 16 Jahre täglich 60 Pfg. und jede Arbeiterin unter 16 Jahre 
50 Pfg. zu zahlen, welche Beträge an jedem Lohntage vom Lohne ab- 
gehalten werden. Für die Aufrechterhaltung der Ordnung ist eine be- 
sondere Hausordnung erlassen. Auch für alleinstehende männliche Ar- 
beiter hat die genannte Firma in ihrem Männerheim eine Heimstätte 
geschaffen, die zur Aufnahme von 45 Personen eingerichtet ist. An 
Kostgeld sind hier von Arbeitern über 16 Jahre 80 Pfg., von Arbeitern 
unter 16 Jahren 60 Pfg. täglich zu entrichten. Erwähnenswert ist auch 
das von der Firma Fr. Karcher & Co. in Beckingen a.d. Saar im Jahre 
1888 errichtete Arbeiterheim nebst Speiseanstalt, welches 100 Arbeitern 
Unterkunft gewährt, aber demnächst für 200 eingerichtet werden wird. 
Der Preis für den Aufenthalt im Hause beträgt monatlich 1 M., ebenso 
ist für Kaffee morgens und nachmittags pro Monat 1 M. zu bezahlen. 
Das Mittagessen kostet pro Tag 20 Pfg, das Abendessen 10 Pfg. 
Außerdem hat die genannte Firma vor einigen Jahren ein Mädchenheim 
erbaut, das unter Leitung von Schwestern steht. Die Preise für Woh- 
nung und Aufenthalt sind dieselben wie im Männerheim. 


32* 


500 Miszellen. 


In dem Arbeiterinnenheim der Ravensberger Spinnerei in Bielefeld 
sind gegenwärtig etwa 120 Arbeiterinnen in 29 Stuben untergebracht. 
Im allgemeinen bewohnen immer 4 Mädchen ein Zimmer, dabei wird 
hinsichtlich der Verteilung der Räume in der Weise verfahren, dal 
möglichst befreundete oder bekannte Mädchen zusammen bleiben, wo- 
durch nicht nur Anlaß zu Streitigkeiten vermieden wird, sondern auch 
die Insassen der Räume sich wohler und heimischer fühlen. Die mehr 
als 1,45 M. verdienenden Arbeiterinnen zahlen für Kost und Wohnung 
zweiwöchentlich 9 M., die weniger verdienenden 8,25 M. Bettwäsche 
und Handtücher werden von der Spinnerei geliefert. 

Die Firma Joh. Wilh. Scheidt in Kettwig hat ein Mädchenheim 
errichtet, welches 60 Personen Raum bietet. Dasselbe liegt mitten in 
einem Baumhof. Für Wohnung und Beköstigung zahlen die Mädchen 
70 Pfg. pro Tag. Nach der bestehenden Hausordnung hat jede Arbeiterin 
ihr Bett kurz nach dem Aufstehen selbst zu machen, die Reinigung der 
Zimmer wird von den Bewohnerinnen abwechselungsweise besorgt. Die 
Firma Villeroy & Boch in Mettlach errichtete im Jahre 1870 eine große 
Schlaf- und Speiseanstalt und vertraute deren Leitung katholischen 
Ordensschwestern an. In dieser Anstalt finden gegenwärtig etwa 350 
Mädchen und 80 Knaben Kost und Wohnung. Es sind dies meist 
Personen, deren Familien auf den umliegenden Dörfern wohnen; die 
Entfernungen sind jedoch zu groß, als daß die Leute des Abends nach 
Haus gehen könnten, so daß dieselben nur die Sonntage in der Familie 
verbringen. Der Preis für die tägliche Beköstigung beträgt 45 Die, 
außerdem wird ein Schlafgeld von 10 Pfg. erhoben, welches aber den- 
jenigen, die weniger als 1 M. pro Tag verdienen, erlassen wird. Eine 
weitere von der Firma errichtete Anstalt enthält mehrere mit je 12 Betten 
versehene Schlafsäle und dazu für je 2 solcher Säle ein gemeinschaft- 
liches Speise- und Wohnzimmer. In diesen Räumen wirtschaften kleine 
Gesellschaften für eigene Rechnung mit einer von ihnen angestellten 
und bezahlten Haushälterin. Jeder Mann hat für Benutzung dieses 
Schlafhauses einschließlich Reinbaltung des Bettes 10 Pfg. zu zahlen. 
Die Firma Schoeller, Bücklers & Co. zu Düren (Flachsspinnerei) hat 
bereits im Jahre 1857 Logierhäuser für Arbeiter und Arbeiterinnen 
errichtet. Bei 461 Betten beträgt die Durchschnittsbelegung 399 pro 
Tag. Die Brüggener Aktiengesellschaft für Tonwarenindustrie zu 
Brüggen (Rhld.) hat die in der Fabrik beschäftigten ca. 100 Wander- 
arbeiterinnen in einem mit allen Bequemlichkeiten der Neuzeit ein- 
gerichteten Pflegehause untergebracht. Die Firma Basse & Selve in 
Altena besitzt ebenfalls ein Arbeiterheim, dessen Belegschaft von 250 
allmählich auf etwa 150 Köpfe herabgegangen ist, teils weil der Bedarf 
an Arbeitern aus der näheren Umgebung des Werkes gedeckt werden 
konnte, teils weil viele auswärtige Arbeiter ihre Familien nachkommen 
ließen. Ein früher vorhandenes Arbeiterinnenheim ist im Jahre 1891 
aus ähnlichen Gründen gänzlich aufgehoben worden. 

Von Arbeitgebern, welche Arbeiter- oder Arbeiterinnenheime, zum 
Teil mustergiltiger Art, besitzen, zählt die Denkschrift noch über 30 
auf, darunter in den Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co., Elber- 


Miszellen. 501 


feld, ein Junggesellenheim in Leverkusen für durchschnittlich 200 Per- 
sonen (Schlafgeld 30 Pfg., volle Verpflegung für 1 M.); in dem Port- 
land-Cementwerk, Wesel, ein sehr gut eingerichtetes Unterkunftshaus 
für 200 Arbeiter; im Westdeutschen Eisenwerk ein Arbeiterheim für 
150 Personen mit Speisesaal, Lesesülen, 4 Waschräumen u. s. w.; 
Friedrich-Wilhelmshütte, Mülheim a. d. Ruhr, und Gutehoffnungshütte, 
Oberhausen: Arbeiterkasernen für 80 bezw. 1000 einzelstehende Arbeiter; 
Kammgarnspinnerei Eitorf: Mädchenheim, Frequenz durchschnittlich 50 
Personen (Preis für Aufenthalt und volle Bekóstigung etwa 57 Die 
vortrefflich eingerichtet); Königl. Geschoßfabrik, Siegburg: für allein- 
stehende männliche Arbeiter (Zahlung für Beleuchtung, Heizung, Wäsche 
u. s. w. 14 Pie pro Tag); Gebr. Stumm, Neunkirchen: Schlafhäuser 
mit 772 Betten; Dillinger Hüttenwerk, Diilingen: Schlafhaus mit 120 
Betten nebst Menage (in der Morgenkaffee für 3 Die, Mittagessen für 
30 Pfg. abgegeben wird); Schalker Gruben- und Hüttenverein, Gelsen- 
kirchen: 2 Logierhüuser für je 150 Arbeiter. 

Auf den Zechen des Ruhrkohlenreviers sind nach den 
Angaben der Festschrift zum VIII. deutschen Bergmannstag in Dortmund 
1901 gegenwärtig 14 Schlafhäuser zur Unterbringung von insgesamt 
500 Arbeitern vorhanden. Ferner bestehen 20 Menagen, welche zu- 
sammen 1820 Arbeiter beherbergen und bekóstigen kónnen, doch sind 
dieselben nicht voll besetzt. In den Menagen sind in der Regel zu 
zahlen 0,60 M. für Logis und Mittagessen, 1—1,30 M. für Logis 
und volle Pension einschließlich Instandhaltung der Leibwäsche. 

Die neueren Menagen sind in jeder Beziehung zweckentsprechend 
eingerichtet und gewähren den Bergleuten eine durchaus behagliche 
und dabei billige Unterkunft. Erwähnt sei hier nur die auf der der 
Harpener Bergbauaktiengesellschait gehörigen Zeche Gneisenau bei 
Herne bestehende Menage, welche 200 Personen aufnehmen kann. In 
dieser erhält jeder Arbeiter sein besonderes heizbares und elektrisch 
beleuchtetes Zimmer. Lese- und Schreibzimmer, sowie gute Bücher und 
Zeitungen stehen zur Verfügung. Es wird warmes Mittag- und Abend- 
essen, beides mit Fleisch, verabreicht; Kaffee, Brot und Butter erhalten 
die Leute zum Selbstkostenpreis Der Preis für Wohnung und Ver- 
pflegung beträgt 27—30 M. monatlich. 

Auf fast allen fiskalischen Kohlengruben des Saarreviers sind 
für diejenigen Bergleute, denen es wegen zu großer Entfernung ihrer 
Wohnungen nicht möglich ist, während der Woche nach Hause zu 
gehen, Schlafhäuser eingerichtet, in denen nach der gehaltenen Umfrage 
gegenwärtig ca. 4000 Personen Unterkunft finden. Die Schlafhäuser 
sind meist mit Zentralheizung, Dampfküche, Dampfwaschanstalt, Wasch- 
und Unterhaltungsräumen ausgestattet. Der Mietspreis für eine Schlaf- 
stelle beträgt monatlich 2 M., wofür Bett mit Bettwäsche, Schrank, 
Handtuch, Heizung und Beleuchtung gewährt wird. Für die Unter- 
haltung der Schlafhäuser leistet der Bergfiskus namhafte Zu- 
schüsse, so beispielsweise für die 8 Schlafhäuser der Königl. Berg- 
inspektion Dudweiler, die mit ca. 1000 Arbeitern belegt sind, 25 000 
bis 30000 M. im Jahr. 


502 Miszellen. 


Außer den vorstehend aufgeführten sind auch sonst noch von 
Arbeitgebern in Rheinland und Westfalen zahlreiche Unterkunftsräume 
für unverheiratete Arbeiter geschaffen worden. In besonders umfang- 
reichem Maße ist dies — soweit dies die angestellten Erhebungen er- 
kennen lassen — geschehen im Kreise Neuwied für die in den dort 
befindlichen zahlreichen Schwemmsteinfabriken und Ziegeleien beschäf- 
tigten Wanderarbeiter sowie in den Kreisen Saarbrücken, Ottweiler und 
St. Wendel. 

Der vorübergehenden Beherbergung ortsfremder, zuziehender 
oder wandernder Arbeiter dienen die Herbergen zur Heimat, Volks- 
gasthäuser auf christlicher Grundlage mit christlicher Hausordnung, 
ohne Trinkzwang und mit Ausschluß des Branntweins. Die Anregung 
zur Gründung solcher Herbergen ging von dem Professor Clemens 
Perthes in Bonn aus. Die 29 Herbergen zur Heimat in Westfalen mit 
338 Betten haben im Jahre 1900 139141 durchwandernde Personen in 
203333 Nächten verpflegt, daneben aber auch 2609 Kostgänger in 
57128 Nächten. Außerdem haben sie als Verpflegungsstationen mehrere 
Tausend Personen in 57833 Nächten verpflegt und zugleich 14352 
Arbeitsstellen vermittelt. In Rheinland gibt es 32 Herbergen zur 
Heimat mit ca. 1340 Betten. Im Jahre 1898 logierten in den rheini- 
schen Herbergen als Durchreiseude 178 035 Personen in 239879 Nächten, 
als Kostgänger 959 in 36 175 Nächten. 

Von seiten der katholischen Gesellenvereine wird in der Be- 
herbergung zugereister Handwerker und Arbeiter ebenfalls Hervor- 
ragendes geleistet. Von den in Rheinland und Westfalen bestehenden 
Vereinen haben 83 eigene sogenannte Gesellenhäuser. In denselben 
finden Durchreisende für eine Nacht frei Logis, Abendbrot und Morgen- 
imbiß, damit sie sich nach Arbeit umsehen können. Folgt auf den Tag 
der Zureise ein Sonn- oder Festtag, so wird in der Regel auch freies 
Mittagessen gewährt. Die in den Häusern für längere Zeit wohnenden 
zahlreichen Gesellen zahlen 1,20—1,40 M. per Tag für Kost und 
Logis. In den meisten Vereinshäusern befindet sich eine Bibliothek, 
in einigen, wie z. B. in Coesfeld, ist ein Volksbureau eingerichtet. 
Sämtliche Vereinshäuser führen Arbeitsnachweise und es erfragen dort 
die Meister ihre Gesellen. Die gemachten Aufwendungen sind bedeutend; 
sie betragen beispielsweise in Duisburg ca. 50000 M., in Münster 
und Ruhrort ca. 40000 M. in Bocholt 20000 M.  Dieselben werden 
bestritten durch das Kostgeld, die Beiträge der Vereinsmitglieder 
und Wohltäter. Letztere, unter dem Namen Ehrenmitglieder, sind bei 
jedem Verein namentlich aus dem Kreise der Handwerksmeister zahlreich 
vertreten. Diejenigen Vereine, welche eigene Häuser nicht besitzen, 
sorgen für ein freies Nachtlogis. 

Für andere Landesteile finden diese Mitteilungen ihre Ergänzung 
in der für die Pariser Weltausstellung 1900 im Auftrage des Gruppen- 
vorstandes der deutschen Untergruppen für soziale Wohlfahrtspflege 
von Professor Albrecht herausgegebenen Schrift über „Soziale Wohl- 
fahrtspflege in Deutschland*. Sie berichtet über die in Deutschland 
vorhandenen Lehrlings- und Gesellenherbergen: 


Miszellen. : 503 


Die Zahl der Heimstätten, die den Lehrlingen nicht nur die Unter- 
kunftsräume für das Zusammensein in der arbeitsfreien Zeit, sondern 
auch einen Ersatz für die privaten Schlafstellen mit ihren auf der Hand 
liegenden Gefahren bieten, ist bedauerlicherweise eine zu der Zahl 
der Fürsorge bedürftigen in gar keinem Verhältnis stehende. Die 
Statistik des Zentralausschusses für innere Mission weiß nur von acht 
Lehrlingsheimen, in denen heimatfremden Lehrlingen Wohnung und 
Kost geboten wird. Das älteste ist die 1867 begründete Lehrlings- 
herberge des Jugendvereins in Stuttgart, die 130 jungen Leuten Platz 
bietet. Diesem reihen sich unter anderem die Lehrlingsheime des Stadt- 
vereins für innere Mission in Leipzig, der Verein Volkswohl in Dresden, 
die Herberge zur Heimat in Magdeburg, dés evangelischen Vereins in 
Hannover an. Ebensowenig zahlreich sind die entsprechenden Ein- 
richtungen der katholischen Charitas; in Köln bestehen zwei Heime: 
das von dem Verein für jugendliche Arbeiter unterhaltene St. Joseph- 
Asyl, das neben Handwerkslehrlingen auch jugendliche Fabrikarbeiter 
beherbergt, und das von dem Verein für katholische Handwerkslehrlinge 
errichtete Hermann Joseph-Haus, ausschließlich für Handwerkslehrlinge 
bestimmt. Ein drittes Heim in Aachen steht in keinem Zusammenhange 
mit den vier dort befindlichen Jugendvereinen. Endlich ist noch das 
1897 eröffnete Lehrlingsheim des Vereins „Lehrlingsschutz“ in München 
zu nennen, das für etwa 70 junge Leute Platz bietet. Hier reihen sich 
ferner einige Fabrikheime an, deren Zahl indessen ebenfalls hinter 
der der entsprechenden Einrichtungen für die weibliche Jugend weit 
zurückbleibt. 

In erheblicherem Umfange als die Jugend- und Lehrlingsvereine 
haben sich die katholischen Gesellenvereine die Errichtung von Herbergen 
angelegen sein lassen. Hier dürfte vor allem das Bestreben, auch den 
auf der Wanderschaft befindlichen Mitgliedern vorübergehend Unter- 
kunft gewähren zu können, maßgebend gewesen sein. In den größeren 
Vereinshäusern der Gesellenvereine finden fast durchweg auler einem 
Teil der am Orte in Arbeit stehenden auch wandernde Mitglieder Kost 
und Herberge. So enthält z. B. das Vereinshaus des katholischen 
Zentralgesellenvereins in München, das in erster Linie Vereinszwecken 
dient, 34 Zimmer mit 86 Betten für ortsangehörige Mitglieder, daneben 
aber 4 Zimmer mit 25 Betten für Zugereiste, die beiden Hospize des 
Gesellenvereins in Köln 260 Betten, von denen in der Regel 50 mit 
Durchreisenden belegt sind, die beiden Hospize in Düsseldorf etwa 250 
Betten, die ebenfalls zu einem Teil für Ortsfremde reserviert sind. 
Auch der evangelische Jugendverein in Stuttgart unterhält im Anschluß 
an das erwähnte Lehrlingsheim ein Kost- und Logierhaus für Gesellen. 
— Von den zu den Schöpfungen der inneren Mission der evangelischen 
Kirche Deutschlands gehörenden Herbergen zur Heimat und Ver- 
pflegungsstationen wird weiter unten in anderem Zusammenhange die 
Rede sein. 

Dieselbe Quelle berichtet über Wohnung und Unterkunft für 
einzelstehende Arbeiter überhaupt, daß für alleinstehende 
Erwachsene noch sehr viel weniger getan ist als für die Jugend- 


504 z Miszellen. 


lichen. Lokale Verordnungen haben zwar versucht, die gröbsten Mil- 
stände des Schlafstellenwesens zu beseitigen, unter anderen durch Vor- 
schriften über den Mindestluftraum der an Schlafleute abvermieteten 
Räume, durch das Verbot der gleichzeitigen Beherbergung von Personen 
verschiedenen Geschlechts und andere Bestimmungen, die aber zum Teil 
mangels der schwer durchführbaren Kontrolle, zum Teil deshalb ‘ihren 
Zweck verfehlen, weil die strenge Durchführung zahllose Individuen 
ganz obdachlos machen würde. Man steht hier noch vor einem un- 
gelösten Problem, denn auch die wenigen Einrichtungen, die einen Ver- 
such der Lösung durch positive Maßnahmen angebahnt haben, kommen 
gegenüber der Größe des Notstandes kaum in Betracht. Zu einem 
wesentlichen Teil trägt hierzu auch die Abneigung des erwachsenen 
männlichen Arbeiters bei, sich dem Zwange einer Hausordnung zu fügen, 
ohne die geschlossene Anstalten zur Beherbung vieler nicht gedacht 
werden können. 

Unter den wenigen von Vereinen unterhaltenen Logierhäusern für 
Erwachsene nimmt die hervorragendste Stelle das gleichzeitig Zwecken 
des Arbeiterbildungsvereins dienende „Arbeiterheim“ des Vereins für 
das Wohl der arbeitenden Klassen in Stuttgart ein. Für die Unter- 
bringung einzelstehender Arbeiter sind in 4 Stockwerken 125 vollständig 
eingerichtete Zimmer vorhanden, von denen 25 zum Alleinbewohnen 
bestimmt, 100 mit je 2 Betten ausgerüstet sind. Die Einzelwohnungen 
kosten 2—3 M., die Zimmer mit 2 Betten 1,20—1,60 M. pro Person 
und Woche. Das Haus ist stets gut besetzt, und der Wechsel der 
Bewohner ein verhältnismäßig geringer. Ferner unterhält der Verein 
für Volkskaffeehallen in Hamburg in Verbindung mit einer Volksküche 
ein Logierhaus von 400 Betten für männliche Logiergäste Die Zimmer 
enthalten 1 und 2 Betten; der Mietpreis beträgt 3,50, bezw. 5 M. pro 
Woche. Auch die Volkskaffee- und Speisehallen-Gesellschaft in Berlin 
hat das Hinterland eines ihrer Grundstücke zur Einrichtung eines Logier- 
hauses zu 50 Betten in Zimmern zu 2, 4 und 6 Betten ausgenützt. 
Wir kommen darauf noch ausführlich zurück. 

Abweichend von dem System der Unterbringung der ledigen 
Arbeiter in besonderen Kosthäusern, hat die Kaiserliche Torpedowerk- 
statt in Friedrichsort, die eine größere Zahl unverheirateter Arbeiter 
beschäftigt, bei dem Bau ihrer Arbeiterwohnhäuser darauf Rücksicht 
genommen, dab eine genügende Anzahl von der eigentlichen Familien- 
wohnung abgetrennter Einzelzimmer vorhanden ist, die an alleinstehende 
Leute abvermietet werden können. Andere Räume, als die für diesen 
Zweck bestimmten, dürfen nicht vermietet werden, und diese letzteren 
nur an eine, höchstens an zwei Personen. 

Die fürsorgliche Bekämpfung der Uebelstände, die sich in fast noch 
größerem Umfange als bezüglich der Ortsanwesenden bei der vorüber- 
gehenden Beherbergung ortsfremder, zuziehender oder wandernder 
Arbeiter geltend machen, liegt zum wesentlichen Teil in der Hand 
konfessioneller Vereinigungen. Namentlich sind es — von den 
katholischen Gesellenvereinen ist an anderer Stelle die Rede ge- 
wesen — die als eine Schöpfung der evangelischen inneren Mission 


Miszellen. i 505 


zu betrachtenden Herbergen zur Heimat, die hier in Betracht kommen. 
Die Herbergen zur Heimat sind Volksgasthäuser auf christlicher 
Grundlage, mit christlicher Hausordnung, ohne Trinkzwang und mit 
Ausschluß des Branntweins. Sie wollen, ohne daß allerdings dieser 
Zweck durchgehends erreicht würde, nicht Unterkunftsstätten für die 
eigentlich vagabondierende, auf die Wohltätigkeit reflektierende Klasse 
von Wanderern sein, sondern gewähren Unterkunft in der Regel nur 
gegen Entgelt. Die meisten der grófleren Herbergen zur Heimat er- 
halten sich selbst, die kleineren werden dureh einmalige oder laufende 
Beiträge von einzelnen Wohltätern, Herbergsvereinen, Kreis- und Stadt- 
zuschüssen, sowie Teilbeträgen von provinziell erhobenen Kirchen- 
kollekten erhalten. Die Hausväter der Herbergen sind zum Teil in 
Bruderhäusern vorgebildet. Einen der wichtigeren Nebenzweige ihrer 
Tätigkeit bildet der Arbeitsnachweis; ein großer Teil der bestehenden 
Herbergen zur Heimat steht mit Naturalverpflegungsstationen in Ver- 
bindung. Die Zahl der über ganz Deutschland verbreiteten Her- 
bergen zur Heimat betrug zum Schluß des Jahres 1897 465. Ihre 
Zentralisation finden diese Bestrebungen in dem 1883 begründeten 
Deutschen Herbergsverein mit dem Sitz in Bielefeld, der 14 Pro- 
vinzial- und Landesverbände umfaßt. Zu erwähnen sind unter anderen 
die Herberge des Vereins für kirchliche Zwecke in Berlin, der die 
erste Herberge zur Heimat im Jahre 1853 ins Leben rief, ferner 
die Herbergen in Leipzig, Hameln und Meiderich. 

In umfassender Weise sorgt die Königlich preußische Eisenbahn- 
verwaltung für das Fahrpersonal, welches genötigt ist, außerhalb seines 
Heimatsortes zu übernachten oder längere Zeit zuzubringen, durch 
wohnlich eingerichtete Uebernachtungs- und Unterkunftsräume auf den 
Bahnhöfen. — 

Wie in den obigen Mitteilungen erwähnt, ist stellenweise durch 
lokale Verordnungen der Versuch gemacht worden, den ärgsten 
Schäden des Schlafstellenwesens zu begegnen. Eine Reihe von preuli- 
schen Regierungsbezirken, sowie eine Anzahl von Einzelstaaten sind mit 
Polizeiverordnungen vorgegangen. Unter den ersteren sind die Regierungs- 
bezirke Arnsberg, Düsseldorf, Oppeln, Minden und Lüneburg zu er- 
wähnen, unter den letzteren Baden, Hessen und Braunschweig. Ge- 
fordert wird im allgemeinen ein Luftraum von 10 cbm pro Person bei 
3 qm Bodenfläche und 2,80 m Höhe, Trennung der Geschlechter, Abort 
für je 20 Personen, gute Erleuchtung, Lüftbarkeit, Anzeigepflicht von 
Zahl und Geschlecht der Schlafleute und Länge, Breite und Höhe der 
Schlafräume. Diese Polizeiverordnungen sind wenigstens imstande, den 
allerschlimmsten Uebelständen abzuhelfen. 

Auf dem Wege der Gesetzgebung ist dagegen auf diesem 
Gebiete noch sehr wenig geleistet. Die Beispiele, in denen Versuche 
dieser Art unternommen worden sind, beschränken sich bisher auf eine 
recht geringe Zahl und auch inhaltlich auf einen bescheidenen Umfang. 
Das neueste Beispiel ist ein unterm 22. Juli 1902 publiziertes „Gesetz, 
betreffend die Wohnungspflege in der Stadt Lübeck und deren Vor- 
städten“, das von Senat und Bürgerschaft der Freien und Hansastadt 


506 Miszellen. 


Lübeck erlassen ist; es enthält eine Reihe bemerkenswerter Bestim- 
mungen über das Schlafstellenwesen, und zwar in folgenden Paragraphen: 

$ 10. Die Vermietung einzelner Teile einer Wohnung ist nur ge- 
stattet, sofern 

a) dem Vermieter mindestens ein verschließbarer und heizbarer, 
am unmittelbaren Licht liegender Raum zur ausschließlichen Be- 
nutzung verbleibt und 

b) sowohl in Bezug auf die dem Vermieter verbleibenden als auch 
in Bezug auf die dem Mieter zugewiesenen Räume den durch $ 8 
bestimmten Mindestanforderungen an Luftraum für Schlafräume ge- 
nügt ist. 

$ 11. Diejenigen, welche anderen Personen in ihren Räumen eine 
Schlafstelle gewähren, sind gehalten, einer jeden Person ein be- 
sonderes Bett und mindestens für zwei Personen ein Wasch- und Trink- 
geschirr zur Verfügung zu stellen. Bett und Geschirr sind täglıch in 
Ordnung zu bringen und sauber zu unterhalten. Die mit Einlogierern 
belegten Räume sind vom Quartiergeber tunlichst täglich 1—2 Stunden 
zu lüften, täglich besenrein zu halten, die Fußböden sind mindestens 
einmal wöchentlich zu scheuern und die Räume jährlich zweimal, tun- 
lichst nach Entfernung sämtlicher Möbel, von Grund aus zu reinigen. 

Im übrigen wird das Einlogiererwesen besonderer polizeilicher 
Regelung vorbehalten. 

Die Kontrolle wird durch eine Behörde für Wohnungspflege aus- 
geübt, die aus dem Dirigenten des Polizeiamts, einem zweiten Mitgliede 
des Senats und 30 bürgerlichen Deputierten (Wohnungspflegern) besteht. 
Das Gesetz enthält keine positiven Maßnahmen zur Förderung des 
Wohnungsbaues, sondern nur hygienische Vorschriften und die Hand- 
haben zur Ueberwachung ihrer Durchführung. 

In Deutschland ist uns ferner bisher kein Beispiel bekannt, wo 
eine Gemeinde die Fürsorge für die Unterbringung lediger Arbeiter 
übernommen hätte. Hier sind es im allgemeinen religiöse Vereine ge- 
wesen, die mit dem Hintergrunde der religiösen Fürsorge die Unter- 
bringung unverheirateter oder überhaupt heimatloser Arbeiter in „Her- 
bergen zur Heimat“ und ähnlichen Unternehmungen sich zur Aufgabe 
machen. Ueber ihre Erfolge fehlt die Statistik, jedoch können sie einen 
großen Einfluß auf das Schlafstellenwesen schon deshalb nicht haben, 
weil sie, ihren Bestimmungen gemäß, nur für den vorübergehenden 
und nicht für den dauernden Aufenthalt ihrer Pflegebefohlenen sorgen. 
Anders schon steht es mit Instituten wie dem „Müuchener Arbeiterinnen- 
heim“, welches alleinstehenden Frauen und Mädchen, Ladnerinnen, 
Kontoristinnen, Arbeiterinnen u. s. w. gegen geringes Entgelt gesunde, 
reine Schlafstellen, nahrhalte Kost und einen Aufenthaltsraum für freie 
Stunden bietet. Die Schlafstelle kostet 1,20, 1,50, 2 M. wöchentlich, 
je nach der Zahl der Insassen eines Zimmers, Das Haus wird von 
einem gemeinnützigen Verein unterhalten und scheint sich nicht zu 
rentieren. 

Wir wenden uns nunmehr zu den speziellen Verhältnissen in der 
Reichshauptstadt, in der, wie eingangs erwähnt, trotz großer Aus- 


Miszellen. 507 


dehnung des Schlafstellenwesens noch so gut wie nichts dagegen ge- 
schehen ist. In Berlin wohnten nach den Volkszählungsberichten von 
Schwabe im Jahre 1871 von den sämtlichen Arbeitnehmern 22,7 Proz. 
beim Arbeitgeber, 29,1 Proz. in eigener Wohnung, 21,3 Proz. bei An- 
gehörigen, 5 Proz. als Chambregarnisten und 21,9 Proz. als Schlaf- 
gänger. Der Prozentsatz der letzteren war in den einzelnen Gewerben 
sehr verschieden. Er stieg auf 44,7 Proz. bei den Zimmerern, 45 Proz. 
bei den Schuhmachern, 47,6 Proz. bei den Schneidern und 53,3 Proz. 
bei den Maurern. Diese Leute sind, wie Schwabe es ausdrückt, zum 
Aufenthalt in der Wohnung „nur in der Nacht berechtigt, am Tage ge- 
duldet“‘— sehr oft aber auch am Tage überhaupt nicht geduldet. Nach 
der Zählung von 1890 hatten 56 Proz. der Haushaltungen, in denen 
Schlafgänger aufgenommen wurden, eine Schlafstelle, 29,5 Proz. zwei, 
10,5 Proz. drei, 3 Proz. vier und 1 Proz. noch mehr Schlafstellen. Dabei 
wohnten von den 95365 Schlafleuten ?/, bei einem Ehepaar und 
fast ?|, in Haushaltungen mit 2 Kindern, 39 Proz. in Wohnungen mit 
nur einem und 51 Proz. in Wohnungen mit nur zwei Zimmern. In 
seiner bekannten Untersuchung über „Die soziale Lage der arbeitenden 
Klassen in Berlin“ bemerkt Dr. Hirschberg hierzu: Sehr der Ver- 
breitung des Schlafstellenwesens förderlich ist der verhältnismäßig billige 
Mietspreis derselben, etwa 6—9 M. monatlich, während das eigene 
möblierte Zimmer kaum unter 15 M. zu haben ist. Der Wunsch des 
Mieters nach einem billigen Unterkommen begegnet sich hier mit dem 
des Vermieters, einen Teil seiner Wohnungsausgabe wieder eingebracht 
zu sehen, meist ohne Rücksicht darauf, ob die Wohnung die Aufnahme 
von Miteinwohnern zuläßt. 

Nach der Volkszählung vom 1. Dezember 1900 gab es in Berlin 
71571 männliche und 26373 weibliche Schlafgänger nebst 848 Kindern, 
zusammen also 98792 Personen. Am 1. Dezember 1895 waren in 
Berlin auf 1000 männliche Personen 77 Schlafgänger gezählt, auf 1000 
weibliche 25,6. 

Von den bisher in Berlin gemachten Versuchen zur Unterbringung 
alleinstehender Arbeiter in Ledigenheimen berichtet Dr. Hirschberg 1897: 
„Erst neuerdings ist es von Emil Minlos in dem Hause seiner Volks- 
speisehallen versucht worden, Ersatz für Schlafstellen zu schaffen. Sein 
Gesellenheim hat 50 Betten, die Miete beträgt 2,75 M. einschließlich 
Frühstück und Heizung pro Woche Für junge, unbescholtene 
Arbeiterinnen ist durch den Verein Jugendschutz gesorgt, welcher 
Pension mit Wohnung für 30—45 M. monatlich abgibt. Ferner will 
die Gemeinnützige Baugesellschaft versuchsweise ein Haus für ledige 
Arbeiter, Gesellen, ein Stockwerk mit einzelnen Zimmern für 1—2 Per- 
sonen, ein anderes zur gemeinsamen Benutzung bauen.“ — In ihrem 
1901 erstatteten Bericht sagt die zuletzt genannte Gesellschaft: 

„Es ist neuerdings in Anregung gebracht, bei den auf Bremerhöhe 
zu erbauenden Grundstücken versuchsweise ein Haus für ledige Arbeiter 
in der Weise herzustellen, daß die Parterre-Etage als Wohnung eines 
Hausvaters und mit Raum für gemeinsame Benutzung der Mieter, die 
oberen Etagen in einzelnen Parzellen für 1—2 Personen eingerichtet 


508 Miszellen. 


würden. Die Mieter solcher Plätze würden dann in der Lage sein, 
ihren Mietraum nicht bloß nachts, sondern auch tagsüber zur Verfügung 
zu haben, auch die für den gemeinsamen Gebrauch bestimmten Räume 
jederzeit benutzen zu können. Die Schlafburschen hierorts haben meist 
nur das Recht, ihren Mietsplatz von abends 9 bis morgens 6 Uhr inne 
zu halten, sind also gezwungen, sich in der Frühzeit in öffentlichen 
Lokalen aufzuhalten. Sollte die Idee realisiert werden, so wäre damit 
ein Versuch gemacht, ob das Schlafburschenwesen Berlins besserungs- 
fähig ist. Ob sich rechnerisch die Sache durchführen läßt, muß noch 
geprüft werden.“ 

An Wohltätigkeitsanstalten für vorübergehenden 
Aufenthalt fehlt es nicht; sie decken sich aber in keiner Weise mit 
den Einrichtungen, die wir hier im Auge haben. Es sind Anstalten 
nach dem Muster des Asyls für Obdachlose, das seit seinem Bestehen 
rund 4 Millionen Personen Obdach gewährt hat. Das Asyl ist im 
Jahre 1869 begründet. Es darf von Obdachlosen nicht länger als 
5 Tage in Anspruch genommen werden. Um einen ganz kurzen Aufent- 
halt Mittelloser handelt es sich auch lediglich in den Herbergen zur 
Heimat in der Oranienstrale, die im Jahre 1899 15500 Gäste für 
50000 Schlafnächte aufnahm, und in der Augustastraße, die in dem- 
selben Jahre von 11000 Personen für 34000 Schlafnächte aufgesucht 
wurde. Hier wurden 20—50 Pf. pro Bett gezahlt. 

Die mit der gemeinnützigen Baugesellschaft verbundene Alexandra- 
Stiftung hat im Jahre 1894/95 auf dem Hinterterrain der Grundstücke 
Alexandrinenstraße 18— 21 ein großes Haus zur Aufnahme einzelner 
Frauen und Mädchen errichtet. Der unter dem Protektorat der Kaiserin 
stehende Verein für die Fürsorge für die weibliche Jugend hat dies 
unter Berücksichtigung seiner Wünsche gebaute Haus mietweise über- 
nommen und seine Tätigkeit darin am 1. April 1896 begonnen. Die 
Räume dieses „Marienheimes“ gestatten eine Aufstellung von 100 Betten. 
Dem für alleinstehende Mädchen noch mehr als für einzelne Männer 
vorhandenen Bedürfnis nach anständiger, eigener Unterkunftsstelle trägt 
das Heim in zweckmäliger Weise Rechnung, indem es Wohnung, Ver- 
pflegung und Arbeitsnachweis für billigen Preis gewährt, seinen In- 
sassen durch Veranstaltung von Unterhaltungen, Lesezimmer u. dergl. 
den Anschluß an Gleichstehende ermöglicht und das Gefühl einer Heim- 
stätte zu geben sucht. Die letzten Jahresberichte der Alexandra-Stif- 
tung verzeichnen für Ende Oktober einen Besuch des Heims von je 
60 Insassen. 

Die Herberge des Gewerkschaftshauses, Engel-Ufer 15, 
ist mehr für Passanten berechnet. Sie ist im Mai 1900 eröffnet und 
ergab im Jahre 1901 bei einer Einnahme von 30000 M. über 9500 M. 
Ueberschuß. Das Herberge-Restaurant ist in diesen Zahlen nicht in- 
begriffen; es hatte einen Umsatz von 33 500 M. und erforderte einen Zu- 
schuß von 350 M. Der Ueberschuß der Herberge wird vermindert durch 
die Unterhaltungskosten der mit ihr verbundenen Badeanstalt, die sich 
durch ihre eigene Einnahmen nicht erhalten kann. Der danach tat- 
sächlich verbleibende Ueberschuß wird als knapp 3-proz. Verzinsung des 


Miszellen. 509 


für die Herberge in Rechnung zu setzenden Grund- und Gebäudewertes 
bezeichnet. Es ist vielleicht nicht ohne Interesse, zur näheren Be- 
urteilung der finanziellen Grundlagen und Aussichten von Unternehmungen 
dieser Art hier die letzte Jahresbilanz dieser Herberge anzufügen, zu- 
mal ähnliche Aufrechnungen verwandter Untersuchungen uns nicht zur 
Verfügung stehen: 


Einnahmen. | Ausgaben. 
| {m (PE La [bt 
Schlafgelder: Januar 2338 |20 ||| Lohn und Gehalt 9941 |25 
Februar 2399 | 25 || Beleuchtung 1624 |59 
März 2705 |80 || Heizung 1240 | 12 
April 2567 |60 ||| Fensterreinigen 225 | — 
Mai 2435 |OS || Wäsche 2464 |20 
Juni 2429 | 30 || Seife 234 | — 
Juli 1989 | 90 ||| Wichse 38 |70 
August 2328 |9o | Bürsten, Scheuertücher, Soda 394 |50 
September 2481 | — ||| Wasser 1501 | 50 
Oktober 2661 |os || Kohlen der Badeanstalt 1875 |30 
November 2330 |45 ||| Matratzen-Aufarbeiten 84 |— 
Dezember 1877 |20 ||| Drucksachen 167 | 50 
Badekarten 836 | 10 ||| Verschiedenes 444 |76 
Schließergeld 388 | 50 || UeberschuB 9532 |88 
Sa. | 29768 | 30 | Sa. | 29768 |30 


Ueber den Verkehr in der Herberge gibt die Verwaltung folgende 
Uebersicht für die Zeit seit ihrer Gründung bis Ende 1901 (die Haupt- 
zahlen beziehen sich auf das Jahr 1901, die eingeklammerten auf das 
Vorjahr): 


Von den Zuge- 
A e isten waren 
F Ueber- Leer geblie- " Desin- | "€ 

Bees SSES nachtungen | bene Betten | Bäder | .ktion eet 
ganl- gani- 

siert siert 

Januar 795 (—) 4909 (—) 1167 (—) 954 | 36 | 635 | 160 
Februar 799 (—) 4892 (—) | 596 (—) 963 | 39 610 | 189 
März 1066 (—) 5400 (—) 676 (—) 1213 39 795 271 
April 1191 (—) 5132 (—) 748 (—) | 1277 | 29 | 815 | 376 
Mai 1171 (697) | 4879 (2535)| 1197 (3541)| 1237 | 24 | 858 | 313 
Juni 1241 (1054)| 4859 (4486) 1021 (1294)| 1297 | 20 924 317 
Juli 1102 (1401) | 3981 (5564) | 2095 (512) | 1301 13 768 334 
August 1295 (1440)| 4660 (5884)| 1416 (192) | 1318 22 941 354 
September 1200 (1256) | 4950 (5830)| 930 (50) 1283 | 32 816 | 384 
Oktober 1108 (1277)| 5317 (5933)| 759 (143) | 1182 19 767 341 
November 824 (909) | 4693 (4K47)| 1187 (1033) 857 16 578 246 
Dezember 611 (636) | 3832 (3666), 2244 (2410) 647 32 447 | 164 
12403 57504 | 14036 ‚13529 | 321 |8954 |3449 


Aus einem Vergleich der beherbergten Personen und der Zahl der 
Uebernachtungen, 12 403 : 57 504, ergibt sich, daß die Herberge durch- 


510 Miszellen. 


aus Hotelcharakter trägt und ganz überwiegend nur zu einem Aufent- 
halt von wenigen Tagen, im Durchschnitt noch nicht eine Woche, be- 
nutzt wird. Von Interesse ist auch ein Ueberblick über den Beruf der 
Uebernachteten. Es wurden im Berichtsjahre gezählt: 

Apotheker 2, Arbeiter 699, Architekten 1, Bäcker 194, Bade- 
meister 2, Bandagisten 3, Barbiere 181, Bauaufseher 5, Bahnbeamte 1, 
Bildhauer 275, Böttcher 36, Brauer 83, Buchbinder 483, Buchdrucker 
und Schriftsetzer 1080, Büchsenmacher 5, Bureauangestellte 27, 
Bürsten- und Kammacher 42, Chemiker 3, Dachdecker 15, Elekro- 
techniker 4, Fabrikanten 5, Färber 7, Feuerwehrleute 5, Former 359, 
Galvaniseure 7, Gärtner 42, Gastwirte 8, Gastwirtsgehülfen 118, 
Glaser 61, Goldarbeiter 152, Graveure und Ciseleure 53, Gürtler 98, 
Handelshülfsarbeiter 12, Händler 85, Handschuhmacher 27, Haus- 
diener 215, Holzarbeiter 1790, Hutmacher 33, Instrumentenmacher und 
Orgelbauer 13, Konditoren 75, Kammerjäger 1, Kaufleute 389, Kranken- 
pfleger 22, Kupferschmiede 294, Kürschner 16, Kutscher 18, Lackierer 20, 
Landwirte 10, Lederarbeiter 132, Lehrer 6, Lithographen und Stein- 
drucker 117, Maler 396, Maschinisten und Heizer 27, Maurer 312, 
Mechaniker 157, Metallarbeiter 1731, Möbelpolierer 17, Mon- 
teure 35, Müller 35, Musiker 25, Photographen 15, Porzellanarbeiter 16, 
Portefeuiller 8, Posamentiere 14, Redakteure und Schriftsteller 18, 
Rentenempfänger 5, Rohrleger 17, Sattler 309, Schauspieler 11, 
Schlächter 83, Schleifer 52, Schmiede 147, Schneider 409, Schornstein- 
feger 3, Schriftgießer 23, Schuhmacher 304, Seeleute 8, Seiler 5, Souft- 
leure 1, Steinmetze und Steinhauer 60, Stuckateure 35, Studenten 3, 
Tapezierer 252, Techniker 22, Textilarbeiter 54, Töpfer 134, Uhr- 
macher 39, Vergolder 104, Werkmeister 3, Xylographen 2, Zigarren- 
macher 18, Zeichner 14, Zimmerer 209. 

Es zeigt sich, daß die Arbeiterkreise mit der besten Organisation 
das größte Kontingent der Besucher stellen — eine Tatsache, die sich 
leicht aus dem Charakter des Gewerkschaftshauses erklärt, zu dem die 
Herberge gehört. 

Die älteste und anscheinend erfolgreichste einschlägige Einrichtung 
in Berlin ist das oben bereits wiederholt erwähnte Gesellenheim der 
Volkskaffee- und Speisehallen-Gesellschaft, Neue Schönhauserstr. 13. In 
Zimmern zu 2, 4 und 6 Betten erhalten hier junge, ledige Arbeiter für 
wöchentlich 2,50 M. einschließlich Beleuchtung und Frühstück (eine Tasse 
Kaffee und Zubrot), ein sauberes, gutes Logis. Das Logierhaus ist im 
Jahre 1895 mit 50 Betten eingerichtet worden, die stets voll besetzt 
sind. Mit dem 1. November v. J. konnte eine Erweiterung um 18 Logis 
vorgenommen werden, von denen schon geraume Zeit vor der Eröff- 
nung ein Teil vergeben war. Im Hintergebäude des erwähnten Hauses, 
das im Erdgeschoß die Lesehalle der Deutschen Gesellschaft für ethische 
Kultur beherbergt, sind die beiden folgenden Stockwerke zu einer Folge 
von populären Chambregarnies umgewandelt worden. Das ganze Ge- 
bäude, vordem eine höhere Töchterschule und lauter helle, luftige Räume 
aufweisend, ist seinen Zwecken in sorgsamer und praktischer Weise 
angepaßt worden. Boden und Wände sind sauber und freundlich mit 


Miszellen. 511 


Oelfarbe gestrichen. Gute Betten in eisernen Bettstellen, Waschtische 
mit Marmorplatten und emaillierten Waschgeräten, Nußbaumschränke, 
in denen jeder Bewohner für seine Kleider einen völlig abgeschlossenen, 
nur durch einen besonders angefertigten Schlüssel zu öffnenden Anteil 
‘hat, weitere verschließbare Kästen für Wäsche und sonstiges Eigentum 
in den Schränken und in den zierlichen Nachttischchen, Spiegel an den 
Wänden, ein Arbeitstisch von angemessener Größe und Solidität, Stühle 
und sonstige Erfordernisse, einer behaglichen Einrichtung bilden die 
Ausstattung der Wohnräume, die einen anheimelnden Eindruck machen. 
Ein Hauswart und seine Frau besorgen die Bedienung, denn die 
„Mieter“ haben dasselbe Anrecht, wie jeder Chambregarnist, in Bezug. 
auf alle kleinen Dienste, auf Wäschewechsel und Aufräumung der Stuben. 
Die Hausordnung ist weder die einer Kaserne noch die einer klöster- 
lichen Gemeinschaft, aber sie sorgt für Aufrechthaltung der guten Sitte. 
Jeder, der seine Unbescholtenheit nachweisen kann, hat Anrecht auf 
Aufnahme. 

Eine Besichtigung dieser Anstalt hat in mir die Ueberzeugung 
befestigt, daß es durchaus möglich sein muß, in Berlin auch ohne finan- 
zielle Opfer das hier eingeschlagene System weiter auszubauen. Ohne 
die Erfahrungen eines Baumeisters und Hausbesitzers zu haben, glaube 
ich aus praktischer Beobachtung heraus getrost behaupten zu dürfen, 
daß sie sogar zu recht befriedigenden finanziellen Erträgen gebracht 
werden können. Es sei gestattet, zur Begründung dieser meiner Ueber- 
zeugung folgendes einzuschalten: 

Unweit des Gesellenheims, aber in einer günstiger gelegenen und 
ihrem ganzen Habitus nach relativ „besseren“ Straße findet man im 
Vorderhaus große, gut möblierte Zimmer für 25 Mark monatlich, wenn 
ich mich recht entsinne, inkl. Bedienung. In Zimmern von gleicher 
Größe, aber im Hinterhaus auf den zweiten Hof und bei einfachster 
Möblierung, werden im Gesellenheim sechs Personen untergebracht, die 
einschließlich des Morgenkaffees monatlich zusammen 60 Mark zahlen. 
Nach einem entsprechenden Abzug für den Kaffee wird der Raum, der 
einen geringeren Mietswert repräsentiert, hier also etwa doppelt so hoch 
bezahlt wie dort im gut möblierten Zimmer des Vorderhauses. Die 
Zimmer mit sechs und mehr Betten sind freilich weniger gesucht und 
beliebt, als die mit zwei oder höchstens vier Betten; in denjenigen für 
nur zwei Personen stellt sich der Preis aber auch um eine Kleinigkeit 
höher. Die Stammgäste des Gesellenheims sind Schreiber, Köche, Hand- 
werker verschiedener Art und qualifizierte Arbeiter. Die Hausordnung 
ist milde; Einlaß muß der Verwalter bis 12 Uhr ohne weiteres gewähren, 
von 12 bis 1 Uhr nachts gegen eine Gebühr von 10 Pfg., die natürlich 
zugleich einen Erziehungszweck haben soll, nach 1 Uhr aber überhaupt 
nicht. Lärm und Trunkenheit sollen nicht geduldet werden, doch ist 
die Hausordnung derart, daß ein einigermaßen ordentlicher junger Mann 
sich durch sie nicht beengt fühlen kann, jedenfalls nicht mehr als in 
einer Schlafstelle, 

Eine gewisse Schwierigkeit wird ja immer, und gerade in der 
Großstadt, in der Notwendigkeit einer Hausordnung für die Ledigen- 
heime liegen. 


512 Miszellen. 


Der Arbeitnehmer, namentlich der jüngere, fügt sich ungern auch 
nur dem entferntesten Zwange derjenigen Ordnung, die in großen Logier- 
häusern für die Aufrechterhaltung von Sauberkeit, Sittlichkeit und der 
für den Nebenmenschen nötigen Nachtruhe unbedingt erforderlich ist. 
Gerade bei den jüngeren Arbeitern ist ein gewisses Pochen auf ihre 
wirtschaftliche Selbständigkeit ein hervorstechender Zug, der noch da- 
durch besonders gefördert wird, daß er sich in den Familien, in denen 
er Kostgänger oder Schlafsteller ist, als eine sehr willkommene Ein- 
nahmequelle betrachtet weiß. Vielleicht läßt sich diesem Gefühl etwas 
entgegenkommen und ihm doch die Spitze dadurch abbiegen, dal 

. er es mit mehreren zu teilen gezwungen ist. Befinden sich in einer 
Familie mehrere, etwa 6 bis 10 Schlafsteller oder Kostgänger, so 
kann sich unmöglich der einzelne allzusehr als den Herrn der Situation 
fühlen; andererseits übt jeder über seinen Nachbar eine gewisse 
Kontrolle in Bezug auf das Verhalten zu der Wirtin und den 
Töchtern aus. Unter diesen Gesichtspunkten hat Dr. Ascher im Hand- 
buch der Arbeiterwohlfahrt angeregt, Arbeiterfamilien. namentlich solchen, 
in denen das Familienoberhaupt durch einen Unfall oder eine Krank- 
heit außer stand gesetzt ist, den vollen Unterhalt zu verdienen, von 
Vereinen oder Genossenschaften die Mittel zur Einrichtung und zur 
ersten Unterhaltung eines solchen ,Arbeiterpensionats* zu gewähren, 
sie sich mäßig verzinsen zu lassen und sich dafür eine Kontrolle über 
dieses „Pensionat“, das sowohl Schlafsteller wie Kostgänger aufnehmen 
darf, vorzubehalten. 

Trotz der Bedenken gegen die Anziehungskraft der Ledigenheime, 
die aus der erwähnten Abneigung gegen den Zwang entspringen, wäre 
dringend zu wünschen, daß seitens der Gemeinden Versuche in 
größerem Maßstab unternommen werden. Gerade wegen des Umstandes, 
daß auf einen dauernden Besuch bis zu größerer Gewährung der in Be- 
tracht kommenden Kreise vorläufig nicht mit Bestimmtheit zu rechnen 
ist, sind die Gemeinden am geeignetsten, das Risiko für die ersten 
Jahre zu übernehmen. Mit der Zeit, wenn sich zeigt, daß in keiner 
Beziehung ein wirklicher Zwang empfunden wird, daß die Ledigenheine 
von jeder Tendenz frei und die Bewohner gut untergebracht sind, wird 
das Mißtrauen sich verlieren, und werden die Häuser zweckmälig ein- 
gerichtet und gut verwaltet, so werfen sie dann jedenfalls auch, zumal 
beim Großbetrieb, der Stadtkasse eine mäßige Rente und Tilgungs- 
quote ab. 

Die Logierhäuser in großen Städten können nicht nur für die Arbeiter, 
sondern auch für Ledige anderer Stände errichtet werden. Die Not- 
wendigkeit einer guten Hausordnung läßt sich mit der Bewegungsíreiheit 
ganz wohl vereinigen. Das Vorgehen gegen das Schlafstellenwesen 
bringt vielfach wieder andere Nachteile, wenn es nicht ergünzt wird 
durch Sorge für Logierhäuser, in welchen die besseren Elemente der 
dort Verdrängten Unterkunft finden können. In dem Maße, als hier- 
durch die Begleiterscheinungen des Schlafgängerwesens, Roheit, Trunk- 
sucht, Liederlichkeit, Verführungen und überhaupt die sittlichen und 
gesundheitlichen Ansteckungsherde zurücktreten, in dem gleichen Male 


Miszellen. 513 


lohnt sich dieses Vorgehen der Gemeinde auch wirtschaftlich und 
finanziell, indem manche Quelle der Unterstützungsbedürftigkeit ver- 
stopft wird. 

Ist eine Gemeinde nicht in der Lage, ein solches öffentliches Logier- 
haus zu schaffen, so kann sie diese Aufgabe durch einen Verein lösen 
lassen und diesen durch Stellung des Gebäudes und sonst finanziell 
unterstützen. Es kann das alles auf der Basis genauester finanzieller 
Kalkulation in der Weise geschehen, daß die Stadt keinerlei Opfer 
bringt, sondern nur normal verzinsliche Darlehen gewährt und höchstens 
für die ersten Jahre das Risiko des später einzubringenden Zinsausfalls 
trägt. Wir wissen wohl, daß in Berlin der Plan wenig Aussicht hätte, 
wenn man der Stadt Opfer zumuten würde, die von den Hausbesitzern 
als eine Schädigung unter gleichzeitiger Förderung einer neuen, bevor- 
zugten Konkurrenz betrachten würden. Nein, mit Wohltätigkeit im 
Sinne von Almosen sollen die Ledigenheime nichts zu tun haben; sie 
sollen nur eine Maßnahme allgemeiner Wohlfahrtspflege ohne Opfer 
und ohne Geschenke sein. Die Stadt soll mit einer Mustereinrichtung 
vorangehen, in der sie den Hausbesitzern keine Konkurrenz macht, da 
sie sich gleichfalls auf den Standpunkt der Rentabilitätsberechnung 
stellt, und den Mietern nichts schenkt, mit der sie aber gerade durch 
den Beweis der Rentabilität Private zur Nacheiferung ermuntert. 

Wenn in manchen Gegenden außerhalb der Reichshauptstadt der 
Besuch der Ledigenheime zu wünschen übrig läßt, so wird das vielfach 
daran liegen, daß entweder die Hausordnung strenger als nötig, die 
Verwaltung nicht entgegenkommend genug oder die Stiftung irgendwie 
durch politische oder religiöse Tendenzen belastet ist. Völlige Freiheit 
von jeder derartigen Tendenz ist aber eine Grundbedingung für 
das Gedeihen solcher Unternehmungen im großen Stil. Und eine andere 
Grundbedingung ist, daß dem Unternehmen nichts von Almosencharakter 
anhaften darf. Werden diese beiden Bedingungen erfüllt und versteht 
die Verwaltung, die Ueberzeugung davon den Kreisen, aus denen die 
Besucher der Wohnungen sich rekrutieren sollen, allgemein beizubringen, 
so bleibt der Erfolg nicht aus. Auf dieser Grundlage wünschen wir 
in der Reichshauptstadt die Errichtung von Musterledigenheimen, und 
wir zweifeln nicht, daß ihr Erfolg nach den zu überwindenden Probe- 
jahren gemeinnützige Gesellschaften und private Unternehmer zur Nach- 
eiferung anregen würde. Damit wäre ein außerordentlich bedeutsamer 
Schritt zur Besserung der Wohnungs- wie der allgemeinen sozialen 
Verhältnisse in den deutschen Großstädten, zum Segen weiter Bevülke- 
rungsschichten, zur Besserung der gesundheitlichen und sittlichen Zu- 
stände getan. 


Dritte Folge Bd. XXV (LXXX). 33 


514 Miszellen. 


Nachdruck verboten, 


IX. 
Arbeitsnachweis und Arbeitslosenversicherung auf der Ver- 
sammlung des Verbandes deutscher Arbeitsnachweise 
vom 9. bis 11. Oktober 1902'). 


Von S. P. Altmann- Berlin. 


Es ist eine sonderbare, in ihren letzten Zusammenhüngen noch 
nicht ganz aufgeklärte Erscheinung, daß der Arbeitsmarkt bis fast in 
die Gegenwart hinein einen vóllig regellosen, ja anarchischen Charakter 
bewahrt hat. Die Idee des Marktes als Stelle, wo Angebot und Nachfrage 
zusammentreffen sollen, ist uralt und mit der fortschreitenden Rationa- 
lisierung des Wirtschaftslebens gewann sie immer größeren Einfluß. 
Die Tendenz der Ausdehnung und Erweiterung der wirtschaftlichen 
Kreise erfordert aus sich heraus die entgegengesetzte, der Zentrali- 
sation und Organisation, als der Möglichkeit, das räumlich und zeitlich 
Auseinanderliegende von einem Punkte aus zu überschauen. Die höchste 
Form dieser Entwickelung ist die Börse, die für die Geldware das 
Angebot und die Nachfrage fast der ganzen Welt in sich vereinigt. 

Wenn der Arbeitsmarkt erst in allerletzter Zeit anfängt, aus seiner 
unübersichtlichen Regellosigkeit herauszukommen, trotzdem er seiner 
ziffernmäßigen Bedeutung nach jeden anderen Markt übertrifft, so sind da- 
für eine Reihe von Gründen maßgebend, die hier nur angedeutet werden 
können. Die Arbeitskraft ist sowohl als potenzielle wie als kinetische 
Energie keine Ware, so oft man auch von der Ware Arbeit sprechen 
mag. Es bleibt stets ein unlöslicher Zusammenhang zwischen Indivi- 
duum und Arbeit. Der Entwickelungsgang, der das Arbeitsverhältnis 
vorwiegend in der Richtung ausgestaltet hat, daß im Arbeitsvertrage 
nicht mehr der ganze Mensch, sondern eine bestimmte Arbeit oder eine 
bestimmte Arbeitszeit gemietet wird, hat zugleich der Arbeit einen ob- 
jektiveren Charakter gegeben und sie dadurch warenähnlich gemacht. 
Dabei mag übrigens nicht übersehen werden, daß andererseits durch 


1) Nach den im Verlage von Carl Heymann Berlin 1903 erschienenen steno- 
graphischen Berichten (Band 4 der Schriften des Verbandes deutscher Arbeitsnachweise), 
die mir bereits vor der Veröffentlichung in liebenswürdiger Weise zur Verfügung ge- 
stellt worden sind. Den Protokollen sind als Anhang: Materialien zur Frage der Arbeits- 
losenversicherung zusammengestellt von Dr. jur. Richard Freund, beigegeben, auf die 
wir ganz besonders hinweisen. 


Miszellen. 515 


die Individualisierung der Arbeit auch ein erschwerendes Moment, das 
diese Annäherung aufhält, eintritt. Dennoch ist heute die Möglichkeit 
zu einer Verwirklichung der Organisation des Arbeitsmarktes bereits 
gegeben. 

Die Entwickelung des Arbeitsnachweises aus den kleinsten An- 
fingen privater oder zünftlerischer Stellenvermittlung mußte zu einer 
Zentralisation führen, wenn der Arbeitsnachweis durch die Vereinigung 
großen Angebots und großer Nachfrage überhaupt eine Bedeutsamkeit 
erlangen sollte. Jedoch auch die Zentralisation an einem einzelnen 
Orte konnte niemals genügen, denn schon Marx hat ja den Punkt her- 
vorgehoben, daß oft zu gleicher Zeit an einem Platze Arbeitskräfte ver- 
geblich gesucht werden, während an einem anderen Tausende auf dem 
Pflaster liegen. Nur wenn ein größerer Teil des Arbeitsmarktes über- 
blickt wird, kann von einer Ausgleichung durch Arbeitsnachweise ge- 
sprochen werden, und nur dann kann man an die Verschaffung von 
„passender Arbeit“ denken. 

Zu den Verdiensten, die sich der Privatdozent und Stadtrat Dr. Jastrow 
auf dem Gebiet der Organisation des Arbeitsmarktes erworben hat, ge- 
hört es auch, daß er gemeinsam mit anderen stets die Bildung von 
Verbänden, der Arbeitsnachweise angeregt hat, die neben dem Aus- 
tausch von Arbeitskräften auch die statistische Kenntnis des Arbeits- 
marktes erweitern sollten. Der erste Zusammenschluß waren die Landes- 
verbände, die sich in Süddeutschland organisierten. Im Jahre 1898 
vereinigten sich die einzelnen Verbände zu dem Verband deutscher 
Arbeitsnachweise mit dem Sitz in Berlin, an dessen Spitze der Vor- 
sitzende der Landesversicherungsanstalt und des Zentralarbeitsnachweises 
Berlin, Dr. Richard Freund, steht. Der Verband tagt alle 2 Jahre und 
hat sich bereits mit einer Reihe der wichtigsten Fragen seines Gebietes, 
nämlich der Landarbeiterfrage, der Arbeitsnachweisstatistik, der Ge- 
bührenfrage, der Dienstbotenvermittlung!) u. s. w. beschäftigt. Der 
Verband zählt heute 128 Mitglieder, von denen 70 kommunale und 
58 Vereinsarbeitsnachweise sind. Seine diesjährige Tagung fand vom 
9. bis 11. Oktober in Berlin statt und die Gegenstände seiner Verhand- 
lungen, an denen Vertreter der Reichs- und Landesregierungen, der Stadt 
Berlin und einer Reihe sozialpolitisch-interessierter Körperschaften teil- 
nahmen, soll hier einer Würdigung unterzogen werden. Auf der Tages- 
ordnung stand: 

Für den ersten Tag: Welche Erfahrungen haben die Arbeitsnach- 
weise bei der letzten Krisis auf dem Arbeitsmarkte gemacht ? 

Besondere Berücksichtigung sollen folgende Punkte finden: Ist 
eine Arbeitslosigkeit in die Erscheinung getreten und in welcher Art? 
Welche Schlüsse können aus dem Umfang der Arbeitsvermittlung auf 
den Umfang der Arbeitslosigkeit gezogen werden? Welche Vorschläge 
hat der Arbeitsnachweis zu machen? 


1) Protokolle der Verhandlungen des Verbands deutscher Arbeitsnachweise. Berlin, 
Carl Heymann, 1898 und 1900. 


33* 


516 Miszellen. 


a) Zur besseren Erkenntnis des Umfanges einer Arbeitslosigkeit, 
b) zum besseren Ausgleich von Arbeitsangebot und Arbeitsnachírage. 
Das einleitende Referat hatte Dr. Jastrow, Charlottenburg. Er 
betrachtet es als seine Aufgabe, die Gesichtspunkte festzustellen, unter 
denen die Arbeitsnachweise sich mit den Krisen zu befassen haben. 
Prinzipiell will er untersuchen, ob die Arbeitsbeschaffung in den 
Rahmen des Arbeitsnachweises gehört. Wir stimmen ihm darin zu, 
daß zur Tätigkeit des Arbeitsnachweises als Arbeitsvermittlung notwendig 
auch die der Arbeitsbeschaffung gehört, wie überall die Vermittlung 
den fehlenden Partner zu suchen bestrebt ist, wenn etwa nur Käufer 
oder nur Verkäufer vorhanden sind. Zu einer solchen Arbeitsbeschaf- 
fung, wie sie die Krise notwendig macht, reicht eben die Tätigkeit der 
Armenpflege nicht aus, denn diese ist natürlicherweise rein individuell. 
Die Autgabe der Arbeitsbeschaffung, um die es sich hier handelt, kann 
sich aber nicht nur auf das einzelne Individuum, das wir für bedürftig 
halten, richten, sondern auf die Bekämpfung der sozialen Ursachen, 
unter deren Wirkung große Massen der Bevölkerung arbeitslos werden. 
Das allgemeine Heilmittel für solchen Notstand sollen die Notstands- 
arbeiten sein. Jastrow gibt einen kurzen Abriß einer Theorie der Not- 
standsarbeit, die er in seinem neuen Buche!) entwickelt hat. Diese 
Notstandsarbeiten bilden ein wichtiges Glied in der kommunalen Sozial- 
politik, denn den Kommunen ist es gegeben, hier wie sonst durch Rege- 
lung der Arbeitsbedingungen ihrer stattlichen Arbeiterzahl vorbildlich für 
die Unternehmer zu wırken. Die Theorie ist der Notstandsarbeit nicht be- 
sonders günstig gesinnt, sie sieht in ihr kein Heilmittel, sondern nur ein 
Herumkurieren an Symptomen. Dies ist insofern richtig, als der Zeitpunkt 
ihres berechtigten Beginnes nicht leicht festzusetzen ist. Beginnen sie 
zu früh, so verstärkt ihr Bekanntwerden die Krise, beginnen sie zu 
spät, so können sie wenig nützen. Eine so fortgeschrittene Kommune 
wie Mannheim hat deshalb die Notstandsarbeit zu einer dauernden 
Einrichtung gemacht und nach Jastrows Ansicht dadurch voraussicht- 
lich das Dilemna gelöst. Gewiß muß auch die Notstandsarbeit indivi- 
duell sein, aber sie ist dennoch nicht in die Armenpflege einzureihen; 
soll sie doch gerade dazu dienen, den Arbeiter nicht zu jenem Grade 
der Bedürftigkeit herabsinken zu lassen, bei dem die Armenpflege ein- 
zutreten pflegt. Aeußerlich kann dies dadurch gekennzeichnet werden, 
daß dem Notstandsarbeiter nicht das Wahlrecht entzogen wird. Ist 
die Notstandarbeit eine vorbeugende Armenpflege, so läuft Jastrows 
weitere Forderung natürlich darauf hinaus, daß eine richtige Gewerbepolitik 
Notstandsarbeiten überflüssig macht. Treten dennoch Krisen ein, so ist 
die Verstärkung der Panik durch etwaige Entlassung von Arbeitern bei 
Beginn der Krisis zu vermeiden. Jastrow geht sogar so weit, dal er 
sagt: der Staat und die öffentlichen Körperschaften sollen bei Beginn 
der Krisis nicht nur von der Entlassung von Arbeitern, durch die sie nur 
die Aufregung vergrößern, abstehen, sondern ihre Arbeiten sogar aus- 
dehnen und dadurch das Heer der Arbeitslosen verringern. Psychologisch 


1) Sozialpolitik und Verwaltungswissenschaft, Berlin, Georg Reimer, 1902, S. 223. 


Miszellen. 517 


ist diese Anschauung sicher richtig, vielleicht liegt aber doch in ihr 
eine Ueberschätzung der Folgen einer solchen Handlungsweise der öffent- 
lichen Verbände. Nur wenn Staat und Commune eine außerordentlich große 
Zahl von Arbeitslosen aufzunehmen imstande wären, könnte sie den dauern- 
den Niedergang der Konsumption und damit auch der Produktion aufhalten. 
Dem ist aber der Staat nicht gewachsen. Zweifellos hat Jastrow aber 
damit doch Recht, daß der Staat, dessen Kredit in Krisenzeiten unerschüttert 
bleibt, die ihm zufließenden billigen Gelder, die Anlage suchen, dazu be- 
nutzen soll, nach Möglichkeit neue Arbeit zu schaffen. Dies ist denn auch 
bei der gegenwärtigen Krisis mehrfach geschehen. Ueberhaupt haben die 
Behörden eine sehr vorsichtige Arbeiterpolitik getrieben. Wo Entlassungen 
nötig wurden, hat mar durchweg eine 6-wöchige statt einer 14-tägigen Kün- 
digung eingehalten. Einzelne Verwaltungen, wie das Kriegsministerium, 
haben für das Unterkommen entlassener Arbeiter tunlichst gesorgt, und 
die Eisenbahnverwaltung hat in sich selbst einen Arbeitsnachweis ent- 
wickelt. Der Arbeitsnachweis ist überhaupt als Glied der öffentlichen 
Verwaltung zu betrachten !). Die Verwaltung, bei der ja Konkurrenz- 
rücksichten nicht wie bei der Privatunternehmnng herrschen, kann durch 
Ausdehnung der Arbeiten über das ganze Jahr die Schwankungen auf 
dem Arbeitsmarkte verringern helfen ?). Nach einem Hinweis auf den 
Umschwung in den Anschauungen über das Eingreifen des Staates geht 
Jastrow auf die Frage der statistischen Erfassung zur Erkenntnis der 
Marktklage über. Bekanntlich hat Dr. Jastrow durch die Darstellung 
des Verhältnisses von Angebot und Nachfrage eine einheitliche Arbeits- 
marktstatistik erst geschaflen. Aus seinen Ausführungen heben wir nur 
hervor, daß die statistische Kurve für 1900 in ihrer Darstellung der 
Arbeitsmarktverhältnisse eher als irgend ein anderer Gradmesser den 
Beginn der Wirtschaftskrisis angezeigt hat?) Bereits im April 1900 
ist eine ungünstige Entwickelung zu konstatieren, während der ent- 
scheidende Kurssturz bei der Berliner Börse erst am 7. und 8. Juni 
stattfand. Wenn auch kein Zweifel ist, daß die gegenwärtigen Zahlen 
noch mangelhaft sind und Verbesserungen erfordern, so können durch 
Arbeitslosenzählungen und Zählungen der Beschäftigten Ergänzungen 
vorgenommen werden. Im ganzen aber ist die Methode richtig. Seine 
Forderung kommt darauf hinaus, die Arbeitsnachweise einheitlich so 
auszugestalten, daß sie eine Spezialisierung der statistischen Angaben 
zulassen. An dieser Ausgestaltung werden die Arbeitsnachweise auf 
Generationen hinaus zu tun haben, denn die gegenwärtigen Zahlen sind 
erst eine Handhabe zur späteren statistisch streng zuverlässigen Er- 
fassung des Arbeitsmarktes. Die Zahlen, die wir so besitzen, sind jeden- 
falls schon ein großer Fortschritt gegen die Zeiten der früheren Krisen, 
deren Wirkung auf dem Arbeitsmarkt uns fast völlig unbekannt ist. 
Jastrow ist es ja auch, der bei der nächsten Tagung des Vereins für 


1) ef. Sozialpolitik und Verwaltungswissenschaft, Kap. 11. 

2) Ein Hinweis darauf befindet sich bereits in dem preußischen Zirkular betr. 
Organisation der Arbeitsvermittlung vom 31. Juli 1594. 

3) Siehe Protokolle S. 21 u. 23. 


518 Miszellen. 


Sozialpolitik den Gang der jetzigen Wirtschaftskrise auf dem Arbeits- 
markt zum erstenmal zur Darstellung bringen wird. 

Ein Urteil über den Gang dieser Krise, soweit sie von den Arbeits- 
nachweisen zu erfassen war, gestatten auch die Referate der einzelnen 
Arbeitsnachweisverbände, die in geographischer Anordnung kurz wieder- 
gegeben werden sollen. Die Arbeitslosigkeit ist in Deutschland in völlig 
verschiedener Weise zu Tage getreten. In Bezug auf Einzelheiten ver- 
weisen wir auf die Protokolle, die auch tabellarische Uebersichten 
bringen. Von vornherein steht ja fest, daß eines der wichtigsten 1) Symp- 
tome der Krise, nàmlich die Verkürzung der Arbeitszeit, sich der Kennt- 
nis der Arbeitsnachweise fast ganz entzieht. 

Der Referent des Verbandes bayerischer Arbeitsnachweise kon- 
statierte für Bayern Arbeitslosigkeit in der Minderung der offenen 
Stellen. Dem Beruf nach haben am meisten gelitten die Arbeiter der 
Holz- und Metallindustrien, die Ungelernten im Baugewerbe, die Gold- 
und Silberschläger. Der Beginn der Krise resp. der stärkeren Arbeits- 
losigkeit fällt auf das Ende 1900 und erreicht seinen Höhepunkt um 
Neujahr 1902. München ist von einer eigentlichen Arbeitslosigkeit ver- 
schont geblieben. Die Krise erstreckte sich nicht auf die bayerische 
Nahrungs-, Genußmittel- und Bekleidungsindustrie. 

Württemberg hat ebenfalls unter dem Mißverhältnis von Angebot 
und Nachfrage zu leiden gehabt und zwar hauptsächlich durch den 
Ueberschuß zugereister Arbeiter. Eine Abwanderung von den Städten, 
die auch andererseits konstatiert ist ?), ist nur zum Teil beobachtet 
worden. Auch hier ist die Lage der Metallarbeiter, Maschinenschlosser, 
Former, Eisendreher und Holzarbeiter am ungünstigsten. Dazu kommen 
Tapezierer, Küfer und Brauer, während Schneider, Schuhmacher und 
Friseure verschont bleiben. Nach den Angaben der Krankenkassen ist 
ein Rückgang der Beschäftigten im ganzen nicht festzustellen, so daß die 
Zuwanderung die Ursache der Arbeitslosigkeit ist. 

Baden hat nur teilweise unter der Krisis gelitten. Im südlichen 
Teil von Lahr bis Basel kann von einer Arbeitslosigkeit nicht ge- 
sprochen werden, ebensowenig im äußersten Norden. In Heidelberg 
nicht einmal beim Baugewerbe. Pforzheim hatte einen teilweisen Rück- 
gang der Eisenindustrie, während in seiner Hauptindustrie, der Bijouterie, 
ebensowenig wie in der Bekleidungsindustrie davon zu merken war. 
Wenn in diesen Teilen die Arbeitssuchenden zugenommen haben, so 
liegt dies an der starken Durchwanderung besonders von Metallarbeitern; 
so waren in Freiburg 70 Proz. aller stellensuchenden Arbeiter Durch- 
reisende. Wirklich von der Krisis erfaßt sind nur die beiden Groß- 
städte Mannheim und Karlsruhe. In beiden ist die Zahl der offenen 
Stellen stark zurückgegangen. In Mannheim lag die ganze Metall- 
industrie und das Baugewerbe danieder. In Karlsruhe waren in 5 Eisen- 
werken, 3 Baugeschäften, einer Möbel- und einer Tapetenfabrik sowie 


1) Vergl. Berichte der Gewerbeaufsichtsbeamten Badens für 1901, wo den Unter- 
nehmern diese Verkürzung empfohlen wird. 

2) So auch von Eulenburg in diesen Jahrbüchern in dessen Aufsatz „Die gegen- 
wärtige Wirtschaftskrise“, Bd. 24, S. 316. 


Miszellen. 519 


einer elektrischen Unternehmung die Zahl der Arbeiter von 4363 im 
Jahre 1900 auf 3183 gesunken, also um etwa 1/,. Im ganzen fand 
in der Großindustrie eine Personenverminderung von etwa 25 von 100 statt, 
jedoch vollzog sich diese verhältnismäßig langsam, wodurch eine größere 
Zahl zugewanderter Landarbeiter auf ihre Dörfer zurückkehrte. Wirk- 
licher Notstand hat auch in diesen Teilen Badens nicht geherrscht; 
trotzdem sind Notstandsarbeiten vorgenommen worden. Verschont 
blieben die Parfum-, Seifen-, Cigarrenfabriken, die Edelmetallindustrie, 
die Brennereien und die Eisenbahnwaggonfabrikation. 

Die märkischen Arbeitsnachweise stehen zu stark unter dem Ein- 
Auß der Nähe Berlins und sind nicht losgelöst zu betrachten. Von 
einem Notstand infolge ungewöhnlicher Arbeitslosigkeit kann nicht die 
Rede sein, weder in Frankfurt a./O. noch in Potsdam. Die Zahlen von 
dort sind ohne Bedeutung, weil sie absolut klein sind. 

Berlin kann ja wohl als der eigentliche Sitz der Krisis aufgefaßt 
werden. Hier setzt sie in den letzten Monaten des Jahres 1900 voll 
ein und ihre Entwickelung kann man aus dem vorliegenden Zahlen- 
material der Arbeitsnachweise, der Korporationen und Aktiengesell- 
schaften deutlich verfolgen. Die Lage der Maschinen- und Metallindustrie 
sowie der elektrischen Unternehmungen war trostlos. In Berlin haben 
im Jahre 1901 starke Betriebseinschränkungen stattgefunden, große Ent- 
lassungen sind vorgekommen, Lohnreduktionen traten besonders in der 
Holz- und Metallindustrie ein. Von dem Arbeitsnachweis konnte nur 
etwa die Hälfte der Arbeitsgesuche Erledigung finden. Von 28159 nur 
15240. Welchen Umfang die Arbeitslosigkeit in Berlin gehabt, geht 
auch aus der Arbeitslosenzählung von seiten der Gewerkschaften hervor, 
denn wenn auch bei der Schwierigkeit der Erfassung zweifellos Irrtümer 
untergelaufen sind, so können diese nicht das Bild einer außerordent- 
lichen Arbeitslosigkeit umstoßen. 

Der Rhein-Mainverband muß ebenfalls von Arbeitslosigkeit infolge 
Rückgangs der offenen Stellen berichten. In Offenbach und Mainz 
waren Betriebsbeschränkungen festzustellen. In Frankfurt a.|M. lag die 
Arbeitslosigkeit daran, daß die Gelegenheitsarbeiter im milden Winter 
keinen Verdienst durch Schneeschaufeln oder Kohlentragen fanden. 

Düsseldorf berichtet ebenfalls von Arbeitslosigkeit in seinem Regie- 
rungsbezirk. Diese trat in der Stadt Düsseldorf durch die Vor- 
bereitungen der Ausstellung nicht so deutlich zu Tage, zeigte sich aber 
im Verlauf des Jahres 1901 und 1902 in den verschiedensten Industrie- 
zweigen. Die Industriezentren, besonders der Eisenindustrie, haben stark 
gelitten. In den großen Betrieben wurden Feierschichten eingelegt und 
die Arbeit oft erst am Dienstag begonnen. Dennoch waren Entlassungen 
nicht immer zu vermeiden. 

In Hamburg, wo die Arbeitsnachweise hauptsächlich in Händen 
der Unternehmer liegen, bieten die Zahlen der patriotischen Gesellschaft, 
die nur ungelernte Arbeiter vermitteln, kein ausreichendes Material. 
Mit Hilfe von weiteren Zahlen kann man jedoch konstatieren, daß Ham- 
burg verhältnismäßig wenig von der Krisis erfaßt ist, wenn auch ein 
kleiner Rückgang in der Metall-, Maschinen-, Werkzeug- und Holz- 


520 Miszellen. 
industrie festzustellen ist. Auch in llamburg war eine Abwanderung 
nach dem Lande zu konstatieren. 

Alle diese Angaben sind nur Bruchstücke für die Beurteilung der 
Krisis, aber soviel konnte Dr. Jastrow in seinem Schlußworte jedenfalls 
hervorheben, daß die Krisis sich nicht über ganz Deutschland erstreckt 
hat. Vor allem hat sie Süd-Baden, Teile von Württemberg, die Nord- 
und Ostseeküste verschont. Die günstige Lage Badens will Jastrow 
darauf zurückführen, daß hier eine dauernde systematische Pflege der 
Vermittelung von Arbeitskräften von der Stadt aufs Land durchgeführt 
worden ist. In Bezug auf die weiteren Punkte war man einig, daß der 
Umfang der Arbeitsvermittelung nur relative Schlüsse auf den Umfang 
der Arbeitslosigkeit zulasse. Das liegt einmal an der numerisch ge- 
ringen Bedeutung des vorhandenen Zahlenmaterials, zum Teil daran, 
daß gerade bei beginneuden Krisen die Arbeiter den Nachweisen fern- 
bleiben, weil sie doch keine Arbeit zu finden glauben. Zur besseren 
Erkenntnis des Umfangs der Arbeitslosigkeit kommen periodische Züh- 
lungen und die Einheitlichkeit der Feststellung, — zum besseren Aus- 
gleich von Angebot und Nachfrage die stärkere Verbreitung der Nach- 
weisanstalten und ihre Verbindung untereinander in Betracht. Es war 
ein Verdienst der Nachweise, dal sie die Akkumulierung von Arbeits- 
losen in den Großstädten durch Hinleitung auf das platte Land tunlichst 
bekämpft haben. Allgemein stellt das Telephon der Nachweise unter- 
einander ein wichtiges Mittel dar; Voraussetzung ist natürlich die Aus- 
dehnung über das gauze Land. Einheitliche Listen- und Geschäftsführung 
und paritätische Organisation, die sich das Vertrauen von Arbeit- 
gebern und Arbeitnehmern erwirbt, sind besonders wichtige Forderungen. 
Der Wille der Versammlung kam zum Ausdruck in nachstehender 
Resolution, die bereits befolgt ist: 

„Die Verbandsversammlung des Verbandes Deutscher Arbeitsnach- 
weise erachtet die Aufstellung der Arbeitsnachweisstatistik nach ein- 
heitlichen Grundsätzen für dringend notwendig. 

Die Verbandsversammlung erklärt ihre Bereitwilligkeit, die Be- 
strebungen des Kaiserl. Statistischen Amtes, welche auf eine periodische, 
möglichst umfangreiche und genaue Berichterstattung über die Lage des 
Arbeitsmarktes hinzielen, mit allen Kräften zu unterstützen. 

Die Verbandsversammlung beschließt die Einsetzung einer Kom- 
mission und beauftragt dieselbe, im Einvernehmen mit dem Kaiserl. 
Statistischen Amte einheitliche Grundsätze für die Aufstellung der 
Arbeitsnachweisstatistik auszuarbeiten. 

Die Bestimmung über die Zusammensetzung der Kommission wird 
dem Ausschuß überlassen“. 

In Ausführung dieses Beschlusses trat eine Kommission unter Vor- 
sitz des Dr. Freund am 23. Januar dieses Jahres in Berlin zusammen !), 
in der unter Zustimmung des Kaiserlich Statistischen Amtes eine völlige 
Einigung über die einzuführende einheitliche Arbeitsnachweisstatistik er- 
zielt wurde. Die Grundsätze sind festgestellt; es ist beschlossen: 


1) Vergl. den „Arbeitsmarkt“ vom 1. März 1903, 


Miszellen. 521 


1) allmonatlich bis spätestens zum 10. jeden Monats dem Kaiserlich 
Statistischen Amt eine Uebersicht über die Vermittelung im Vormonat 
nach beigegebenem ‚Formular zu übersenden, 2) die Formulare nebst 
Briefumschlag und Adresse den Arbeitsnachweisen kostenlos zu liefern. 
Ferner folgen Bestimmungen über die Art des Verkehrs und die Aus- 
füllung der Formulare. Es sollen nicht die einzelnen Fälle, sondern 
die Personen, welche Arbeit suchen, gezählt werden. Bei den offenen 
Stellen sollen soviel Stellen gezählt werden, als Einzelarbeitskräfte wirk- 
lich (nicht nur zur Auswahl) gesucht werden. Die Formulare unter- 
scheiden 24 Berufsgruppen; im übrigen ist auf die genannte Nummer 
des „Arbeitsmarktes“ zu verweisen. 

Am zweiten Tage der Verhandlungen fand die Arbeitsnachweis- 
konferenz statt, die Herr Rechtsrat Dr. Menziuger leitete. Gegenstand 
der Verhandlung ist das Problem „Arbeitslosenversicherung und Arbeits- 
nachweis“, Relerent Prof. Dr. Herkner, Zürich. Von den Problemen 
sozialpolitischer Natur steht augenblicklich keines so im Vordergrunde 
des Interesses, wie das der Arbeitslosenversicherung. Abgesehen davon, 
daß eine gewaltige Literatur!) sich mit der Angelegenheit beschäftigt hat, 
ist sie auch gerade wieder in der letzten Zeit Gegenstand der Beratung 
von seiten der Interessenverbände, der politischen Parteien und wissen- 
schaftlicher Körperschaften gewesen. Der Katholikentag, der Parteitag 
der Sozialdemokratie, der Parteitag der Nationalsozialen, der Stuttgarter 
Gewerkschaftskongreß, die Versammlung des Verbandes deutscher Orts- 
krankenkassen, zuletzt die Verbandsversammlung der deutschen Arbeits- 
nachweise haben sich damit beschäftigt. Man kann schon daraus die 
Wichtigkeit wie die Schwierigkeit des Problems erkennen. Solange 
die Arbeitslosenversicherung fehlt, fehlt auch der Schlulstein des ge- 
waltigen Gebäudes der Arbeiterversicherung, auf das Deutschland mit 
Recht stolz sein darf. Die Verbandsversammlung hat durch die Mit- 
arbeit von Münnern, die auf diesem Gebiete mitzusprechen berufen sind, 
zweifellos die Frage gefórdert, wenn auch nicht geleugnet werden darf, 
dal noch scharfe Gegensütze bestehen. 

Herkner geht in seinem Referat von den bestehenden Verhältnissen 
aus. Nicht eine Konstruktion einer etwa zukünftig denkbaren, sondern 
den Entwurf einer in der Gegenwart zu verwirklichenden Arbeitslosen- 
versicherung will er entwickeln. Herkner hat selbst ursprünglich für 
den Anschluß dieser Versicherung an die Gewerkschaften plädiert, und 
er bemüht sich auch heute noch, ihren Leistungen auf diesem Gebiete 
gerecht zu werden. Uebersieht man jedoch die ziffernmäligen Leistungen 
der Gewerkschaften und der Gewerkvereine, so ergiebt sich zwar eiue 
erfreuliche Entwickelung in den letzten Jahren, dennoch kónnen die 
Leistungen der Arbeiterverbände im Vergleich zu dem notwendig zu 
Erstrebenden nicht bedeutend genannt werden. Zwar ist der Mit- 
gliederbestand der in der Generalkommission vertretenen Gewerkschalten 
seit 1891 von 277559 auf 686 870 im Januar 1901 gewachsen. Die 


1) ef. die den Protokollen beigegebenen Materialien, die allerdings noch ergänzungs- 
bedürftig sind. 


522 Miszellen. 


Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine haben es in der gleichen Periode 
von 63000 auf 88000 Mitglieder gebracht. Dazu kommen noch die 
Arbeiterverbände konfessioneller Richtung. Da das Koalitionsrecht 
immer noch Beschränkungen aufweist, so sind diese Erfolge sicherlich 
außerordentliche zu nennen. Dennoch dürfen wir nicht allzu große 
Hoffnungen auf die Gewerkschaften für die Arbeitslosenversicherung 
setzen (darin können wir trotz der zahlreichen gewerkschaftlichen 
Literatur der letzten Zeit unsere Meinung nicht ändern), wenn wir be- 
denken, daß nach Kulemann nur 14 Proz. der in Industrie und Handel 
beschäftigten Hilfspersonen gewerkschaftlich organisiert sind. Von diesen 
beruflich organisierten hat noch nicht die Hälfte eine Arbeitslosen- 
versicherung eingeführt. Nehmen wir hinzu, daß ein großer Teil der 
Arbeiter, die Verbänden angehören, welche eine Arbeitslosenversicherung 
kennen, wegen der langen Karenzfrist noch keine Ansprüche auf Arbeits- 
losenunterstützung haben, so werden die Zahlen noch ungünstiger. Herkner 
muß den Gewerkschaften allerdings zugeben, daß sie allein es sind, die auf 
diesem Gebiet bis jetzt überhaupt Erfolge aufzuweisen haben. So haben 
im Jahre 1901 die Buchdrucker allein 501 078 M. für Arbeitslosenversiche- 
rung ausgegeben. Herkner knüpft daran die Frage, ob es denkbar 
wäre, die Entwickelung der gewerkschaftlichen Arbeitslosenversicherung 
so zu fördern, daß sie auch den Millionen von Arbeitern zu gute käme, 
denen sie heute noch fehlt. Eine Reihe von Vorschlägen sind in dieser 
Beziehung gemacht worden, so von dem Gewerkschaftsführer von Elm 
und von dem Nationalsozialen Tischendórfer. Von Elm hat zwei Vor- 
schläge ausgearbeitet. Der eine will die Gewerkschaften zu obliga- 
torischen Vereinigungen erweitern, trägt also in sich schon den Ge- 
danken einer Beschränkung der Freiheit der Gewerkschaften, deren 
Tätigkeit sicher durch die Gesetzgebung gelähmt werden würde. Der 
zweite Vorschlag !) geht auf die Forderung einer Subvention der Gewerk- 
schaften durch das Reich hinaus. Auf diesen Vorschlag hat sich der Ge- 
werkschaftskongreß zu Stuttgart 1902 verpflichtet. Dieser Vorschlag hat 
Vorbilder in belgischen ?) Versuchen, die vor allem in Gent angestellt sind. 
Die Elmschen Projekte sind aussichtslos, da das Reich auf absehbare Zeit 
zweifellos an die Gewerkschaften keine Subvention zahlen wird, ohne 
sich selbst gewisse Machtbefugnisse zu sichern. Innerhalb der Sozial- 
demokratie hat der von Elmsche Vorschlag einen scharfen Gegner in 
dem Reichstagabgeordneten Molkenbuhr gefunden, der für öffentlich- 
rechtliche Versicherung) eintritt. Molkenbuhr meint bei Besprechung 
der Vorschläge von Elms®) „...... es sind Vorschläge aufgetaucht, 
die Wert wären, den ralfiniertesten Gegner der Gewerkschaftsbewegung 
zum Vater zu haben, nämlich den Vorschlag, daß Reich, Staat oder 
Gemeinde den Gewerkschaften Gelder zur Unterstützung von Arbeits- 
losen geben sollten. Die Urheber dieses Gedankens sind zwar von den 


1) Vergl. die Verhandlungen des Gewerkschaftskongresses 1902 sowie die Reichs- 
tagsverhandlung vom 15. Okt. 1902, Rede des Abgeordneten von Elm. 

2) ef. die Rede von Dr. Varlez, Gent. Verhandlungsbericht der Konferenz, S. 209. 

3) Reichstagsverhandlung vom 15. Oktober 1902, Rede des Abgeordneten Molkenbuhr. 

4) „Neue Zeit“, 20. Bd., 2, S. 124. ` 


Miszellen. 593 


besten Absichten durchdrungen und glauben durch solche Unterstützung 
die Gewerkschaftsbewegung zu stärken, aber ich glaube, daß kein Mittel 
gefunden werden kann, welches an Schädlichkeit an dieses herantritt.“ 
Wir unterschreiben die Anschauung Molkenbuhrs vollkommen, weil auch 
wir der Ansicht sind, daß der Charakter der Gewerkschaften dadurch 
völlig verändert werden würde. 

Ein drittes Projekt stammt von dem Lithographen Tischendörfer 
in Berlin!. Er will durch Erhöhung der Krankenkassenbeiträge der 
Arbeiter und Arbeitgeber Fonds schaffen, aus denen dann die Gewerk- 
schaften die Auszahlung an Arbeitslose übernehmen sollen. Arbeits- 
losengeld sollen organisierte und unorganisierte Arbeiter erhalten, erstere 
höhere Beträge dadurch, daß die Organisierten einen Zuschuß aus der 
Gewerkschaftskasse erhalten. Dadurch hofft man Unorganisierte zum 
Eintritt in die Gewerkschaften zu -bestimmen, was an sich ja möglich 
wäre, andererseits aber glaubt man auch den Berechtigungsanspruch bei 
dieser Form der Auszahlung leichter entscheiden zu können. Dieser Plan 
hat dieselben Schattenseiten wie der von Elmsche. Wir müssen fürchten, 
daß die Ueberweisung der Beträge aus den Krankenkassen nicht ohne 
bestimmte Garantien von seiten der Gewerkschaften durchgeführt werden 
könnte. Auch hier also würde die Freiheit der Gewerkschaft gefährdet, 
wenn der Vorschlag zur Verwirklichung käme. So sind auch für diesen 
Plan kaum Aussichten vorhanden. Ein weiterer Plan, den der Verbands- 
vorsitzende Dr. Freund ausgearbeitet hat, fordert einen Anschluß der 
Versicherung an den öffentlichen Arbeitsnachweis?). Die Kosten sollen 
durch Beiträge der Arbeitgeber und Arbeitnehmer gedeckt werden. Nach 
einer Wartezeit von 13 Wochen und Karenzfrist von 14 Tagen sollen solche 
Versicherte, welche ohne ihr Verschulden arbeitslos geworden sind, und 
denen keine Stelle nachgewiesen werden kann, zum Bezug des Arbeitslosen- 
geldes, das für Ledige 1 M., für Familienväter höchstens 1,55 M. beträgt, 
berechtigt sein. Gegen diesen Plan läßt sich vor allem das einwenden, was 
auch von dem Abgeordneten Rösicke als Bedenken erhoben ist, daß diese 
Versicherungsform keine hinreichenden Garantien bietet, die Arbeiter 
also zu Beiträgen zwingt, ohne daß ihnen die Gegenleistung dauernd 
zugesichert werden kann. Herkner lehnt alle diese Vorschläge völlig 
ab und kommt zu der Ueberzeugung, daß nur eine öffentlich-rechtliche 
Versicherung, also eine Zwangsform. Aussicht auf Durchführung haben 
kónne. Auch hier muf man von vornherein den Vorschlag, der früher 
besonders im Mittelpunkt der Diskussion stand, den von Schanz ver- 
tretenen Sparzwang ausschließen. Der Sparzwang könnte immer nur 
sehr kleine Beträge erreichen; Saisonarbeiter würden wohl niemals zu 
nennenswerten Sparguthaben kommen. Der Vorzug, der bei dem 
Schanzschen Plane ursprünglich insofern vorlag, als die Verschuldungs- 
frage bei der Verfügung über selbsterspartes Geld naturgemäß keine 
Rolle spielte, ist dadurch beseitigt worden, daß Schanz jetzt nebenher für 


1) Vergl. „Soziale Praxis" vom 29. Mai und vom 11. September 1902 und 
Korrespondenzblatt der Generalkommission, XII, 23, S. 391. 

2) „Der Arbeitsmarkt“ vom 15. Juni 1902, sowie Verhandlungsbericht der Kon- 
ferenz, S. 244. 


524 Miszellen. 


die Errichtung eines Fonds aus Staats-, Gemeinde- und Reichsbeiträgen 
eintritt, aus dem die Arbeitslosen nach Verzehrung ihres eigenen Gut- 
habens Beträge erhalten sollen. Hierbei werden natürlich Kontrollmaß- 
regeln gegen eine ev. Simulation notwendig, eine Tatsache, deren Ab- 
wesenheit gerade den Vorzug des Schanzschen Planes ausmachte. Der 
Sparzwang wird in Arbeiterkreisen sicherlich keinen Beifall finden, und 
Ilerkner will nun auf dem Boden einer öftentlich-rechtlichen Versiche- 
rung, zu der er sich heute bekennt !, nachdem er früher die Versicherung 
durch Gewerkschaften vertreten hat?), einen neuen Vorschlag unterbreiten. 
Im Vordergrund des Interesses steht bei den öffentlich-rechtlichen Ver- 
sicherungstormen immer noch die kommunale Versicherung, die besonders 
in Georg Adler und in Leopold Sonnemann ihre Wortiührer hat. Für 
die kommunale Arbeitslosenversicherung lassen sich eine Reihe von 
Argumenten anführen. Die Städte sind heute bereits durch die Für- 
sorge für Arbeitslose, durch die Armenunterstützung, Notstandsarbeiten 
u. s. w. in Anspruch genommen. Sie besitzen auch in den Arbeitsnach- 
weisen, den Gewerbegerichten und statistischen Bureaus, wie Herkner 
sagt, bereits die Organe, die für die Arbeitslosenversicherung wertvolle 
Dienste leisten, dennoch kann man vier Argumente mit Herkner be- 
dingungsweise gegen die Kommunalversicherung geltend machen. Erstens 
würde eine neue Versicherungsform neben den bereits bestehenden drei 
notwendig werden; zweitens würde, da die vorgeschlagenen Entwürfe 
nur von einem Reichsgesetz sprechen, das den Kommunen die Ermäch- 
tigung zur Einführung einer obligatorischen Versicherung erteilt, eine 
völlig verschiedene Handhabung eintreten, d. h. es würden nur die so- 
zialpolitisch fortgeschrittenen Stádte von dem Rechte Gebrauch machen, 
wührend die sozialpolitisch zurückgebliebenen, für die es vielleicht am 
wichtigsten wäre, es unberücksichtigt ließen. Drittens: fragt es sich, 
ob bei dem verschiedenen Risiko der Arbeitslosigkeit von Beruf zu 
Beruf und bei der schweren Vorausbestimmung dieses Risikos in Bezug 
auf die Zeit die Kommunen ein genügend weites Gebiet darstellen, um 
dieses Risiko auszugleichen. Es ist auch denkbar, daß bei Industrie- 
anlagen solche Kommunen vorgezogen werden, in denen die Arbeits- 
losenversicherung fehlt. Der vierte Punkt bezieht sich auf die Schwierig- 
keit der Ausdehnung einer Arbeitslosenversicherung auf solche Personen, 
die außerhalb wohnen und in der Stadt beschäftigt sind oder in der 
Stadt wohnen und außerhalb beschäftigt sind. Dem zweiten und dritten 
Punkt kann man ohne weiteres zustimmen; bei dem ersten wird sich 
dagegen zeigen, daß eine bedingungslose Angliederung an eine bestehende 
Organisation in ihrer heutigen Form auch nicht das Richtige darstellt. 
Der vierte Punkt ist verhältnismäßig bedeutungslos und sicher zu über- 
winden. Das Ergebnis seiner vorausgeschickten Kritik ist für Herkner 
die Ablehnung aller bisher gemachten Projekte und die Forderung, eine 
sich über das ganze Reichsgebiet erstreckende, und sich an eine be- 
stehende Organisation anschließende Versicherung zu schaffen. Diese 


1) ef. Protokolle sowie Herkners „Arbeiterfrage“‘, 1902. 
2) ef. Soziale Praxis, 5. Jahrgang, die Polemik Adler-Herkuer. 


Miszellen. 525 


Organisation können die stark zersplitterten Krankenkassen nicht sein. 
Die Landesversicherungsanstalten kennen keine Berücksichtigung des 
Berufsrisikos, und so bleiben nur die Berufsgenossenschaften übrig. 
Der Anschluß der Arbeitslosenversicherung an diese Organisation er- 
scheint deshalb Herkner als die Aufgabe Deutschlands. 

Der Gedanke einer berufsgenossenschaftlichen Organisation der 
Arbeitslosenversicherung liegt von vornherein nahe, so hat auch das 
Zentrum eine solche früher für notwendig gehalten. Nach der 1. Auflage 
des Staatslexikons der Görresgesellschaft, zu einer Zeit, als die Berufs- 
genossenschaften noch als Grundlage der Invalidenversicherung gedacht 
werden, soll auch die Arbeitslosenfürsorge an diese übertragen werden. 
Auch Georg Adler deutet eine solche berufsgenossenschaftliche Organisation 
der Arbeitslosenversicherung an, wenn er auch für die kommunale Ver- 
sicherung eintritt !). Herkner will nun die Berufsgenossenschaften zu den 
Trägern dieser Versicherung machen. Ihre Vorzüge bestehen darin, daß 
sie die berufliche Gliederung enthalten und dem Grundsatz nachkommen 
können, daß jedes Gewerbe für seine Arbeitslosigkeit aufkommen soll. 
Die großen Reservefonds, über die unsere Beruísgenossenschaíten ver- 
fügen und deren Notwendigkeit nicht überall anerkannt wird, kónnten 
die Fonds der neuen Versicherung bilden. Ferner kónnten solche Be- 
rufe von dem Versicherungszwang befreit werden, bei denen nur eine 
minimale Arbeitslosigkeit herrscht, oder bei denen freie Organi- 
sationen so große Leistungen aufzuweisen haben wie der Buchdrucker- 
verband. Wenn die Berufsgenossenschaften heute noch nicht den ganzen 
Kreis versicherungsbedürftiger Arbeiter umfassen — es fehlen diejenigen 
des Handels, einzelner Kleingewerbe und der Hausindustrie — so können 
für diese Zwecke besondere Ergänzungsgenossenschaften gebildet werden. 
Die Abneigung der Arbeiter gegen die Berufsgenossenschaften als bloßer 
Unternehmerverbände will Herkner nicht für so bedeutend halten, daß 
an ihr die Versicherung scheitern könnte. Er will diese Versicherung 
den Arbeitern dadurch annehmbar machen, daß sie keine Beiträge zu 
entrichten hätten, auch hält er es für durchführbar, die Arbeitgeber 
nach Maßgabe der bei ihnen vorgekommenen Entlassungen durch Um- 
lagen zu den Kosten heranzuziehen. Dadurch würde die Arbeitslosigkeit 
zweifellos vermindert und eine Regelmäligkeit der Beschäftigung herbei- 
geführt. Auch die Gewerkschaften würden darunter nicht leiden. Jeder 
Arbeiter, der entlassen wird, soll eine Bescheinigung des Unternehmers 
bekommen, daß er arbeitslos geworden sei; Schwierigkeiten und Streitig- 
keiten in Bezug auf diese Bescheinigung sollte das Gewerbegericht ent- 
scheiden. Die Bescheinigung seiner Arbeitslosigkeit soll nach einer 
Karenzzeit von 2—3 Wochen ?) dem Arbeiter einen Anspruch auf eine 
Unterstützung von 70 Pf. bis 1 M. sichern. Eine Simulation soll durch 
Auszahlung seitens des Arbeitsnachweises möglichst erschwert werden. 
Das Arbeitslosengeld soll bei Ablehnung einer passenden Stelle 


1) H. W. d. St. W. Artikel Arbeitslosigkeit, S. 954. 

2) Diese Karenzzeit ist entschieden zu lang. Mehr als 1 Woche ist zuviel, da der 
Arbeiter sonst der Armenpflege zur Last füllt und 1 Woche genügt, um die prinzipielle 
Bedeutung der Karenzzeit zu wahren. 


526 Miszelllen, 


entzogen werden, bei Streiks soll das Gewerbegericht entscheiden. Die 
Willkür in der Entlassung würde bei der berufsgenossenschaftlichen 
Organisation verringert. Für Arbeitslose könnten durch die Berufs- 
genossenschaften Lehrwerkstütten zur weiteren beruflichen Ausbildung 
errichtet werden. Ein enger Anschluß an die Arbeitsnachweise, als dem 
wichtigsten Mittel, das Risiko zu verringern, ist notwendig. 

Das Gewerbegericht soll auch die Entscheidung im Streikfall über 
die Auszahlung des Arbeitslosengeldes übertragen erhalten. Hier soll 
es als Schiedsamt wirken. Die Unterwerfung unter den Schiedsspruch 
ist die Voraussetzung der Auszahlung von Arbeitslosengeld. Auch die 
Arbeitgeber, die sich dem Schiedsspruch nicht unterwerfen, haben davon 
einen Nachteil, insofern, als die Arbeiter, zu deren Gunsten das Urteil 
gesprochen hat, einen Anspruch an die Berufsgenossenschaft erheben 
kónnten.  Herkner sagt mit Recht, ,indem die Arbeiter dem Schieds- 
spruch zu folgen bereit sind, hóren sie ja in der Tat vom Standpunkt 
der unparteiischen óffentlichen Meinung auf, freiwillig Arbeitslose zu sein." 

Das Korreferat des Herrn Dr. Freund kónnen wir kürzer behandeln, 
da er seine Anschauungen bereits an anderer Stelle niedergelegt hat!) 
und wir auch oben schon darauf hingewiesen haben. Er weist nach- 
drücklich auf den innigen Zusammenhang zwischen Arbeitsnachweis und 
Arbeitslosenversicherung hin. Beide wollen den Arbeiter möglichst 
schnell in Arbeit bringen. Die Kenntnis des Arbeitsmarktes ist absolut 
notwendig, um das Risiko der Versicherung zu verringern. Die Aus- 
breitung der Arbeitsnachweise von einer paritätischen Zusammensetzung 
und mit einem unparteiischen Leiter ist die Voraussetzung der Ver- 
sicherung. Freund hält die Uebertragung an die Gewerkschaften für 
unmöglich, aber das, was an den Gewerkschaften die günstige Seite 
innerhalb ihrer eigenen Arbeitslosenversicherung darstellt, nämlich die 
berufliche Organisation, wünscht er auch auf die Arbeitsnachweise zu 
übertragen; ein Verlangen, das natürlich erst durchführbar ist, wenn 
die absoluten Benutzungsziflern der Nachweise höhere sind als heute. 
Er wünscht eine staatliche Regelung der Nachweise auf kommunaler 
Grundlage, also ein Gesetz, das den Gemeindebehörden das Recht bei- 
legt, unter bestimmten Voraussetzungen eine jede weitere gewerbs- 
mäßige Arbeitsvermittelung auszuschließen, wie es die Abgeordneten 
Rösicke und Pachnicke im Reichstag leider vergeblich beantragt haben. 
In Bezug auf die Verschuldungsfrage hält er es für nötig, das Arbeits- 
losengeld nur bei unverschuldeter Arbeitslosigkeit auszuzahlen. Ueber 
die Verschuldung resp. über eine „angemessene Stelle“ soll der pari- 
tätische Arbeitsnachweis entscheiden. Zur Kontrolle gegen Simulation 
soll das Arbeitslosengeld täglich durch den Arbeitsnachweis ausgezahlt 
werden. Solche Arbeiter, die dauernd Beiträge geleistet, ohne je An- 
sprüche auf Arbeitslosengeld erhoben zu haben, sollen Rückvergütungen 
erhalten. 

Gegen die Anschauungen der Referenten wendet sich eine Reihe 
von Rednern, vor allem die Angehörigen der Gewerkschaften, welche 


1) „Der Arbeitsmarkt vom 15, Juni 1902.“ 


Miszellen., 527 


wünschen, daß die Verschuldung keine Rolle spielen dürfe, zumal das 
Problem, was eine „angemessene Stelle“ sei, nicht bureaukratisch ent- 
schieden werden könne. Nur für die ungelernten Arbeiter wollen die 
Gewerkschaften eine öffentlich-rechtliche Versicherung. Ein Gewerk- 
vereinler glaubt, daß die Arbeiterschaft solche Beträge, wie sie der 
Freundsche Plan verlange, die den Arbeiter mit etwa 12 M. im Jahr 
belasten, nicht aufbringen könne. Gegen Herkners Anschauung, die 
Berufsgenossenschaften zu alleinigen Trägern der Versicherung zu machen, 
läßt sich das einwenden, was Geheimrat Böhmert und der Lithograph 
Tischendörfer am schärfsten ausgesprochen haben: Die Arbeiter wollen 
an den Pflichten teilnehmen; kommt doch die Unpopularität der Berufs- 
genossenschaften gerade daher, daß sie im Gegensatz zu den anderen 
Versicherungsorganisationen die Arbeiterschaft ausschließen. Sonnemann- 
Frankfurt a.M. glaubt, daß es leichter sei, die Kommunalversicherung durch- 
zuführen als eine Reichsversicherung und begrüßt es, daß man sich über 
drei Dinge in ziemlicher Uebereinstimmung befinde, nämlich in der An- 
erkennung der Notwendigkeit eines Versicherungszwanges, der Teilnahme 
von Arbeitern und Arbeitgebern und über die Beurteilung der Stellung 
des Arbeitsnachweises. Seine Anschauung, daß die Landarbeiter die 
Versicherung nicht brauchten, ist zurückzuweisen !). Es ist nicht richtig, 
daß auf dem Lande keine Arbeitslosigkeit herrscht, und der Zuzug nach 
den Städten, in denen eine Arbeitslosenversicherung besteht, würde 
bei Versicherungsfreiheit auf dem Lande entschieden zunehmen. Rösicke- 
Dessau glaubt, daß beim Erlaß eines Gesetzes, das den Kommunen das 
Recht gibt, die Versicherung einzuführen, die Arbeitsnachweise schon 
von selbst eine so große Ausdehnung erlangen würden,, daß man nicht 
nötig haben werde, die Entwickelung der Arbeitsnachweise abzuwarten. 
Auch er hält die Berufsgenossenschaften, deren Verwaltung die Unter- 
nehmer in den Händen haben, nicht für die geeignete Grundlage. Den 
Vorschlag, den Flesch-Frankfurt a. M. entwickelt, halten wir für be- 
sonders wertvoll. Er sieht eine Umwandlung der Berufsgenossenschaften 
als den Weg an, der eine Versicherung möglich macht. Wenn die 
Berufsgenossenschaften auch keine reinen Interessenverbände sind, so 
fehlt ihnen doch die Mitarbeit der Arbeiter auf jeden Fall. Flesch 
glaubt, daß die Kommunalversicherung einen vorbereitenden Schritt zu 
einer beruflichen Organisation darstellt. Der einzige Gegner einer 
Arbeitslosenversicherung überhaupt ist Professor Stieda-Leipzig. Er 
hält die Leistungen der Gewerkschaften auf diesem Gebiete für be- 
deutungslos; für eine öffentlich-rechtliche Versicherung fehlten die 
statistischen Grundlagen. Die Versicherung würde die Simulation groß- 
ziehen; sie sei ein Ideal, das man nicht erreichen könne. Hervorge- 
hoben sei dagegen die Anschauung des Senatspräsidenten im Reichsver- 
sicherungsamte Geheimrat Zacher. Er glaubt, daß gerade die Arbeitslosen- 
versicherung vermögen werde, die Simulation, die in die Krankenkassen 
durch Arbeitslose hineingetragen wird, zu vermindern. Gewerkschaften 


1) Vergl. hierzu die Reichstagsverhandlung vom 15. Oktober 1902; Rede des 
Abgeordneten Molkenbuhr und des Grafen Kanitz. 


528 Miszellen. 


und Gemeinden können nicht Träger der Versicherung sein; die Gewerk- 
schaften nicht, weil sie heute und vermutlich auch in Zukunft die 
Ansprüche nicht zu erfüllen vermögen, die man an eine Arbeitslosen- 
versicherung stellen muß. Auch die Gemeinden sind ein zu kleines 
Gebiet, um das Risiko zu übernehmen. So bleiben nur die Berufs- 
genossenschaften übrig. Die Abneigung der Arbeiter könne man be- 
kämpfen, indem man ihnen die Mitarbeit an den Beaufsgenossenschaften 
gewährt. Er sagte wörtlich: .... „Es wird zugegeben werden müssen 
— und diese Ansicht wird jetzt ziemlich allgemein geteilt — daß, wenn 
wir soziale Probleme zu Gunsten der Arbeiterschaft lösen wollen, wir 
nur mit den Arbeitern und nicht gegen sie vorwärtskommen können.“ 
Zweifellos ist es richtig, daß durch die Vereinigung von Unternehmertum 
und Arbeiterschaft bei der Arbeitslosenversicherung die Produktions- 
anarchie als eine Hauptursache der Arbeitslosigkeit stark abnehmen 
würde. 

Es ist unmöglich, alle die Vorschläge zu behandeln, die auf dem 
Kongreß ausgesprochen wurden, Wir müssen es uns auch versagen, 
die Namen derer zu nennen, die mit großem Geschick und großer Sach- 
kenntnis ihre Anschauung vertreten haben. Es soll nur noch eine kurze 
Skizze eines Planes, den wir mit bestimmten Modifikationen für durch- 
führbar halten, wiedergegeben werden. 

1) Träger der Arbeitslosenversicherung soll eine berufliche ge- 
gliederte Zwangsorganisation sein, die aus den Berufsgenossenschaften 
erwächst und die in paritätischer Zusammensetzung mit einem un- 
parteiischen Leiter gebildet wird. Beiträge!) werden von Arbeitgebern 
und Arbeitnehmern geleistet. 

2) Jede Berufsgenossenschaft ist verpflichtet, einen paritätischen 
Arbeitsnachweis?) auszubilden, der durch seine Vermittlung für den 
ganzen Beruf das Risiko der Versicherung bedeutend erniedrigt. 

3) Der Arbeitsnachweis soll über die Berechtigungsansprüche auf 
Arbeitslosengeld 3) entscheiden. 

4) Berufsgenossenschaften sind für solche Berufe zu bilden, 
in denen eine Arbeitslosigkeit herrscht und die heute noch nicht 
genossenschaftlich zusammengefaßt sind. 

Im Streikfall sowie bei Aussperrung kann selbstverständlich Arbeits- 
losen kein Geld aus der Versicherungskasse gezahlt werden und gerade 
dadurch wird ja das Interesse der Gewerkschaften gewahrt, indem man 
ihnen überläßt, die Lohnkàmpfe der Arbeiter aus eigenen Mitteln 
durchzuführen, so daß sie eine Notwendigkeit für den Arbeiter bleiben. 
Dadurch, daß ihnen die Arbeitslosenversicherung abgenommen wird, 
werden ihre Mittel für speziell gewerkschaftliche Interessen frei. 
Die Berufsgenossenschaften in ihrer heutigen Organisation, also nur 


1) Die Höhe der Beträge kann nach Klassen für die verschiedenen Berufe abgestuft 
werden, auch sind verschiedene Klassen innerhalb der einzelnen Berufe nötig. 

2) Der Arbeitsnachweis soll an die Berufsgenossenschaft angegliedert werden, weil 
man dadurch die Abneigung der Unternehmer gegen die paritätischen Arbeitsnachweise 
überwinden kann. 

3) Die Karenzzeit soll eine Woche nicht übersteigen. 


Miszellen. 529 


aus Unternehmern gebildet, lehnen wir ab. Wir wollen, daß die 
Arbeiter darin Pflichten und Rechte bekommen. Ob mit dieser Um- 
wandlung der Berufsgenossenschaften zum Zweck der Arbeitslosen- 
versicherung auch ihre Organisation innerhalb der Unfallversicherung 
geändert wird, ist eine Nebenfrage. Wünschenswert wäre auch dieses. 

Der gesamte Kongreß zeigte, daß keiner der Anwesenden eine An- 
gliederung an Kranken- oder Invalidenversicherung für wünschenswert 
hielt. Auch der Sparzwang spielte keine Rolle mehr. Im ganzen 
stellte man sich auf den Boden einer öffentlich-rechtlichen Versicherung 
in enger Verbindung mit dem Arbeitsnachweis. Wenn auch kein Zweifel 
darüber herrschen kann, daß die Durchführung der Arbeitslosenver- 
sicherung noch weitaus: schwerer sein wird als die der großartigen 
3 Versicherungszweige, die wir bisher geschaffen haben, so dürfen wir 
uns doch nicht davon fern halten lassen, den ,Sprung ins Dunkle* zu 
wagen, den jede Versicherung auf schwankender Grundlage darstellt. Die 
Arbeitslosenversicherung wird zweifellos die Leistungen der deutschen 
Arbeiterversicherung für den deutschen Arbeiter um ein grolles Stück 
fórdern. Sie wird dazu beitragen, den groflen Kampf zu erleichtern, 
der heute auf dem "Weltmarkte herrscht und in dem der Staat Sieger 
bleiben wird, der über die besten Arbeiter verfügt. 


Dritte Folge Bd. XXV (LXXX). 34 


530 Miszellen. 


Nachdruck verboten. 


X. 


Die holländische Berufszählung von 1899. 
Von Privatdozent Dr. Bernhard Harms (Tübingen). 


Die Organisation der amtlichen Statistik in den Niederlanden war 
bis in die neueste Zeit hinein überaus mangelhaft. Erst seit 1892 
besitzt Holland eine „statistische Zentralkommission“, die dann durch 
Königliche Verfügung vom 9. Januar 1899 in ein „Centraal- Bureau 
voor de Statistiek“ umgewandelt wurde. Vorher war man über eine 
von den einzelnen Ressorts besorgte Verwaltungsstatistik nicht hinaus- 
gekommen. Die Volkszählungen — seit 1829 alle 10 Jahre; dreimal 
in Verbindung mit Berufszählungen — inaugurierte das Ministerium des 
Innern. Zwar hat es an gelegentlichen Ansätzen zu einer durchgreifen- 
den Reform nicht gefehlt, einschneidende Maßnahmen aber scheiterten 
immer an der konsequent vertretenen Anschauung, daß statistische Er- 
hebungen am zweckmüfigsten von den unmittelbar beteiligten und inter- 
essierten Verwaltungsbehörden vorgenommen würden. Erst angesichts 
der Erfolge statistischer Zentralämter des Auslandes bekehrte man sich 
allmählich zu moderner Auffassung vom Wesen der amtlichen Statistik. 
Bahnbrechend wirkte hier der jetzige Direktor des statistischen Zentral- 
bureaus Verrijn Stuart. Ihm ist es auch zu danken, daß die hol- 
ländische Statistik, namentlich hinsichtlich methodischer Durchführung 
und wissenschaftlicher Materialverwertung, in den letzten Jahren unver- 
kennbare Fortschritte gemacht hat. Daß er sich dabei eng an deutsche 
Methode anlehnte, soll ihm gewiß nicht zum Vorwurf gemacht werden. 
Noch mehr würde Verrijn Stuart ohne Frage geleistet haben, wenn 
das holländische Parlament in der Bewilligung der notwendigen Mittel 
immer die erforderliche Einsicht gehabt hätte, Manches Vorhaben multe 
vorläufig unausgeführt bleiben, weil die finanzielle Fundierung nicht zu 
erreichen war. So liegt der holländischen Regierung seit Jahr und 
Tag ein ausgearbeiteter Plan für eine Reichsgewerbezählung vor. Mehrere 
Beamte des Zentralbureaus waren sogar in Berlin, um sich über die 
Erfahrungen, die man hier anläßlich der deutschen Berufs- und Gewerbe- 
zählung von 1895 machte, Auskunft zu holen. Bis heute aber hat die 
Regierung es nicht für opportun gehalten, die nötigen Mittel vom Parla- 
ment zu fordern. Berücksichtigt werden muß allerdings, daß selbst ein- 
fache Volkszühlungen in Holland ziemlich teuer werden, da man das 
System der freiwilligen Zähler nicht kennt. 

Neuerdings ist unter der Leitung Stuarts sogar eine auf breiter 
Basis gehaltene Arbeitsstatistik eingerichtet. Mit Hilfe der durch Gesetz 
vom 2. Mai 1897 ins Leben gerufenen Arbeitskammern wird in einer, 
vorläufig vierteljährlich erscheinenden Zeitschrift!) überaus wertvolles 
Material für die Weiterbildung der sozialpolitischen Gesetzgebung — 


1) Tijdschrift van het Centraal Bureau voor de Statistiek. Die erste Nummer 
erschien Dezember 1902, 


Miszellen. 531 


die freilich unter dem jetzigen Ministerium, das sich auf eine sozial- 
politisch durchaus rückständige Kammermehrheit stützt, sobald nicht 
vor sich gehen dürfte — gesammelt und systematisch verarbeitet. Von den 
übrigen periodischen Veróffentlichungen des Zentralbureaus im Haag ver- 
dienen die „Jaarcijfers“, ein Jahrbuch, das den besten Leistungen anderer 
Staaten auf diesem Gebiete nicht nachsteht, hervorgehoben zu werden. — 

In nachfolgendem soll nun versucht werden, im Rahmen des mir 
zur Verfügung gestellten Platzes eine kurze Uebersicht über die soeben 
veröffentlichten Ergebnisse der Berufszählung vom 31. Dezember 1899 
zu geben. Soweit als möglich sollen dabei auch die früheren Zählungen 
berücksichtigt werden. Vorgenommen wurden diese 1849, 1859 und 
1889, wie bereits erwähnt, immer im Anschluß an Volkszählungen. Vor- 
ausschicken will ich, daß mit Rücksicht auf den zu Gebote stehenden 
Raum die von mir zusammengestellten Tabellen in mancherlei Hinsicht an 
sich reden müssen. Die Interpretation muß sich auf die wichtigsten Erschei- 
nungen beschränken. Aus denselben Gründen werde ich, mit einer 
einzigen Ausnahme, -mich methodologischer Erórterungen enthalten +). 

Bei sämtlichen Zäblungen wurde nur nach dem Hauptberuf gefragt. 
Die Spezialisierung der einzelnen Berufsarten machte naturgemäß mit 
jeder Zählung größere Fortschritte. 1899 unterschied man in 35 Gruppen 
836 Berufstätigkeiten. Die Erwerbstätigen wurden eingeteilt in 

A. Unternehmer für eigene Rechnung. 

B. Unternehmer für fremde Rechnung. 

C. Leitende Beamte und Bureaupersonal, wissenschaftliches und 
technisches Personal (sogenannte „Angestellte“). 

D. Sonstige Gehilfen, Lehrlinge, Fabrik-, Lohn- und Tagearbeiter. 

Die letzte Zählung schließt sich eng an diese Einteilung an, un- 
wesentliche Aenderungen können hier außer Betracht bleiben. Eine tief 
einschneidende, prinzipielle Andersgestaltung aber fordert zur Kritik 
heraus. Während man früher nämlich lediglich den Beruf, ganz unab- 
hängig von der Art des Betriebes, in dem er ausgeübt wurde, erfaßte, 
hielt man sich 1899 an den Betrieb. Beschäftigte z. B. eine Brauerei 
15 Brauer, 3 Böttcher, 1 Zimmerer, 2 Maschinisten und 3 Buchhalter, 
so wurden diese nicht den bezüglichen Berufskategorien zugewiesen, 
sondern sie erschienen in der Statistik als 24 Zugehörige zum Brau- 
gewerbe. Eine Verarbeitung des Materials derart, daß daneben, in 
summarischen Zusammenstellungen, die rein berufliche Gliederung er- 
sichtlich gemacht wäre, ist nicht erfolgt. Als Fortschritt vermag ich 
diese Neuerung nicht zu bezeichnen, denn abgesehen von der Schwierig- 
keit des Vergleichs mit früheren Zählungen, ist das so gewonnene und 
veröffentlichte Material für praktische Maßnahmen — aber auch für 
theoretische Folgerungen — nicht in dem Maße ergiebig, als dies bei 
einer reinen Berufszählung der Fall gewesen wäre. Die beruflichen 


1) Als Quellen standen mir zur Verfügung: 1) Uitkomsten der Beroepstelling in 
het Koninkrijk der Nederlanden op den een-en-dertigsten December 1889. Dasselbe 
für 1899. „Totaal voor het geheele Rijk“. 2) Jaarcijfers voor het Koninkrijk der 
Nederlanden. Rijk in Europa, 1901. 3) Verslagen van den Inspecteurs van den arbeid 
in het Koninkrijk der Nederlanden 1891— 1900. 


34* 


532 Miszellen. 


Organisationen z. B. vermögen mit den vorliegenden Ergebnissen so gut 
wie nichts anzufangen. Was nützt es einer Brauergewerkschaft, wenn 
sie weiß, daß im Braugewerbe so und so viele Personen beschäftigt 
werden, ohne daß ihr gleichzeitig gesagt wird, wie viele davon für ihre 
Organisation in Frage kommen. Oder wie soll eine Lebens- oder Kranken- 
versicherung das Durchschnittsalter der Zugehörigen bestimmter Berufe 
ermitteln, wenn in der Statistik die Berute nach den Betriebswerk- 
stätten, in denen sie ausgeübt werden, gruppiert sind. Ebensowenig 
können mit Hilfe solcher Berufszählung die Unterlagen für gesetzliche 
präventive Maßuahmen in besonders gesundheitsschädlichen Betrieben 
gefunden werden. Denn der Einfluß der beruflichen Tätigkeit auf die 
Lebensdauer läßt sich nach dieser Methode nur ganz oberflächlich kon- 
statieren. Nehmen wir als Beispiel eine Maschinenfabrik. Werden die 
Altersangaben schlechthin für alle in ihr beschäftigten Arbeiter gemacht, 
so läßt das absolut keinen Rückschluß auf die mehr oder minder ge- 
sundheitsschädliche Wirkung der einzelnen Beschäftigungen zu. Man 
denke an die Tätigkeit der Gießer, Dreher und Modelltischler, die unter 
durchaus verschiedenen äußeren Umständen arbeiten. Die summarischen 
Angaben über die durchschnittliche Lebensdauer werden, auf jede einzelne 
Berufsart angewendet, entweder zu hoch oder zu niedrig, jedenfalls aber 
durchaus unzutreffend sein. Der Einwand, daß die Zählung nach dem 
Beruf oder nach der Betriebszugehörigkeit zu ins Gewicht fallenden 
Unterschieden nicht führe, ist ohne weiteres hinfällig. Unsere ganze 
gewerbliche Großproduktion tendiert ohne Frage zum ,Gesamtbetrieb* 
(im Sinne der deutschen Reichsstatistik) bezw. zur ,Fabrikationsanstalt* 
(Bücher). Die in einem derartigen Unternehmen beschäftigten Personen 
bilden niemals eine Berufseinheit, in vielen Fällen handelt es sich nicht 
einmal um verwandte Berufe. Sehr treffend wird dieses Vorkommen 
betriebsfremder Arbeiter in der amtlichen Bearbeitung der deutschen 
Berufs und Gewerbezählung von 1895 (Band 119, S. 17) dargelegt. 
Danach hatte die Schlosserei am 14. Juni 1895 einen Bestand von 
295 700 Personen, darunter 268502 Lehrlinge und Arbeiter; in der 
Gewerbeart Schlosserei hingegen wurden in 26546 Betrieben bloß 
104 885 Personen gezählt, darunter 77 930 Arbeiter. Von diesen gehörten 
aber nur 72374 wirklich der Schlosserei an, die übrigen 5556 waren 
in anderer Eigenschaft in den Schlossereibetrieben beschäftigt, anderer- 
seits arbeiteten außerhalb der Schlosserei in Betrieben der verschiedensten 
Art 122679 Arbeiter als Schlosser. Ganz ähnlich, wenn auch nicht so 
stark ausgesprochen, liegen die Verhältnisse in den Niederlanden. Das 
Nächstliegende wäre deshalb gewesen, mit der Berufszählung eine Ge- 
werbezählung zu verbinden. Konnten aber in dem reichen Holland 
dafür die Mittel nicht aufgebracht werden, so hätte unbedingt an dem 
System der reinen Berufszählung festgehalten werden müssen. Die 
Vorteile des jetzt angewendeten Verfahrens sind gering anzuschlagen, 
denn mit der bloßen Tatsache, daß in den einzelnen Gewerbebetrieben 
eine gewisse Zahl von Personen beschäftigt wird, ist wenig anzufangen, 
wenn nicht gleichzeitig Zahl und namentlich Umfang der Betriebe fest- 
gelegt sind. Berufs- und Gewerbezählung haben durchaus verschiedene 
Aufgaben. Während erstere eine Gliederung der gesamten Bevölkerung 


Miszellen. 533 


in unmittelbarem Anschluß an die persönliche Tätigkeit vornimmt, sich 
also, unabhängig von der wirtschaftlichen Konstellation, direkt an 
das Individuum hält, hat die Gewerbezählung es namentlich mit den 
Entwickelungstendenzen in der Betriebsform zu tun. Die Erfassung 
der Personen dient hier nur als Mittel zum Zweck. Schon daraus 
erhellt, daß aus einer Verwischung dieser Wesensunterschiede unlieb- 
same Verwirrung entstehen mul. Das Streben nach höchstmöglicher 
Vorteilsvereinigung hat in diesem Falle ohne Frage zu folgenschweren 
Resultaten geführt. Soll die holländische Berufszählung von 1899 wissen- 
schaftlichen Ansprüchen genügen, so ist unbedingt erforderlich, daß 
neben der jetzigen Aufarbeitung des Materials eine Zusammenfassung 
nach dem Beruf, ohne Rücksicht auf den Betrieb, in dem dieser aus- 
geübt wird, gegeben werde. Den Interessenten solche Arbeit zu- 
muten, hieße die Aufgaben eines statistischen Zentralamts verkennen. — 

Da die Berufszählung zugleich Volkszählung war, liegt es nahe, 
zunächst einen Blick auf die allgemeine Bevölkerungszunahme zu werfen. 
Insgesamt wurden 1899 5 104 137 Personen gezählt. Die Volksvermehrung 
seit 1830 wird durch folgende Aufstellung veranschaulicht: 


Zählungs- Auf 100 Einwohner 
jahr Männer Frauen Zusammen Männer Frauen 
1830 1 278 046 1335 441 2 613 487 48,9 51,1 
1840 I 401 004 I 459 555 2 860 559 49 5I 
1849 1498811 I 558 068 3056879 49 51 
1859 1 629 035 1 680 093 3 309 128 49,2 50,8 
1869 1 764 118 t 815 411 3 579 529 49,3 50,7 
1879 1 983 164 2 029 529 4 012 693 49,4 50,6 
1889 2 228 487 2 282 928 4511415 49,4 50,6 
1899 2 520 602 2583 535 5 104 137 49,4 50,6 


Die Zunahme der Gesamtbevölkerung betrug demnach 1899 gegen 
1830 95,3 Proz, 1849 66,9 Proz., 1859 54,2 Proz, 1889 13,1 Proz. 
Die Vermehrung der Frauen beläuft sich seit 1830 auf 93,4 Proz., die 
der Männer auf 97,2 Proz. Der beiderseitige Anteil an der Gesamt- 
bevölkerung hat sich um ein geringes zu Gunsten der Männer ver- 
schoben. Offenbar eine Einwirkung der erhöhten weiblichen Berufs- 
tätigkeit. Geboren wurden auf 100 Mädchen durchweg 104—105 Knaben. 

Von der Gesamtbevölkerung lebten in Gemeinden mit über 20000 
Einwohnern 1830 699056 (26,8 Proz), 1899 1857309 (36,4 Proz.), in 
Gemeinden mit weniger als 20 000 Einwohnern 1830 1914421 (73,2 Proz.), 
1899 3246 670 (63,6 Proz.) Personen. Im Verhältnis zu anderen Staaten 
kann hier von einer überaus starken Konzentration der Bevölkerung 
schlechtweg nicht die Rede sein. Allerdings bilden die vier Hauptstädte 
des Landes — diejenigen mit mehr als 100000 Einwohnern — Amster- 
dam, Rotterdam, Haag und Utrecht, eine Ausnahme!) Mit Rücksicht 
auf die Volksvermehrung dieser Plätze ergibt sich folgendes Bild: 


1) Die Städte mit mehr denn 20000 Einwohnern sind folgende: Breda 26096, 
's Hertogenbosch 30517, Tilburg 40628, Apeldorn 25761, Arnhem 56812, Nijmegen 
12756, Haag 206022, Delft 31589, Dortrecht 38386, Couda 22085, Leiden 53657, 
Rotterdam 318 507, Schiedam 27 126, Amsterdam 510853, Haarlem 64079, Helder 25 159, 
Zaandam 21146, Utrecht 102086, Leeuwarden 32162, Zwolle 30 560, Devanter 26212, 
Enschede 24 353, Groningen 66537, Maastricht 34220, 


534 Miszellen. 

Zählungs- I. II. III. IV. Zunahme gegen 1830 in Proz. 
jahr Amsterdam Rotterdam Haag Utrecht I. IH. II. IV. 
1830 202 364 72 294 56 105 43 407 
1849 224 035 90 073 72 225 47 781 10,7 24,6 28,7 10,6 
1859 243 304 106 122 78318 52 894 20,2 46,1 39,8 21,8 
1879 317 011 148 102 113 460 67 633 56,7 104,9 102,2 55,9 
1889 408 opt 201 858 156 809 84346 101,7 179,2 179,5 94,8 
1899 510 853 318 507 206 022 102086 152,4 340,6 267,2 135,9 


Interessant ist die Gegenüberstellung der beiden alten Handelsplätze 
Amsterdam und Rotterdam. Auch in den Bevölkerungszahlen dieser 
Städte kommt zum Ausdruck, was die Handelsstatistik in immer stärkerem 
Male erweist: Die zunehmende Bedeutung Rotterdams. Ver- 
möge seiner günstigen Lage, sowohl hinsichtlich des überseeischen 
Handels als desjenigen mit dem deutschen Hinterlande, absorbiert dieser 
Hafen einen immer größeren Teil des Gesamthandels. Namentlich in 
den letzten 10 Jahren machte diese Verschiebung enorme Fortschritte. 
Die Bevölkerung Amsterdams vermehrte sich seit 1889 um 25,2 Proz, 
diejenige Rotterdams um 57,4 Proz. 

Auf die 11 holländischen Provinzen verteilt, gliedert sich die Be- 
völkerung, wie folgt: 


Zäh 


lungs- 
jahr [brabant 


I Il IH | IV i | SC VER TO VET | dX | X pu 
Nord- | Gelder-| Süd- Nord- |, Fries- | Over- | Gro- | Lin- 
land | holland ` holland GER | Utrepbt land | Usel | ningen Drente burg 


1830 
1849 
1879 
1899 


i 7 
348 891 309 793 | 479 737413 988 137 262|132 359 | 204 909 178 895 


396 420 370716| 5634251477 079 160 295|149 380 | 277 305 215 763 | 188 442| 82 738 205 161 
466 497 466 805 | 803 530/679 990 188 635191 679 | 329 877,274 136 | 253 246/118 845/239453 
553 842 566 549 |I 144 448|968 131 | 216 295|251 034 | 340 262/333 338 | 299 602|148 544 28195} 


Die bezügliche Vermehrung gegen 1830 spiegelt sich in folgenden 
Zahlen wider: 


Zählungs- Das In Prozenten 


jahr Reich I Il III IV V VI VI VII IX X XI 
1849 16,9 13,6 19,7 17,4 15,2 16,8 12,7 20,7 20,6 19,6 29,5 10,9 
1879 53,5 33,7 50,7 67,5 64,8 37,4 44,8 60,9 53,4 60,8 86,8 28, 
1899 95,3 58,7 82,9 138,5 133,9 57,9 89,7 66,5 86,3 90,2 132,6 51,4 

Ueber den Reichsdurchschnitt hat sich nur die Bevölkerung von 


Südholland (mit Rotterdam und Haag), Nordholland (mit Amsterdam) 

und der Provinz Drente vermehrt. Die hohe Durchschnittsvermehrung 

ist demnach hauptsächlich auf das Konto der 3 Hauptstädte zu setzen. 
Der Staatszugehörigkeit nach gab es: 


Zählungs- 
jahr Niederländer Deutsche Belgier Engländer Franzosen Uebrige 
1889 4 462 531 28 767 13 697 1339 1398 2687 
1899 5051 148 31 865 14 903 1307 1018 3626 


der Ausländer betrug 1889 1,1 Proz., 1899 
1,2 Proz, Das Deutsche Reich hatte vergleichsweise 1895 0,9 Proz. 
Ausländer. Die verhältnismäßig hohe Zahl der Ausländer in den Nieder- 
landen hängt wohl in erster Linie mit den regen Handelsbeziehungen 
zusammen, die Holland mit Deutschland und Belgien unterhält. Fast */, 
aller Ausländer sind Deutsche. So sehr diese in Holland im allgemeinen 
zu den Sympathiearmen gehören, so sehr bevorzugt man sie in der Industrie, 
namentlich wenn Handfertigkeit in Frage kommt. In den Berichten 
der holländischen Fabrikinspektoren ist des öfteren zu lesen, daß die 


Die Gesamtzahl 


157 504| 63 868 186 a 


Miszellen. 535 


holländischen Arbeiter sich darüber beschweren, daß die deutschen 
Arbeiter durchweg höhere Löhne beziehen, was sie auf die in Deutsch- 
land zahlreich vorhandenen Fachschulen zurückführen !). 

Die sog., früher sehr ausgeprägte Hollandgängerei trägt 
zu den hohen Ausländerzahlen kaum noch bei. Bis auf wenige Reste 
ist sie heute verschwunden. Auch das die holländischen Inseln auf- 
suchende Badepublikum kommt, da die Zählungen im Dezember ab- 
gehalten wurden, nicht in Frage. 

Die berufliche Gliederung der Bevölkerung kann bei der 
Verschiedenheit sowohl der Erhebungsmethoden als der Materialauf- 
arbeitung im einzelnen nicht verglichen werden. Nach den Haupt- 
berufszweigen geordnet — wobei die prinzipielle Aenderung minder 
schwer ins Gewicht fällt — ergibt sich folgende Aufstellung: 

(Siehe Tabelle I auf S. 536 u. 537.) 

Was auf dieser Tabelle zunächst in die Augen fällt, ist dies: Es 
hat sich seit 1889 eine ganz ausgesprochene Verschiebung zwischen 
Landwirtschaft und Industrie herausgebildet. Die Zunahme der in- 
dustriellen Bevölkerung beläuft sich auf 22,2 Proz., die der landwirt- 
schaftlichen auf 8,7 Proz. Der Anteil der in der Landwirtschaft Tätigen 
an der Gesamtbevölkerungszahl ist sogar zurückgegangen. 1889 kamen 
auf 100000 Einwohner 11 628, 1899 nur noch 11172 in der Landwirt- 
schaft Tätige. Die Verhältnisquote in der Industriebevölkerung indes 
betrug 1889 11 796, 1899 aber 12 746. 

Für denjenigen, der mit der Lage der holländischen Landwirtschaft 
vertraut ist, bieten diese Zahlen nichts Ueberraschendes. Der nieder- 
ländische Bauer wirtschaftet zur Zeit unter überaus mißlichen Verhält- 
nissen. Seitdem ihm die deutsche Grenze für seine Viehausfuhr gesperrt 
ist — angeblich aus sanitären Gründen — fehlt ihm das Absatzgebiet. 
Die holländische Landwirtschaft ist aus vielen Gründen, die zu erörtern 
hier zu weit führen würde, hauptsächlich auf Viehzucht angewiesen. So- 
lange ihr der große deutsche Markt offen stand, prosperierte sie aus- 
gezeichnet. Die stattlichen, schloßartigen Gehöfte der Provinz Groningen 
sind die besten Zeugen dafür. Nun aber konnte das deutsche Rheider- 
land, namentlich soweit Ost-Friesland in Frage kam, mit den holländischen 
Nachbarn nicht konkurrieren, die deutschen Grenzbauern sahen sich — 
da sie zum großen Teil selbst auf Viehzucht angewiesen waren — in ihrer 
Existenz bedroht. Die Schließung der Grenze bewahrte sie vor der 
Notwendigkeit, sich auf andere Bewirtschaftung ihrer Güter, die überdies 
schwer möglich gewesen wäre, einzurichten. Da alle Bemühungen auf 
holländischer Seite zur Wiedereröffnung der Grenze erfolglos blieben, 
geriet die holländische Landwirtschaft, der man auch die Ausfuhr von 
Hackfrüchten erschwerte, in eine unverkennbare Notlage. Eine gewisse 
Landflucht war die selbstverständliche Folge davon. 

Demgegenüber hat sich die holländische Industrie gerade im letzten 
Jahrzehnt stark entwickelt. Namentlich Amsterdam und Rotterdam sind 
Mittelpunkte industrieller Tätigkeit geworden. In neuester Zeit vor- 


1) In einer Brauerei Haags erhalten die deutschen Brauer sogar ein größeres 
Quantum Freibier. 


536 Miszellen. 


Tabelle I. Die berufliche 


1889 1899 
Berufszweig | = = 
insgesamt | Männer | Frauen | insgesamt | Männer | Frauen 
| 
Industrie 532 181 466 513| 65 668! 650 574 563400! 87 174 
Landwirtschaft 524 624 451756] 72808| 570 278 490 694| 79584 
Fischerei und Jagd 16 650 16 586 64| 22496 21 942 554 
Handel und Versicherungs- 
wesen 268 730 231623| 37107| 332224 282769 49455 
Liberale Berufe 30015 26 247 3768| 13110 11611 1 499 
Privatlehrer 9655 4 948 4707| 15128 6 860 8 268 
Armen- und Krankenpflege 3 782 I 390 2392| 11996 3 191 8 805 
Persönliche Dienste 166 495 9322| 157 173| 197 511 7930| 189 581 
Oeffentliche und private 
Beamte 63 225 58918 4307| 67374 61 212 O 162 
Im Kirchendienst 12 208 7 738 4 470 9 597 7 357 2 240 
Pensionierte 5 540 5 501 39 7 072 6923| 149 
Ohne Beruf 2853 281 923 446|1 929 835|3 173 431 |I 023 444!2 149 987 
Ohne bestimmten Beruf 25 164 24 629 535| 33346 33 269: 7 
Summa l4 511 550!)|2 228 617|2 282 933 5 104 137 ?)|2 520 602,2 583 535 


nehmlich Rotterdam, das, an günstigen Verkehrswegen gelegen, immer 
mehr große industrielle Unternehmungen um sich konzentrierte. Selbst 
die von Alters her in Amsterdam ansässige Brillantenindustrie und Diamant- 
schleiferei zeigen neuerdings große Neigung, einen Teil ihrer Betriebe 
nach Rotterdam, oder gar über die Grenze hinaus, nach Antwerpen zu 
verlegen. Wenn es sich vorläufig auch nur um einzelne Firmen handelt, 
so wirken hier doch Tendenzen, mit denen Amsterdam in Zukunft zu 
rechnen hat. Die Hauptindustrien Hollands sind folgende: Textil- 
industrie in Enschede, Hengelo und Hilversum; Tabakindustrie in 
Amsterdam, Eindhoven, Kampen und Rotterdam. Tonwarenfabri- 
kation in Zuid-Limburg; Wollindustrie in Tillburg und Leiden; 
Kartoffelmehlfabrikation in Groningen; Schnapsbrenne- 
reien und Oelschlägereien in Delft; Diamantschleiferei, 
Brillantenindustrie, Eisengießerei, Metallbearbeitung, 
Schokolade- und Kakaofabrikation in Amsterdam, Schiffbau 
in Amsterdam und Rotterdam. 

Eine zahlenmälige Darlegung der Entwickelung dieser einzelnen 
Industrien würde über den Rahmen vorliegender Abhandlung hinaus- 
gehen. Soweit nötig, wird bei Erörterung der sozialen Gliederung der 
erwerbstätigen Bevölkerung darauf zurückzukommen sein. Wenden wir 
uns zunächst zu den übrigen auf Tabelle I verzeichneten Berufszweigen. 

Ein unverhältnismäßig großer Teil der holländischen Bevölkerung 
widmet sich dem Handel. Daß dies in stark zunehmendem Maße der 
Fall ist, beweist die Tatsache, daß die Vermehrung der bezüglichen 
Personen sich auf 23,6 Proz. beläuft. Ihr Anteil an der Gesamt- 
bevölkerung betrug 1899 6,5 Proz., 1889 erst 5,9 Proz. Auch die 


1) Die Zahl differiert mit der Volkszählung des gleichen Tages um 137. 
2) Inklusive 50 unbekannten Berufes. 


Miszellen. 537 


Gliederung der Bevölkerung. 


Von 100 000 Personen, Von 100000 männ-|Von 100000 weib- 


Zu- bezw. Abnahme(—) der Bevölkerung fallen) lichen Personen lichen Personen 
auf 0 fallen auf re. fallen auf .... 
insges. | Männer Frauen, + | : | E 8 

Prés, | Proz. | Proz. 1889 1899 1889 | 1899 1889 1899 
— no — —— + — — — c m 
22,2| 20,7 32,7, 11796 12 746 20 932,6 | 22 351,8 2 876,4 3 3742 
8,7 8,6 9,2, 11628 II 172 20 270,6 | 19 467,3 3 191,8 3 080,4 
35,1] 32,2| 765,6 369 444 744,3 870,5 | 2,8 21,4 
23,6) 22, 33,2) 5956 6 508 10 393,2, 11 218,3 1625,4| 1914, 
— 56,8|— 55,7 |— 60,2 665 256 | 1177, 460,6 165,0 58,0 
56,6) 38,6 75,6! 544 | 296 222,1 272,1 206,1 320,0 
217,1] 129,5 | 268 | 84 235 62,3 126,5 104,7 340,8 
18,6 — 14,9 20,6 3 690 3569 | 418,3 315,0 6 884,2 7 338,0 
6,5 3,8| 43 1072 | 1319 | 2643, 2 428,4 188,6 238,5 
— 21,3| — 4,9 — 49,8 271 188 | 347,8 291,8 195,8 86,7 
27,00 25,8, 282 123 | 138 246,8 274,6 1,7 5,7 
11,2) 10,8 11,4! 63244 62 176 41 435,8 | 40603,1| 84 533,1 | 83 218,8 
32,5, 35,1 1— 85,6) 558 653 I 105,1 1 319,8 l 24,4 2,9 


3 
13,1| 13,1 13,1| 100 000 100 000 | 100 000 100 000 | 100000 | 100 000 


Fischerei ist eine stark besetzte Berufsart. Auffällig erscheint der 
Rückgang der „Freien Berufe“, deren Vertreter einen Verlust von 
56,3 Proz. aufweisen. Derselbe ist jedoch rein formaler Natur und be- 
ruht auf der Verschiedenheit der Erhebungsmethoden. Die freien Berufe 
umfassen nämlich auch die Buchhalter, Schreiber etc., die 1899 nur 
insoweit zu einer besonderen Kategorie vereinigt wurden, als sie nicht 
in einem bestimmten Gewerbe beschäftigt waren. Denn anderenfalls 
galten sie ja als Zugehörige der ihnen Unterhalt gewährenden Betriebe. 

Angesichts der holländischen Schulverhältnisse — allgemeiner Schul- 
zwang besteht erst wenige Jahre — kann die große Zahl der Privat- 
lehrer nicht wunder nehmen. Seit 1889 hat sie sich um 56 Proz. 
vermehrt. Die Gesamtzahl aller Schüler und Schülerinnen belief sich 
1899 auf 830688; auf die Privatschulen fielen davon 326 957 (39 Proz.). 
Die in der Zahl 151258 einbegriffenen Fachschullehrer machen kaum 
einige Hundert aus. Das ï'ach- und Fortbildungsschulwesen liegt in 
den Niederlanden noch sehr im zroen. Weder Staat noch Gemeinde 
sind bereit, dafür Mittel auszuwerfen.  Bezügliche Antrüge sind un- 
zühligemal gestellt. 

Von Bedeutung ist die 32,5 Proz. betragende Zunahme der ,ge- 
legentlichen“ Arbeiter. Auch darin drückt sich die zunehmende In- 
dustrialisierung des Landes aus. Auf die Rubrik ,Berufslose* in 
der sämtliche „Angehörige“ untergebracht sind, fielen 1889 63,2 Proz., 
1899 62,1 Proz. Ohne Frage weist das auf eine fortschreitende Ver- 
wendung der weiblichen Arbeitskraft hin. Wir werden uns damit noch 
besonders zu beschäftigen haben. 

Als eigentliche Erwerbstätige kommen in Frage 1889 1299670 
Männer und 353059 Frauen, 1899 1490185 Männer und 433 399 
Frauen. Das bedeutet eine Zunahme bei den Männern von 10,5 Proz., 


538 


bei den Frauen von 22,6 Proz. 


Miszellen. 


Nehmen wir die gewerblichen Gruppen 


— Industrie, Landwirtschaft, Handel und Verkehr — besonders, so er- 
geben sich 


Männer Frauen insgesamt 
1889 1 166 478 175 779 I 342 257 
1899 I 358 906 216 767 1575673 


Die Verteilung dieser Erwerbstätigen auf die einzelnen Gruppen 
und die Gliederung nach der sozialen Stellung zeigt Tabelle II. 


Tabelle II. 


Die Gliederung der Bevölkerung 


C. 
8: B: Leitende Beamte, 
Unternehmer für Unternehmer für | Büreaupersonal 
eigene Rechnung fremde Rechnung | („Angestellte“) 
Betofigrappin 1899 | 1899 1899 
= | | | ' 
$ | 8 ssBu 3 |3 338; 2 
= = ogEZG 5 = = E = 
a NS (ARE de Ve (een à 
1. Ton-, Diamant-, Glas- i , | 
und Steinwerke 1568| 107| 57,1 148 3) 10,2| 1365 13, 2104 
II. Buch- und Stein- | | | 
druckerei 1255 26,—15,4 | 84 2 95,4 1022 34 4834 
HI. Baugewerbe 32 802| 359 42, 353) I.— 5,6) 3553 8 1005 
IV. Chemische Industrie I 139 68|— 4,4 173, 4|—12,4| 1336) 630 62, 
V. Holzbearbeitung 11335, 188] 0,07 122 ti 24, 849) 9 175,9 
VI. Konfektionsgewerbe 15 908 31896 18,71 157 231| 23,6 924| 327 230, 
VII. Kunstindustrie 405 86 —22,3 | al bo 52! I 4309 
VIII. Lederfabrikation 17121| 200 3,1 141 ı 36,5  495| 4 326,5 
IX. Metallgewinnung 1039, 20 — 7,9 ; 63| — | —22,2 322| — | 101,* 
X. Metallverarbeitung 9131| 233l— r1, 162| — | 24,6| 1006 8 2900 
XI. Papierfabrikation 644! 23| 225,4 27 D 64,45 349 8 425.0 
XII, Schiffbau 3278|  84| 10,8 | 65! — | Bal 861| — 2529 
XIII. Maschinenfabrikation | 2773| 28 9,38, 107] 1| 217,6| 1921 9 391,1 
XIV. Textilindustrie 2180| 593 — 20,1 | 147| 16| — 0,6| 1738 39 1341 
XV. Gas und Elektrizität 26, I'—12,9 97| — 24,4 649 I 550,0 
XVI. Nahrungs- und Ge- | | 
nußmittel 26 ged T1188. 12,1 | 1197| 25° 57,5] 6323 137 387:2 
XVII. Landwirtschaft 158400 20884 13,0 | 2719 64 5,5| 2765 123: 479° 
XVIIL Fischerei und Jagd 7188) 46: 21,3 205| — 5, 1172 8, 225 
XIX. Warenhandel 79 684,28 502| 21,5 | 29111009: —52,1/26 110, 7549, 14$ 
XX. Verkehrswesen 32476 6578 9,1 | 3245! 201 35,017 878] 1084 135 
XXI. Kredit- u. Bankwesen| 1037° 1612162) 415) 1) Aa 3728: 22 1085. 
XXII. Versicherungswesen 232 — 57,8 | 316] 1| — 65,5) 2828 68 Su 


Hinsichtlich der Gliederung der Zugehörigen aller Gewerbe ergibt 
sich zunàchst folgendes: 


Unternehmer (A) 
für eigene Rechnung 


Unternehmer (B) 
für fremde Rechnung 


Angestellte (C) 


Arbeiter etc. (D) 


1899 497 536 14419 87 425 976 293 
1889 439655 17 514 36 115 848 973 — 
57 881 —3 095 51310 127 320 


Die Unternehmer für eigene Rechnung vermebrten sich demnach um 
15,2 Proz.: diejenigen für fremde Rechnung hingegen verminderten 


Miszellen. 539 


sich um 17,7 Proz.; die Zunahme der Angestellten beträgt 142 Proz., 
die der Arbeiter etc. 15 Proz. Auf 1 Unternehmer kamen 1889: 1,9, 1899: 
2,1 Angestellte und Arbeiter. Nehmen wir die Landwirtschaft 
gesondert, so ergeben sich hier 


A. B. C. D. 
1899 179 344 2783 2888 385 263 
1889 158 761 2638 498 362 727 
20 583 145 2390 22536 
nach der sozialen Stellung. 
D. 
Sonstige Gehilfen, Lehr- Von 100 hóri 
linge, Fabeikı, Lohn: und on 100 Berufszugehórigen waren 
Tagearbeiter 
1899 1889 1899 
g -2 H 
E $ | 528 i | 
= Sgal À | B ©. | D. | 4. | B. | € | D. 
AL | 


11 388 85 10,7 | I2,51| O,36| 1,50 | 85,68 | 9,21] 0,006 | 7,59 82,56 
107 669 | 155 23,9 | 26,31| oail 1,48! 71,90 | 22,88 — 0,02 | 74,41 
5 952 910 26,3 | 15,57 | 2,49 | 14,95 | 66,97 | I81| 1,78 | 19,25 | 67,19 
25 663 653 3,3 | 30,80 | 0,26 | 0,88 | 68,10 | 29,68 | 0,31 2,21 | 67,78 
19092 | 23032 21,6 | 53,24 | O,42| 0,50 | 45,84 | 52,20 | 0,42 1,36 | 46,00 
835 302 18,9 | 39,55 — 0,69 | 59,76 | 29,15 = 3,14 | 67,51 

20 695 1169 7,2 | 44,90 | 0,28| 0,82 | 54,50 | 43,49 | 0,35 1,25 | 54,89 


13 314 1 489 6,0 7,54| 0,53| 1,04 | 90,89| 6,56 


28 607 3 285 18,6 3,74| O,46| 1,56 | 94,28 | 4,77 | 0,43 3,92 | 90,87 
0,38 1,98 | 91,06 
| 


29 346 438 | — 6,3 | 22,80| 0,31! 0,63| 76,26 23,22 ! 0,40 2,61 | 73,86 
5032| 908 125,6 7,05| 0,58| 2,29 | 90,08 | 9,53 | 0,40 5,10 | 84,95 
18 437 12 81,5 | 22,46 | 0,44, 1,81| 75,29 | 14,78 | 0,28 3,78 | 81,14 
14 702 411 336,0 | 39,20 | 0,53| 6,09 | 53,68 | 14,03 | 0,54 9,67 | 75,74 
30 813 13 960 11,8 7,81, 0,37 1,71 | 90,11 5,60 | 0,32 3,59 | 90,47 
3702, 9 132,7 1,71) 4,32| 5,64 88,41 0,60! 2,16 | 14,49 | 82,74 
| | 
75 017 3 734 37,4 | 29,52 | 0,92 1,57 , 67,98 | 24,40 | 1,06 5,64 | 68,87 
326750, 58513 6,2 | 30,26 | 0,50, 0,10 69,14 | 31,44 | 0,48 0,50 67,55 
13 377 500 36,9 | 35,81 1,16! 2,17, 60,86 | 32,15 | 0,91 5,24 | 61,68 
38 224 2 121 10,7 | 69,89 | 2,31, 12,89 | 14,91 | 58,13 | 2,10 18,08 21,67 
72 327 2290| —ı2,1 | 27,27 | 1,94 | 6,13 64,06 | 28,69 | 2,58 | 13,93 | 54,83 
666 8| 1275,5 | 11,30 | 56,36 | 25,42 | 6,92 | 17,86 | 7,05 | 63,63 | 11,48 
696 5| 70110 | 13,89 | 83,61, 3,00! — 5,59 | 7,65 | 69,82 | 16,92 


862 304 | 113 989 15,0 | 3255| 1,50| 2,69! 63,24| 31,57 oan | 5,54 | 61,95 


Die Zunahme beträgt hier bei A 12,9 Proz, bei B 5,5 Proz, bei 
C 479 Proz, bei D 6,21 Proz. In die Augen füllt dabei die geringe 
Zunahme der landwirtschaftlichen Arbeiter, auf 1 landwirtschaftlichen 
Unternehmer kamen ihrer 1889: 2,3, 1899: 2,1. Von 100 landwirt- 
schaftlichen Berufszugehörigen waren 


A. B. C. D. 
1889 30,26 0,50 0,10 69,14 
1899 31,44 0,48 0,50 67,55 


540 Miszellen. 


Diese Zahlen ergeben zweifellos eine Verschiebung zum Klein- bezw. 
Mittelbetrieb. Der relative Anteil der Unternehmer wurde größer, der- 
jenige der Arbeiter geringer. Die Begünstigung der mittleren Betriebe 
bei gesteigerter intensiver Bewirtschaftung kommt, wie in Deutschland, 
auch in Holland immer deutlicher zum Ausdruck. Die landwirtschaft- 
lichen Großbetriebe haben hier vor allem mit starkem Arbeitermangel 
zu kämpfen. Ihre Produktionskosten werden durch die fast unerschwing- 
lich hohen Arbeitslöhne beträchtlich hinaufgeschraubt. Man wird des- 
balb nicht fehlgehen in der Annahme, daß der bereits konstatierte Rück- 
gang der landwirtschaftlichen Bevölkerung in erster Linie den Grob- 
betrieb trifft. 

In der gesamten Industrie (I—XVI) wurden gezählt: 


A. B. C. D. 
1899 162 433 3332 23 993 460 816 
1889 149 752 2615 7 743 372 215 

12 681 717 16 250 88 bot 


Wir haben es hier mit einer Zunahme der selbständigen Unternehmer 
von 8,4 Proz., der Unternehmer für fremde Rechnung von 27,4 Proz. 
zu tun. Indes spielt diese letzte Kategorie eine geringe Rolle, so daß 
sie füglich außer Betracht bleiben kann. Eine hohe Zunahmequote 
(209,8 Proz.) weisen die Angestellten auf. Die Arbeiter nahmen um 
26,4 Proz. zu. Auf 1 Unternehmer kamen 1889: 2,4 1899: 2,9, An- 
gestellte und Arbeiter. Die Tendenz zum Großbetrieb dürfte tatsäch- 
lich ausgesprochener wirken, als es in diesen Zahlen zum Ausdruck 
kommt, denn die Zahl der Betriebseinheiten ist ja wesentlich kleiner 
als die der Selbständigen, da bei solcher Gegenüberstellung die soge- 
nannten „Mitinhaber“ außer Ansatz bleiben müssen. In Deutsch- 
land kamen auf einen der in Frage stehenden Betriebe 1882: 2,4, 
1895: 3,3 Personen. Identifizieren wir, um den Vergleich zu ermög- 
lichen, die holländischen „Selbständigen“ mit „Betrieb“, so kamen aut 
einen solchen 1889: 3,5, 1899: 3,9 Personen. Nach Abrechnung der 
„Mitinhaber“ dürfte der durchschnittliche Betriebsumfang noch größer 
sein. Tatsächlich ist denn auch das eigentliche Handwerk in Holland 
nicht annähernd in dem Maße erhalten geblieben als in Deutschland. 

In den einzelnen Industriezweigen gestaltet sich die soziale Gliede- 
rung stark verschieden. Mehr als die Hälfte aller Erwerbstätigen bilden 
die Selbständigen nur noch im Konfektionsgewerbe. Das war auch 
1889 bereits der Fall. Stark zurückgegangen sind die Selbständigen 
im Schiffsbau bezw. in der Wagenfabrikation (von 22 auf 14 Proz.), in 
der Maschinentabrikation (von 39 auf 14 Proz.) in der Kunstindustrie 
(von 39 auf 29 Proz.) und im Baugewerbe (von 26 auf 22 Proz.). Unter 
10 Proz. aller Erwerbstätigen bilden die Selbständigen in den Ton-, 
Glas-, Kalk- und Diamantwerken, in der Buchdruckerei, im Bergbau, 
in der Papierfabrikation, Textilindustrie, Gas und Elektrizität. Relativ 
zugenommen haben die Selbständigen nur in den Diamantwerken. 
Im übrigen auf der ganzen Linie Verluste, bezw. ein stärkeres An- 
wachsen der Abhängigen!!) Der Großbetrieb reißt immer größere Teile 


1) Die Zunahme der Selbständigen in der Pupierfabrikation ist formaler 


Miszellen. 541 


der Produktion an sich. Er verdankt seine Existenz nicht allein dem 
vermehrten Konsum und dem ausländischen Markt, sondern er greift 
in starkem Maße in das Produktionsgebiet des Kleinbetriebes ein. Die 
geringe Zunahme der Selbständigen auch gegenüber der Bevölkerung 
weist deutlich darauf hin. Gesetzliche Maßnahmen, die diesen Prozeß 
vielleicht verlangsamen könnten, hat man bisher nicht ergriffen. Ver- 
mutlich ist es auch schon zu spät. 

Die Rubrik Warenhandel weist, ebenso wie das Versicherungs- 
wesen, einen relativen Rückgang der Selbständigen auf. Zugenommen 
haben diese allein im Kredit- und Bankwesen. Die angebliche Zunahme 
im Verkehrswesen ist wieder formaler Natur. Es dürfte aber von 
Interesse sein, über die tatsächliche Entwickelung des Verkehrswesens 
einige Zahlen zu geben. Die holländischen Eisenbahnen beschäf- 
tigten 


Leitende Beamte Angestellte Arbeiter 
1899 78 7909 18 062 
1889 45 3270 11401 
33 (73,3 Proz.) 4639 (141,9 Proz.) 6661 (58,4 Proz.) 


1899 waren ca. 1100 Frauen darunter. 
Hinsichtlich der Seeschiffahrt ergibt sich folgendes Bild: 


A. B. C. D. 
1899 248 139 2516 9916 
1889 537. 437 1466 5731 
—289 — 298 1050 4185 


Auch hier zeigt sich ein unverhältnismälig starker Rückgang der Selb- 
ständigen, die offenbar der Konkurrenz der Dampfschiffahrt erliegen. 
Auf das Zurückdrängen der Segelschiffahrt weist auch die Tatsache 
hin, daß die Zahl der Matrosen von 5138 auf 3871 fiel, während 
gleichzeitig die der Heizer von 516 auf 1205 stieg. Die großen Dampf- 
Schiffe bedürfen der Matrosen nur in geringer Zahl. 

Auch in der Binnenschiffahrt ist die Zahl der Matrosen 
zurückgegangen. Zur Kanal- und Flußfahrt bedient man sich statt der 
Schlepper, Pferde und Segel immermehr des Dampfes. 1899 wurden 
in der Binnenschiffahrt bereits 950 Heizer und 773 Maschinisten be- 
schäftigt. Der Großkapitalisınus hält auch hier seinen Einzug. 

Die Gliederung der holländischen Bevölkerung nach dem Alter 
ist auf Tabelle III dargestellt. 

(Siehe Tabelle III auf S. 542 u. 543.) 

Die Interpretation kann kurz sein, da bei einem Zeitraum von 
10 Jahren die Verschiebungen naturgemäß unbedeutend sein müssen. 
Auffallend ist die Zunahme des relativen Anteils der Uebersiebzigjährigen. 
In Deutschland lieferten diese 1890 2,6 Proz. der Gesamtbevölkerung, 
in Holland 1889 2,9 und 1899 3,2 Proz. Günstiges Klima und ein- 
fache Lebensweise, namentlich in Nordholland, dürften die Hauptursachen 
dieser Erscheinung sein. Solche Annahme wird durch die Tatsache 


Natur, da, im Gegensatz zu 1889, bei der letzten Zählung die Buchbinderei in dieser 
Gruppe untergebracht wurde. 


542 Miszellen. 
Tabelle III. Die Gliederungir]: 
Es hatten ein Alter von ... Jahren 
1899 
Berufszweig "eo D a wc 2 eo | xu EE. 
bk E = - E Gel | à $ | © | De t- 
a d d | l | | | l INS 
E $123)981] 8181 8 1 2 St 
Industrie 366 18 158| 38 522/153 416/193 635/143 333 59 679] 20 606, 12 381 vi 
Landwirtschaft 902 8690| 22 291|113 182/153 4311123 678| 72398 31 597, 224% 1: 
Fischerei u. Jagd 35 469| 1008| 4633| 7086| 5281| 2152] 850 g zl 
Handel u. Versicherungs- | 
wesen 108| 2457| 6804| 48 412,102 564| 95 350| 43 812 15088 oi | 
Freie Berufe 6 61 258) 1711| 4916! 3675| 1288 487 39, Y, 
Privatlehrer = 20 70! 2468 6573| 3800| 1365 378 a m 
Armen- u. Kranken- 
pflege — II 35| 1331) 4546| 2932| 1682; 683: y x 
Persönl. Dienstleistungen 255| 4082| 13 418| 82 829| 59014) 21780) 9432, 3250| 1979) 14; 
Oeffentliche und private | | 
Beamte — 49 536 10504, 24653| 19687| 7418 2197 123! 16 
Im Kirchendienst — 2 8, 360| 3050| 2961, r625| 680) 44 4 
Pensionierte — Il — | 5 222 1235| 1667 1184) (on (EI 
Ohne Beruf 1 456 018 180 630/123 913 235 595/391 952/349 419/177 657 78 401| 65 01144 
Ohne bestimmten Beruf D 66| 293 4538| 10183. 10098 4796, 1696! 945 t5 
Summa | 1 457 695 214 096|207 156,658 984 opt 825|783 229/384 97 1|157 097 116804 101 j^ | 


erhärtet, daß der an Holland stoßende preulische Regierungsbezirk 
Aurich mit seiner den Niederländern durchaus verwandten Bevölkerung 
die niedrigsten Mortalitätsziffern Preußens aufweist. 

Besonders interessant gestaltet sich in Holland die Altersgliederung 
der Erwerbstätigen. In der Landwirtschaft ist der Anteil der 
Beschäftigten im Alter von 12—15 Jahren von 4,30 Proz. auf 5,50 Proz. 
gestiegen. Die Quote der Beschäftigten im Alter von unter 12 Jahren 
ist sich mit 0,16 Proz. gleich geblieben. In der Industrie vermehrten 
sich die Erwerbstätigen im Alter von 12—15 Jahren von 7,8 Proz. auf 
8,7 Proz. Das höchste Alter (71 und mehr) ist in der Landwirtschaft 
mit 3,8, in der Industrie mit 1,6 Proz. vertreten. Ueberragt wird dieser 
Anteil von den Geistlichen, die zu 4,9 Proz. ein Alter von über 
71 Jahren haben. In Frage kamen hier 1899 2 Bischöfe, 121 katholische 
und 56 protestantische Pfarrer. 

Von jeher sind in der holländischen Industrie Kinder und Frauen 
in großer Zahl beschäftigt worden. Schon 1874 versuchte man deshalb 
mit einschneidenden Maßnahmen die schlimmsten Mißstände zu beseitigen. 
Der Erfolg aber blieb aus. Erst das Gesetz vom 5. Mai 1889 brachte 
Wandel. Kindern unter 12 Jahren wurde die Tätigkeit in der Industrie 
verboten. Für Personen im Alter von 12—16 Jahren, sowie für Frauen 
führte man den 11-stündigen Maximalarbeitstag ein. Ueber den Anteil 
der zur Zeit beschäftigten „Jugendlichen“ an der Gesamtzahl aller in 
der Industrie tätigen Arbeiter geben die Berichte der Fabrikinspektoren 
eingehende Auskunft. In Bezug auf Alter und Geschlecht der in den- 
jenigen Betrieben beschäftigten Personen, die von der Fabrikin- 
spektion besucht wurden, ergibt sich für die Jahre 1891—1900 
folgendes Bild: 


| 


Miszellen. 


Bevölkerung nach dem Alter. 


543 


Von 100 Berufszugehörigen hatten ein Alter von ... Jahren 
1889 1899 
= | e an | N a © e Iw jo Ia £ MIA) A 
STI | |e le IS le Estelle) 
EE SER dei ul Pad pb rb SR 3955 omm A 
3 N + 2 | ei © - Ke © -E 5 e Ka | © 
EN ea | | € a0 | 1e Et ECS E e ow e 
| | | 
0,07: 2,6 | 5,2 [20,9 ER 23,2 10,4 | 3,6 2,5| 1,7 0,06 2,8 15,9 23,6 |29,8 22,0| 9,2| 3,2) 1,9 
0,18, 1,8 | 3,1 |19,7 (26,2 23,1 13,7| 5,4| 4,1| 3,4 0,16 |1,5 |3,9 |19,8 |26,9 21,7|12,7| 5,5! 3,9 
017/08 4,1 |19,9 30,8 23,6 [11,5 All 2,7) 1,7 0,16 |2,1 14,5 20,6 31,5.23,5 9,6| 3,8| 2,4 
| | | 
0,03, 0,7 ' 1,7 |12,1 29,5 130,7 |14,4 | 5,0| 3,4) 2,3 0,03 0,7 |2,0 14,6 |30,» 28,7|13,2 4,5! 2,8 
0,02 0,6 3,1 |21,9 32,1 21,7 10,8 | 4,3' 3,1| 2,5 0,05 0,5 |1,9 |13,0 !37,5 28,9| 9,8, 3,7| 2,6 
0,01, 0,4 , 3,0 ,25,4 |36,6 122,6 | 7,9 | 2,0| 1,2 0,9 — {0,1 |0, 16,3 |43,4 25,1| 9,0| 2,5| 1,6| 
| 1 | 
— 0,03 0,03 8,9 30,9 31,7 17,0 | 5,7| 3,7, 2,0 — 0,09 0,3 ‚11,1 |37,9,24,4|14,0| 5,7| 3,9 
| | | 
9,17, 1,7 KI 41,1 30,8 111,3 5,3 | 1,7] LY 0,6 0,13 |2,1 6,8 41,9 129,9 11,9 4,8| 1,6) 1,0 
Len 
— |0,02,0,8 18,9 136,1 |26,3 10,2 | 3,5, 2,3| 1,9 — 10,07 0,8 |15,6 |36,5|29,2, 11,0| 3,3 1,9) 
— [0,1 19,2 | 7,3 |30,0 |31,3 |16,4 | 6,5| 4,4| 3,7 — |0,02/0,08| 3,7 |31,8/30,8|16,9| 7,1| 4,6 
— | — | — | 0,2 | 4,2 |23,9 |24,6 |I2,4,13,3/21,3 — 0,01) — | 6,07| 3,1|17,523,9|16,7|15,4 
45,6 (5,9 14,3 7,6 11,7 11,2 | 5.9 2,4, 2,1 3,8 45,8 5,1 3,9 7,4 [12,3] 11,0 5,6 2,5| 2,1 
0,06| 0,4 : 1,0 |12,2 [28,3 131,7 115,5 | 5,4| 3,5| 2,0 | 0,01 jo,2 oa 113,6 130,5/30,3 14,4| 5,1| 2,8 
28,9 14,3 14,1 |12,5 518,0 (15,8, 8,0| 3,1| 2,5! 2,9 [28,6 14,2 4,1 |12,0 |18,8|15,3| 7,5] 3,1| 2,3 


Alter und Geschlecht der Arbeiter in den von 
der Fabrikinspektion besuchten Betrieben 1891—1900, 


E | = 5 Darunter 
d S > SEAN 
cu |SE | $3 männlich 
5 LR, n im Alter von its Adi 
ZS is 3 | E S .... Jahren = 
g = 
SJE | a8 [191i [15 |16 und 12 |13| 
d uS KG mehr (C 
| In Prozenten 
1801| 1518. 70748 | 1,42,4 | 3,2/3,4 | 70,5 |0,5|1,0 
1892| 1561 64753 | 1,6|2,5 | 3,1]3,2 | 70,2 |O.5|r,0 | 
1893| 1502| 63 502 | 1,3|2,3 | 2,9|2,9 | 73,0 |0,5j0,9 
1894| 1405 54605 |1,22,4 |3,113,1 | 71,8 |0,511,0 | 
1895] 1375; 57778 13/255 | 3,2|3,2 | 73,4 | 0,4|0,8 | 
18961 3220 89 204 | 1.,8,2,8 | 3,1,3,1 | 72,0 |0,5/1,1 
1897| 5938 91 244 | 1,4|2,5 |3,213,2 | 73,3 |0,5!1,0 
1898] 6934 89940! 1,4 2,5 | 3,213,1 | 70,4 |0,7:1,8 
1899| 7 362, 97 519 | 1,4|2,4 | 2,7/2,7 | 71,1 |0,71,3 
1900 | 10 067' 110 610 | 1,1/2,2 | 2,9,3,0, 70,7 |0,7 1,3 | 
i i| 


Zunächst zeigt sich, daß 


reichlich 10 


ade 
ZG E 

weiblich PME 

L- 210% 

235% 

er von.... Jahren |S Bo y 

ES g 7 
ERA 

val 1e] 16 und mehr ED La 

| | verh. | unverh. o $ o — 
an ==: — ET 
1.4.2171 3,6 | 11,9 9,9 
1,411,5| 2,8 12,0 10,3 
a 2,7 11,1 9,1 
1,4114 | 2,7 11,9 9,6 
1,111,2| 2,0 10,9 9,3 
1,5:1,6| 1,5 11,7 10,1 
1,3l1,2| 2,0 10,4 9,9 
1,4'1,5| 1,4 13,1 10,5 
1,61,6| 1,4 | 13,1 10,1 
2,02,0| 1,8 | 12,8 10,2 

i 


Proz. 


aller Beschäftigten 


Kinder im Alter von 12—14 Jahren sind. Nur 70 Proz. aller Erwerbs- 


tätigen sind Männer im Alter von mehr als 16 Jahren. 


Während bei 


den Männern der relative Anteil der „Jugendlichen“ nicht unerheblich 


zurückging, nahm er bei den Frauen stark zu. 
nur die verheirateten Frauen. 


Verm 


indert haben sich 


Im allgemeinen weisen die Zahlen auf 


eine unverhältnismäßig große Verwendung der weiblichen Arbeitskraft hin. 
Tübingen, Anfang März 1908. 


2,0 
3,2 


544 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands 
und des Auslandes. 


1. Geschichte der Wissenschaft. Encyklopädisches. Lehrbücher. Spezielle 
theoretische Untersuchungen. 

Entwickelungsstufe, eine neue, der Volkswirtschaft. Nach dem Manuskripte 
des von Franz Graf Kuefstein in der Leo-Gesellschaft gehaltenen Vortrages im Jänner 
1903. Wien, Manz, 1903. gr. 8. 41 SS. M. 1.—. 

Forschungen, staats- und sozialwissenschaftliche, herausgeg. von Gustav Schmoller, 
Bd. XXI, 1903, Heft 5: Die deutsch-spanischen Handelsbeziehungen, von Max Westphal. 
Leipzig, Duncker & Humblot, 1903. gr. 8. 88 SS. M. 2.—. 

Issaiff, A. A., Der Sozialismus und das óffentliche Leben. Stuttgart, J. H. W. 
Dietz Nacht, 1903. gr. 8. VIII—608 SS. M. 8.—. (Aus den Russischen übersetzt 
unter Mitwirkung des Verfassers.) 


Detot, P., Le socialisme devant les Chambres françaises. Paris, Giard & Brière, 
1903. 8. 181 pag. (thöse.) 

France, Anatole, Opinions sociales. 2 vols. Paris, Société nouvelle de librairie, 
1903. 8. à fr. 0,50. (Table des matières: Vol. I(100 pag.): Crainquebille. — Conte pour 
commencer l'anné, — Clopinel. — Roupart. — Alloeutions. — Vol. II (120 pag.): La 
religion et l'antisémitisme. — L'armée et l'affaire, — La presse. — La justice civile 
et militaire). [Bibliotheque socialiste, N” 13 et 14.] 

Milhaud, Edg., La science économique, leçon d'ouverture du cours d'économie 
politique à l'Université de Genève (1* novembre 1902). Pithiviers, impr. Gauthier, 1902. 
8. 24 pag. 

Rubat du Mérac, H. (prof. à la faculté libre de droit de Paris), Premiers prin- 
cipes d'économie politique. Paris, Blond, 1902. 8. 79 pag. fr. 0,60. 

Adamson, John E., The theory of education in Plato's „Republic.“ London, 
Sonnenschein, 1903. 8. 270 pp. 4/.6. 

Brooks, John Graham, The social unrest. Studies in labor and socialist 
movements, New York, The Macmillan Cr, 1903. gr. 8. 394 pp., cloth. M. 7,20. (Con- 
tents: Some generalities, — Polities and business. — Social unrest. — The social question 
and its economie significance. — The inevitableness of the social question. — Man 
and society versus machinery. — The master passion of democracy. — Socialism: 
History and theory. — Socialism in the making. — From revolution to reform. — 
Socialism at work. — Next steps. — A final question. — Appendix.) 

Sorel, G., Saggi di critica del Marxismo. Milano, R. Sondron, 1903. 8. 400 pp. 

2. Geschichte und Darstellung der wirtschaftlichen Kultur. 

Berkholz, Leo, Die Wirkung der landelsverträge auf Land- 
wirtschaft, Weinbau und Gewerbe in Elsaß-Lothringen. Mit einer Vor- 
bemerkung von Prof. Dr. C. J. Fuchs. Mit Tabellen. (Volkswirtsch. 
Abhandlungen der badischen Hochschulen. Tübingen und Leipzig, 
J. C. B. Mohr, 1902. 

Das vorliegende Buch enthält 3 Teile: 1) Landwirtschaft (A. Land- 
wirtschaft i. e. S, B. Weinbau); 2) Industrie und Gewerbe; 3) All- 
gemeines und Schluß — In seiner Behandlung der Landwirtschaft i. e. S. 
konstatiert der Verf. einleitend für Elsaß-Lothringen ein Ueberwiegen 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 545 


der Zahl der in der Landwirtschaft beruflich beschäftigten Personen 
gegenüber den in der Industrie Beschäftigten; dies Uebergewicht wird 
noch gesteigert durch die Zahl der am Handel mit landwirtschaftlichen 
Produkten beteiligten Personen. In der Landwirtschaft herrscht im 
allgemeinen der Kleinbetrieb vor, während der Großgrundbesitz haupt- 
sächlich im westlichen Lothringen vertreten ist. Aus beigegefügten 
statistischen Tabellen geht hervor, daß der Getreidebau stark überwiegt, 
trotzdem aber der Bedarf an Brotgetreide durch die eigene Produktion 
des Landes nicht gedeckt werden kann. „Für die Deckung dieses 
Fehlbetrages hat nun der Getreidehandel Sorge zu tragen, da bei dem 
ohnehin schon vorherrschenden Getreidebau eine weitere Ausdehnung 
kaum wünschenswert und in Anbetracht der wenig rentablen Ge- 
treidepreise kaum verlockend erscheinen dürfte“ Aber nicht nur die 
Fehlbeträge in der eigenen Produktion, sondern auch der Umstand, daß 
z. B. der „reichsländische Roggen, da er zu leicht ist, von dem Haupt- 
abnehmer, den Proviantämtern, zurückgewiesen wird und daher teils 
verfüttert wird, teils nach Altdeutschland geht“, macht die Einfuhr 
fremder Getreide notwendig. Dies ist der Fall nicht nur bei Roggen 
und Weizen, sondern auch bei Gerste und Hafer. Diese Zustände haben 
es herbeigeführt, daß die dortigen Landwirte, ganz besonders der über- 
wiegende Kleingrundbesitz, an den Zollfragen nur sehr wenig Interesse 
haben. „Wenn auch im allgemeinen Elsaß-Lothringen auf die Getreide- 
zufuhr angewiesen ist, so hat doch die Landwirtschaft, soweit sie Ge- 
treide abgiebt, ein Interesse daran, möglichst gut zu verkaufen, d. h. 
ein Interesse an hohen Getreidepreisen“, so folgert der Verf. merk- 
würdigerweise weiter. Ebenso befremden muß es, wenn der Verf. 
nach seiner Schilderung der vorliegenden Tatsachen abschließend (S. 19) 
sagt: „Sei es nun, daß der reichsländische Landwirt Getreide abgibt 
— also direkt, oder aber, daß der Stand der Getreidepreise seine übrigen 
landwirtschaftlichen Kulturen beeinflußt — mithin indirekt, soweit der 
Zoll Einfluß auf die Preise hat — soweit ist er auch hier anzuerkennen, 
eine Erhöhung zu begrüßen, eine Erniedrigung zu bedauern.“ — Das 
abschließende Urteil des Verf. über die elsal-lothringische Landwirt- 
schaft in ihrem Verhältnis zu den Handelsverträgen geht schließlich 
(S. 51) dahin, „daß die Zollfrage infolge des im Reichslande vor- 
herrschenden Kleinbetriebes, des durch das Neben- und Durcheinander 
von Handel, Industrie und Landwirtschaft sich eróffnenden Absatzes 
von landwirtschaftlichen Nebenprodukten gegenüber den bei den ein- 
zelnen Kulturarten die Hauptsache bildenden Erscheinungen (als beim 
Getreidebau — der Unrentabilität im allgemeinen, beim Hopfenbau — 
der zu großen Ausdehnung, beim Tabak — der Unbeliebtheit und nicht 
genügenden Pflege u. s. w.) in den Hintergrund tritt, am einzelnen 
Betriebe wohl meist ohne direkt merkbare Schädigung vorbeigegangen 
sein mag, daß andererseits die reichsländische Landwirtschaft auf dem 
Gebiete der Landwirtschaftspflege fortschreitend durch die Feldbereini- 
gung, besondere Sorgfalt bei der Ernte an Hopfen und Tabak, die bessere 
Reinigung des Getreides, richtige Auswahl des Saatgutes und dergleichen 
mehr noch manches erreichen kann und dank den Anstrengungen der 
Dritte Folge Bd. AXV (LXXX). 35 


546 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


verschiedensten Regierungs- und Privatorgane schon erreicht hat und 
im weiteren Fortschritte begriffen ist.“ — Also, die Zollfrage hat für 
die elsaß-lothringische Landwirtschaft nur ganz verschwindendes Interesse, 
die Ursachen für ihre schlechte Lage sind anderweit zu suchen, Mittel, 
derselben abzuhelfen, sind vorhanden. Wenn trotzdem eine Erhöhung 
der Zölle vom Verf. befürwortet wird, geschieht es offenbar nicht im 
Interesse der Landwirtschaft, noch weniger der Gesamtheit, sondern 
lediglich um der höheren Zölle willen. 

In der nun folgenden „gründlichen Untersuchung der Wein- und 
Traubenzollfrage“, auf welche in der Vorbemerkung des Herausgebers 
besonders hingewiesen wird, stellt der Verf. fest, daß die Lage des 
Weinbaues in Elsaß-Lothringen infolge der gesteigerten Produktions- 
kosten und sinkenden Erträge keine besonders günstige ist, obwohl 
Elsaß-Lothringen unter den Wein bauenden Gebieten Deutschlands nach 
der Anbaufläche die erste Stelle einnimmt. Eine Verschiedenheit ergibt 
sich allerdings, je nachdem Weißwein, wie im Elsaß, oder Rotwein, wie 
in Lothringen, vorherrschend gebaut wird. Jedenfalls konstatiert der 
Verf., daß der Absatz elsaß-lothringischer Weine hauptsächlich im Lande 
selbst liegt (der Weinverbrauch betrug 1894 dort 54 1 pro Kopf gegen- 
über 4,5—6 1 im Deutschen Reiche), während zur Ausfuhr nach Alt- 
deutschland in bedeutenderem Maße fast nur die Claretgewinnung kommt. 
— Einer eingehenden Besprechung wird sodann die Herabsetzung des 
Faßwein- und des Traubenzolles im Handelsvertrag mit Italien in ihrer 
Einwirkung auf die Weinproduktion unterzogen. Das abschließende 
Urteil über die Weinzollgesetzgebung faßt der Verf. dahin zusammen, 
„daß der Weinzoll in seiner Ermäßigung resp. Neuerung vereinzelt wohl 
genützt haben mag, in überwiegender Zahl aber, da den gehegten An- 
forderungen keineswegs entsprechend, als der deutschen Weinproduktion, 
und diese ist für uns maßgebend, schädlich bezeichnet werden muß“, wobei 
allerdings nicht unerwähnt bleiben darf, daß sich der Verf. bei der Be- 
handlung dieser Fragen bisweilen in Widersprüche verwickelt, auf die hier 
nicht näher eingegangen werden kann, und daß er bei Behandlung der 
Weinproduktion lediglich die Interessen der Wein bauenden Landwirte 
berücksichtigt, dagegen das Interesse des Konsumenten und des Wein- 
händlers gänzlich außer acht läßt. Der Verf. geht noch kurz auf die Mittel, 
der Weinproduktion aufzuhelfen (z. B. durch Genossenschaften) ein und 
sagt in Beziehung hierauf (S. 80): „Eine Heilung der jetzigen Zustände kann 
meiner Ansicht nach ohne gleichzeitige Aenderung der Zollgesetzgebung 
nicht gebracht werden, wie und in welchem Umfange eine solche jedoch 
vorzunehmen ist, bleibt kompetenteren Urteilen überlassen und wird die 
kommende Zeit lehren —.“ — Während der Verf. bis hierher fast ledig- 
lich die Verhältnisse Elsaß-Lothringens und zwar zum Nachteil der Dar- 
stellung ohne Berücksichtigung derjenigen Gesamtdeutschlands dargestellt 
hat, bringt er in der Behandlung der Lage von Industrie und Gewerbe 
das Typische, was er aus den vorliegenden spärlichen Berichten ge- 
wonnen hat, in Zusammenhang mit der deutschen Gesamtentwickelung, 
wobei er, wie er (S. 83) selbst sagt, teils aus Gründen, die dem Thema 
der Arbeit entsprechen, teils aus Mangel an Quellen, wie technischen 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 547 


Kenntnissen, — „ein Mangel, der dem Outsider bei der engen Ver- 
flechtung technischer, kommerzieller und zolltarifarischer Momente ein 
solches Eindringen unmöglich macht“ —, es vermeidet, sich ins Detail 


zu verlieren. Verf. behandelt, gestützt auf Handelskammerberichte und 
direkte Umfragen bei Interessenten, die Textilindustrie, die Metall- 
industrie, die Industrie der Steine, Erden und Erze, die chemische In- 
dustrie, die Lederindustrie und die Papierindustrie. — Das Endresultat 
gibt der Verf. im dritten Teil (Allgemeines und Schluf), in welchem 
er nach einem kurzen Hinweis auf die geographische Lage des Reichs- 
landes zu seinen natürlichen Absatzgebieten, welche als nicht günstig, 
besonders infolge zu hoher Eisenbahnfrachten und des Mangels an 
Wasserstraßen nach Altdeutschland geschildert werden, die Geschäftslage 
vorführt, wie sie sich in der Zeitfolge von dem Jahre 1891 ab vollzog. 
Dem wird eine statistische Umschau über die deutsche Volkswirtschaft 
und den Weltmarkt angefügt, wobei die Beziehungen Deutschlands 
(nicht Elsaß-Lothringens) zu Oesterreich-Ungarn, Großbritannien, Rußland 
und den Vereinigten Staaten besondere Berücksichtigung finden. — 
Als Resultat konstatiert der Verf. die Tatsache des industriellen Auf- 
schwunges, dieselbe ist zum Teil auf die Wirkung der Handelsverträge 
zurückzuführen, aber der Aufschwung war „nicht notwendigerweise 
und in allen Stücken eine Aeußerung des Vertragswerkes“, ja teilweise 
sind die in den Verträgen vereinbarten Zollsätze sogar schädlich ge- 
wesen. Die Frage: wie werden sich die Verhältnisse in Zukunft ge- 
stalten, erklärt der Verf. für nicht spruchreif. Statt einer genaueren 
Untersuchung darüber, welche Wege einzuschlagen wären, um auf Grund 
der Erfahrungen der letzten Jahre die Zukunft möglichst günstig zu 
gestalten, begnügt er sich mit folgendem Satze: „Wir können nur 
wünschen, daß ein Ausgleich geschieht zum Wohle der Eutwickelung 
des großen Gemeinwesens, des Deutschen Reiches, und hoffen, daß die- 
selben Motive hindurch blicken, die das Werk des Jahres 1892 „die 
rettende Tat“ vollbracht.“ Ein Citat aus Wagners Aufsätzen in der 
»làgl. Rundschau“ schließt die vorliegende Arbeit ab. 

Verf. hat aus den ihm zur Verfügung stehenden Handelskammer- 
berichten, Preßnotizen und eigenen Umfragen reichliches Material über 
die Lage der Reichslande in der Zeit der Handelsverträge zusammen- 
getragen. Einige Fragen, so z. B. die, ob eine Ausdehnung des Ge- 
treidebaues in Hinsicht auf die vorhandene Anbaufläche und den Anbau 
anderer erforderlicher Landesprodukte noch möglich wäre, oder eine 
Darstellung der Lage der Weinproduktion vom Standpunkte anderer an 
der Weinproduktion interessierter Stände als des Weinbauern, so des 
Händlers, auch der Konsumenten, sowie auch eine Behandlung der 
Interessen des für Elsaß-Lothringen infolge seiner Lage und der Not- 
wendigkeit der Zufuhr nicht unbedeutenden Handels etc. hätten noch 
einer weiteren Bearbeitung bedurft. Ueberhaupt macht es den Eindruck, 
daß sich der Verf. durch das Ergebnis seiner doch nicht recht um- 
fassenden Umfrage reichlich hat beeinflussen lassen; das „audiatur et 
altera pars“ scheint bei dieser Umfrage nicht recht gewahrt zu sein. 
Wenn auch in der Arbeit sehr reichliches Material und mit großem 

35* 


548 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes, 


Fleiße zusammengetragen ist, so erscheint es doch als ein Mangel, daß 
besonders im ersten Teil das volkswirtschaftliche Gesamtgebiet nicht 
genügend berücksichtigt ist, was allerdings vielleicht in der Stellung 
des Themas begründet ist. Immerhin erscheinen Zweifel daran berechtigt, 
ob eine derartige Studie über ein aus dem Ganzen herausgenommenes 
Einzelgebiet für eine Frage wie die Handelsverträge, die auf inter- 
nationalem Wege nur für das Staatsganze geregelt werden können, 
von großer Bedeutung ist; auf diese Weise werden Einzelinteressen, wie 
dies auch bei der Anhörung der Einzelinteressenten durch die Reichs- 
regierung geschehen ist, übermäßig in den Vordergrund gerückt. Ob 
die reichlich schutzzóllnerischen Resultate tatsächlich in den Ausführungen 
selbst und in den diesen zu Grunde liegenden Tatsachen genügend be- 
gründet sind, dies zu entscheiden bedürfte längerer Ausführungen, als 
an dieser Stelle möglich ist. Jedenfalls muß es stark in Zweifel ge- 
zogen werden, daß die vorliegenden Untersuchungen über die Wein- 
und Traubenzollfrage eine Korrektur der hierüber bei den Handels- 
vertragsfreunden bestehenden Anschauungen bringt, eine Erwartung, 
welche der Herausgeber in seiner Vorbemerkung ausspricht. 


Halensee. Dr. Leuckfeld. 


Fundberichte aus Schwaben, umfassend die vorgeschichtliehen, römischen und 
merowingischen Altertümer. In Verbindung mit dem württembergischen Altertumsverein 
herausgeg. vom württembergischen anthropologischen Verein unter der Leitung des 
(Prof.) G. Sixt. Jahrg. X: 1902. Stuttgart, E. Schweizerbart, 1903. gr. 8. M. 1,60. 

Henze, Herm., Der Nil, seine Hydrographie und wirtschaftliche Bedeutung. 
Halle a. S., Gebauer-Schwetschke, 1903. gr. 8. 101 SS. Mit 2 Abbildgn. (A. u. d. T.: 
Angewandte Geographie, I. Serie, Heft 4.) 

Koffler, Fr., Neue Forschungen zur vorgeschichtlichen Zeit Hessens. Darmstadt, 
A. Bergsträsser, 1903. gr. 8. 61 SS. mit 2 Plänen u. 7 Taf. M. 2,50. (Aus „Archiv 
für hessische Geschichte und Altertumskunde.‘“) 

Krahmer (k. preuß. Generalmaj. z. D.), Die Beziehungen Rußlands zu Persien 
(im wirtschaftlichen Sinne). Leipzig, Zuckschwerdt & C°, 1903. gr. 8. 126 SS. M.3.—. 
(A. u. d. T.: Rußland in Asien, Bd. VI.) 

Riehl, W. H., Kulturstudien aus 3 Jahrhunderten. 6. Aufl. Stuttgart, J. G. Cotta 
Nacht, 1903. 8. XII—446 SS. geb. M. 5.—. 

Rohrbach, Paul, Die wirtschaftliche Bedeutung Westasiens. Halle, Gebauer- 
Schwetschke, 1902. gr. 8. 84 SS. mit Karte. M. 1,50. (A. u. d. T.: Angewandte Geo- 
graphie, I. Serie, Heft 2.) 

Sievers, Wilh. (Prof), Venezuela und die deutschen Interessen. Halle a/S., 
Gebauer-Schwetschkesche Druckerei und Verlag, 1903. gr. 8. 107 SS. mit Karte. M. 2.—. 
(A. u. d. T.: Angewandte Geographie, hrsg. von (Prof.) K. Dove, I. Serie, Heft 3.) 


Charlétie, S. (prof.-adjoint à l'Univers. de Lyon), Histoire de Lyon, depuis les 
origines jusqu'à nos jours, Lyon, Rey & C^, 1903. 8. 316 pag. av. grav. 

Huguenin, Paul (ancien directeur des écoles de Raiatea), Raiatea, la Sacrée. 
Iles de la Société. Neuchâtel (Suisse), Attinger frères, 1903. gr. in-8. 270 pag. 3 cartes 
hors texte, ete. fr. 10.—. (Bulletin de la Société Neuchateloise de géographie, tome XV, 
1902/1903.) 

Lecapentier, G., La propriété foncière du clergé sous l’ancien régime et la 
vente des biens ecclésiastiques pendant la Révolution. Saint-Amand, impr. Bussière, 
1902. 8. 64 pag. fr. 0,60. 

Maillefer, Paul (prof. à l'Univers. de Lausannes), Histoire du canton de Vaud 
Géi SC origines. Paris, Fischbacher, 1903. gr. in-8. 553 pag. av. 248 illustrations. 
r. 10.—. 

de la Mazelière (le marquis), Essai sur l’évolution de la civilisation indienne. 
2 vols. Paris, Guillaumin & Ci, 1903. 8. Avec gravures, 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 549 


Austin, Herb. H., With Macdonald in Uganda. A narrative account of the 
Uganda mutiny and Macdonald expedition in the Uganda protectorate, and the terri- 
tories to the North. London, E. Arnold, 1903. 8. 330 pp. with map and illustra- 
tions. 15/.—. 

Crawford, Francis Marion, Ave Roma immortalis: Studies from the chro- 
nieles of Rome. Illustrated. London, Macmillan, 1903. 8. 626 pp. 8/.6. 

Forrest, G. W. (ex-director of records, Government of India), Cities of India. 
London, Constable, 1903. 8. XVI—346 pp. with illustr. 

Hawaiian almanae and annual for 1903. XXIX" year. Whit map. Honolulu, 
T. G. Throw C°, 1903, 12. $ 0,75. 

Johnston, Harry (Sir), The Uganda protectorate . . . ., and history of the terri- 
tories under British protection in East Central Africa. 2 vols. New York, Dodd, Mead 
& C^, 1902. 4. 1038 pp., illustr., maps; cloth. $ 12,15. 

Keeler, C. A., San Francisco and thereabout. San Francisco, California Promo- 
tion Committee, 1902. 8. 102 pp. illustr., cloth. $ 0,50. (Contents: Descriptions of the 
pioneer days and the quest for gold; chapters on the railroad kings; the Chinatown, 
the Spanish quarter, the Stanford University, and the great possibilities for growth in 
the city, industrially and commercially, etc.) 

Kloss, C. Boden, In the Andamans and Nicobars. The narrative of a cruise 
in the schooner Terrapin, with notices of the islands, their fauna, ethnology ete. Lon- 
don, J. Murray, 1903. Roy.-8. XVI—373 pp. with maps and illustr. 21/.—. 

Lane-Poole, Stanley, Mediæval India under Mohammedan rule (a. D. 712— 
1764). London, T. Fisher Unwin, 1903. 8. XVIII—449 pp., illustrat. 5/.—. 

Lumholtz, Carl, Unknown Mexico. A record of five years’ exploration among 
the tribes of the Western Sierra Madre in the Sierra Caliente of Tarascos of Michoacan. 
2 vols. London, Maemillan, 1903. Roy.-8. 562 & 512 pp. 50/.—. 

Mathieson's highest and lowest prices, 1903. London, E. Wilson, 1903. 4. 
2/.6. 
Okakura, Kakasu, The ideals of the East, with special reference to the art 
of Japan. London, J. Murray, 1903. 8. XXII—244 pp. 5/.—. 

Sastrow, Barth., Social Germany in Luther’s time: being the memoirs of 
Bartholomew Sastrow, trad. by Alb. D. Vandam, with an introduction by Herbert A. L. 
Fisher. New York, Dutton, 1903. 8. 349 pp., cloth. $ 2,50. 


3. Bevölkerungslehre und Bevölkerungspolitik. Auswanderung 
und Kolonisation. 


Tillinghast, Joseph Alexander, The Negro in Africa and 
America. Publications of the American Economic Association, New 
York 1902. VI und 231. 

Zur Lösung einer der wichtigsten der „unsettled questions“ Nord- 
amerikas sucht der Verf. beizutragen. Bis in die Gegenwart hat man 
dort an der ablehnenden Haltung gegenüber der Negerfrage festgehalten, 
und der Widerstand gegen die freundlichere Richtung des gegen- 
wärtigen Präsidenten zeigt, daß hierin zunächst keine Aenderung zu 
erwarten ist. Um aber wenigstens ein unbefangeneres Urteil zu er- 
möglichen, untersucht Verf., selbst der Sohn eines früheren Sklaven- 
halters in den Südstaaten, welches die besonderen Eigenschaften des 
Negers sind, die ihn von der übrigen Bevölkerung scheiden. Er wendet 
sich zunächst den Vorfahren der amerikanischen Negerbevölkerung, den 
westafrikanischen Negern, zu und schildert ihre ethnologischen, religiösen 
und wirtschaftlich-sozialen Verhältnisse. Indem er dann weiter die 
Veränderungen behandelt, die sich aus ihrer Verpflanzung nach Amerika 
und ihrer schließlichen Befreiung aus der Sklaverei ergaben, sucht er 
klarzustellen, wie weit die Neger kulturellen und erziehlichen Einflüssen 
zugänglich sind. Das Resultat ist für sie nicht aussichtsvoll: Verf. hält 
ihre kulturelle Rückständigkeit für zu groß, um eine vollständige Assimi- 


550 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


lation an die weiße Bevölkerung für möglich zu halten. Es werde ihnen 
nicht gelingen, den jahrhundertelangen Vorsprung freier Entwickelung 
einzuholen. 

Halle a. S. G. Brodnitz. 


Anthes, Ed., Beiträge zur Geschichte der Besiedelung zwischen Rhein, Main 
und Neckar. Darmstadt, A. Bergsträsser, 1902. gr. 8 M. 1,50. (Aus „Archiv für 
hessische Geschichte und Altertumskunde.‘“) 

Jahresbericht über die Entwiekelung der deutschen Schutzgebiete in Afrika 
und der Südsee im Jahre 1901/1902. 2 Bde. Berlin, E. S. Mittler & Sohn, 1903. Folio. 
(Bd. I: 121 SS. mit 2 Karten in Steindruck, Bd. II: Anlagen 432 SS.) 

Kóhl, Wilh. (k. k. Militär-U.-Intendant), Die deutschen Sprachinseln in Süd- 
ungarn und Slavonien. Innsbruck, Selbstverlag des Verfassers, 1902. kl. 8. XI—100 53. 
M. 1.—. 

Reisner, Wilh., Die Einwohnerzahl deutscher Stüdte in früheren Jahrhunderten 
mit besonderer Berücksichtigung Lübecks. Jena, G. Fischer, 1903. gr. 8. VIII—152 SS. 
M. 4.—. (Sammlung nationalókonomischer und statistischer Abhandlungen des staats- 
wissenschaftlichen Seminars zu Halle a/S., herausgeg. von (Prof.) Joh. Conrad, Bd. 36.) 

Sehüfer, Dietrich, Kolonialgeschichte. Leipzig, G. J. Góschen, 1903. 12. 
154 SS. geb. M. 0,80. (Sammlung Góschen, Bändchen 156.) 

Schrameier (AdmiralititsR.), Die Grundlagen der wirtschaftlichen Entwicke- 
lung in Kiautschou. Berlin, D. Reimer, 1903. gr. 8. M. 0,60. (Verhandlungen der 
deutschen Kolonialgesellschaft, Abteil. Berlin-Charlottenburg, Bd. VII, Heft 2.) 


Francois, George (ancien chef du cabinet du gouvernement du Dahomey), Le 
budget local des colonies. Laval, impr. Barnéhoud & C", 1903. 8. IX—218 pag. 
fr. 4.—. 

Variot, G., Rapport sur la mortalité des enfants de 1 à 14 ans en France, 
présenté à la commission de la dépopulation. Melun, imprim. administr., 1903. in-4. 
71 pag. 

Villamur, Roger (juge-président du Tribunal de Bingerville) et Léon Richaud 
(administrateur des colonies), Notre colonie de la côte d'ivoire. Paris, Aug. Challamel, 
1903. 8. Av. 21 photograv. et 3 cartes. fr. 10.—. 

Burton, A. R. E., Cape colony for the settler. An account of its urban and 
rural industries, their probable future development and extension. London, P. S. King, 
1903. 8. IX —355 pp. 2/.6. 

Lowth, Alys, Women workers and South Africa. Some hints regarding lucrative 
employment for women in South Afriea. With various information concerning the country 
for everyone. London, Paul, Trübner, 1903. 8. 128 pp. 1/.—. (Contents: Miscellaneous 


information. — South African imports: Customs duties. — On the country. — On 
emigration. — On wage-earners. — On supplying the inner man. — On the house and 
home. — On clothing. — On education. — On laundries. — On the cultivation of the 
ground, — On country industries, — On various employments.) 


4. Bergbau. Land- und Forstwirtschaft. Fischereiwesen. 


Hoffmann, Otto (ZuchtInsp.), Das schwarze Rind in den baltischen Provinzen. 
Einführung, Verbreitung und Körperbau desselben, ete., Reval, F. Kluge, 1902. gr. 8. 
VIII—100 SS. M. 4. 

Jahrbuch des schlesischen Forstvereins für 1902. Herausgeg. von (OForstM.) 
Schirmacher. Breslau, E. Morgenstern, 1903. gr. 8. VI—224 u. 15 SS. M. 2,30. 

Jahresbericht des Vereins für die bergbaulichen Interessen im OBergamtsbez. 
Dortmund für 1902. I. Allgem. Teil. Essen, Druck von Thaden & Schmemann, 1903. 
4. 64 SS. mit 1 graphischen und einer lohnstatistischen Anlage. 

Ilieff, Paul, Die Landwirtschaft in Bulgarien. Leipzig, Kössling, 1902. gr. 8. 
113 SS. M. 3.—. (Promotionsschrift.) 

Reitmair, O., Bericht über die mit Winterhalmfrucht im Herbst 1900 einge- 
leiteten und 1901 zum Abschluß gebrachten Phosphatdüngungsversuche. Wien, W. Frick, 
1902. gr. 8. 100 SS. mit 1 Taf. M. 1,60. 

Syrutschek, Jul. (OForstkommiss.), Anleitung zur zweckmäßigen Bewirtschaf- 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 551 


tung des bäuerlichen und des Gemeinde-(Gemeinschafts-)Waldes in Niederösterreich. 
Wien, W. Frick, 1903. gr. 8. VI—62 SS. mit 5 Abbildgn. u. 2 Taf. M. 1,60. 


North Sea fisheries investigations. Reports of British delegates attending the 
Internatio.ıal Conferences at Stockholm, Christiania, ete. London, 1903. Folio. (Parliam. 
pap.) 
Jaarboek van mijnwezen in Nederlandsh Oost-Indié. XXX* jaargang: 1901. 
’s Gravenhage, M. Nijhoff, 1902. gr. 8. 130 blz. met kaarten. fl. 4.—. 


5. Gewerbe und Industrie. 


Dietzel, Heinr. (Prof, Univers. Bonn), Das Produzenteninteresse der Arbeiter 
und die Handelsfreiheit. Ein Beitrag zur Theorie vom Arbeitsmarkt und vom Arbeits- 
lohn. Jena, G. Fischer, 1903. gr. 8. VIII—118 SS. M. 3.—. 

Horn, Georg (Mitglied des Reichstags) Geschichte der Glasindustrie und ihrer 
Arbeiter. Soziale Studie. Stuttgart, J. H. W. Dietz Nachf., 1903. 8. VIII—368 SS. 
M. 5.—. 

Jahresbericht. VIIL, des Arbeitersekretariates Nürnberg, nebst Berichten über 
die Gewerkschaftsorganisationen, Lohnkümpfe, das Gewerbegericht und sozialistische 
Monographien, ete. Geschäftsjahr 1902. Nürnberg, Arbeitersekretariat, 1903. gr. 8. 
III—80 SS. mit 1 Tab. M. 0,50. 

Jahresbericht der großherzoglichen badischen Fabrikinspektion für das Jahr 
1902. Erstattet an großherzogl. Ministerium des Innern. Karlsruhe, F. Thiergarten, 
1903. gr. 8 147 SS. M. 2,50. 

Jahresberichte, die, der königl. bayerischen Fabriken- und Gewerbeinspektoren, 
dann der k. bayerischen Bergbehörden für das Jahr 1902. Mit einem Anhange, be- 
treffend das Bierbrauergewerbe. München, Th. Ackermann, 1903. gr. 8. XX1X—304 
u. 128 SS. (Im Auftrage des kgl. Staatsministeriums des Innern, Abteilung für Land- 
wirtschaft, Gewerbe und Handel veröffentlicht.) 

Kümmel, Herm. (Berlin), Zahnarzt und Arbeiterschutz. Eine sozialwissenschaft- 
liche Studie. Jena, G. Fischer, 1903. gr.8. 131 SS. mit 1 Abbild. u. 3 Taf. M. 4.—. 

v. Rottenburg, F. (Ehrendoktor der Univers. Yale), Die Kartellfrage in Theorie 
und Praxis. Ein offener Brief an Herrn KommerzienR. Jul. Vorster, Mitglied d. Hauses 
der Abgeordneten. Leipzig, Duncker & Humblot, 1903. gr. 8. X—89 SS. M. 1,80. 

Sigel, Walther (Vorsitzender des Gewerbe- und Gemeindegerichts Stuttgart), Der 
gewerbliche Arbeitsvertrag nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch. Stuttgart, Metzler, 1903. 
gr. 8. VIII—192 SS. M. 4.—. . 

Wilden, Jos, Grundriss der Geschichte des deutschen Handwerks. Krefeld, 
J. Greven, 1903. gr. 8. 39 SS. M. 0,50. (Neue Handwerkerbibliothek. Hrsg. von A. 
Grunenberg und Jos. Wilden, Heft 8.) 

Annuaire, le nouvel, pratique de la brasserie belge, par Denis Bodden. 5* année. 
Bruxelles, imprim. C. Paelman, 1903. 12. 448 pag. fr. 3.—. 

Colomer, Félix (ingén. consultant) et C. Lordier (ingénieur civil des mines), 
Combustibles industriels: Houille; Pétrole; Lignite; Tourbe; Bois; Charbon de bois; 
Agglomérés; Coke. Tours, impr. Deslis frères, 1903. 8. 571 pag. av. figur. fr. 18.—. 

Fabre, Aug., Les „trusts“ et les „industrial combinations". Nimes, impr. Chasta- 
nier, 1903. 8. 91 pag. fr. 1.—. 

Gautier, Emile, L'année scientifique et industrielle, fondée par Louis Figuier. 
46° année (1902). Paris, E. Hachette & C^, 1903. 8. IV— 440 pag. av. 64 figures. 
fr. 3,50. 

Jacquemart, P. (inspecteur général de l'enseignement technique) et J. F. Bois 
(prof. de technologie à Lyon), L'industrie de nos jours. Technologie vulgarisee. Paris, 
Ch. Delagrave, 1903. 8. 750 pag. av. grav. fr. 5.—. (Table des matières: Industries 
extraetives. — Industries préparatoires, — Industries de l'alimentation. — Industries du 
vétement et de la toilette. — Industries du logement et de l'ameublement. — Industries 
satisfaisant aux besoins intellectuels.) 

de Leener, George (ingen. civil des mines, assistant à l'Institut de sociologie Solvay), 
Les syndicats industriels en Belgique. Bruxelles, Misch & Thron, 1903. 8. XXVIII 
—335 pag. toile. fr. 8.—. 

Pariset, E. (ancien fabricant de soieries), Les tireurs d'or et d'argent à Lyon 
(XVIII* et XIX” siècles). Lyon, impr. Rey & C^, 1903. gr. in-8. 58 pag. 


552 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Pie, Paul, et Just. Godart, Le mouvement &conomique et social dans la region 
lyonaise. Lyon, A. Storck & Cr, 1902. 8. 

Saint-L&on, Et. Martin, Cartells et trusts. Paris, Victor Lecoffre, 1903. 12. 
VIII—284 pag. fr. 2.—. (Table des matières: I. Le passé: 1. Liberte et reglementation ; 
2. L'organisation industrielle avant 1791; 3. L'industrie de 1791 à 1830; 4. L'industrie 
moderne avant les cartells et les trusts; 5. Ere de concurrence illimitée (1830—1870). — 
II. Les cartells: 1. La cartell; 2. Allemagne. Les cartells allemands; 3. Autriche; 
4. France. Les syndicats industriels (eartells) francais; 5. Autres pays étrangers. — III. 
Les trusts: 1. Les trusts. Notions générales; 2. Origines des trusts, leur histoire, leur 
organisation financière, la surcapitalisation ou mouillage (watering); 3. Avantages &cono- 
miques dont bénéfice le trust; 4. L'œuvre économique du trust, son influence sur les con- 
ditions du travail, sur le mouvement des prix de vente (bénéfices des trusts), sur l'ex- 
portation (le trust de l'Océan); 5. Les partisans des trusts, leurs adversaires: Républi- 
cains, démocrates, socialistes, anarchistes, l’action sociale des trusts; 6. La législation et 
les trusts; 7. Revue des trusts des Etats-Unis. Statistique; 8. Les fusions (amalgamations) 
industrielles en Angleterre et les trusts internationaux; 9. Les syndicats de pure specu- 
lation: Les corners et les rings.) 

Annual report, XVII", of the Commissioner of Labor, 1902. Washington, Govern- 
ment Printing Office, 1902. gr. 8. 1333 pp. (Contents: Trade and technical education 
in the United States; in Austria; in Belgium; in Canada; in France; in Germany; in 
Great Britain; in Hungary; in Italy; in Switzerland, ete.) 

Cambridge gild records. Edited by Mary Bateson. With a preface by William 
Cunningham. Cambridge, Deighton & C°, 1903. 8. XXXVII—176 pp. 7/.6. (Publics 
tions of the Cambridge Antiquarian Society, No. 39.) 

Campbell, Harry Huse, The manufacture and properties of iron and steel. New 
edition, thoroughly rewritten and brought up to date. New York, Engineering & Mining 
Journal, 1903. 8. 862 pp., illustr., cloth. $ 5.—. 

Education and professions. London, Chapman & Hall, 1903. 8. 374 pp. Da 
(Womens library, vol. I.) 

Van Vorst, J. and Marie (Mrs.), The woman who toils: being the experiences 
of two ladies as factory girls. New York, Doubleday, Page & C°, 1903. 8. 303 pp, 
ill., cloth. $ 1,60. (Contents the experiences of two ladies in a Pittsburg pickle fac- 
tory, in a mill town of New York, among the clothing makers of Chicago, the Lynn 
makers of shoes, etc. etc.) 

Wilson, H., Silverwork and jewelry: a textbook for students and workers in 
metal. New York, Appleton, 1903. 12. 351 pp. with diagrams, eloth. $ 1,40. 

Workhouse accounts. Report of Departmental Committee on the methods of keep- 
ing accounts, with evidence. London 1903. Folio. 1/.3. 

Young, T. M, The American cotton industry: a study of work and workers: 
with an introduction by Elijah Helm. New York, Scribner, 1903. 12. cloth. $ 0,80. 


6. Handel und Verkehr. 


Meyer, Hans, Prof. Dr, Die Eisenbahnen im tropischen Afrika. 
Eine kolonialwirtschaftliche Studie. Mit einer Eisenbahnkarte von Afrika. 
Leipzig (Duncker & Humblot) 1902. gr. 8%. 186 SS. Preis 4,80 M. 

Der Verfasser hat das zerstreute und schwer zugängliche Tatsachen- 
material über die Eisenbahnen im tropischen Afrika zu einer übersicht- 
lichen Studie verarbeitet, in der er diese Bahnen und Bahnprojekte, 
nach großen geographischen Provinzen geordnet, einer kritischen Be- 
urteilung unterzieht. 

In der ersten Gruppe schildert er uns alle Bahnen, die sich um 
das riesige Nigerbecken gruppieren. Als interessanteste Tatsache er- 
scheint hier die Baumethode, die von der französischen Dahomeykolonie 
angewendet wird. Beiihr fällt der Bau nicht völlig der konzessionierten 
Bahngesellschaft zur Last, sondern die Kolonie stellt den Unterbau her, 
während die Gesellschaft nur den Oberbau ausführt und die Bahn 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 553 


betreibt. Diese Arbeitsteilung erklärt sich aus den Arbeiterverhältnissen. 
Aus freien Stücken kommen die Eingeborenen nicht zur Arbeit, wohl 
aber, wenn die Häuptlinge vermitteln. Auf die Häuptlinge kann jedoch 
nur die Regierung und nicht die Bahngesellschaft einwirken. Es liegt 
also ein indirekter Zwang zur Arbeit vor, der nach den französischen 
Berichten, denen Meyer sich anschließt, nicht nur im allgemeinen zum 
Segen der zwar gezwungenen, aber zugleich bezahlten Arbeiter wie der 
Entwickelung der Kolonie gereicht, sondern auch finanziell dank der 
meister- und musterhaften Behandlung der Arbeiter seitens der fran- 
zösischen Ingenieure es bewirke, daß die Kosten des Unterbaues billiger 
seien als die unter gleich schwierigen Bodenverhältnissen in Frankreich 
zu zahlenden. 

Die zweite Gruppe umfaßt die belgischen und französischen Bahnen, 
die das ungeheure Becken des Kongo und seiner Zuflüsse zum Ziele 
haben. Hier hebt der Verfasser hervor, daß die großartigen Erfolge der 
belgischen Kongoeisenbahn allein in dem staatlich organisierten Aus- 
beutungs- und Ausplünderungssystem ihre Erklärung finden, weiches die 
Kolonialwirtschaft des Kongostaates kennzeichnet. Ich halte das nur 
für teilweise richtig. Die überaus interessanten Streitigkeiten über die 
Auslegung des Lastenheftes der Bahngesellschaft, das nach der Meinung 
des Kongostaates eine energische Mahnung seiner Tarifhoheit nicht aus- 
schließt, sind durch die Veröffentlichungen in der belgischen Kammer. 
aus Anlaß der Verstaatlichungskampagne beleuchtet worden, eine Prognose 
über die Dauer der glänzenden Erträge ist aber heute noch nicht mög- 
lich. Meyer geht hierüber vollständig hinweg und scheint mir die 
Wirkung der vielgetadelten Domanialpolitik für den Verkehr der Um- 
gehungsbahn zu überschätzen. So sehr ich der neuerdings eingeleiteten 
Bewegung gegen das völkerrechtswidrige Vorgehen des Kongostaates 
den besten Erfolg wünsche, so fraglich erscheint es mir doch, ob sie 
zum Ziele führen wird. Ich fürchte vielmehr — was ich schon im 
Frübjahr 1900 aussprach, als ich in Schmollers Jahrbuch die außer- 
ordentlich interessante Domanialpolitik des Kongostaates behandelte — 
daß nämlich die sehr kluge und äußerst geschickte kongostaatliche 
Politik ein ihr unangenehmes Zusammengehen der anderen Mächte immer 
zu hintertreiben wissen wird. 

In der dritten Gruppe finden wir die portugiesischen, deutschen 
und englischen Bahnen in Südwestafrika, in der vierten die südost- 
afrikanischen in Rhodesien. Hieran schließt sich als fünfte das große 
hydrographische Gebiet der ostafrikanischen Seengruppe mit seinen 
portugiesischen, englischen und deutschen Bahnen, ausschließlich der 
Ugandabahn. Diese bildet als Bahn des zum Nilsystem gehörigen 
Viktoriasees eine Gruppe für sich. Ihr folgen als siebente die Bahnen 
des mittleren Nilgebietes mit ihren Zugängen vom roten Meer her, 
während die achte Gruppe durch die Bahnen der tropisch-afrikanischen 
Inseln Madagaskar, Reunion, Mauritius gebildet wird. 

Jede einzelne Bahn betrachtet Meyer nach der Ursache ihrer Er- 
bauung, der Art ihrer Ausführung, der Länge ihrer Erstreckung, den 
Kosten ihres Baues und Betriebs und den wirtschaftlichen Wirkungen 


554 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


ihres Bestehens. Am Schluß seiner Arbeit faßt er die Ergebnisse seiner 
Untersuchung in allgemeine Sätze zusammen. Der Raum verbietet mir, 
näher auf sie einzugehen. Ich muß mich bescheiden, hervorzuheben, daß 
sie sich ebenso fern von kolonialem Optimismus wie Pessimismus halten 
und die lebhafte Aufmerksamkeit aller derer verdienen, die sich über 
Eisenbahnfragen im tropischen Afrika zu unterrichten wünschen. Es 
ist mir kein Buch bekannt, aus dem in ähnlich leichter und angenehmer 
Weise die sonst nur mit vieler Mühe und großem Zeitaufwand erreichbare 
Belehrung sich schöpfen ließe. 

Für eine zweite Auflage möchte ich dem Verfasser anheimgeben, 
seinem Buche ein Kapitel anzuhängen, das ich ungern vermißt habe. 
Ich meine eine Untersuchung, die die Rentabilität des neuesten Verkehrs- 
mittels, der Automobile, der der Eisenbahnen gegenüberstellt und einer 
vergleichenden Würdigung unterzieht. Wenn die Tsetsefliege im tropischen 
Afrika auch den Wagenverkehr unmóglich macht, dem Automobil kann 
Sie nichts anhaben, und die hóchst lehrreichen Versuche, die die Fran- 
zosen auf diesem Gebiete unternehmen, haben jedenfalls den Beweis ge- 
liefert, daß für koloniale Erschließung das Automobil ein wichtiger Faktor 
zu werden verspricht. 


Jena. G. K. Anton. 


e Borgius, Dr. W., Jahrbuch des Handelsvertragsvereins für das 
Jahr 1901. Berlin, C. Liebheit u. Thiesen. gr. 8°. 350 SS. 

Der im November 1900 gegründete Handelsvertragsverein ist Ja, was 
sein Name besagt, ein Verein. Ein Verein muß einen Zweck haben. Kund- 
gebungen, die von ihm ausgehen, müssen tendenziós sein. Der Handels- 
vertragsverein hat während seiner noch nicht anderthalbjährigen Lebens- 
dauer eine Fülle von Kundgebungen ausgehen lassen. Sie sind alle 
tendenziós; aber sie dürfen durchweg das Prädikat, wissenschaftlich zu 
sein, für sich geltend machen, wenn man darunter das Suchen und Dar- 
stellen der Wahrheit versteht. Auch dient der Verein und dienen alle 
seine Kundgebungen nicht den Interessen irgend einer Gruppe, irgend 
eines Berufsstandes, irgend eines besonderen Interessentenkreises inner- 
halb des Volkes, sondern denen des gesamten Volkes. Mit reineren 
Händen und mit vornehmeren Waffen, als die er führt, ist keine Partei, 
keine Richtung, keine Gruppe in den Kampf gegangen, der ihn auf 
den Plan gerufen. Und auch um deswillen verdienen seine Kuud- 
gebungen eine weitere und dauerndere Beachtung, als Tausende von 
anderen Auslassungen, die man jetzt in dem Streit um Zollgesetz und 
Zolltarif zu lesen bekommt, ja auch als fast alle offiziellen und offiziósen. 

Dr. W. Borgius, der Geschäftsführer des Vereins, hat sich durch 
die Herausgabe des Jahrbuches nicht nur um die Sache, der es dient, 
sondern um die handelspolitische Aufklàrung, um die Klarstellung der 
Streitpunkte, um die Charakteristik der streitenden Parteien, um die 
Darbietung alles nótigen Informationsmateriales in hohem Grade ver- 
dient gemacht. Sein Jahrbuch ist nicht ein Rechenschaftsbericht im 
gewöhnlichen Sinne des Wortes, und doch ein Führer durch die Wege, 
welche der Verein in seiner unablässigen und ersprießlichen Arbeit 
bisher gegangen ist, wie er willkommener nicht gefunden werden kann. 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 555 


Ob er uns einführt in die verschiedenen Formen und Betätigungen der 
agitatorischen Arbeit des Vereins (Abschn. I), ob er uns die handels- 
politische Bewegung der letzten Jahre schildert (II) oder die wirt- 
schaftlichen Interessenvertretungen und die politischen Parteien des 
Deutschen Reiches und ihre Programme uns vor Augen führt (III u. 
IV) oder die handels- und zollpolitischen Beziehungen Deutschlands 
zum Auslande (VI) charakterisiert — immer bleibt er objektiv und 
steht er über den Sachen. Aeußerst wertvoll ist eine Gegenüberstellung 
des bestehenden Zolltarifgesetzes mit dem Entwurfe des neuen (VII), 
ferner eine vergleichende Uebersicht der Zollsätze für die wichtigsten 
landwirtschaftlichen Produkte nach dem geltenden Tarif, dem neuen 
Tarifentwurf und den agrarischen Forderungen (VIII); nicht minder 
endlich die handelspolitische Statistik, welche der letzte Abschnitt (IX) 
enthält. 

Die Aufnahme einer Abhandlung des Oberst a. D. Dr. von Renauld, 
betitelt: „Wer trägt die Lasten der deutschen Wehrkraft“ (Abschn. V) 
wird von allen unbefangenen Lesern mit Dank begrüßt werden. 

Freunde und Gegner des Handelsvertragsvereins — alle werden, 
wenn sie unbefangen urteilen wollen, in diesem Jahrbuche eine Schatz- 
grube reichen und zumal jetzt für alles Wirken in der Oeffentlichkeit 
unentbehrlichen Wissens erblicken. A. Emminghaus. 


Voßberg-Rekow, Die Zolltariffrage und ihre Begründung. 
Im Auftrage der Zentralstelle für Vorbereitung von Handelsverträgen. 
Berlin, J. Guttentag, 1902. 8°. 62 SS. 

Der Verfasser eines der tätigsten Mitglieder der auf dem Titel ge- 
nannten Zentralstelle unterwirft namens dieser, aber ohne seine per- 
sönliche Anschauung, wo sie etwa mit der der Mehrheit der Auftrag- 
geber nicht übereinstimmen sollte, zurückzuhalten, die neue Zollvorlage 
und ihre Begründung einer kritischen Beleuchtung. Die Schrift zerfällt 
in fünf Hauptabschnitte: „Die äußere Gestaltung des neuen Tarifs“. 
„Systemwechsel“, „Ist der Systemwechsel begründet?“ „Was die Motive 
beweisen“, „Schluß“. Es befremdet uns, einen so genauen Kenner der 
Materie das Schema des neuen Tarifs rühmen zu hören und ihn dann 
unangenehm überrascht zu finden über den handelspolitischen System- 
wechsel, der sich in der Ausfüllung dieses Schemas und im Zollgesetz 
bekunde. Andere Beurteiler erblickten wohl mit Recht in dem Schema 
gleich bei seinem Erscheinen einen deutlichen Vorboten des bevor- 
stehenden Systemwechsels. Wenn man an dem Grundsatz der Zoll- 
freiheit der Waren nicht festhalten, wenn man nicht einen erheblichen 
Fortschritt nach der Seite des Schutzes hin machen will, braucht man 
nicht einen Tarif von 946 wie immer gut systematisch ein- und unter- 
geordneten Positionen. Freilich wird, wie der Verf. überzeugend nach- 
weist, der Systemwechsel auch durch die Einführung des Minimaltarifs 
für Getreide, durch Art und Ausmaß der Zollsätze, durch die Stellung- 
nahme, zur Meistbegünstigungsfrage, durch die deutlich bekundete Ten- 
denz nach der Zollautonomie hin, also durch Momente, die mit dem 
Tarifschema nichts zu schaffen haben, genügend gekennzeichnet. Ein- 
leuchtend weist der Verf. nach, daß dieser ganze Systemwechsel lediglich 


556 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


ein Produkt der agrarischen Herrschaft — um nicht zu sagen „Dik- 
tatur“ — und daß er das gefährlichste Hindernis einer auch von der 
Regierung augenscheinlich gewollten Handelsvertragspolitik sei. Der 
Nachweis, daß in der Begründung zum Gesetz und Tarif die Not- 
wendigkeit gerade der einschneidendsten Neuerungen und ihrer angeblich 
wohltätigen Wirkungen zu beweisen kaum versucht werde und daß da, 
wo die Motive den Versuch eines Beweises unternehmen, aus dem An- 
geführten eher das Gegenteil, als das, was bewiesen werden soll, zu 
entnehmen sei, scheint uns vorzüglich gelungen. 

Der Verf. erblickt mit Recht in der Vorlage nicht ein Ergebnis 
volkswirtschaftlicher Erkenntnis, vernunftgemäßer Erwägung, sondern 
die Forderung und den Ausdruck einer bestimmten politischen und 
sozialen Richtung. Wer mit uns ihm hierin beistimmt, muß die grobe 
allgemeine Bedeutung des dem deutschen Volke durch die Vorlage auf- 
gedrungenen Kampfes ermessen. Mahnungen, wie sie diese in der 
vorliegenden Schrift vertretene Anschauung enthalten, können uns nicht’ 
ernst und eindringlich genug zugerufen werden. 

A. Emminghaus. 


Bericht, LXXIL, der beiden Verwaltungskörper der Ludwigs-Eisenbahngesell- 
schaft in Nürnberg. Nürnberg, J. L. Stich, 1903. gr. 4. 29 SS. 

Bericht des Vereins zur Förderung der Elbschiffahrt in Magdeburg für das Jahr 
1902. Magdeburg, Panse'sche Buchdruckerei, 1903. gr. 4 47 SS. mit 1 graph. Dar- 
stellung. 

Exportkompaß 1903. ` Kommerzielle Jahrbuch für die Interessenten des öster- 
reichisch-ungarischen Ausfuhrhandels. Jahrg. XV. Wien, Volkswirtsch. Verlag A. Dorn, 
1903. gr. 8. XXII—227, 361, 22 u. 370 SS., geb. M. 13,50. 

Grothe, Hugo, Die Bagdadbahn und das schwäbische Bauernelement in Trans- 
kaukasien und Palästinagedanken zur Kolonisation Mesopotamiens. München, J. F. Leh- 
manns Verlag, 1902. gr. 8. M. 1,20, 

Jahresbericht der Handelskammer zu Berlin für 1902, Berlin, Druck von H. 
S. Hermann, 1903. Lex.-8. X—367 SS. 

Kurs, V., Hohenzollernsche Wasserstrassenpolitik im Gebiete zwischen Oder und 
Elbe. Ein Vortrag. Hannover, Hofbuchdruckerei Gebr. Jünecke, 1902. 8. 60 SS. mit 
5 kartographischen Beilagen. M. 1,80. 

Leéder, Osk. und Heinr. Rosenberg, Die Umgestaltung der Eisenbahngüter- 
tarife Oesterreichs. Eine Studie zur Frage der Verstaatlichung der Privatbahnen. Wien, 
A. Hólder, 1903. gr. 8. 51 SS., mit 1 Karte. M. 1.—. 

Lusensky, F., Der zollfreie Veredlungsverkehr. Berlin, ©. Häring, 1903. gr. 8. 
VI—217 S8. M. 5.—. 

Vollmöller, Dora, Die Fürsorge für die Handlungsgehilfinnen, Ein Vortrag. 
Dresden, H. Burdach, 1903. 8. 16 SS. M. 0,40, 

Werner, G. (Landrichter, Magdeburg), Vortrüge über das Binnenschiffahrtsrecht. 
Gehalten im Oktober und November 1902. Magdeburg, Heinrichshofen, 1903. gr. 8. 
(Herausgeg. von der Handelskammer zu Magdeburg.) 

Ardouin-Dumazet, L'Europe centrale et ses réseaux d'Etat. Paris, Berger- 
Levrault, 1903. 8. 342 pag. fr. 2,50. 

Compte rendu des séances du 26° congrès des ingénieurs en chef des associations 
de propriétaires d'appareils à vapeur, tenu A Paris en 1909. Paris, impr. E. Capio- 
mont & C", s. a. (1903). gr. in-8. 259 pag. 

Gauckler, P. Le port d'Alger (1530 A 1902). Alger, impr. Chaix, 1902. 8. 
135 pag. et 4 plans. 

Huisman, Michel, La Belgique eommerciale sous l'empereur Charles VI. La Com- 
pagnie d'Ostende. Etude historique de politique commerciale et coloniale. Bruxelles, 
H. Lamertin, 1902. gr. in-8. XII—556 pag. fr. 10.—. (Table des matières: Le traité 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 557 


de la Barrière et l’origine de l'expansion maritime dans les Pays-Bas Autrichiens. — 
Les premières factoreries belges en Orient et l'antagonisme des provinces-unies. — Les 
causes de la fondation de la Compagnie d’Ostende. — La constitution de la Compagnie 
des Indes. — Les premières expéditions de la Compagnie d'Ostende, — Les ligues de 
Vienne et de Hanovre. — L'âge d'or de la Compagnie d'Ostende. — La controverse 
juridique. — La suspension de la Compagnie d'Ostende. — La chute de la Compagnie 
d'Ostende et son commerce indirect. — La situation commerciale des Pays-Bas à la fin 
du règne de l'empereur Charles VI.) 

de La Ruelle, J. (redacteur au ministere des travaux publies), Contróle des che- 
mins de fer et des tramways. Tour, impr. Deslis freres, 1903. 8. 739 pag. fr. 12.—. 

Livre d'or de la Société libre d'émulation du commerce et de l'industrie de la 
Seine-Inférieure. Rouen, impr. Gy, 1903. 8. 107 pag. 

Valery, Jul. (prof. de droit commercial à l'Université de Montpellier), Maison de 
commerce et fonds de commerce. Paris, Arth. Rousseau, 1903. 8. 71 pag. fr. 2,50. 

Colonial import duties, 1902. Return relating to the rates of import duties levied 
upon the principal and other articles imported into the colonies and other possessions of 
the United Kingdom. (Duties in force, so far as notified to the Board of trade, as date 
of issue of this return, November 1902.) London, printed by Eyre & Spottiswoode, 1902. 
8. XI—459 pp. 2/.—. 

English timber and its economical conversion, by „acorn“. A handbook for home 
timber merchants, manufacturers, growers etc. London, W. Rider, 1903. 8. VIII— 
208 pp. 3./6. 

Export merchant shipper's directory for 1903. London, Dean, 1903. 8. 15/.6. 

Fraser, John, English railways.  Statistieally considered. London, E. Wilson, 
1903. 8. 288 pp. 5/.—. 

Hitchcock, Frank H., Trade of Denmark. Washington, Government Printing 
Office, 1903. 8. 88 pp. with map. (United States Department of Agriculture, section 
of foreign markets, bulletin n° 9.) 

How to enforce payment of debt. An easy guide to business men. By a lawyer. 
London, Richards, 1903. 8. 120 pp. 2/.—. 

Latim er, J., The history of the Society of merchant venturers of the city of Bristol. 
Bristol, Arrowsmith, 1903. Imp.-8. 345 pp. 21/.—. 

„Shipping world“ year book, the. A desk manual in trade, commerce, and 
navigation. XVII* yearly edition. Edited by Evan Rowland Jones, 1903. London, 
„Shipping World“ Office, 1903. 8. XLVIII—1248 pp. With new map, cloth. 6/.—. 

Relazione sull' esercizio delle strade ferrate Italiane per l'anno 1900. Roma, 
tip. dell'Unione cooperativa editrice, 1902. Roy. in-4. XXIII—720 pp. c. carta max. 
in Folio. (Pubblicazione del Ministero dei lavori pubblici, R. Ispettorato generale delle 
strade ferrate.) 

Dixi, Uit de vakbeweging onder handels- en kantoorbedienten. Rotterdam, Joh. 
Pieterse, 1903. gr. 8. 61 blz. 

Heeres, J. E, De Oost-Indische Compagnie; ter herinnering (20 Maart 1602). 
's Gravenhage, Mart. Nijhoff, 1902. 8. 30 blz. fl. 0,50. 

Verslag der exploitatie van den Sumatra-Staatsspoorweg en van de Ombilinmijnen 
over 1891. ’s Gravenhage, M. Nijhoff, 1902. 8. 45 blz. met tabellen. fl. 1,50. (Uitgave 
van het Ministerie van kolonien.) 


7. Finanzwesen. 

E. Zimmermann, Finanzrat, Das Wechselstempelsteuergesetz 
vom 10. Juni 1869 nebst den Ausführungsbestimmungen des Bundesrats 
vom 8. Màrz 1901. Mit Erlàuterungen. Karlsruhe, G. Braunsche Hof- 
buchdruckerei, 1902. 112 SS. 2,20 M. 

Das vorliegende Buch ist ein sehr sorgfältig gearbeiteter Kommentar 
zum Wechselstempelsteuergesetz. Die Erläuterungen sind mit besonderen 
sachlichen Ueberschriften versehen, die einen guten Ueberblick gewähren, 
und sind ihrer Fassung nach recht klar und auch praktisch angeordnet. 
Sachlich konnte ich nur Treffliches finden, da die Erklärungen er- 
schöpfend sind und doch sich der Knappheit befleiligen. Die ein- 


558 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


schlägigen Gerichtsentscheidungen sind sorgsam berücksichtigt worden. 
Umrechnungstabelle und solche Angaben, die man gleich bei der Hand 
haben möchte, sind beigefügt. Ein Sachregister erleichtert die Be- 
nutzung. Bei notwendigen historischen Bemerkungen sind insbesondere 
die preußischen und badischen Rechtsverhältnisse berücksichtigt. 

Der kleine Kommentar gehört nach alledem zu den Werken, die 
man als zuverlässige und angenehm zu handhabende gern zu den brauch- 
baren Nachschlagebüchern rechnet. 

Jena. A. Elster. 

Keller, Frz., Die Verschuldung des Hochstifts Konstanz im 14. u. 15. Jahr- 


hundert. Eine finanzgeschichtliche Studie. Nach archivalischen Quellen bearbeitet, 
Freiburg i. B., Herder, 1903. gr. 8. VIII—104 SS. M. 2.—. 


Henry, Jos. (avocat prés la Cour d'appel de Bruxelles), L'impót sur les revenus 
professionnels. Louvain, Ch. Peeters, 1903. 8. VI—107 pag. fr. 3.—. 


8. Geld-, Bank-, Kredit- und Versicherungswesen. 

Vigelius, Carl, Handbuch für Sparkassen. Breslau 1902. 
375 SS. 6 M. 

Der Syndikus der Kreissparkasse in Gnesen hat hier die für Spar- 
kassen in Betracht kommenden gesetzlichen Bestimmungen und die 
Grundlagen der technischen Organisation der Sparkassen für den Ge- 
brauch der Praxis mit grofler Gründlichkeit klar, übersichtlich und 
knapp zusammengestellt. Es handelt sich also nicht um eine wissen- 
schaftliche Darstellung des Systems der Sparkassentätigkeit, sondern 
lediglich um ein praktisches Hand- und Nachschlagebuch für Kuratorien 
und Beamte von Sparkassen. Diesen Zweck erfüllt das Buch meines 
Erachtens vollständig. Ein gutes Sachregister erleichtert dıe Benutzung 
wesentlich. Von besonderem Wert sind die Formulare und Muster, 
sowie das Normalstatut. Verf. präzisiert die Aufgabe seines Buchs 
selbst dahin, daß es bestimmt sei, in allen regelmäßigen Geschäftsvor- 
fällen einer öffentlichen Sparkasse juristisch und technisch Auskunft zu 
erteilen. Eine systematische Darstellung der gesetzlichen Bestimmungen, 
der ministeriellen Erlasse, der Judikatur, und dies meist zugleich auch 
für die übrigen Bundesstaaten, nicht nur für Preußen — hiermit bietet 
Verf. etwas Neues und kommt zweifellos einem Bedürfnis entgegen, 
das vielleicht mehr noch beim Publikum als beim Sparkassenbeamten 
besteht. Es scheint mir allerdings, als ob der technische Teil (nur 24 
von 332 Seiten) zu stiefmütterlich behandelt ist. Er bringt nur eine 
Programmskizze zweckmäliger Organisation der Sparkassenverwaltung, 
wührend wohl auch hier selbst für Sparkassenbeamte kurze Begründungen 
am Platze wären. Solche ergeben sich ja im juristischen Teil vieltach 
von selbst, in diesem Teil ist sogar erfreulicherweise gelegentlich ein 
kleiner Streifzug ins Volkwirtschaftliche gemacht worden. In letzterer 
Beziehung ist hervorzuheben der im Wortlaut mitgeteilte Erlaß des 
preußischen Ministers des Innern (vom 18. April 1856) über die Auf- 
gaben der Sparkassen (S. 38) und die Ausführungen über das wichtige 
Projekt eines Zentralinstituts für die öffentlichen Sparkassen (S. 252 ff). 
Ich würde es für einen Vorteil halten, wenn kurze volkswirtschaftliche 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 559 


Bemerkungen noch der Frage der Begrenzung des Geschäftskreises der 
Sparkassen, ferner bei Erörterung der juristischen Natur der Sparkassen- 
einlage einige Worte der Begründung der verschiedenen Theorien, sowie 
ihrer etwaigen praktisch-geschäftlichen Tragweite gewidmet würden. 


Sorau N.L. Fritz Schneider. 


Davis, Andrew Mc Farland, Currency and Banking in the 
Province of the Massachusetts-Bay. Publications of the American 
Economie Association, New York 1901. 

Die eingehenden Untersuchungen des Verf. über Geld- und Bank- 
wesen einer amerikanischen Provinz während des 17. und 18. Jahr- 
hunderts sind im wesentlichen nur für dortige Leser von grölerem 
Interesse, wenn sich auch daneben beachtenswerte Bemerkungen über 
die ganzen wirtschaftlichen Verhältnisse jener Zeit finden. So sind die 
Kapitel über die Vorgeschichte der Bank von England und über eng- 
lische Anschauungen über das Bankwesen vom 16. bis zum 18. Jahr- 
hundert für jeden Leser von Bedeutung. 

Reiches Urkundenmaterial, das teilweise in photographischer Ver- 
vielfältigung mitgeteilt wird, liegt dem Buche zu Grunde und gestattet 
einen Einblick in das Rechts- und Verkehrsleben jener Zeit. 


Halle a. S. G. Brodnitz. 


Arbeiterversicherungskongreß. VI. Tagung, Düsseldorf, 17. bis 24. Juni 
1902. Veröffentlichung des deutschen Organisationskomitees. Breslau-Berlin, C. T. Wis- 
kott, 1902. gr. 8. LXXVIII—1074 SS. Aus dem Inhalt. Referate: Die wirtschaftliche 
und politische Bedeutung der deutschen Arbeiterversicherung, von J. Bódiker. — Die 
Arbeiterversicherung in Europa nach ihren Systemen, von Zacher. — Essai de pro- 
gramme d'une statistique internationale des accidents du travail dans l'exploitation des 
chemins de fer, par V. Magaldi. — Gegenwürtiger Stand der Unfallverhütung in Oester- 
reich, von Rob. Marschner. — Die Bekämpfung der Trunksucht in ihrer Bedeutung für 
die Arbeiter-, Kranken-, Unfall- und Invaliditätsversicherung, von J. Waldschmidt. — 
Gegenwürtiger Stand der Frage der Berufsunfälle und der sozialen Versicherung in der 
Sehweiz, von Chiist. Moser. — Résultats des concours publies internationaux ouverts par 
PaAssociation des industriels de France contre les accidents du travail, par H. Mamy. — 
Diminution des risques d'accidents dans les houillères françaises depuis 1833, par Oct. 
Keller. — Das erste Dezennium der Arbeiterunfallversicherung in Oesterreich, von 
Karl Kógler. — De la coopération des compagnies à primes fixes d'assurance contre les 
accidents à la réparation des aecidents du travail, par Ed. Vermot. — Du róle de la 
mutualité des assurances libres contre les accidents du travail, par Alb. Gigot. — 
Première application de la législation française sur les accidents, par G. Paulet. — Die 
Fórderung des Rettungswesens und des Roten Kreuzes durch die sozialpolitische Gesetz- 
gebung des Deutschen Reiches, von Max Schlesinger. — Die Weiterentwickelung der 
Arbeiterversicherung in Oesterreich, von Julius Kaan. — Die Pensions. und Hilfs- 
kassen der fünf schweizerischen Hauptbahnen, von R. Leubin. — Le projet de loi belge 
sur la réparation des dommages résultant des accidents du travail, par L. Wodon. — 
La prévention des accidents du travail par le signalement du danger au moyen d'une 
coloration spéciale. par G. Villani. — Les pensions de vieillesse en Belgique, par Jean 
Dubois. — Die Arbeitergesetzgebung im Großherzogtum Luxemburg 1900—1902, von 
H. Neuman. — De la marche suivie en Italie par le développement de la prévention 
des accidents du travail, par Ern. de Angeli. — Développement de la caisse nationale de 
prévoyanee pour l'invalidité et pour la vieillesse des ouvriers en Italie, par V. Magaldi. 
— Einfluß der deutschen Arbeiterversicherung auf die Verhütung und Bekämpfung von 


Volkskrankheiten, von Bielefeldt. — Des principes de l’organisation de l'assurance des 
veuves et des orphelins, par Maur. Bellom. — Die Entwickelung der Unfallverhütungs- 


technik in Deutschland, von Konr. Hartmann. — De la nécessité d'un enseignement de 


560 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


la médecine des accidents du travail, par L. Bernacchi. — Die deutsche Unfallstatistik 
für Gewerbe, Land- und Forstwirtschaft, von G. A. Klein. — L’assistance sociale aux 
ouvriers en Allemagne, par (M"*) Laur. Fiedler. — Die Entwickelung der österreichischen 
Unfallversicherung auf Grund des Kapitaldeckungsverfahrens, von O. Pribram. — Wor- 
kingmen’s insurance in the United States, by Gust. A. Weber. — Considérations sur la 
loi italienne sur les accidents du travail, par A. Lucei. — La question de la réparation 
des accidents du travail en Belgique, par Louis Maingie. — L'institution de caisses 
pour la maternité en Italie, par H. Seodnik. — Les accidents du travail en Italie, par 
V. Magaldi. — Ein Beitrag zur Geschichte der Arbeiterversicherung in Deutschland 
von T. Bódiker. — etc. 

Assekuranzkompaß. Jahrbuch für Versieherungswesen, hrsg. von (Bankkontrol.) 
G. J. Wischniowsky. Jahrg. XI. Wien, M. Perles, 1903. gr. 8. XIV—912 SS. gr. 8. 
geb. M. 20.—. 

Bauer, Ph. (Assistent am großherz. statistischen Landesamt in Karlsruhe), Die 
Aktienunternehmungen in Baden. Ein Beitrag zur Kenntnis der großindustriellen und 
Verkehrsentwiekelung des Landes. Karlsruhe, Macklotsche Buchhdl., 1903. gr. 8. 
372 SS. M. 10.—. 

Bódiker, T. (Wirkl. GehORegR.), Ein Beitrag zur Geschichte der Arbeiter- 
versicherung in Deutschland. Breslau-Berlin, C. T. Wiskott, 1902. gr. 8. 22 SS. 
(Den Mitgliedern des 6. internation. Arbeiterversicherungskongresses zu Düsseldorf ge- 
widmet.) 

Funke, Ernst und Walter Hering (kais. exp. Sekretüre im Reichsversiche- 
rungsamt), Die reichsgesetzliche Arbeiterversicherung (Kranken-, Unfall- und Invaliden- 
versicherung). Wer ist versichert? — Ansprüche der Versicherten; Verfolgung der An- 
sprüche; Kosten des Verfahrens. Für die Versicherten dargestellt. Berlin, Frz. Vahlen, 
1903. 8. 116 SS. M. 0,50. 

Herbler, V. (oberöst. OLandesR.), Das landwirtschaftliche Genossenschaftswesen 
in Oberösterreich. Ein Beitrag zum Ausbau der genossenschaftlichen Organisation der 
Landwirtschaft in Oberösterreich. Linz, Verlag des katholischen Preßvereins, 1903. 8. 
108 SS. M. 0,90. 

Hübschmann, Arthur, Die obligatorische Mobiliarbrandversicherung in der 
Schweiz. Leipzig, A. Deichert, 1903. gr. 8. 91 SS. M. 2,40. (Wirtschafts- und Ver- 
waltungsstudien mit besonderer Berücksichtigung Bayerns, herausgeg. von G. Schanz, 
Bd. XVII.) 

Lindenberg, O., 50 Jahre einer Spekulationsbank. Ein Beitrag zur Kritik des 
deutschen Bankwesens. Berlin, A. W. Hayns Erben, 1903. gr. 8. 246 SS. M. 5.—. 

Muntendorf, V. (Direkt. d. k. k. priv. mährischen Escomptebank, Brünn), 
Defraudationsschutz. Ein Beitrag zum Kapitel der Bureauorganisationen mit besonderer 
Berücksichtigung der Kreditgenossenschaften. Brünn, Winiker & Schickardt, 1903. gr. 8. 
V—163 SS. M. 3,30. 

Zacher (kais. GehRegR.), Die Arbeiterversicherung im Auslande. Heft I*. Die 
Arbeiterversicherung in Dänemark. I. Nachtrag zu Heft 1 (der Arbeiterversicherung 
i. A.) Berlin-Grunewald, A. Troschel, 1903. gr. 8. 65 SS. M. 2.—. 


Almanach de la coopération francaise pour 1902 (10° année) Edité par E. de 
Boyve. Paris, impr. Mangeot, 1902, 12. 95 pag. fr. 0,40. 

L'annuaire parisien de la banque et de la bourse pour 1903. Année 19. Paris, 
impr. Cayeux, 1903. 12. 82 pag. fr. 1.—. 

Artibal, Jean, L'assurance ouvrière en France et à l'étranger. Paris, chez 
l'auteur 29,- rue d'Argenteuil, I", 1902. 8. 54 pag. 

Co-operative Wholesale Societies Annual, the, for 1903. London, P. S. King 
& Son, 1903. gr. S. With numerous photographs and illustrations, cloth. 4/.6. (Con- 
tents: Comparative progress of wholesale and retail co-operative societies in the United 
Kingdom. — The British islands, their resources in live stock. — Co-operation in other 
lands, by W. H. Wolff. — Education in England and Wales in 1902, by T. J. Macna- 
mara. — Land settlement for workmen. — Robert Owen as a social reformer. — 
Productive co-operation, its principles and methods, by H. W. Macrosty. — Social 
movements and reforms of the Nineteenth century, by G. H. Wood. — Sugar question 
in 1902, by W. M. J. Williams. — Wages and conciliation bourds, ete.) 

Nelson, 8. Armstrong, The ABC of stock speculation. New York, Nelson, 
1903. 12. 226 pp., cloth. $ 1,50. (Nelson's Wall street library, vol. V.) 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 561 


Pratt, S. S., The work of Wall Street. London, Appleton, 1903. 8. 5/.—. 

Scott, W. Amasa, Money and banking: an introduction to the study of modern 
currencies. New York, Holt & C», 1903. 8. 10; 381 pp., cloth. $ 2.—. („The book's 
subject is modern currency, and it aims to analyze and explain the complex media of 
exchange of the great nations of the present day in such a way as to reveal the nature 
and workings of each element and the relations between them all"; it includes a dis- 
cussion of banks in their relation to the currency, of the various forms of government 
notes, and of the machinery and methods of international exchange.) 

Atti della cassa nazionale di assicurazione per gli infortuni degli operai sul lavoro. 
Verbale della seduta del 30 Ottobre 1902 del Consiglio superiore e bilancio consuntivo 
del 1901. Milano, tipogr. E. Reggiani, 1903. Lex. in-8. 77 pp. 

Jaarboekje voor 1903, uitgeg. door de Vereeniging voor levensverzekering. Amster- 
dam, van Holkema & Warendorf, 1903. 8. 355 en blz. fl. 2.—. 

Verzekering tegen de geldelijke gevolgen van werkloosheid. Rapport, uitgebracht 
door de commissie van onderzoek, benoemd door den gemeenteraad in zijne vergadering 
van 20 VI 1900. Rapporteur G. W. Sannes. Amsterdam, Joh. Müller, 1903. gr. 8. 
2 en 115 blz. fl. 0,50. 

9. Soziale Frage. 

Ca’canny. (Nur immer hübsch langsam!) Ein Kapitel aus der 
modernen Gewerkschaftspolitik von W. G. H. von Reiswitz, Gencral- 
sekretär des Arbeitgeberverbandes Hamburg-Altona. Berlin 1902. Verlag 
von Otto Elsner. 98 SS. 

Den wesentlichen Inhalt dieser Schrift bildet eine geschickte Ueber- 
setzung der Angriffe, die von der „Times“ vor einigen Monaten gegen 
die englischen Gewerkvereine gerichtet wurden. Daß Cobden in „Kobden“ 
verwandelt wurde (S. 2), ist allerdings eine zu weitgehende Verdeut- 
schung, während andererseits die Ersetzung technischer Ausdrücke, wie 
drillers, plumbers, hippers etc. (S. 67) durch deutsche Bezeichnungen 
manchem Leser erwünscht sein würde. Verf. will keine wörtliche 
Uebersetzung liefern, sondern begnügt sich damit, die weniger wichtigen 
Kapitel in einer sich streng an die Absichten des Verf.s haltenden aus- 
zugsweisen Form zu geben (S. 4) Dies ist ihm aber kaum durchweg 
gelungen. Beispielsweise ist unter anderem in dem Abschnitte: Die 
Reformbewegung im Gewerkschaftswesen (S. 77 — „Times“ vom 4. Januar 
1902) auch die geringe Anerkennung der Trade Unions noch gemindert, 
während die Bekämpfung des Sozialismus stärker unterstrichen ist, als 
im Original. 

Hätte sich Verf. auf eine Uebersetzung beschränkt, so wäre seine 
Schrift sicher sehr dankenswert gewesen. Sie hätte vielen Kreisen, 
die an der Gewerkschaftsbewegung interessiert sind, auf bequeme Weise 
einen Einblick in die Anschauungen gewährt, die bei den Gegnern der 
englischen Gewerkvereine augenblicklich herrschen. Verf. hat aber 
seiner Uebersetzung ein selbständiges Nachwort folgen lassen, in dem 
er aus dem Vorangehenden Nutzanwendungen für Deutschland zu ziehen 
sucht, obgleich er selbst keineswegs bestreiten will, daß die Aus- 
führungen der „Times“ hier und da nicht ganz unparteiisch gehalten 
sind (S. 4). Indem Verf. die Rolle des einfachen Uebersetzers verließ, 
ergab sich für ihn die Pflicht, in eine materielle Prüfung der vorge- 
brachten Anschuldigungen einzutreten. Es genügte dann nicht mehr, 
zu erklären, die zitierten Ausführungen seien durch zahlreiche Zu- 
schriften aus industriellen Kreisen bestätigt und materiell ergänzt 

Dritte Folge Bd. XXV (LXXX), 36 


562 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes, 


worden (S. 86), sondern es hätte auch auf die Punkte hingewiesen 
werden müssen, in denen der Gewährsmann der „Times“ z. B. durch 
die „Contemporary Review“ und durch .zahlreiche Zuschriften an die 
„Times“ selbst rektifiziert worden ist. Will man aus den englischen 
Verhältnissen etwas lernen, so muß man sie, wie es seitens der ameri- 
kanischen Regierung geschieht, sachgemäß an Ort und Stelle prüfen 
lassen. Statt dessen polemisiert Verf. auf Grund seiner gewiß vielfach 
richtigen, aber doch einseitigen Information gegen die „Theorien 
unserer Sozialideologen“, die auf die Haltung maßgebender Kreise stark 
abgefärbt hätten: „Man wird die Hinneigung zu einer solchen, von der 
Rücksichtnahme auf die Erfordernisse des praktischen Lebens nicht 
weiter angekränkelten Auffassung der sozialen Zeitaufgaben ohne Be- 
denken auf das Konto des romantischen Zuges setzen können, der zur 
Zeit nicht nur unsere äußere Politik auszeichnet“ (S. 90). Ganz be- 
sonders ist Verf. darüber aufgebracht, daß dem Stuttgarter Gewerk- 
schaftskongreß verschiedene höhere Regierungsbeamte als offizielle Teil- 
nehmer beiwohnten. Dem Verf. erscheint dies sachlich durchaus un- 
berechtigt, denn über die Reden und Beschlüsse der Kongrebmitglieder 
hätten sich die gedachten Regierungsvertreter wohl auch informieren 
können, ohne den Verhandlungen persönlich beizuwohnen (S. 91). Mit 
dieser Begründung kann man das Erscheinen von Regierungsvertretern 
bei Kongressen überhaupt für unnötig erklären, da doch regelmälig 
gedruckte Berichte vorzuliegen pflegen. 

Verf. schließt mit dem Wunsche einer „vernunftgemäßen Ein- 
schränkung der Koalitionsfreiheit“ ; ihn zu begründen ist dem Verf. nicht 
gelungen. 


Halle a. S. ` G. Brodnitz. 


Schriften des deutschen Vereins für Armenpflege und Wobltätigkeit. 
Heft 57 und 58. Leipzig 1902. 

Im 57. Heft dieser Schriften wird die Verteilung der Armenlasten 
behandelt, die sich in ihrer jetzigen Form als unzulänglich erweist. 
Namentlich die zeitraubenden Ermittelungen und das viele Schreibwerk 
sind störend. Es handelt sich hierbei mehr um technische Fragen des 
Verwaltungsrechtes. Von allgemeinem Interesse sind die Ausführungen 
über die Wanderarmen von Pastor Mörchen-Bethel, der für diese an 
Stelle des jetzigen Armenrechtes vorbeugende soziale Fürsorgeein- 
richtungen nach dem Vorbilde von Bodelschwinghs verlangt. 

Das 58. Heft bringt zwei Gutachten über eine gerade gegenwärtig 
sehr wichtige Frage: Die Einrichtung von Notstandsarbeiten und ihre 
Erfolge. Das erste Gutachten von Dr. Paul Hartmann schildert die bei 
uns in dieser Hinsicht getroffenen Vorkehrungen auf Grund einer Um- 
frage bei 230 Gemeindeverwaltungen, so daß ein recht eingehendes 
Bild gegeben wird. Dr. Rudolf Schwander-Straßburg i. E. erörtert dann 
die wirtschaftlichen Prinzipienfragen der Notstandsarbeiten. Beide Verf. 
gehen historisch von den französischen Nationalwerkstätten aus. Sie 
befürworten beide unsere gegenwärtigen Einrichtungen für die Arbeits- 
losen. Sehr mit Recht wird betont, daß die Notstandsarbeiten, wenn 
sie auch im Einzelfalle teurer zu stehen kommen (allerdings in sehr 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 563 


verschiedener Höhe, von 5—50°/,, vgl. S. 19), doch keine unwirt- 
schaftliche Ausgabe darstellen, da einmal der Armenpflege dadurch 
Ausgaben erspart werden, dann aber auch im Verhindern des sozialen 
Herabsinkens der Arbeiter zugleich ein wirtschaftlicher Vorteil für die 
Gesamtheit liegt. Etwas weitergehend scheint uns allerdings der An- 
spruch auf Fürsorge der Gemeinde für gewisse Klassen der Saison- 
arbeiter (S. 57), Hier kommt es u. E. mehr auf angemessene Löhne 
an, die eben den Unterhalt auch in der arbeitslosen Zeit ermöglichen 
müssen. 

Darin stimmen die Verf. überein, daß Notstandsarbeiten allein, so 
empfehlenswert sie sind, doch keine ausreichende Fürsorge gewähren, 
da nicht jeder für derartige Arbeiten sich eignet (zumal nicht Frauen und 
schwächliche Personen) Deshalb wird eine rationelle Abhülfe nur 
durch die allgemeine Arbeitslosenversicherung herbeigeführt werden. 


Halle a. S. G. Brodnitz. 


Kohn, Albert, Unsere erste Wohnungs-Enquéte. Berlin 1902. 

Im Auftrage der Ortskrankenkasse für den Gewerbebetrieb der 
Kaufleute, Handelsleute und Apotheker hat Verf. das Material zu- 
sammengestellt, daß diese über die Wohnungsverhältnisse ihrer er- 
krankten Mitglieder während der Monate Januar bis März 1902 ge- 
sammelt hat. Das Vorgehen der Kasse in dieser Richtung ist um so 
dankenswerter, als wir ja so eingehende Erhebungen nicht haben, wie 
sie in England von Ch. Booth und neuerdings von Rowntree geliefert 
worden sind. Ihrem Beispiel sind bereits Magdeburg und Straßburg 
gefolgt, und es steht zu erwarten, daß auf diesem Wege reiches Material 
nicht nur für theoretische Zwecke, sondern auch zur Anspornung zu 
weitergehender Fürsorge zusammen kommen wird. Denn schon die 
wenigen Seiten des vorliegenden Heftes lassen erkennen, welche großen 
Milstände hier noch zu beseitigen sind, die um so schärfer hervortreten, 
als es sich durchweg um Kranke handelt. Um nur eines hervorzuheben: 
von 957 Kranken, unter denen sich 267 Lungenkranke befanden, hatten 
nur445 in der Nacht einen Raum für sich allein, die übrigen mußten 
ihn mit 1 bis 4, 49 sogar mit 5 und 23 mit 6 Personen teilen! Nicht 
minder schlimm ist es mit den Heizgelegenheiten, mit Fenstern, Aborten 
u. s. w. bestellt. 

Es ist zu wünschen, daß diese Erhebungen weiter fortgesetzt 
werden. Sie werden wohl dazu beitragen, weiten Kreisen zu zeigen, 
daß auch in Berlin die Wohnungsfrage noch keineswegs gelöst ist. 

Halle a. S. G. Brodnitz. 


Salomon, Alice, Soziale Frauenpflichten. Berlin (Otto Lieb- 
mann) 1902. 

Die Verf. hat in der Schrift „Soziale Frauenpflichten* eine Anzahl 
Vorträge veröffentlicht, die sie in verschiedenen Städten gehalten und 
mit denen sie ihre Zuhörer stets zu fesseln gewußt hat. Allen 5 Vor- 
trägen, welche die Ueberschriften tragen „Soziale Hilfstätigkeit“, „Frauen 
in der öffentlichen Armenpflege“, „Oeffentlicher und privater Kinder- 


Elte 


564 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes, 


schutz“, „Arbeiterinnenschutz und Frauenbewegung“, „Die Macht der 
Käuferinnen“, haben, wie die Verf. selbst in ihrem Vorwort sagt, eines 
gemeinsam, „sie alle sind beherrscht von dem einen großen Gedanken: 
von dem Glauben an die soziale Mission der Frau“. Diesen Glauben 
will die Verf. in weiteste Kreise tragen, denn „es genügt nicht, auf 
bessere soziale Zustände zu hoffen, sie herbeizuwünschen; sondern wir 
sollten versuchen — jeder nach seinen Kräften und Fähigkeiten — sie 
zu schaffen, eine bessere Gesellschaftsordnung in uns und durch uns 
zu beginnen, uns einer glücklicheren Zukunft entgegenzuführen“. Aus 
dem in schlichter. anziehender Form geschriebenen Buch spricht zu 
uns eine mit gründlichen praktischen Kenntnissen ausgestattete, von 
sittlichem Ernst erfüllte Persönlichkeit; diese Vorzüge machen dasselbe 
besonders lesenswert. E, C. 


M. v. Schulz, Vorsitzender des Gewerbegerichts Berlin, und 
Franz Behrens, Geschäftsführer des allg. deutschen Gärtnervereins, 
Die Rechtsverhältnisse im Gärtnergewerbe. Referate, dem Ausschusse 
der Gesellschaft für soziale Reform in der Sitzung vom 6. Mai 1902 
erstattet. Jena, Gustav Fischer, 1902. 37 SS. 25 Pie, 

Diese Referate erschienen als Heft 6 der Schriften der Gesellschaft 
für soziale Reform, und aus diesem Rahmen erklärt sich auch die Form, in 
welcher die Ausführungen gegeben werden. Wie bei den beiden Referenten 
selbstverständlich, sind die Rechtsverhältnisse im Gärtnergewerbe mit 
großem sachlichen Verständnis behandelt und geben die Anschauungen 
der Praxis wieder. Hier erkennt man die Kunst- und Handelsgärtnereien 
als gewerbliche Betriebe an und verlangt gesetzliche Festlegung dieses 
Rechtszustandes, damit die gewerblichen Schutzvorschriften auf die 
Gärtnereigehülfen Anwendung finden. Die beiden Referate übersehen 
meines Erachtens nur beide, daß dies auch ohne neues Eingreifen der 
Gesetzgebung von der Rechtsprechung anerkannt werden muß. Immerhin 
mag zugegeben werden, daß der wenn auch langsamere, so doch sichere 
Weg der einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung ist. Den Refe- 
raten ist darin unbedingt zuzustimmen, daß der gegenwärtige Zustand 
der Aenderung bedarf. Die Frage besitzt auch großes wirtschaftliches 
Interesse und gibt zu interessanten Untersuchungen Anlaß. Auch aus 
diesem Grunde ist zu empfehlen, daß man das Heft selbst einmal liest. 


Jena. A. Elster. 


Eberstadt, Rud. (Privdoz., Berlin), Rheinische Wohnverhältnisse und ihre Be- 
deutung für das Wohnungswesen in Deutschland. Jena, G. Fischer, 1903. gr. 8. VII— 
114 SS. M. 3.—. 

Möhl, Fr. K., Die Vorläufer der heutigen Organisation der öffentlichen Armen- 
pflege in München insbesondere: Das Armeninstitut des Grafen Rumford. Bamberg, 
Verlag der Handelsdruckerei, 1903. gr. 8. 88 SS. M. 3.—. 

Thal, Max, Mutterrecht. Frauenfrage und Weltanschauung. Breslau, S. Schott- 
laender, 1903. gr. 8. XIV—170 SS. M. 2,50. 


Harmois, G. et F. Alleaume, Le petit dictionnaire des oeuvres de solidarité 
sociale et de bienfaisance. Publié par la maison du pauvre. Paris, impr. Gainche, 1903. 
8. 73 pag. av. portr. 

Sayles, Mary B., Housing conditions in Jersey City. Philadelphia, Americ. 
Acad, of social ete. science, 1903. gr. 8. 72 pp. 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 565 


Trevelyan, Will. Pitt (Rever.), Some results of boarding out poor law children. 
With a preface by G. P. Trevelyan. London, P. 8. King & Son, 1903. gr. 8. VIII— 
91 pp. 2/.—. (Contents: Letter from the author. — Some of our older children. — 
Letter from (Captain) Bourchier, of the training ship „Exmouth.‘‘— Five typical boys. 
— Diffieult cases. — Some girls lost sieht of. — Further typical cases. — Interviews. — 
Extracts from letters. — Some statistics, 1871—1902. — Extract from Local Govern- 
ment Board reports.) 

van der Mey, R., Alleronaangenaamste bladzijden voor onze vrije vrouwtjes. 
Twee moraal philosophische opstellen behandelende: I. de vrouwenbeweging; II. sexueele 
moraal en prostitutie. Leiden, S. C. van Doesburgh, 1903. 8. 12 en 105 blz. fl. 1,25. 


10. Gesetzgebung. 

Dumas, G., Histoire de l'indissolubilité du mariage, en droit francaise. Saint- 
Dizier, impr. Thévenot, 1902. 8. 96 pag. 

Gouget, L. (avocat), Théorie générale du contrat avec soi-méme; (étude de droit 
comparé). Caen, impr. Valin, 1903, 8. XII—2256 pag. 

Malot, G., De la protection et de la tutelle des enfants naturels. Etude du 
projet de loi voté par le Sénat le 17 juin 1902. Paris, H. Jouve, 1903. 8. 116 pag. 

Casson, W. A. and G. C. Whiteley, The Edueation Act, 1909. London, 
Knight, 1903. 8. 7/.6. 

Fitzgerald, J. V. Vesey, The law affecting the pollution of rivers and water 
generally. London, Knight, 1903. 8. XVI—175 pp. 7/.6. e 

Hutchins, B. L. and A. Harrison, A history of factory legislation. With 
a preface by Sidney Webb. London, P. S. King, 1903. 8. XVIII—372 pp. 10/.6. 

Mews, J., The annual digest of all the reported decisions of the Superior Courts 
during the year 1902. London, Sweet & Maxwell, 1903. 8. XV—374 pp. 15/.—. 

Sherlock, E. M., Synopsis of the divorce laws of all the States in the Union. 
Chicago. „Chicago Law Journal“ printed, 1902. 8. 32 pp. $ 0,50. 

Spalding, Hugh M., Eneyelopwdia of business law and forms. Philadelphia, 
P. W. Ziegler & C*, 1903. 8. cloth. $ 3.—. 

Wright, S., A digest of law and arbitration cases. London, Estates Gazette, 1903. 
8. 12/.6. 

Ongevallenwet 1901. Wet van den 2en Januari 1901 (Stbl. N^ 1) houdende 
wettelijke verzekering van werklieden tegen geldelijke gevolgen van ongevallen in 
bepaalde bedrijven. Met de betreffende uitvoeringsbesluiten en formulieren, ingeleid en 
voorzien van aanteekeningen, hoofdzakelijk ontleend aan de officieele bescheiden door 
Ed. Philips en H. C. de Jongh. Amsterdam, uitgevers-maatschappij „Elsevier‘‘, 1903. 
8. 8 en 248 blz. fl. 2,25. 


Bertenburg, C., Führer durch die Gesetze und Verordnungen für die Berg- 
werksbetriebe im OBergamtsbez. Dortmund. Gelsenkirchen, Bertenburg, 1903. 8. 255 SS., 
geb. M. 1,80. 

Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen. Neue Folge Bd. II (der 
ganzen Reihe LII. Bd.). Leipzig, Veit & C°, 1903. gr. 8. XII—468 SS. M. 4.—. 

Hafter, Ernst (Privdoz.), Die Delikts- und Straffähigkeit der Personenverbünde. 
Berlin, Jul. Springer, 1903. gr. 8. XVI—166 SS. M. 3.—. 

Hartwich, W. (Rechtsanw., Berlin), Der Rechtsanwalt im Hause. Deutsches Ge- 
setz- und Rechtsbuch. 6. Aufl. 2 Bde. Leipzig o. J. 1902. gr. 8. geb. 

Hubrich, Ed. (Prof.), Die Sprachenfreiheit in öffentlichen Versammlungen nach 
preußischem Recht. Ein Gutachten zur Polenfrage. Königsberg, Gräfe & Unzer, 1903. 
gr. 8. 50 SS. M. 1.—. 

Kohler, J. (Prof), Das Eigenbild im Recht. Berlin, J. Guttentag, 1903. gr. 8. 
66 SS. M. 2.—. 

Reeb, Jak. (GymnProf.), Das bayerische Zwangserziehungsgesetz und seine Durch- 
führung. Ein Wegweiser für alle zur Mitarbeit Berufenen, ete. München, C. H. Beck, 
1903. 8. VI—118 SS. kart. M. 1,50. 

Schwiedland, E., Ziele und Wege einer Heimarbeitsgesetzgebung. 2. ergänzte 
Aufl. Wien, Manzsche k. k. Hofbuchhdl., 1903. gr. 8. 349 SS. M. 5.—. 

Staub, Herm. (JustizR., Rechtsanw., Berlin) Kommentar zum Gesetz betreffend 
die Gesellschaften mit beschrünkter Haftung. Berlin, J. Guttentag, 1903. gr. 8. VII— 
466 SS. M. 10.—. 


566 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Ulbrich, Jos. (HofR., Prof.), |Lehrbuch des österreichischen Verwaltungsrechtes. 
1. Hälfte. Wien, Manz, 1903. gr. 8 S. 1—240. M. 6.—. 


11. Staats- und Verwaltungsrecht.; 


Angermünde. — Bericht über Verwaltung und Stand der Gemeindeangelegen- 
heiten der Kreisstadt Angermünde für das Rechnungsjahr 1901. Angermünde, Druck 
von C. Windolff, 1902. Lex.-8. 24 SS. 

Bericht des Provinzialausschusses über die Verwaltung der Angelegenheiten des 
Provinzialverbandes von Pommern in dem Zeitraum vom 1. IV. 1901 bis Ende März 
1902. Stettin, Druck von F. Hessenland, 1903. 4. 436 SS. 

Breslau. — Stadthaushalts-Etat für Breslau für das Rechnungsjahr 1903. 2 Bde. 
Breslau, Druck von Graß, Barth & C", gr. 4. 1549 SS. 

Dirschau. — Bericht über die Gemeindeangelegenheiten der Stadt Dirschau für 
das Rechnungsjahr 1901 (vom IV. 1901 bis Ende März 1902). Dirschau, Druck der 
Dirschauer Zeitung, 1903. 4. 47 SS. 

Geller, Leo (Hof- u. Gerichtsadvok.), Propinationsvorschriften für Galizien. Mit 
Erläuterungen aus der Praxis. Wien, M. Perles, 1903. 8. 61 SS. M. 1.—. 

Kassel. — Bericht über die wichtigsten Zweige der Verwaltung der Residenzstadt 
Kassel im Etatsjahre 1901. Kassel, Druck von W. Schlemming, 1903. 4. 264 SS. 

Mühlhausen i. Th. — Haushaltsplan für die Verwaltung der Stadt Mühl- 
hausen auf das Rechnungsjahr 1903. Mühlhausen i. Th., Druck von Röth & Köhler, 
1903. Hoy.-4. 95 SS. 


München. — Haushaltsplan für die Gemeinde, Stiftungen und Armenpflege der 
Stadt München für das Jahr 1903. München, G. Franzsche Hofbuchdruckerei, 1903. 
gr. 4. 766 SS. 


M. Gladbach. — Haushaltspline für das Rechnungsjahr 1903. M. Gladbach, 
Druck von Em. Schellmann, o. J. (1902). 4. 70 SS. 

Nürnberg. — Verwaltungsbericht der Stadt Nürnberg für das Jahr 1900. Mit 
den Gemeinderechnungen in summarischer Fassung. Nürnberg, Druck von U. E. Sebald, 
1903. Lex.-8. XV—656 u. 171 SS. Mit 14 Blatt Abbildgn., 3 Blatt Diagrammen und 
1 Karte. (Herausgeg. vom Stadtmagistrat.) 

Paderborn. — Bericht über Stand und Verwaltung der Gemeindeangelegen- 
heiten der Stadt Paderborn für das Geschäftsjahr 1901. Paderborn, Junfermannsche 
Buchdruckerei, 1902, 4. 20 SS. 

Perels, Kurt (Privdoz., Kiel), Das autonome Reichstagsrecht, die Geschäftsord- 
nung und die Observanz des Reichstages in systematischer Darstellung. Mit einem An- 
hange: Die Geschüftsordnung für den Reichstag in kritischer Bearbeitung. Berlin, E. S. 
Mittler & Sohn, 1903. 8. X—136 SS. M. 3.—. 

Stoerk, F. (Prof), Der Austritt aus dem landesherrlichen Hause. Berlin, O. 
Häring, 1903. VIII—42 SS. M. 1,50. 

— — Die agnatische Thronfolge im Fürstentum Lippe. Berlin, O. Häring, 1902. 
gr. 8 V—110 SS. M. 3.—. 

Tesch, Joh. (kais. HofR. in der Kolonialabt. d. ausw. Amtes), Die Laufbahn der 
deutschen Kolonialbeamten, ihre Pflichten und Rechte. Berlin, O. Salle, 1902. 8. XII— 
231 SS. M. 3,10. 

Turba, G. (Privdoz.), Geschichte des Thronfolgerechtes in allen habsburgischen 
Ländern bis zur pragmatischen Sanktion Kaiser Karls VI. 1156 bis 1732. Wien, C. 
Fromme, 1903. gr. 8. IV—415 SS. M. 8.—. 

Uebersicht über die Geschäftstätigkeit der Eichungsbehörden während des 
Jahres 1901. Berlin, gedruckt in der Reiehsdruckerei, 1903. Imper.-4. 15 SS. 

Verwaltungsbericht des Rates der kgl. Haupt- und Residenzstadt Dresden 
für das Jahr 1901. Dresden, v. Zahn & Jaensch, 1902. gr. 8. 567 u. 30 SS. 


Almanach royal officiel du royaume de Belgique, publié depuis 1840. 62° année: 
1903. Bruxelles, E. Guyot, 1903. 8. 961 pag. fr. 10.—. 

Mandrea, Radu N., Etude sur la magistrature roumaine. Paris, Chevalier- 
Mareseq & C^, 1903. 8. 198 pag. 
i Dod's Parliamentary companion, 1903. London, Whittaker, 1903. 32%, 395 pp. 
/.6. 

Foster, J. Watson, American diplomacy in the Orient. Boston, Houghton, 
Mifflin & C°, 1903. 8. 14; 498 pp., cloth. $ 3.—. (Contents: Early European relations. 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 567 


— America's first intercourse. — The first Chinese treaties. — Independent Hawaii. — 
The opening of Japan. — The transformation of Japan. — The crumbling wall of 
China. — Chinese immigration and exclusion. — Korea and its neighbors. — The en- 
franchisement of Japan. — The annexation of Hawaii. — The Samoan complication. — 
The Spanish war and its results.) 

Hatstead, Murat, The life of Theodore Roosevelt, XXV'^ President of the 
United States. London, G. Richards, 1903. 8. 392 pp., illustr. 10/.6. 

Moran, T. Francis (Prof. of history & economies), The theory and practice of 
the English government. New York, Longmans, Green & C*, 1903. 8. 11; 379 pp., 12., 
cloth. $ 1,20. (Contents: General nature of the English government, — Succession to 
the throne and the coronation. — The royal prerogative. — Origin and early develop- 
ment of the cabinet. — Composition of the cabinet. — Fundamental principles of the 
cabinet. — Cabinets’ responsibility to Parliament; Origin, composition, ete. of the House 
of Lords and of the House of Commons. — ete.) 

Bonomi, J., La finanza locale e i suoi problemi. Milano, R. Sandron, 1903. 8. 
352 pp. 

12. Statistik. 
Deutsches Reich. 


Beiträge zur Statistik der Stadt Frankfurt a. M. Neue Folge. Heft V: Die 
Schülerzählung vom 30. XI. 1900. Bearbeitet von dem Direktor des statistischen Amtes 
(Prof) H. Bleicher. Frankfurt a. M., Sauerländers Verlag, 1903. Lex.-8. 37 u. CXI SS. 
mit 1 graphischen Taf. 

Beiträge zur Statistik der Stadt Frankfurt a. M. Neue Folge. Ergänzungsheft 
N' 7: Aus den Ergebnissen der Volkszühlung vom 1. XII. 1900. Frankfurt a./M., 
Druck von Mahlau & Waldschmidt, 1903. 4. 89 SS. mit 2 graph. Tafeln. 

Beitrüge zur Statistik des GroDherzogtums Hessen. Bd. L, Heft 1. Darmstadt, 
G. Jonghaussche Hofbuchhdlg., 1903. 4. 40 SS. mit zahlreichen Tabellen. (Herausgeg. 
von der groDherz. Zentralstelle für die Landesstatistik. Inhalt: Statistische Mitteilungen 
aus dem direkten Steuerwesen des GroDherzogtums Hessen. Bearbeitet im großherz. 
Ministerium der Finanzen, Abteilung für Steuerwesen.) 

Charlottenburger Statistik. Heft 14. Charlottenburg, Ulrich & C^, 1903. gr. 8. 
50 SS. (Herausgeg. vom statistischen Amt der Stadt. Inhalt: Armenstatistik für 1900/1901 
und 1901/02. — Neubauten für 1902.) 

Handbuch, statistisches, für den preußischen Staat. Herausgeg. vom Kgl. stati- 
stischen Bureau. Bd. IV. Berlin, Verlag des Bureaus, 1903. Lex.-8. XI—685 SS. 

Monatsberichte des statistischen Amtes der Stadt Breslau für das Jahr 1902. 
XXIX. Jahrg. Breslau (1903). gr. 8. 160 SS. 

Preußische Statistik (amtliches Quellenwerk). Herausgeg. in zwanglosen Heften 
vom kgl. statistischen Bureau, Heft 179: Die Sterblichkeit nach Todesursachen und 
Altersklassen der Gestorbenen, sowie die Selbstmorde und die tódlichen Verunglückungen 
im preußischen Staate wührend des Jahres 1901. Berlin, Verlag des Bureaus. 1903. 
Imp.4. XXIV—267 SS. 

Prinzing, Fr. (Ulm) Die tödlichen Unglücksfälle in Preußen im Vergleich mit 
einigen anderen Staaten. Bonn 1903. gr. 8. (Sonderabdruck aus dem „Centralblatt für 
allgem. Gesundheitspflege*, Jahrg. XXII.) 

Statistik der zum Ressort des kgl. preußischen Ministeriums des Innern ge- 
hörenden Strafanstalten und Gefüngnisse und der Korrigenden für das Etatsjahr 1901 
(1. IV. 1901 bis 31. III. 1902). Berlin, Druckerei der Strafanstaltsverwaltnng, 1903. 
Lex.-8, XXXVII—231 SS. 

Wiese, L. (weiland. Wirkl.GehR.), Das höhere Schulwesen in Preußen. Historisch- 
statistische Darstellung. IV. Bd., umfassend die Zeit von 1874—1901 (1902). Im Auf- 
trage des Ministers der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten herausgeg. von 
(Prof) Irmer. Berlin, Wiegandt & Grieben, 1902. Lex.-8. XXIV—966 SS. M. 26.—. 


Frankreich. 

Annuaire statistique et commercial de Tours et du département l'Indre-et-Loire 
pour 1903 (103° année). Tours, Deslis frères, 1903. 8. 1436 pag. avec 1 plan de la 
ville de Tours et 1 carte du département d'Indre-et-Loire. fr. 2,50. 

Compte général de l'administration de la justiee eriminelle pendant l'année 1900, 
présenté au Président de la République par le ministre de la justice. France; Algérie; 


568 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Tunisie. Paris, imprim. nationale, 1902.  in-4. CXL—172 pag. av. 11 planches 
graphiques. 

Guégo, H. (D' de médec. de l'Unv. de Paris), Etude statistique sur la criminalité 
en France de 1862 à 1900. Précédée d'une préface du (Uri J. Socquet (secrétaire de 
la Société de médecine légale) Paris, A. Michalon, 1902. gr. in-8. 104 pag. Av. 
cartes et diagrammes. fr. 5.—. 

Hugues, A., Statistique du mouvement de la population de Seine-et-Marne (1896 
—1901). Melun, impr. Legrand, 1902. 8. 33 pag. 

Neymarck, Alfred, La statistique internationale des valeurs mobilières, 4° rapport 
présenté à l’Institut International de statistique (session de Budapest) Paris, Guil- 
laumin & C^, 1903. in-4. fr. 3.—. 

Renseignements statistiques relatifs aux contributions directes et aux taxe- 
assimilées. XIII” année. Paris, impr. nationale, 1903. 8. 200 pag. (Publication du 
Ministöre des finances.) 

Statistique de l'industrie minérale et des appareils à vapeur en France et en 
Algérie pour l'année 1901. Paris, imprim. nationale, 1902. Roy. in-4. XI—300 pag. 
fr. 10.—. (Publication du Ministère des travaux publics, Direction des routes, de la 
navigation et des mines, Division des mines.) 


Oesterreich-Ungarn. 


Statistik des Osterreichischen Post- und Telegraphenwesens im Jahre 1901. Mit 
einer statistischen Uebersicht über die Post und den Telegraphen in Europa. Wien, 
k. k. Hof- und Staatsdruckerei, 1902. Lex.-8. V—376 SS. M. 5.—. (A. u. d. T.: 
Nachrichten über Industrie, Handel und Verkehr aus dem statistischen Departement im 
k. k. Handelsministerium, Bd. 78, Heft 1 u. 2.) 

Statystyka miasta Krakowa zestawiona przez Biuro statystyezne miejskie. 
Zeszyt VIII. Kraków 1902. gr. 8. V—141 pp. (Statistik der Stadt Krakau. Herausgeg. 
vom städtischen statistischen Bureau. Bd. VIII.) (Aus dem Inhalt: Ergebnisse der Zäh- 
lung vom 31. XII. 1900. — Bewegung der Bevölkerung in den Jahren 1899 und 1900. 
— Konfessionswechsel in den Jahren 1899 und 1900. — Städtische Gemeindefinanzen 
in den Jahren 1896 u. 1897. — Eingang und Verbrauch notwendiger Lebensmittel und 
Genußartikel. — Getreidepreise.) 


Rußland. 


Céopuukx'es CTATUCTUYecKUXB CBbabuilt MuunCreperBa ieruuiun. Boinycks cesma- 
Auarbijt, 3a 1901 rox. OC.-Ilerepóyprs, Cenarckaa tunorpasin, 1902. (Statistisches 
Jahrbuch des Russischen Justizministeriums für das Jahr 1901. 2 Teile. Teil I: Das 
europäische Rußland; Teil II: Das asiatische Rußland. St. Petersburg, 1902. gr. in- 
Folio. 239 pag. et 69 pag.) 


Belgien. 


Annuaire officiel de la province de Liege. XV° année: 1903: Livres d'adresses 
et almanach administratif et statistique (108° année) de la province de Liege réunis. 
Liege, Ch. Desoer, 1903. gr. in-8. 33; LXXXV—526 pag. av. plans et cartes hors 
texte, cartonné. fr. 4.—. 

Statistique médicale de l'armée Belge. Année 1901. Bruxelles 1902. Lex. in-5. 
XX—49 pag. 

Amerika (Ver. Staaten). 


Report of the Commissioner of Education for the year 1900—1901. Volume I. 
Washington, Government Printing Office, 1902. gr. 8. CXII--1216 pp. (Contents: 
Statisties of State school systems: 1. Education in Central Europe; 2. A legislative history 
of the publie school system of the State of Ohio; 3. American industrial education; 
4. Education in the South (of the United States); 5. German instruction in American 
schools; The education of the negro; 7. Education in Great Britain and Ireland; 8. Edu- 
cation in France; 9. III" Annual conference of the Association of catholie colleges; 10. 
Higher commercial education in the United States. — etc.) 


Asien (China). 


China. Imperial Maritime Customs. I. Statistical series, n° 2. Customs gazette, 
n* CXXXV, July—Sept. 1902. Shanghai, Kelly & Walsh & London, P. S. King & Son, 
1903. 4. 300 pp. $ 1.—. (Published by order of the Inspector General of Customs). 


Die periodische Presse des Auslandes. 569 


Australasien. 
Coghlan, T. A. (Statistician of New South Wales), A statistical account of the 
seven colonies of Australasia, 1901—1902, IX" issue. Sydney, Will. A. Gullick, 
printed, 1902. gr. 8. VIII—1093 pp. with map. 


Australien (Kolonie Neu-Seeland). 
von Dadelszen, E. J. (Registrar-General), Report on the results of a Census of 
the colony of New Zealand taken for the night of the 31" March, 1901. Wellington, 
John Mackay print, & London, Eyre & Spottiswoode, 1902. gr. 4. VII—163 pp. 


13. Verschiedenes. 


Bibliothek livländischer Geschichte, herausgeg. von Ernst Seraphim. Bd. III: 
Die Katastrophe der Stadt Dorpat während des nordischen Krieges. Nebst zeitgenössi- 
schen Aufzeichnungen, von Fr. Bernemann jun. Reval, Fr. Kluge, 1902. gr. 8. XIII 
—194 u. (Zeitgen. Aufzeichnungen) 110 SS. M. 6.—. 

Hermann, W. (Prof., Marburg), Römische und evangelische Sittlichkeit. 3. Aufl. 
Marburg, N. G. Elwertsche Verlagsbhdl. 1903. 8. IV—176 SS. M. 2.—. 

Jung, Emil (ehemal. Insp. der Schulen Südaustraliens), Das Deutschtum in Austra- 
lien und Ozeanien. München, J. F. Lehmanns Verlag, 1902. gr. 8. 85 SS. M. 1,40. 
(A. u. d. T.: Der Kampf um das Deutschtum, Heft 19.) 

Lehrstuhl, der, der Nationalökonomie an der Universität Gießen vor der zweiten 
hessischen Kammer. Stenogramm der Kammerverhandlungen vom 27. II. 1903. Gießen, 
J. Rieker, 1905. gr. 4. III—16 SS. M. 0,60. 


Des Cilleuls, F. L. (séerétaire de la faculté de médecine et de l'Ecole supér. de 
pharmacie de l'Univers. de Nancy), L'Ecole supérieure de pharmacie de Strasbourg. 
Nancy, Sidot, 1903. 8. 178 pag. 

Eudel, P., Le comité républicain de Nantes (1870—1874). Niort, Clouzot, 1903. 
8. X—383 pag. 

Le Blond, M., Emile Zola. Son évolution; son influence. Paris, edition du 
»Mouvement socialiste, 1903. 12. 29 pag. fr. 0,50. 

Lefèvre, A., Germains et Slaves (origines et croyances). Paris, Schleicher frères, 
1903. 8. 320 pag. av. 15 figur. et 32 cartes. fr. 3,50. 

Sand, Maur. (étudiant), L'Université de Bruxelles en 1834 et en 1902. Bruxelles, 
F. Avondstond, 1902. 12. 42 pag. fr. 0,70. 

Simond, Ch., Les centennaires parisiennes. Panorama de la vie de Paris à travers 
le XIX* siècle. Paris, Plon, 1902. gr. in-8. 192 pag. illustr. de plus de 400 gravures. 
fr. 5.—. 

Annual report of the Board of Regents of the Smithsonian Institution, showing 
the operations, expenditures, and condition of the institution for the year ending June 30, 
1900. Report of Un. States National Museum. Washington, Government Printing Office, 
1902. gr. 8. XVI—738 pp. with numerous plates and illustrations. 

Dahlinger, C. W., The German revolution of 1549: being an account of the 
final struggle, in Baden, for the maintenanee of Germany's first national representative 
government. New York, Putnam, 1903. 8. 297 pp. $ 1,35. 

Montagu, H. (Sir, It Earl of Manchester), Manchester al mondo: a contemplation 
of death and immortality; reprinted from the IV'^ impression, 1638—39. New York, 
Oxford Univ. Press (Amer. branch), 1902. 24. 127 pp., cloth. $ 0,50. 

Shuekburgh, E. S., Augustus. The life and times of the founder of the Roman 
Empire (b. Chr. 63 to a. D. 14). London, T. Fisher Unwin, 1903. 8. XII—318 pp. 16/.—. 


Die periodische Presse des Auslandes. 


A. Frankreich. 

Annales des sciences politiques, année 1903, Janvier: Les puissances maritimes 
en Extréme-Orient, par Z. — Un premier litige devant la Cour d'arbitrage de la Haye, 
par L. Renault. — Le Congrès de la houille blanche, par P. de Rousiers. 

Bulletin de statistique et de législation comparée. X XVII* année, 1903, Janvier: 
A. France, colonies: Les ministres des finances depuis 1789. — Décret relatif aux règles 


510 Die periodische Presse des Auslandes. 


de perception de la contribution des patentes en Algérie. — Les fabriques de sucre et 
leurs procédés de fabrication pendant la campagne 1901—02. — Le revenus de l'Etat. 
— Le commerce extérieur de la France, mois de décembre 1902. — Le commerce 
extérieur de la France pendant l’année 1902. — Achats et ventes de rentes effectués 
par l'intermédiaire des comptables du Trésor. — Les produits de l'enregistrement, des 
domaines et du timbre constatés et recouvrés en 1902. — Les monnaies fabriquées en 
1902 à la monnaie de Paris. — B. Pays étrangers: Angleterre: Historique de la dette. 
La dette nationale depuis 1891. Le commerce du Royaume-Uni. — Belgique: Le budget 
des voies et moyens pour 1903. — Italie: L'exposé financier du Ministre du trésor. — 
Pays-Bas: Le régime monétaire (loi du 28 mai 1901). — Russie: Le budget de l'Empire 
pour 1903. — ete. 

Bulletin de statistique ete, XXVII* année, Février 1903: A. France, colonies : 
Loi relative au régime des sucres. — Les revenus de l'Etat, exercice 1902. — Les 
revenus de l'Etat, janvier 1903. — Le commerce extérieur, mois de janvier 1903. — 
Ville de Paris: Le produit des droits d'oetroi en 1901 et 1902. — La caisse nationale 
d'épargue en 1901. — L'exploitation du monopole des allumettes chimiques en 1901. — 
L’exploitation du monopole des tabaes en 1901. — Les opérations de la Banque de 
France en 1902. — Pays étrangers: Autriche-Hongrie: Le nouveau régime des sucres, 
loi du 31 janvier 1903. — Belgique: Evaluation de la fortune mobilière. — Espagne: 
Le budget pour 1903. — Italie: La production des vins. — Canada: Les recettes et 
les dépenses du Dominion en 1901 et 1902. — Chili: Le régime des alcools, loi du 
18 janvier 1902. — Etats-Unis: Les pourparlers monétaires avec le Mexique et la 
Chine. — Japan: Le commerce extérieur de 1888 à 1901. — etc. 

Journal des Economistes. 62° année, 1903, Mars: Le monopole de l'alcool, par 
Yves Guyot. — Rudolphe de Delbruck (1817—1902), par Arth. Raffalovich. — Mouve- 
ment scientifique et industriel, par Daniel Bellet. — Revue de l'Académie des sciences 
morales et politiques du 15 novembre 1902 au 15 février 1903, par J. Lefort. — 
Travaux de chambres de commerce, par Rouxel. — Histoire de la péche du corail en 
Barbarie, par Franc. Jourdan Pietri. — Société d'économie politique, réunion du 5 mars 
1903: Nécrologie: MM. Jules Clavé et Figuerola. Discussion: Est-il nécessaire d'avoir 
des colonies pour être un grand peuple? — Chronique. — etc. 

Réforme sociale, la. Année 1903, n™ 1 à 5: L’assurance contre le chomâge 
involontaire par les syndieats ouvriers, par E. Vossen. — La houille blanche, par C. 
Pinat. — Le contrôle de l'état et les établissements de bienfaisance privée, par L. Rivière. 
— Les cours pratiques d'économie politique et sociale dans l'enseignement supérieur, 
par V. Brants. — Notre budget et ceux de nos voisins, par H. Valleroux. — Le droit 
de l'enfant, par F. Brunetiere. — Une industrie en détresse: Les sardiniers de Con- 
carneau, par G. Deviolaine. — A propos de la dépopulation, par H. Mazel. — Les 
trusts, par M. de Lamarzelle. — La presse en France, par E. Pierret. — La lutte 
contre la tuberculose, par A. Rendu. — etc. 

Revue d'économie politique. XVII* année, 1903, n° 2, Février: Dépopulation et 
législateurs, par René Gonnard (nm: art). — L'évolution du régime des salaires et 
l'agrieulture moderne, par Jos. Hitier. — Le notion de l'Etat, par Maur. Heins (suite 4). 
— Chronique législative. — ete. 

Revue internationale de sociologie. XI* année, n° 2, Février 1903: Le concept 
de société, par René Worms. (Sommaire: 1. Ce qu'implique la société. La société 
u'est pas l'humanité, mais le groupe national. — 2 et 3: Peut étre moins étendue que 
ce groupe? — 4. Peut-elle être plus étendue? — 5. Peuple, nation, société, Etat. — 
6. Variations du concept de société dans le temps.) — Discours prononcé à la séance 
d'ouverture de l'Ecole russe des hautes études sociales, par Maxime Kovalewsky. — Les 
lois de la population, par G. Cauderlier. (Compte rendu.) — Société de sociologie de 
Paris: Séance du 14 janvier 1903: Les classes sociales. Communication d'Arthur Bauer. 
Observations de G. Tarde, Ch. Limousin, H. Monin, René Worms. — Mouvement social: 
Algérie (une question algérienne non résolue), par Ch. Roussel. — etc. 


B. England. 


Journal of the Institute of Bankers. January 1903: The relations of commercial 
geography and commercial history, by G. G. Chisholm. (art. 1.) — The work of the 
London Clearing House in 1902. 

Journal of the Royal Statistical Society. Vol. LXVI, part 1, 31* March 1903: 


Die periodische Presse des Auslandes. 571 


The finance of federal government for the United Kingdom, by T. A. Brassey (with 
discussion). — A Census of the Empire, by J. A. Baines (with discussion). — Mis- 
cellanea: The London valuation, by J. Calvert Spensley. — Prices of commodities in 
1902, by A. Sauerbeck. — Ruppee prices in India, 1898 —1901, by Fred. J. Atkinson. 
— Memorandum on the Census of 1901, by T. A. Welton. — Notes on Mr. Acworth’s 
paper: (English railway statistics: Journ. of the R. Statist. Soc., vol. LXV, part 4, 
Dec., 1902), by R. Price-Williams. — Commercial history and review of 1902. — ete. 

Journal of Statistical and Social Inquiry Society of Ireland, year 1902, No- 
vember: Municipal trading, by J. J. Shaw. — Technical education for commerce, by 
C. H. Oldham. — Licensing and public-house reform in Ireland, by Will. Lawson. — 
The arterial drainage of Ireland, by C. A. Stanuell. 

Westminster Review. February—April 1903: The Whig element in the liberal 
party, by David Freeman. — Venezuela and the Monroe doctrine, by Aconcagua. — 
Redistribution of seats and proportional representation, by Mack H. Judge. — The 
Indian high courts, their shortcomings, by Mart. Wood. — The ethical movement in 
1902, by Franklin Thomasson. — French Republican leaders and European peace, by 
Karl Blind. — The housing question in 1903, by Frankl. Thomasson. = The clec- 
toral machine, by W. B. Hodgson. — Too much education, by P. S. Burrell. — Insa- 
nity and morality, by W. B. Mae Dermot. — The physique of the publie schoolboy, 
by J. H. Vines. — The new naval base and Russian designs, by Karl Blind. — Parties 
and polities in Ireland, by T. MeCall. — Bye-eleetions, by Shirley. — Matthew Arnold 
and his recent eritics, by C. H. Harvey. — Position of women in Russia, by J. Burns. 
— Liberalism and labour, by H. J. Darnton-Fraser. — etc. 


C. Oesterreich-Ungarn. 

Deutsche Worte. Monatshefte herausgeg. von Engelbert Pernerstorfer. Jahr- 
gang XXIII, 1903, Heft 2, Februar: Industriepolitik in Oesterreich, von Stefan Licht 
(Reichsratsabgeordneter, Wien). — Der kollektive Arbeitsvertrag. — Der Bauernstreik 
in Ostgalizien, von Mychajlo Lozynskyj (Zürich). — ete. — Heft 3, Mürz: Kommu- 
nale Arbeiterpolitik. Vortrag, geh. am 5. III. im sozialpolitischen Verein zu Wien, 
von Hugo Lindemann (Degerloch). — Ziele und Wege einer Heimarbeitsgesetzgebung. 
— etc. 

Handelsmuseum. Herausgeg. vom k. k. Handelsmuseum. Bd. XVIII, N" 6—14, 
Wien, 5. IL.—2. IV. 1903: Der Veredlungsverkehr im neuen Zolltarif. — Der neue 
russische Zolltarif. — Russische Rüstungen. — Winke für den Export von Wollwaren. 
— Die industrielle Lage in Rußland. — Die russische Paeificbahn und ihr Einfluß auf 
den Handel Nordamerikas, von (Prof.) Rob. Sieger. — Das neue Börsengesetz, von (Prof.) 
Jos. Hellauer. — Die Brünner Wollindustrie. — Das Textiliengeschäft in Südafrika. — 
Winke für den Export von Seife und Kerzen. — Europäische Handelsbilanzen im Jahre 
1902. — Die jüngste Phase der amerikanischen Trustgesetzgebung, von Viktor Graetz. 
— Die handelspolitische- Lage in Frankreich. (Aus dem Bericht der österreich.-ungar. 
Handelskammer in Paris für das Jahr 1902.) — Winke für den Export von Schokolade 
und Kakao. — Der russisch-persische Handelsvertrag. — Solonich als Handelsplatz, von 
Jos. Grunzel. — ete. 

Monatssehrift, statistische. Herausgeg. von d. k. k. statistischen Zentralkom- 
mission. N. Folge, Jahrg. VII, November-Dezemberheft 1902: Ernteergebnisse der 
wichtigsten Kórnerfrüchte im Jahre 1902, — Die binnenlündische Wanderung und ihre 
Rückwirkung auf die Umgangssprache nach der letzten Volkszählung, von F. v. Mein- 
zingen. — etc. 

Monatssehrift, statistische. Ferausgeg. von der k. k. statistischen Zentralkom- 
mission. N. Folge, Jabrg. VIII, 1903, Heft 1, Januar: Flächeninhalt und Bevölkerung 
Europas. Mit einer Karte der Bevólkerungsdichtigkeit, von (HofR.) F. v. Jurasehek. — 
Oesterreiehs Banken im Jahre 1901, von H. Ehrenberger. — Stand und Ergebnisse der 


Fischzuchtanstalten des Herzogtums Salzburg im Jahre 1901, von G. — ete. — Heft2, 
Februar: Die tödlichen Unglücksfälle im Kindesalter, von Friedr. Prinzing. — Karl 
Ritter v. Seherzer. Ein Nachruf von (HofR.) F. v. Juraschek. — Die Studentenstif- 
tungen des Jahres 1900, von Casimir Max. — etc. 


Soziale Rundschau. Herausgeg. vom k. k. arbeitsstatistischen Amte im Handels- 
ministerium. Jahrg. IV, 1903, N° 1, Januar 1903: Arbeitslöhne in Frankreich in den 
Jahren 1900 und 1901. — Schweizerisches Gesetz, betr. die Lohnauszahlung und die 


572 Die periodische Presse des Auslandes. 


Verhängung von Geldstrafen in haftpflichtigen Unternehmungen. — Allgemeiner Verband 
der auf Selbsthilfe beruhenden Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften Deutschlands 
1901. — Soziale Versicherung: Rechnungsabschlüsse der österreichischen Arbeiterunfall- 
versicherungsanstalten für das Jahr 1901; Regelung der Unfall- und Invaliditätsver- 
sicherung der landwirtschaftlichen Arbeiter und Dienstboten in Ungarn. — Zentralver- 
band der Industriellen Oesterreichs 1892—1902. — Die englischen Gewerkvereine im 
Jahre 1901. — Arbeitseinstellungen und Aussperrungen: Arbeitskonflikte in Oesterreich; 
Die Arbeitskonflikte beim Bergwerksbetriebe Oesterreichs im IV. Quartale 1902; Die 
Streikbewegung in Oesterreich im Jahre 1902; Arbeitseinstellungen und Aussperrungen 
in den Niederlanden 1901; Der Streik der Hartkohlenarbeiter Ostpennsylvanieus im 
Jahre 1902. — Ergebnisse der Arbeitsvermittlung in Oesterreich im Monat Dezember 
1902. — Arbeitsmarkt: Internationaler Arbeitsmarkt: Belgien, Deutsches Reich, Eng- 
land, Frankreich; Lage des Arbeitsmarktes in Westdeutschland zu Beginn des Winters 
1902/03. — Einwanderung nach den Ver. Staaten von Amerika im Fiskaljahre 1901/1902. 
— Arbeitslosigkeit: Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit durch kommunale Notstands- 
arbeiten im Deutschen Reiche; Arbeiterkolonie Herdern in der Schweiz. — Forderung 
des Kleingewerbes in Oesterreich im Jahre 1901. — Wohnungswesen: Vorschriften zur 
Durchführung des österreichischen Arbeiterwohnungsgesetzes; Wohnungsnachweis in Graz. 
— Wirtschaftliche und soziale Verhältnisse in Linz 1901. — I’ Haushaltungsabendkurs 
für Arbeiterinnen in Wien, 1901/02. — Gewerbegerichtliche Entscheidungen N" 499— 
513. — etc. 


E. Italien. 


Giornale degli Economisti. Marzo 1903: La situazione del mercato monetario. — 
Dell’ indice unico: (studio di semiologia economica), per F. Coletti. — Sul contratto 
d’affitto „a ventennale“ e sulle condizioni dell’ agricoltura in provincia di Trapani, per 
A. Bruttini. — Alcune osservazioni sui sindacati e sulle leghe: (a proposito di une 
memoria del (prof.) Menzel) per M. Pantaleoni. — La scuola media di commercio in 
Roma e l’insegnamento commerciale in Italia, per C. Ghidiglia. — Cronaca, per F. 
Papafava. — ete. 

Rivista italiana di sociologia. Anno VI, fase. 5—6. Roma, Settembre-Dicembre 
1902: Sul rinnovamento della filosofia del diritto, per M. A. Vaccaro. — Formazione 
di gruppi municipali internazionali nell' estremo Oriente contemporaneo, per E. Castel. 
lani. — Di una nuova classificazione delle varie teorie intorno al fondamento intrinseco 
del diritto, per A. Groppali. — I figli illegitimi nel antico diritto germanico, per E. 
Loneao. — Le tracce della cattura e della compra della sposa presso i Serbi, per G. 
Mazzarella. — Nervosismo e civiltà, per E. Crisafulli. — Rassegne analitiche: I fonda- 
menti scientifici della filosofia del diritto, per G. Solari. — Rassegna delle pubblica- 
zioni. — ete. 

F. Düuemark. i 

Nationaløkonomisk Tidsskrift, udgivet af Nationaløkonomisk-Forenings-Be- 
styrelse. XLI. Aargang, Kebenhavn 1903, 1** Hefte (Jan.-Febr.): Børs- og Bankkrisen i 
New York i Sept.-Oktober 1902, af (Prof. Will. Scharling. — Karl Marx's vierdilere 
i en neddeskal, a Laurits V. Direk. — Det danske Smor (Butter): Foredrag i National- 
okonomisk Forening den 27. XI. 1902, af (Konsulent) B. Beggild. — Et Par Track af 
de Forenede Staters ekonomiske Udviklingshistorie, af Ad. Jensen. — Jærnbane-Per- 
sontarifer i Danmark og nogle andre evrop:iske Lande, af (Cand. mag.) Rud. Haarlov. 
— Notitser: Brandforsikringen i Danmark. Antallet af Hundredaarige. — ete. 


G. Holland. 


de Economist, opgericht door J. L. de Bruyn Kops. Jaarg. LII, 1903, Februari: 
Financieele beschouwingen. — Sociaaldemokratie en handelspolitiek, door D. van Blom. 
— De drankweet, door A. van Gijn. — Het Liernurstelsel in Nederland, door A. $. 
van Reesema (vervolg en slot van jaarg. 1902, p. 812). — De internationale geldmarkt, 
door C. Rozenraad. — Economische kroniek: Holländische Berufsstatistik ; Industrielle 
RN A der Ver. Staaten von Amerika; Englische Arbeitsstatistik. — Handels- 

roniek. 
de Economist, 1903, Maart: Suikererisis en spoorwegtariefen op Java, de R. W. 


Die periodische Presse des Auslandes. 573 


J. C. van de Wall Bake. — Mijnwetgeving in Nederland, door Reinier D. Verbeek 
(I. art.). — De drankwet, door A. van Gijn. — De internationale geldmarkt, door C. Rozen- 
raad. — Economische kroniek: Einfuhrzoll auf Mehl; Wohnungszustände in Holland ; 


Die Zuckervorlage der niederländischen Regierung; Mitteilung über die westindischen 
Finanzen. — Handelskroniek. — etc. 


H. Sehweiz. 


Monatsschrift für christliche Sozialreform. Jahrg. XXV, 1903, N°3, März: 
Notwendigkeit des Kinderschutzes, von K. Beck (Arzt, Sursee, Schweiz). — Die freie 
Weide. — Zeitschriftenschau, von €. Deeurtius. — Für die sozialen Vereine : Skizze XI. 
Die Familie, die Urzelle, die Gesellschaft; Skizze L. Sommerprogramm für soziale 
Vereine. — etc. 

Schweizerische Blätter für Wirtschafts- und Sozialpolitik. Jahrg. XI, 1903, 
Heft 3, 4 und 5: Produktivgenossenschaften sonst und jetzt, von Max May (Heidel- 
berg). — Mittel und Einrichtungen zur Förderung und Durchführung des Realkredites, 
von (Prof.) W. Marcusen (Univ. Bern) [Fortsetzungen]. — Die Entwiekelung des All- 
gemeinen schweizerischen Gewerkschaftsbundes, von C. Hakenholz (Vorstandsmitglied 
des Gewerkschaftsbundes, Bern). — Die Organisation der unentgeltlichen ärztlichen 
Fürsorge mit Hilfe des Bundes in der Schweiz, von (Prof.) E. Erismann (Mitglied des 
Stadtrates in Zürich). — Soziale Chronik. — Statistische Notizen. — Miszellen. — ete. 

Zeitschrift für Schweizerische Statistik. Jahrg. XXIX, 1903, Lieferung I: 
Hypothekenverhältnisse im Kanton Solothurn. Liegenschaftsverkehr und Bodenver- 
schuldung mehrerer Gemeinden, von Gottlieb Vogt. — Statistique démographique et 
pathologique de l’Asyle de Cery (Vaud) de 1881 à 1901, par A. Koller. — Die Lebens- 
dauer in der Schweiz, vom Eidgenössischen statistischen Bureau. — Alfred Furrer. 
Nachruf vorgetragen in der statistisch-volkswirtschaftlichen Gesellschaft zu Basel am 
6. X. 1902, von T. Geering. — Statistique annuelle du corps électoral dans le canton 
de Genève, par Eman. Kuhne (adjoint au Bureau cantonal de statistique. — Die frei- 
willige Viehversicherung in Appenzell A.-Rh. im Jahre 1900. Mitgeteilt von Tobler 
(Ratsschreiber, Herisau). — Lieferung Il: Protokoll der Jahresversammlung des Ver- 
bandes schweizerischer amtlicher Statistiker und der schweizerischen statistischen Gesell- 
schaft den 29. u. 30. Sept. 1902 in Luzern. — Protokoll der Jahressitzung der schweize- 
rischen statistischen Gesellschaft, abrehalten Montag den 29. IX. 1902, — Lieferunglll: 
Eidgenössische Betreibungsstatistik pro 1898 und 1599. Von der schweizerischen Bundes- 
gerichtskanzlei Abteilung für Schuldbetreibung und Konkurs. — Ueber das Vorkommen 
des virulenten Diphtheriebazillus auf der Schleimhaut des Rachens ohne typische kli- 
nische Erscheinungen, von Herm. Hopf (aus Thun). — Die Ergebnisse der pädagogischen 
Rekrutenprüfungen vom Herbst 1901 und die Sehulorganisation im Kanton Baselland, 
von Hans Steiner-Stooss (Bern). — Die Legitimation vorehelich geborener Kinder in der 
Schweiz während der Jahre 1900 und 1901. — Die Zahl der Studenten und Zuhörer 
an den schweizerischen Universitäten und Akademien im Winter 1901/1902 und im 
Sommer 1902. 


M. Amerika. 


Annals, the, of the Ameriean Academy of political and social science. Vol. XXI, 
N^ 1, January 1903: Some features of the labor system and management at the Baldwin 
locomotive works, by John W. Converse. — The premium system of wage payment, by 
Alex. E. Outerbridge. — The effect of unionism upon the mine workers, by Frank 
Julian Warne. — The investors’ interest in the demands of the anthracite, by Edw. 
Sherwood Meade. — Labor unions as they appear to an employer, by W. H. Phahler. — 
The evolution of negro labor, by Carl Kelsey. — The labor situation in Mexico, by 
Walter E. Weyl. — ete. — Supplement to the Annals of the American Academy ete., 
January, 1903: Housing conditions in Jersey eity, by Mary F. Sayles (fellow of thé 
College Settlements Association). 72 pp. and map. 

Journal of Politieal Economy. (Publication of the University of Chicago.) Vol. XI, 
N° 1, December 1902: The adjustment of crop statistics, by H. P. Willis. — The pass- 
ing of the coal strike, by J. Cummings. — The relation between social settlements and 
charity organization, by R. Hunter. — The wage earners in the manufacturing and 
mechanical industries of the North-Western States, by J. Moersch. 


574 Die periodische Presse Deutschlands. 


Publications of the American Economic Association. III" series. Vol. II. 
New York, the Macmillan C°, 1902. (Contents: N° 1: Annual meeting (XIV®): Paper 
on International trade; Industrial poliey; Publie finance ; Negro problem; Arbitration of 
labor disputes; Economie history. — N° 2: The negro in Africa and America, by Jos. 
A. Tillinghast. — N° 3: The finances of New Hampshire, by Maur. H. Robinson. — 
The rent of land in economie theory, by Alv. S. Johnson.) 


Die periodische Presse Deutschlands. 


Archiv für Eisenbahnwesen. Herausgeg. vom kgl. preußischen Ministerium für 
öffentliche Arbeiten. Jahrg. 1903, Heft 1 u. 2, Januar/Februar; März/April: Die Pen- 
sionskasse, die Krankenkassen und die Unfallversicherung der Arbeiter bei der preußisch- 
hessischen Eisenbahngemeinschaft im Jahre 1901, von Wesener (GRegR. u. vortr. R.). 
— Die anatolischen Eisenbahnen und ihre Fortsetzung bis zum persischen Golf, von 
Heeser (Reg.- u. BauR., Elberfeld) [Mit 1 Karte.] — Die unter k. sächsischer Staatsverwal- 
tung stehenden Staats- und Privateisenbahnen im KReich Sachsen im Jahre 1901. — Haupt- 
ergebnisse der österreichischen Eisenbahnstatistik für das Jahr 1900. — Die Betriebs- 
ergebnisse der Staatsbahnen und der 6 großen Eisenbahngesellschaften in Frankreich im 
Jahre 1901. — Die Betriebsergebnisse der italienischen Eisenbahnen im Jahre 1900, von 
H. Claus. — Die Eisenbahnen der australischen Kolonien. — Binnenwasserstraßen und 
Eisenbahnen zwischen Manchester und Liverpool und der Manchester Seeschiffkanal, von 
Bindewald (Hauptm. a. D., Königsberg i. Pr.). [Mit einer Uebersiehtskarte.] Forts. Inhalt: 
Die Tarife des Kanals und die Behandlung der Güter auf den Docks; der Kanal und 
seine Wettbewerber 1894—1896). — Deutschlands Getreideernte in 1901 und die Eisen- 
bahnen, von C. Thamer. — Die Reichseisenbahnen in Elsaß-Lothringen und die Wilhelm- 
Luxemburg Bahnen im Rechnungsjahre 1901. — Die vereinigten preußischen und 
hessischen Staatseisenbahnen im Rechnungsjahre 1901, von Tolsdorf (RechnungsR. im k. 
Minister. d. öff. Arbeiten). — Die Eisenbahnen im Großherzogt. Baden im Jahre 1901. 
— Die k. k. österreichischen Staatsbahnen im Jahre 1901. — Die ungarischen Staats- 
bahnen im Jahre 1901, von (OIngen.) Rud. Nagel. — Die Eisenbahnen in Schweden im 
Jahre 1900/01. — Die Eisenbahnen Britisch-Ostindiens im Kalenderjahre 1901. — ete. 

Archiv für Post und Telegraphie. Jahrg. 1903, N° 3 bis 5, Februar & März: 
Deutsche Post- und Telegrapheneinrichtungen in den Kolonien und im Auslande (Schluß). 
— Post- und Telegraphengesetz des Australischen Bundes, — Der Murray-Telegraph. — 
Das neue Postgebüude in Oldenburg und die Geschichte der oldenburgischen Post. — 


Die Gründung der ersten deutsch-amerikanischen Postdampfschiffslinie. — Die Grund- 
lagen der Preisbildung im elektrischen Nachrichtenverkehre, — Die Eisenbahn von 
Tehuantepec. — ete. 


Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht. Jahrg. VIII, 1903, N* 2, Februar: 
Zur Frage der literarischen Neuheit der Erfindung, von (GRegR., Prof.) H. Aron (Berlin). 
— „Die Reformbedürftigkeit des Firmenrechtes“ (mit besonderer Bezugnahme auf den 
unter gleichem Titel in der Zeitschr. „Das Recht“, N° 2, v. 25. I. 1903 veröffentlichten 
Aufsatz von (LandgerR.) Marcus, von (Rechtsanw.) Martin Wassermann (Hamburg). — 
Bericht über den Turiner Kongreß der internationalen Vereinigung für den gewerblichen 
Rechtsschutz, von (Patentanw.) Mintz. — Internationaler Rechtsschutz: Der Anschluß des 
Deutschen Reiches an die Pariser Union. — ete, 

Journal für Landwirtschaft. Im Auftrage der Landwirtschaftskammer für die 
Provinz Hannover herausgeg. Unter Mitwirkung genannter Autoren redigiert von 
(GRegR., Prof.) B. Tollens. Bd. LI, 1903, Heft 1: Untersuchungen über den Einfluß 
eines verschieden großen Bodenvolumens auf den Ertrag und die Zusammensetzung der 
Pflanzen, von O. Lemmermann (Jena). — Die landwirtschaftliche Verwertung des Haus- 
mülls, von Hans Thiesing (wissensch. Mitglied d. k. Versuchs- und Prüfungsanst. f. 
Wasserversorgung ete), — Zur Frage des Verhaltens der Eigenschaften verschiedener 
Gersten- und Hafersorten bei mehrjährigem Anbau an einem Orte, von (Prof. C. Fru- 
wirth (Hohenheim). — Ueber die landwirtschaftlichen Verhältnisse Germaniens um den 
Beginn unserer Zeitrechnung, von F. Fleischmann (Göttingen). — ete. 


Die periodische Presse Deutschlands. 575 


Korrespondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands. 
Jahrg. XIII, 1903 (Berlin). N’ 1 bis 5: Der IV. belgische Gewerkschaftskongreß. — 
Amtliche Arbeitslosenfürsorge in der Schweiz. — Die XXII. Jahreskonvention der 
American Federation of Labor, — Koalitionsschutz und Vermittlung bei Arbeitskonflikten 
in Norwegen. — Berufszählung in den Ver. Staaten von Amerika. — Gewerksbewegung 
und Bodenreformer. — Kartellvertrag der Organisation der Bauarbeiter, Maurer und 
Zimmerer. — Norwegischer Gewerkschaftskongreß. 

Masius’ Rundschau. Blätter für Versicherungswissenschaft, Versicherungsrecht ete. 
Neue Folge. Jahrg. XV, 1903, Heft 2: Zur Haftpflichtversicherung. — Hypothekén- 
versicherung. — Versicherung gegen Arbeitslosigkeit. — Rechtsprechung des Reichs- 
gerichts. — ete. Heft 3: Das Neueste von den Abwehrmaßregeln gegen die Tuberkulose. 
— Die sogen. Beleihung von Versicherungsscheinen durch Lebensversicherungsanstalten. 
— Entscheidungen des Privatversicherungsamtes. — Oesterreichische Versicherungs- 
statistik. — Die Schadenschätzung in der Hagelversicherung. — etc. 

Mitteilungen vom Verband deutscher Patentanwälte. Jahrg. III, N°3, Februar 
1903: Der Patentanwalt und das Handelsregister, von (Patentanw.) Th. Stort. — Das 
deutsch-italienische Abkommen zur Abänderung des Uebereinkommens vom 18. I. 1902, 
batreffend den gegenseitigen Patent-, Muster- und Markenscehutz, von M. Mintz. — Die 
praktische Bedeutung der gewerblichen Schutzgesetze für die Industrie, von (Patentanw.) 
E. Dalehow (II. Art.). — etc. 

Neue Zeit. Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie. Jahrg. XXI, Bd. I, 
N° 22—25 vom 28. II. bis 21. III. 1901: Sozialismus und Landwirtschaft, von K. 
Kautsky: 1. Die Entwickelung der Theorie; 2. Die Position des Marxismus. — Kartell- 
fragen, von Heinr. Cunow, Art. II: Die angebliche größere Wirtschaftlichkeit der Kar- 
telle. — Sozialpolitische Umschau, von Eman. Wurm. — Notizen: Die neunjährige 
Tätigkeit der Berner Arbeitslosenkasse. — Karl Marx. — Einleitung zu einer Kritik 
der politischen Oekonomie, von Karl Marx: 1. Die Produktion im allgemeinen; 2. Das 
allgemeine Verhältnis der Produktion zu Distribution, Austausch, Konsumtion, ete, — 
Drei Krisen des Marxismus, von K. — Zum 14. März, von F. A. Sorge. — Sozialismus 
und Landwirtschaft, von K. Kautsky: 3. Die neue Theorie; 4. Der Kleinbetrieb; 5 
Selbstwirtschafter; 6. Wissenschaft und Landwirtschaft; 7. Genossenschaftliche Land- 


wirtschaft; 8. Fundamente der Oekonomie. — Eine Urgeschichte Amerikas, von M. Bach 
(London) [Schluß]. — Friedrich Gottlieb Klopstock, von Frz. Mehring. — Zum 2. Bau- 
arbeiterschutzkongreß, von G. Link (Berlin). — Literarische Rundschau: „Ilse v. Arlt, 


Die gewerbliche Nachtarbeit der Frauen in Oesterreich.“ — 

Politisch-anthropologische Revue. Monatsschrift für das soziale und geistige 
Leben der Völker. Jahrg. II, N" 1, April 1903: Die Probleme der Deszendenztheorie, 
von Erz. v. Wagner. — Die anthropologische Geschichts- und Gesellschaftstheorie, von 
Ludw. Woltmann. — Die Menschenrassen Europas, von Gustav Kraitschek. — Die auf- 
steigende Entwickelung des Menschen, von Chr. von Ehrenfels. — Stufen und Arten der 
Kulturentwiekelung, von Maxim. Borchers. — Das Strafrecht und verminderte Zurech- 
nungsfähigkeit, von C. Pelmann. — Monismus und Psychologie, von August Forel. — 
Anthropologisches aus der Romanliteratur, von Eberh. Kraus. — ete. 

Preußische Jahrbücher, herausgeg. von Hans Delbrück. Bd. 112, Heft 1, April 
1903: Die Unterdrückung der Deutschen in Ungarn, von (Privdoz.) Wilh. Dibelius 
(Univ. Berlin). — Der anonyme Schuft, von Outis. — Reformen in der Türkei, von 
(Laborator). — Der Nebencharakter, Kriminalpsyehologische Studie, von Gregor v. 
Glasenapp (Friedensrichter in Bialaja-Zerkow, Rußland). — Die Universitätsmoschee El 
Azhar, von Ad. Heilborn (k. preuß. RegAss. a. D. München‘. — Deutschland und die 
Monroe-Doktrin, von Harry A. Fiedler (New York). — Politische Korrespondenz. — ete. 

Verwaltungsarehiv. Zeitschrift für Verwaltungsrecht und Verwaltungsgerichts- 
barkeit. Bd. XI, Heft 4, 1903, März: Rechtskraft und reformatio in pejus im preußi- 
schen Verwaltungsstreitverfahren, von (OVerwGerR.) Schultzenstein. — Ueber Gebühren, 
von (Geh. u. ORegR., Prof.) Arndt (Königsberg. i. Pr.) — Die Beschränkungen der 
Marktfreiheit auf den Jahr- und Wochenmärkten, von Nelken (kais. RegR., Metz), — 

Zeitschrift des kgl. bayerischen statistischen Bureaus. Redigiert von Karl Trutz 
(k. ORegR.). Jahrg. XXXIV, 1902, N' 3: Die öffentlichen Sparkassen im KReich 
Bayern im Jahre 1899. — Die Ernte des Jahres 1902. — Die Hagelschläge in Bayern 
während des Jahres 1902. Mit Rückblicken auf die Erhebungen seit 1579. — Nach- 
weisungen über den Verkauf von Getreide auf den bayerischen Schrannen sowie über 


576 Die periodische Presse Deutschlands. 


die erzielten Durchschnittspreise für das Jahr 1902. — Jahresdurchschnittspreise der 
Viktualien u. s. w. an 69 Orten Bayerns für das Jahr 1902. — Geburten und Sterbe- 
fälle in 25 bayerischen Städten im 2., 3. und 4. Vierteljahre 1902. 

Zeitschrift des kgl. preußischen statistischen Bureaus. Herausgeg. von dem 
Präsidenten E. Blenck. Jahrg. XLII 1902, IV. Vierteljahrsheft: Geburten, Ehe- 
schliebungen und Sterbefälle im preußischen Staate während des Jahres 1901. — Sozial- 
statistische Streifzüge durch die Materialien der Veranlagung zur Staatseinkommensteuer 
in Preußen von 1592—1901, von (ORegR.) Georg Evert. — Die Binnenwanderungen im 
preußischen Staate nach Kreisen 1895 bis 1900, von Max Broesike (kommissar. Mit- 
gliede des kgl. statist. Bureaus). — Die Ehescheidungen in Preußen, von (RegR.) F. 
Kühnert. — Statistische Korrespondenz. — ete. 

Zeitschrift für Kleinbahnen. Herausgeg. im Ministerium der öffentlichen Ar- 
beiten. X. Jahrg, 1903, Heft 1, Januar: Die Entwickelung der Kleinbahnen in 


Preußen. — Selbstentladende Wagen für Voll- und Kleinbahnen, von (Ingen.) W. Gie- 
secke. — Der internationale StraBenbahnkongreB in London, von (Ziviling.) E. A. Ziffer 
(Wien) — Ergünzungsheft, Januar 1903: Statistik der Kleinbahnen in PreuDen und im 


Deutschen Reiche: 1. Nachweisung der in Preußen vor dem Inkrafttreten des Gesetzes 
vom 28. VII. 1892 genehmigten und jetzt als Kleinbahnen im Sinne dieses Gesetzes 
anzusehenden Eisenbahnen sowie der nach Inkrafttreten des genannten Gesetzes geneh- 
migten Kleinbahnen, aufgestellt im Ministerium der öff. Arbeiten nach dem Stande vom 
31. III. 1902; 2. Statistik der deutschen Kleinbahnen (Straßenbahnen und nebenbahn- 
ähnliche Kleinbahnen), aufgestellt vom Verein deutscher Straßenbahn- und Kleinbahn- 
verwaltungen nach dem letzten Betriebsjahre. — etc. 

Zeitschrift für Sozialwissensehaft. Jahrg. VI, 1903, Heft 3: Das sozialökono- 
mische System J. F. Brays, von (Frh.) Traugott v. Heintze (RegRef., Potsdam) (Schluß). 
— Die Lehren der jüngsten Zusammenbrüche von Privatversicherungsunternehmungen, 
von J. August (Berlin. — Die Entwiekelung der menschlichen Bedürfnisse, von Alfr. 
Vierkadt (Privdoz. Berlin) — Kriminalistische Heimatskunde, von (AmtsGerR. a. D.) 
Paul Frauenstüdt (Breslau). — Sozialpolitik: Fortschritte der Hinterbliebenenfürsorge in 
Deutschland, von Friedr. Prinzing (Ulm). — etc. 

Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft. Herausgeg. von (Minist. a. D.) 
A. Schäffle und (Prof) K. Bücher. IV. Ergünzungsheft. Tübingen, H. Laupp, 1902. 
(Inhalt: Hacker, Paul, Die Beiräte für besondere Gebiete der Staatstátigkeit im Deutschen 
Reiche und in seinen bedeutenderen Gliedstaaten. gr. 8. VI—107 SS. M. 3.—) 

Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft. Bd. III (redigiert von 
Bd. II an von dem Generalsekretär des Deutschen Vereins für Versicherungswissenschaft, 
D' jur. Alfred Manes). Heft 1 u. 2. Berlin 1902 u. 1903. Abhandlungen: Vorschläge 
zur Aenderung der gesetzlichen Vorschriften, betreffend die Haftung der Reeder. Eine 
Erwiderung. — Zur neueren Entwickelung der Unfall- und Haftpflichtversicherung, von 
Paul Hiestand (Zürich). — Besteuerung der Versicherung, von Alfred Manes. — Zur 
Statistik der Arbeitslosigkeitsversicherung, von Heinr. Unger. — Die doppelte Gruppie- 
rung der Versicherungen für Berechnung der Prümienreserve, von Karl Diekmann 
(Stockholm). — Die Verallgemeinerung der Versicherungshilfe, von Gottfr. Leuckfeld 
(Halensee-Berlin. — Die Harndiagnostik in der Lebensversicherung, von (Ur med.) 
Wilh. Sternberg (Berlin). — Die Krankenversicherung der Hausindustriellen, von Ludw. 
Fuld (Mainz) — Versicherungswesen und Statistik, von (Prof. Heinrich Bleicher 
(Frankf. a. M.) — Der Schutz der Hypothekengläubiger im Versicherungsrecht, von 
(Referend.) Friedr. Hülsse (Magdeburg) — Die Mathematik und Technik der Arbeits- 
losigkeitsversicherung, von Heinr. Unger (Versicherungstechniker, Groß-Lichterfelde). 
— ete. 


From mannsche Ruchdruckerei (Hermann Pohle) in Jena, 


Thilo Hampke, Die dentschen Handwerkerorganisationen. ATT 


Nachdruck verboten. 


X. 


Die deutschen Handwerkerorganisationen. 
Eine statistische Studie. 


Von 
Rat Dr. Thilo Hampke. 


Durch die Novelle zur Gewerbeordnung vom 26. Juli 1897, das 
sogenannte Handwerkerorganisationsgesetz, sind die Handwerksorga- 
nisationen einer neuen gesetzlichen Regelung unterworfen worden. 

Dieses Gesetz vom 26. Juli 1897 ist in seinem letzten Teil 
bereits am 1. Oktober 1901 in Kraft getreten, so daß es doch schon 
möglich ist, ein gewisses Urteil sich über die Wirksamkeit des Gesetzes 
zu bilden. Am 1. April 1898 traten in Kraft die Bestimmungen dieses 
Gesetzes über freie Innungen, über Zwangsinnungen, über Innungs- 
ausschüsse, über Innungsverbände und die allgemeinen Bestimmungen 
über Lehrlingsverhältnisse. Am 1. April 1900 folgten dann die Be- 
stimmungen über die Handwerkskammern. Am 1. April 1901 traten 
weiter in Kraft die besonderen Bestimmungen für das Lehrlingswesen 
im Handwerk und schließlich am 1. Oktober 1901 der letzte Teil, 
nämlich die Bestimmungen über die Führung des Meistertitels. 

Die allmähliche Inkraftsetzung des neuen Organisationsgesetzes 
war durch die Natur der Sache bedingt, denn es mußten erst die 
Innungen, es mögen nun freie oder fakultative Zwangsinnungen sein, 
auf Grund der neuen gesetzlichen Bestimmungen bestehen, bevor die 
Mitglieder der Handwerkerkammern gewählt werden konnten. Die 
Innungen sollen die hauptsächlichsten Wahlkörper für die Hand- 
werkerkammer sein. Es muß also mit der Schaffung der Hand- 
werkerkammer so lange gewartet werden, bis eine Reorganisation 
der Innungen auf Grund der neuen gesetzlichen Bestimmungen 
erfolgt. Wiederum konnten erst die besonderen Bestimmungen über 
das Lehrlingswesen im Handwerk und die Vorschriften über die 
Führung des Meistertitels in Wirksamkeit gesetzt werden, wenn die 
Handwerkerkammern bereits funktionierten, denn gerade diesen sind 
weitgehende Aufgaben der Selbstverwaltung auf den genannten Ge- 
bieten zugestanden worden. 

Die Krone der ganzen Handwerksorganisation sollten also die 
neuen Handwerkskammern bilden.’ 

Dritte Folge Bd. XXV (LXXX). 37 


587 Thilo Hampke, 


Die Begründung des Gesetzes sagte über die Handwerkskammern 
folgendes !) : 

„Die Innungen und Innungsausschüsse sind in ihrer Tätigkeit 
ebenso wie die Gewerkvereine auf kleine Bezirke und die in diesen 
vertretenen Handwerke beschränkt. Für das Handwerk bedarf es 
jedoch eines Vertretungs- und Selbstverwaltungskörpers für größere 
Bezirke, wie er für Handel und Industrie in den meisten deutschen 
Staaten und in einigen Bundesstaaten auch für die Landwirtschaft 
besteht. Bereits in der Begründung des dem Reichstage vorliegen- 
den Gesetzentwurfs über die Errichtung von Handwerkskammern 
ist darauf hingewiesen worden, daß die Regierung gegenwärtig bei 
den im Interesse des Handwerks zu treffenden Maßnahmen des Beirats 
und der Mitwirkung des weitaus größten Teiles der Handwerker ent- 
behre; je bedeutsamer aber die Fragen seien, welche bei der modernen 
Entwickelung der Verhältnisse im Handwerk an die Gesetzgebung 
und die Verwaltung heranträten, um so mehr müsse Wert darauf 
gelegt werden, daß diese Fragen einer Erörterung möglichst aller 
Kreise der Beteiligten unterzogen werden. 

Das hiernach für die Vertretung des Handwerks nötige Organ 
soll nach dem Vorschlage des Entwurfs die Handwerkskammer sein. 

Die Handwerkskammer wird naturgemäß eine doppelte Aufgabe 
haben. Sie wird einmal die Gesamtinteressen des Handwerks und 
die Interessen der in ihrem Bezirke vorhandenen Handwerke gegen- 
über der Gesetzgebung und der Verwaltung des Staates zu vertreten 
haben, und zwar sowohl durch Erstattung der von den Staatsbehörden 
einzuholenden Gutachten als auch durch die aus ihrer eigenen Ini- 
tiative hervorgehenden Anregungen. Daneben wird sie als Selbst- 
verwaltungskörper die Aufgabe haben, diejenigen zur Regelung der 
Verhältnisse des Handwerks erlassenen gesetzlichen Bestimmungen, 
welche nach einer Ergänzung durch Einzelvorschriften bedürftig und 
fähig sind, für ihren Bezirk weiter auszubauen, bei Durchführung 
der gesetzlichen und der von ihr selbst erlassenen Vorschriften in 
ihrem Bezirke zu regelm und, soweit erforderlich, durch besondere 
Beauftragte, zu überwachen, und endlich solche auf die Förderung 
des Handwerks abzielende Veranstaltungen zu treffen, zu deren Be- 
gründung und Unterhaltung die Kräfte der lokalen Organisationen 
nicht ausreichen. 

Wird für die Lösung des ersten Teils dieser Aufgaben vorwiegend 
die Handwerkskammer in ihrer Gesamtheit wirksam werden müssen, 
so wird es zur Lösung des zweiten Teiles einer Tätigkeit bedürfen, 
welche sich nicht in den verhältnismäßig seltenen Versammlungen 
der Kammer erledigen läßt und demnach von einem aus ihrer Mitte 
hervorgehenden Vorstande wahrgenommen werden muß. Außerdem 
werden sowohl die Handwerkskammer als ihr Vorstand, denen natur- 
gemäß nicht mehrere Mitglieder aus jedem Handwerke angehören 
können, für manche Arbeiten einer Ergänzung ihrer Kräfte bedürfen: 


1) Kurt v. Rohrscheidt, Das Innungs- und Handwerkergesetz. Leipzig 1897, 8. 17. 


Die deutschen Handwerkerorganisationen. 579 


diesem Bedürfnis soll durch die Möglichkeit der Bildung von Aus- 
schüssen für einzelne Geschäftszweige, örtliche Bezirke und Gewerbe- 
gruppen, welche nicht notwendig am Sitze der Kammer eingerichtet 
werden müssen, entsprochen werden. 

Die Mitglieder der Handwerkskammer sollen von denjenigen 
Handwerkern gewählt werden, welche sich zur Verfolgung ihrer 
gemeinsamen gewerblichen Interessen in Zwangsinnungen, freie In- 
nungen, Gewerbevereine oder sonstige gewerbliche Vereinigungen 
zusammengeschlossen haben. Die aus der örtlichen Zerstreuung des 
Handwerks für die Wahlen sich ergebenden Schwierigkeiten lassen 
ein möglichst einfaches Wahlsystem erwünscht erscheinen. Ausschlag- 
gebend für den Vorschlag des Entwurfs war indessen die Erwägung, 
daß in der Beschränkung des aktiven Wahlrechts auf die in einer 
der bezeichneten Formen vereinigten Handwerker eine wirksame 
Förderung des Zusammenschlusses der Handwerker zu erblicken ist, 
auf welche um so mehr Wert gelegt werden muß, als die Bedeutung 
eines, solchen Zusammenschlusses für Reformen im Handwerk auch 
im Handwerkerstande selbst in zunehmendem Maße anerkannt wird. 
Selbstredend werden innerhalb der Gewerbevereine und sonstigen 
Vereinigungen diejenigen Mitglieder an der Wahl sich nicht betei- 
ligen dürfen, welche nicht Handwerker sind oder als Innungsmit- 
glieder ihr Wahlrecht durch die Innung wahrzunehmen haben.“ 

Diese Handwerkerkammern, die auf der einen Seite ähnlich wie 
die Handelskammern oder Landwirtschaftskammern Interessenvertre- 
tungen, auf der anderen Seite Selbstverwaltungskörper auf dem Gebiete 
des Lehrlingswesens sind, traten also am 1. April 1900 in Kraft. In 
den Hansestädten und in Sachsen wurden auf Grund des $ 103q 
der R.G.O. den bestehenden Gewerbekammern resp. Handels- und 
Gewerbekammern die Wahrnehmung der Rechte und Pflichten der 
Handwerkskammern übertragen. 


A. Die Handwerkskammern. 


Es sind in ganz Deutschland; 71 derartiger Organisationen 
vorhanden, von denen 63 Handwerkskammern und 8 Gewerbekammern 
sind. Die Bedeutung der Handwerkskammer ist natürlich je nach der 
Größe und Bedeutung des Bezirks eine sehr verschiedene. Die 
Bedeutung der einzelnen Kammern nach der Größe ihrer Bezirke 
und nach der Anzahl der Einwohner derselben veranschaulicht fol- 
gende Tabelle (s. Tabelle I S. 580—583). 

In Preußen bestehen also 33 Handwerkskammern, die meist 
einen ganzen Regierungsbezirk umfassen, nur die Handwerkskammer 
Danzig umfaßt den Bezirk einer ganzen Provinz, nämlich den der 
Provinz Westpreußen. 

Was die Größe der Bezirke an Flächeninhalt betrifft, so sind 
die größten Kammern in Preußen die von Stettin, Danzig, Berlin 
und Königsberg, während wenn man die Größe der Einwohnerzahl 
betrachtet, natürlich Berlin mit 3818152 Einwohner an der Spitze 


37* 


580 Thilo Hampke, 
Tabelle I. 
z Flächen-| Ein- 
© inhalt in | wohner- 
t Name Sitz Bezirk 
E | 
E | 
1|Handwerkskammer |Kónigsberg RegierungsbezirkKönigsberg mit 
f Ausschluß des Kreises Memel|20 265,72|1 144 589 
2 e Insterburg Regierungsbezirk Gumbinnen 
und der Kreis Memel 16 728,17) 852037 
3 " Danzig Provinz Westpreußen 25 534,90|I 563 658 
4 ge Berlin Stadtkreis Berlin und der Re- 
gierungsbezirk Potsdam 20 703,013 818 152 
5 $ Frankfurt a.O.| Regierungsbezirk Frankfurt 19 198,18/1 179 250 
6 E Stettin Reg.-Bez. Stettin und Kóslin |26 109,66|1 418 492 
7 s Stralsund Regierungsbezirk Stralsund 4010,88| 216340 
8 a Posen ge Dosen 17 518,60|1 198 252 
9 í Bromberg » Bromberg 1I 451,81| 689023 
10 T Breslau » Breslau 13 483,63|1 697 719 
11 » Liegnitz 8 Liegnitz 13 610,20|1 To2 992 
12 de Oppeln is Oppeln 13 225,36|1 868 146 
13 5 Magdeburg ee Magdeburg |11 512,87/1 176 372 
14 » Halle x Merseburg IO 210,81/1 189 825 
15 , Erfurt e Erfurt und 
Kreis Schmalkalden 3 811,19) 504139 
16 ^ Altona Südlicher Teil der Prov. Schles- 
wig-Holstein und das Olden- 
burgische Fürstentum Lübeck| 9 329,96| *909 534 
17 Flensburg Kreis Flensburg, Stadt u. Land, 
Apenrade, Sonderburg, Ha- 
dersleben, Tondern, Husum, 
Eiderstedt, Schleswig, Eckern- 
fórde, Norder- und Süder- 
dithmarschen 10 215,55| 515774 
18 Hannover Reg.-Bez. Hannover, Kreis Rin- 
teln und Kreis Pyrmont 6232,05| 701 569 
19 5 Hildesheim | Reg.-Bez. Hildesheim 5351,70| 526758 
20 á Harburg »  » Lüneburg und Stade 18 129,70| 847 615 
21 5 Osnabrück »  » Osnabrück u. Aurich| 9312,58) 568 658 
22 5 Münster »  . Münster 7 253,39| 699 583 
23 2 Bielefeld »  » Minden 5 260,56| 636875 
24 E Arnsberg Kreis Arnsberg, Brilon, Mesche- 
de, Olpe, Wittgenstein, Iser- 
lohn, Altena und Siegen A 996,85| 477 618 
25 Dortmund | Kreis Dortmund Stadt u. Land, 
| | Hörde, Hamm, Bochum Stadt 
u. Land, Gelsenkirchen, Hat- 
tingen, Hagen Stadt u. Land, 
Schwelm, Lippstadt, Stadt- 
| kreis Witten, Soest. 2 699,81|1 373 701 
26 " Cassel | Reg.-Bez. Cassel mit Ausschluß 
der Kreise Rinteln, Schmal- 
kalden und des Fürstentums 
Waldeck (auBerKreis Pyrmont)| 9458,42] 856 879 


1) Vierteljahrshefte zur Statistik des Deutschen Reiches, Jahrgang 1901, IV. 


Die deutschen Handwerkerorganisationen. 981 
Tabelle I (Fortsetzung). 
Z | Flächen-| Ein- 
E inhalt in | wohner- 
E Name Sitz Bezirk qkm am | zahl am 
Ki 1. Dez. | 1. Dez. 
3 | | 1900 1) | 1900 +) 
27 Handwerkskammer Wieshaden Reg.-Bez. Wiesbaden 5 617,25|1 007 839 
28 " Coblenz » » Coblenz 6 205,81) 682 454 
29 a Düsseldorf » "Düsseldorf 5 473,10 2 599 806 
30 5 Cóln ;» a Gol 3977,211021 878 
31 D Aachen »  » Aachen 4 155,17) 614 964 
32 v Saarbrücken » » Trier und das Groß- 
herzoglich Oldenburgische 
Fürstentum Birkenfeld 7 686,54| 884 101 
33 5 Sigmaringen | Reg.-Bez. Sigmaringen 1 142,27| 66 780 
Bayern. 
34[Handwerkskammer 
für Oberbayern |München Reg.-Bez. Oberbayern 16 725,421 323 888 
35|Handwerkskammer 
für Niederbayern|Passau »  » Niederbayern 10 756,59| 678 192 
36]Handwerkskammer 
für die Pfalz Kaiserslautern „ „ der Pfalz 5 927,96| 831 678 
37|Handwerkskammer 
für die Oberpfalz 
und Regensburg |Regensburg » o der Oberpfalz 9652,28| 553841 
38|Handwerkskammer 
für Oberfranken |Bayreuth »  » Oberfranken 6 998,71, 608 116 
39|Handwerkskammer 
für Mittelfranken Nürnberg »  » Mittelfranken 7583,28| 815 895 
40|Handwerkskammer 
für Unterfranken 
u. Aschaffenburg| Würzburg „ Unterfranken 8 401,52] 650 766 
41]Handwerkskammer 
für Schwaben u. 
Neuburg Augsburg » Schwaben 9824,11) 713681 
Sachsen. 
42|Gewerbekammer |Chemnitz Stadt Chemnitz und Amtshaupt- 
mannschaft Annaberg, Borna, 
Chemnitz, Döbeln, Flöha, 
Glauchau, Marienberg und 
Rochlitz 3 720,45 1099 415 
43 ši (Dresden Kreishauptmannschaft Dresden, 
Amtshauptmannschaften 
Grimma und Oschatz 5 756,10|1 376 944 
44 D Leipzig Stadt Leipzig, Bezirk der Amts- 
hauptmannschaft Leipzig 498,65) 593 155 
45 o Plauen Kreishauptmannschaft Zwickau, 
|  Amtshauptmannschaften 
| Plauen, Auerbach, Oelsnitz, 
Sehwarzenberg, Zwickau. 2548,01| 727 529 
46 " Zittau | Kreishauptmannschaft Bautzen | 2469,73| 405 173 


582 Thilo Hampke, 


Tabelle I (Fortsetzung). 


| Flächen- | Ein. 
‚inhalt in | wohner- 
Name Sitz Bezirk qkm am | zahl am 
1. Dez. | 1. Der, 
1900 !) | 19001) 


Laufende Nr. | 


Württemberg. 


47[Handwerkskammer 


Stuttgart Stuttgart Stuttgart u. die Oberamtsbezirke 
Böblingen, Cannstadt, EB- 
lingen, Gmünd, Göppingen, L 


Kirchheim, Leonberg, Lud- 
wigsburg, Schorndorf, Stutt- 
gart Amt, Waiblingen und 
Welzheim. 2 500,53| 643 490 


45]Handwerkskammer | 

Ulm Ulm Oberamtsbezirk Aalen, Bie- 
berach, Blaubeuren, Ehingen, 
Ellwangen, Geislingen, Hei- 
denheim,Laupheim, Leutkirch, 
Münsingen, Neresheim, Ra- 
vensburg, Riedlingen, Saulgau, 
Tettnang, Ulm, Waldsee und 
Wangen. 7 535,84| 554472 


49/ Handwerkskammer 
Heilbronn Heilbronn Oberamtsbezirke Backnang, Be-| 
sigheim, Brackenheim, Crails-| 
heim, Gailsdorf, Gerabronn, 
Hall, Heilbronn, Künzelsau,| 
Marbach, Maulbronn, Mergent- 
heim, Neckarsulm, Oehringen, 

| Vaihingen und Weinsberg A 700,85| 462 260 


50fHandwerkskammer | 
Reutlingen Reutlingen Oberamtsbezirk Balingen, Calw, 
Freudenstadt, Herrenberg, 

| Horb, Nagold, Neuenbürg, 
Nürtingen, Oberndorf, Reut-| 
lingen, Rottenburg, Rottweil, 
Spaichingen, Sulz, Tübingen, 


Tuttlingen und Urach 4776,35| 509 258 
Baden. 
51[Handwerkskammer 
Konstanz Konstanz Kreise Konstanz, Villingen und 
Waldshut 4167,69, 297 242 
52|Handwerkskammer 
Freiburg Freiburg Kreise Freiburg, Lörrach und d 
Offenburg 474848| 510274 
55]Handwerkskammer TEN 
Karlsruhe Karlsruhe Kreise Baden und Karlsruhe | 2566,89| 517434 
54] Handwerkskammer 
Mannheim ‚Mannheim Kreise Mannheim, Heidelberg | 
und Mosbach 3597,94, 542991 


Die deutschen Handwerkerorganisationen. 


Tabelle I (Fortsetzung). 


583 


Flächen- 


Ein- 


e inhalt in | wohner- 
3 Name Sitz Bezirk qkm am | zahl am 
< 1. Dez. | 1. Dez. 
& -| 1900 1) | 1900 !) 
Uebrigen Bundesstaaten. 
55[Handwerkskammer 
Darmstadt Darmstadt "Großherzogtum Hessen 7 680,77|1 119 893 
56|Mecklenburgische 
Handwerkskammer |Schwerin die GroBherzogtümer Mecklen- 
burg-Schwerin und Mecklen- 
burg-Strelitz 16 056,42| 710372 
57|Handwerkskammer 
Weimar Weimar | Großherzogtum Sachsen 3 617,14, 362 873 
58[Handwerkskammer 
Oldenburg Oldenburg s Oldenburg 5383,30| 318 434 
59|Handwerkskammer 
für das Herzogtum 
Braunschweig Braunschweig | Herzogtum Braunschweig 3 672,18, 464 333 
60|Handwerkskammer 
zu Meiningen [Meiningen Sachsen-Meiningen | 2 468,28| 250 731 
61|Die gemeinsame 
Handwerkskammer | 
zu Gera Gera e Sachsen - Altenburg 
u. Fürstentum Reuß j. L. 2 150,23) 334 124 
62|Handwerkskammer | 
zu Gotha Gotha die Herzogtümer Coburgu. Gotha| 1977,45 229 550 
63|Anhaltische Hand- | 
werkskammer |Dessau Herzogtum Anhalt 2 299,38 316085 
64]Handwerkskammer 
Arnstadt Arnstadt die Fürstentümer Schwarzburg- 
Rudolstadt und Schwarzburg- 
Sondershausen 1 802,50, 173 957 
65|Handwerkskammer 
zu Greiz ‚Greiz Fürstentum Reuß ä. L. 316,71), 68 396 
66[Handwerkskammer 
des Fürstentums 
Schaumburg-Lippe Stadthagen Fürstentum Schaumburg-Lippe 340,19) 43132 
67]Handwerkskammer 
für das Fürsten-| 
tum Lippe [Detmold M Lippe 1 215,20) 138952 
68|Gewerbekammer ‚Lübeck Freie und Hansestadt Lübeck 297,711 96775 
69 " Bremen das Bremische Staatsgebiet 256,42] 224 882 
TO|Hamburgische Ge- 
werbekammer Hamburg Stadt Hamburg 415,30! 768 349 
T1[Handwerkskammer 
f. Elsaß-Lothringen Straßburg | Elsaß-Lothringen 14 513,05. 17719470 


erscheint. 


Es folgen weiter Düsseldorf, Oppeln, Straßburg, Breslau, 


Danzig und Stettin, während Königsberg dann erst an 15. Stelle 


folgt. 


584 Thilo Hampke, 


Das Königreich Bayern besitzt 8 Handwerkskammern zu 
München, Passau, Kaiserslautern, Regensburg, Bayreuth, Nürnberg, 
Würzburg und Augsburg. Auch hier umfassen die Handwerks- 
kammern einen Regierungsbezirk, sonst ist nach Flächeninhalt 
wie nach Einwohnerzahl bei weitem die größte Kammer die zu 
München mit 16725,42 qkm Flächeninhalt und 1323888 Ein- 
wohnern. 

Im Königreich Sachsen bestehen 5 Gewerbekammern, welchen 

die Rechte und Pflichten der Handwerkskammer übertragen sind. 
Es bestehen Gewerbekammern in Leipzig, Dresden, Chemnitz, 
Plauen und Zittau. Ueberall sind jetzt die Gewerbekammern von 
der Handelskammer getrennt, nur in Zittau ist noch die alte Ver- 
bindung zwischen beiden Kammern in der Handels- und Gewerbe- 
kammer erhalten worden. Unter den sächsischen Kammern ist so- 
wohl nach Flächeninhalt wie nach Einwohnerzahl die größte Kammer 
die zu Dresden mit 5756,10 qkm Flächeninhalt und 1376 944 Ein- 
wohner. 
Im Königreich Württemberg bestehen nur 4 Handwerkskammern, 
nämlich zu Stuttgart, Ulm, Heilbronn und Reutlingen. An Flächen- 
inhalt ist die größte württembergische Kammer mit 7535,8 qkm 
Flächeninhalt die zu Ulm, an Einwohnerzahl ist jedoch die größte 
Kammer die Stuttgarter mit 643 490 Einwohner. 

In Baden bestehen ebenfalls 4 Handwerkskammern, nümlich zu 
Konstanz, Freiburg, Karlsruhe und Mannheim. Nach dem Flächen- 
inhalt ist die größte Kammer die zu Freiburg mit 4748,48 qkm. 
An Einwohnerzahl ist die grófite Kammer die zu Mannheim mit 
542 994 Einwohnern. 

Von den noch fehlenden Handwerkskammern umfassen einige 
meist ganze Bundesstaaten, so die Handwerkskammer zu Darmstadt 
das Großherzogtum Hessen, die mecklenburgische Handwerkskammer 
zu Schwerin umfaßt sogar die der beiden Großherzogtümer Mecklen- 
burg-Schwerin und Strelitz, die Handwerkskammer zu Weimar er- 
streckt sich auf das Großherzogtum Sachsen, die zu Oldenburg auf 
das Großherzogtum Oldenburg, ebenso erstrecken sich die Kammern 
in Braunschweig, Meiningen, Gotha, Dessau, Greiz, Stadthagen, 
Detmold und Straßburg auf die betreffenden Bundesstaaten. Die 
Kammer zu Gera umfafit das Herzogtum Sachsen-Altenburg und das 
Fürstentum Reuß jüngerer Linie, die Kammer zu Arnstadt umfaßt 
die Fürstentümer Schwarzburg-Rudolstadt und Schwarzburg-Sonders- 
hausen, endlichferstrecken sich die Gewerbekammern zu Hamburg, 
Lübeck und Bremen, denen die Wahrnehmung der Rechte und 
Pflichten der Handwerkskammer übertragen ist, auf die betreffenden 
freien Reichsstädte. 

Der Unterschied der Kammerbezirke ist nach dem Flächen- 
inhalte ein sehr bedeutender. Die 5 größten Kammern in dieser 
Beziehung sind die zu Stettin mit 26109,6066 qkm, Danzig mit 
25 534,90 qkm, Berlin mit 20 703,01 qkm, Königsberg mit 20265,72 qkm 
und Frankfurt a. d. O. mit 19 198,18 qkm. Die 5 kleinsten Kammern 


Die deutschen Handwerkerorganisationen. 


585 


sind dagegen die zu Bremen mit 256,42 qkm, Lübeck mit 297,71 qkm, 
Greiz mit 316,71 qkm, Stadthagen mit 340,18 qkm und Hamburg 


mit 415,30 qkm. 


Das Verhältnis der einzelnen Kammern nach der Größe der 
Bezirke bezüglich des Flächeninhaltes stellt nachfolgende Tabelle dar : 


Tabelle II. 


Verzeichnis des Flächeninhalts der Hand- 


werks- und Gewerbekammerbezirke am 1. Dezember 


19001). 

Z Flächen- B : | Flüchen- B 
.|Sitz der Kammer| inhalt in | „mer Sitz der Kammer, inhalt in emer 
3 Em kungen e? kungen 
à q q 

1 | Stettin | 26 109,66 | Düsseldorf 5473,10 | 
2 | Danzig 25 534,90 | Oldenburg 5383,30 | 
3 | Berlin 20 703,01 | Hildesheim 5351,70 
4 | Königsberg 20 265,72 | Bielefeld 5260,56 | 
5 | Frankfurt a. O. |19 198,18 | Arnsberg 4996,85 
6 | Harburg 18 129,70 | 2| Reutlingen 4776,35 | 
7 | Posen 17 518,60 | Freiburg i. B. 4748,48 
8 | Insterburg 16 728,17 | Heilbronn 4700,85 
9 | München 16 725,42 Konstanz 4167,69 
10 | Schwerin 16 056,42 j| Aachen 4155,17 
11 | Straßburg 14 513,05 | (| Strasund 4010,88 
12 | Liegnitz 13 610,20 48] Cöln 3977,21 
13 | Breslau 13 483,68 | 49] Erfurt 3811,19 
14 | Oppeln 13 225,36 50] Chemnitz 3720,45 
15 | Magdeburg II 512,81 | 51| Braunschweig 3672,18 
16 | Bromberg II 451,81 52| Weimar 3617,14 | 
17 | Passau 10 756,59 | 53] Mannheim 3597,94 | 
18 | Flensburg IO 215,55 | 54| Dortmund 2699,81 | 
19 | Halle 10 210,81 | 55] Karlsruhe 2566,89 | 
20 | Augsburg 9 824,11 56| Plauen 2548,01 
21 | Regensburg 9 652,28 | 97| Stuttgart 2500,53 | 
22 | Kassel 9 458,12 | 58] Zittau 2469,73 
23 | Altona 9 329,96 59| Meiningen 2468,28 
24 | Osnabrück 9 312,58 60| Dessau 2299,38 
25 | Würzburg 8 401,52 61| Gera 2150,23 | 
26 | Saarbrücken 7 686,54 62] Gotha 1977,45 
27 | Darmstadt 7 680,77 63| Arnstadt 1802,50 
28 | Nürnberg 7 583,28 64| Detmold 1215,20 
29 | Ulm 7 535,84 65] Sigmaringen 1142,27 
30 | Münster 7 253,39 | | 66] Leipzig 498,65 
311 Bayreuth 6 998,77 | 67| Hamburg 415,30 | 
32 | Hannover 6 232,05 68] Stadthagen 340,19 
33 | Coblenz 6 205,81 69] Greiz 316,71 
34 | Kaiserslautern 5 927,96 70| Lübeck 297,11 | 
35 | Dresden 5756,10 71| Bremen 256,42 | 
36 | Wiesbaden 5617,25 


Ganz anders gestaltet sich das Verhältnis der Kammern zu- 
einander, wenn man die Einwohnerzahl der Bezirke zu Grunde legt. 
Die größten Kammern sind dann die zu Berlin mit 3818 152, 


1) Vierteljahrsheft zur Statistik des Deutschen Reiches, Jahrgang 1901, Heft 4. 


586 Thilo Hampke, 


Düsseldorf mit 2599806, Oppeln mit 1868146, Straßburg mit 
1719470 und Breslau mit 1 697 719 Einwohnern. Die kleinsten Kam- 
mern sind dagegen Stadthagen mit 43 132, Sigmaringen mit 66780, 
Greiz mit 68 396, Lübeck mit 96 775 und Detmold mit 138 952 Ein- 
wohnern. 

Wie sich das Verhältnis der Kammern nach den Einwohnerzahlen 
ihrer Bezirke gestaltet, ist aus nachfolgender Tabelle ersichtlich: 


Tabelle III. Verzeichnis der Einwohnerzahl der Hand- 
werks- und Gewerbekammerbezirke am 1. Dezember 


19001). 
> | 2 
„| Sitz der Hand- DD: Bemer- || .:| Sitz der Hand- Fass Bemer- 
Z | werkskammern | wohner- | kungen | | werkskammern | "ohner- | kongen 
zahl S A zahl ge 
1 

1 Berlin 3 818 152 | 37 Würzburg 650 766 
2 | Düsseldorf 2 599 806 38| Stuttgart | 643 490 
3 | Oppeln 1 868 146 || 39] Bielefeld | 636 875 
4 | Straßburg 1 719 470 ||, 40| Aachen 614 964 
5 | Breslau 1697 719 41| Bayreuth 608 116 
6 | Danzig I 563 658 42] Leipzig 593 155 
7 | Stettin 1418492 43] Osnabrück 568 658 
8 | Dresden 1 376 944 | || 44| Ulm 554 472 
9 | Dortmund 1373 701 45] Regensburg 553 841 
10 | München 1 323 888 46] Mannheim 542 994 
11 | Posen 1 198 252 | || 47| Hildesheim 526 758 
12 | Halle 1 189 825 48| Karlsruhe 517 434 
13 | Frankfurt a. O. |1179250 49] Flensburg 515 774 
14 | Magdeburg I 176 372 50] Freiburg 510 274 
15 | Königsberg I 144 589 | 51} Reutlingen 509 258 
16 | Darmstadt I 119 893 | 52] Erfurt 504 139 
17 | Liegnitz I 102 992 53| Arnsberg 477 618 
18 | Chemnitz I 099 415 54| Braunschweig 464 333 
19 | Cöln I 021 878 55| Heilbronn 462 260 
20 | Wiesbaden I 007 839 56] Zittau 405 173 
21 | Altona 909 534 | 57| Weimar 362 873 
22 | Saarbrücken 884 103 | 58| Gera | 334124 
23 | Cassel 856 879 59| Oldenburg 318 434 
24 | Insterburg 852037 60| Dessau 316 085 
25 | Harburg 847 615 61| Konstanz 297 242 
26 | Kaiserslautern 831 678 62] Meiningen 250 731 
27 | Nürnberg 815 895 | 63] Gotha 229 550 
28 | Hamburg 768 349 64| Bremen 224 882 
29 | Plauen | 727 529 65| Stralsund 216 314 | 
30 | Augsburg | 713681 | 66] Arnstadt 173957 | 
31 | Schwerin | 710372| 67| Detmold 138 952 
32 | Hannover | 701 569 68] Lübeck 96 775 
33 | Münster 699 583 69] Greiz 68 396 
34 | Bromberg | 689023, | 70| Sigmaringen 66 780 
35 | Coblenz | 682 454 | 71| Stadthagen 43 132 
36 | Passau | 678 194] 


Aus den soeben gegebenen statistischen Nachweisen kann man 
nur im allgemeinen auf die verschieden große Bedeutung der Hand- 


1) Vierteljahrshefte zur Statistik des Deutschen Reichs, Jahrgang 1901, Heft 4. 


Die deutschen Handwerkerorganisationen. 587 


werkskammer schließen. Nähere Schlüsse sind erst möglich, wenn 
man die Anzahl der Handwerker und die Zahl der bei diesen be- 
schäftigten Gesellen und Lehrlinge kennt. Leider ist darüber eine 
zuverlässige Statistik noch nicht vorhanden. Da diese Zahlen jedoch 
von großem Interesse sind, so hatte der Vorort des deutschen Hand- 
werks- und Gewerbekammertages, nämlich die Handwerkskammer zu 
Hannover, im August des Jahres 1902 eine Enquête bei den einzelnen 
Handwerkskammern und den Gewerbekammern veranstaltet, über 
die auf dem Leipziger Handwerker- und Gewerbekammertag be- 
richtet wurde. Leider hatten nicht alle 71 Kammern den Frage- 
bogen beantwortet, sondern nur 60 Kammern hatten den Fragebogen 
ausgefüllt. 

Das Protokoll des IH. deutschen Handwerks- und Gewerbe- 
kammertages, der am 25.—27. September 1902 in Leipzig stattfand, 
besagt über diese Enquête folgendes !): 

„Es sind 60 Fragebogen beantwortet worden, und zwar so, wie 
sie aus den verschiedensten Kammerbezirken eingegangen sind. Bei 
den Angaben über die Zahl der selbständigen Handwerksbetriebe, 
Gesellen und Lehrlinge ist eine völlige Genauigkeit nicht zu erzielen 
gewesen, dain manchen Kammerbezirken keine amtlichen Zählungen 
vorgenommen worden sind. Die übrigen Angaben aber beruhen auf 
genauen Feststellungen. Bei 48,5 Mill. Einw. in diesen 60 Kammer- 
bezirken betrug die Zahl der selbständigen Handwerksbetriebe etwa 1,1, 
die der Gesellen 0,9, die der Lehrlinge 0,35 Mill, so daß die Zahl 
der Meister zu der der Gesellen und der der Lehrlinge sich verhält 
wie 11 zu 9 zu 3!/,. Unwiderleglich geht aus diesen Feststellungen 
hervor, daß von einer Lehrlingszüchterei im Handwerk im allgemeinen 
keine Rede sein kann. Wir dürfen wohl erwarten, daß man endlich 
mit diesen ungerechten Beschuldigungen gegen das Handwerk auf- 
hört. 2564 Zwangsinnungen und 6271 freie Innungen sind gezählt 
worden ; davon haben sich aufgelöst 174 Zwangsinnungen und 74 freie 
Innungen, von denen aber 28 in Zwangsinnungen umgewandelt sind. 
Diesen 248 aufgelösten stehen aber 778 neugebildete Innungen gegen- 
über. Die Innungsorganisation ist mithin kräftig vorgegangen, und 
die in der Presse immer aufs neue wiederholte Behauptung, die In- 
nungsorganisation ginge unaufhaltsam zurück, beruht auf Unwahrheit. 
Die Zahl der gewerblichen Vereine beträgt 1642. Von der Arbeit 
der Handwerks- und Gewerbekammern möchten wir noch besonders 
die Bildung der Gesellenprüfungsausschüsse — 14161 — und der 
Meisterprüfungskommissionen — 3603 — hervorheben; wer in diesen 
Angelegenheiten praktisch tätig gewesen ist, weiß, welche Fülle der 
Arbeit in diesen Zahlen beschlossen liegt. Endlich sei noch darauf 
hingewiesen, daß auf Anregung und mit Unterstützung der Kammer 
bisher 86 Kredit- und 171 Werk- und Rohstoffgenossenschaften neu 
errichtet worden sind.“ 


1) Protokoll des III. deutschen Handwerks- und Gewerbekammertages am 25. 
26. und 27. September 1902 zu Leipzig, S. 9. 


588 Thilo Hampke, 


Da diese soeben dargelegten Resultate, wegen der nicht vollständigen 
Beantwortung der Fragebogen keine erschöpfenden sein konnten, habe 
ich versucht, das mir gütigst seitens des Vorortes zur Verfügung gestellte 
Material zu vervollständigen. Es ist mir dies zu einem gewissen Grade 
gelungen. Es liegt daher das Material der vom Handwerks- und Gewerbe- 
kammertag veranstalteten Umfrage den folgenden Darlegungen zu 
Grunde. 

Leider haben die einzelnen Kammern gerade über die Anzahl der 
in ihrem Bezirke vorhandenen Handwerker, Gesellen und Lehrlinge 
nur unvollständige Angaben gemacht. Bei einzelnen Kammern, wie 
bei den Gewerbekammern zu Hamburg, Lübeck und Bremen, fehlen 
diese Zahlen vollständig, weil in diesen Bezirken die Kammern aus 
staatlichen Mitteln erhalten werden und daher zu Steuerzwecken Er- 
hebungen über die Anzahl der vorhandenen Handwerker noch nicht 
gemacht zu werden brauchten. Bei den meisten Handwerkskammern 
werden jedoch die Kosten durch Umlagen auf die Handwerker, ab- 
gestuft nach der Anzahl der von ihnen beschäftigten Gesellen und 
Lehrlinge, aufgebracht. In diesen Kammerbezirken sind dann zu diesen 
Steuerzwecken derartige Erhebungen gemacht worden, so daß die dafür 
angegebenen Zahlen ziemlich richtig sein werden. Es ist anzunehmen, 
daß wenn erst die Handwerkskammern einige Jahre länger bestehen, 
dann auch die einzelnen Kammern in der Lage sein werden, gerade 
über diese Frage genauere Angaben zu machen. 

Wenn, wie gesagt, die Angaben noch lückenhafte sind, so bieten 
sie doch ein ganz interessantes Bild, so daß ich die Zahlen, soweit 
sie vorhanden sind, in der nachstehenden Tabelle zusammengestellt 
habe (s. Tabelle IV S. 589 u. 590). 

Ueber Preußen liegen die Zahlen verhältnismäßig vollständig 
vor, nur von Cassel sind die Angaben über die Gesellen und Lehrlinge 
nicht vorhanden, allerdings haben auch eine Anzahl Kammern ihre 
Zahlen mit dem Wörtchen ,circa^ versehen, um anzudeuten, daß die 
Zahlen nicht genau, sondern schützungsweise gewonnene sind. Von 
den preußischen Kammern sind nach der Anzahl der Handwerker, 
die in den Bezirken ansässig sind, die größten die Kammer zu Berlin 
mit 55722, Düsseldorf mit 44000, Breslau mit 35000, Magdeburg 
mit 34341 und Liegnitz und Stettin mit je 30000 selbständigen Hand- 
werkern. Die kleinsten Kammern sind die zu Sigmaringen mit 4000, 
zu Stralsund mit 5000, zu Bromberg mit 6500, Arnsberg mit 10600 
und Bielefeld mit 11432 selbständigen Handwerkern. 

Es ergeben sich nach dieser Statistik für Preußen 679323 selb- 
ständige Handwerker, 559738 Gesellen und 253055 Lehrlinge, d. h. 
mit anderen Worten, in Preußen kommen auf 100 selbständige Hand- 
werker 82 Gesellen und 37 Lehrlinge. Schlüsse lassen sich aus diesen 
Zahlen auf eine etwaige Lehrlingszüchterei nicht ziehen, weil die selb- 
ständigen Handwerker, alle Handwerker, also auch diejenigen, die 
weder Gesellen und Lehrlinge halten, mitumfassen. Wir würden 
nach dieser Richtung nur sichere Schlüsse zu machen vermögen, wenn 
wir die Zahl der Meister, die Lehrlinge halten, zur Zahl der Lehr- 
linge selbst in ein Verhältnis setzen könnten. Es lassen sich aber 


Die deutschen Handwerkerorganisationen. 589 


Tabelle IV. 


S à a à 
Zahl der $ E E : E 3 
Bits der selbstän- à FE 8 5g S ER 
Lid.| Bundesstaat | Handwerks. | digen | Zahl der | Zahl der B FI ä FE t 5 
No. k Hand- | Gesellen | Lehrlinge 2 E] GEIER 
EE werks- 3208293 
betriebe zi së ME E 
= à Zeh EN im. 
1 Preußen Königsberg 18 596 10 987 7778| 59 41 61 
2 » Insterburg 15 300 6 200 5750| 40 37 92 
3 » Danzig 21 205 I5 738 10707| 74 50 67 
4 » Berlin 55 722 74 206 20 991| 133 37 28 
5 e Frankfurt a/O. 25 233 20 601 11353] 8ı 44 55 
6 D Stettin 30 000 13 000 9000! 43 30 68 
7 n Stralsund 5 000 4 000 2400| 80 48 60 
8 » Posen I9 400 15 330 9300| 79 47 60 
9 » Bromberg 6 500 6 433 5048| 95 75 78 
10 u Breslau 35 000 40 000 20 000| 114 57 50 
11 » Liegnitz 30 000 24 000 11 500| 80 38 47 
12 s Oppeln 24555 15 796 10 471| 64 42 66 
13 - Magdeburg 34 341 44 832 12 I20| 130 35 27 
14 » Halle a/S. 21550 II 352 9778| 52 45 86 
15 # Erfurt 14 990 4775 2226| 31 14 47 
16 » Altona 18 031 14 247 6267| 79 34 44 
17 be Flensburg 11 Boboen, 5 350) 4086| 45 34 76 
18 » Hannover ca. 16000 ,„ 16000ca. 6000| 100 38 38 
19 5i Hildesheim 12 496 9 253 5084| 74 40 54 
20 " Harburg 20 035 16 000, 6000| 80 30 38 
21 » Osnabrück 12 375 10 856 4775| 87 38 43 
22 ^ Münster 16 248 12 993 4227| 79 32 40 
23 e Bielefeld II 432 15 720 4708| 136 41 29 
24 » Arnsberg 10 600 7 500 3270| 70 30 43 
25 PR Dortmund ca. 20 000 24 000 9000| 120 45 37 
26 " Cassel 20 131 — — — — — 
27 2 Wiesbaden  |ca. 27 000 20 000 8500| 74 31 42 
28 " Coblenz 21 000 14 000 4300| 67 20 30 
29 5 Düsseldorf 44 000!ca. 55 000 C4. 24 000| 125 54 43 
30 Se Cöln | 19 500 7 369 3,516] 37 18 47 
31 sg Aachen ca. 18 500 10000 c4 5000| 54 27 50 
32 5 Saarbrücken 18 777 13 000 „ 4300 69 22 33 
33 a Sigmaringen 4 000 I 200| Gool 30 | 15 50 
679323| 559738) 253055| 82 | 37 | 45 
34 Bayern  |München 40 092 50 451 12571| 125 31 24 
35 a Passau ca. IO OOO|nieht fest- 
stellbar 4000 — 40 — 
36 5 Kaiserslautern|ea. 30 000 — — — — — 
37 Se Regensburg 14 608 5 520 3123] 37 21 56 
auBerStadt | 
Regensbg. | 
38 » Bayreuth ea. 26 500 — ca. 7000 — 26 — 
39 5 Nürnberg » 27 500 _ » 8000 — 29 — 
40 » Würzburg » 30000|ca. 19 500 5500 65 18 28 
41 x Augsburg » 7000|, 8200 5210 119 74 63 
| | 


590 Thilo Hampke, 


| à H = a% 
| Zahl der E 2 $8 zi 
| Sitz der Leer z88ZTER ES 
Lfd| Bundesstaat | Handwerks. | gen | Zahl der Zahl der |E SZ 8 SZ SX 
No. mr ade Hand- | Gesellen Lehrlinge 5 o £M $E o7 
z e os% 23 
werks- 520/825] -: 
betriebe HE |" E "£g 
s2 32 |3? 
| s ls 
42 [Sachsen (Dresden 
43 s |Plauen 16 398 16 893 5554| 103 33 32 
44 Ge (Chemnitz 32 000 — — ES 
45 b Leipzig IO 241 16 619 7209 162 70 | 43 
46 e ‚Zittau ca. 6800 — — 
47 [Württemberg Stuttgart ca. 18 000/ea. 25 000 5829 138 31 | 23 
48 T Ulm IO 107 ? 4 506! 44 E 
49 = ‘Heilbronn 7 848 ca. 6000 3302| 76 42 55 
50 5 Reutlingen — — | — 
51 [Baden (Mannheim — — — 
52 "n Karlsruhe cn, 15 400/ca. 14 000 3600| or 24 | 26 
53 N Freiburg 18 105 15 400 3168| 85 17 | 20 
54 35 Konstanz 11517 9014 1913| 87 16 21 
55 [Hessen Darmstadt ca. 40 000 5 500 13 
56 [Beide Meck- Schwerin 12 930 10 891 4820 84 37 4 
lenburg 
57 |S.-Weimar Weimar 8 395 12 343 4598| 146 54 37 
58 [Oldenburg Oldenburg 8 500 6 700 2400) 78 28 35 
59 [Braunschweig Braunschweig ca. 18 000|ea. 7 o00!ca. 5 500! 39 31 78 
60 |S.-Meiningen |Meiningen 6113 6574 2444| 107 39 36 
61 [S.-Altenburg |Gera 7 052 11 184 3641| 158 50 2 
u. ReuB j. L. 
62 |S.-Coburg- Gotha 7 226 7 599 3 492) 105 48 46 
Gotha x 
63 [Anhalt Dessau ca. 6500ca. 4500le.. 2000) 69 30 44 
64 [Beide Arnstadt 4512 A 076 1933 90 42] A 
Schwarzburg | 
65 |ReuB à. L. "Greis 1893 1769 735 93 38 | 41 
66 [Schaumburg- |Statdhagen ` en, r400|ca. 1000|ca. 800 71 57 80 
Lippe 
67 [Lippe Detmold 3 408 2 378 939 69 27 39 
68 [Lübeck Lübeck — — — — — 
69 |Bremen Bremen ca. 6000 — angemeldete — 59 
3597 
70 [Hamburg Hamburg — — — — 
71 |Elsa8- Straßburg — -— — — | 
Lothringen 


nach anderer Richtung Schlüsse ziehen, nämlich unter dem Gesichts- 
punkt des Bedarfs des Handwerks an Lehrlingen. 

Es sind in Preußen nach den uns vorliegenden Zahlen 679323 
selbständige Handwerker 559 738 Gesellen und 253055 Lehrlinge vor- 
handen. Es gibt also in den Handwerksbetrieben selbst nur etwas 


Die deutschen Handwerkerorganisationen. 591 


mehr als doppelt soviel Handwerksgesellen als Handwerkslehrlinge. 
Bei einer durchschnittlichen Lehrzeit von 3 Jahren sind demnach nur 
6 Jahrgänge Lehrlinge in der Zahl der Gesellen enthalten. Auf die 
679323 selbständigen Handwerker sind ferner 8 Lehrlingsjahrgänge zu 
rechnen, wenn man die Sterblichkeit berücksichtigt. Im Handwerk 
selbst befinden sich also in der Gesellenmasse etwa 6; in der Meister- 
masse etwa 8 zusammen, also höchstens soviel Individuen als aus 
14 Lehrlingsjahrgängen hervorgegangen sind. 

Andererseits dürften aber mindestens 30 Jahr tätigen Erwerbs- 
lebens dem eben aus der Lehre Tretenden noch bevorstehen, wobei 
das Absterben auch schon berücksichtigt ist. 

Von diesen 30 Altersklassen sind jedoch nur 14 im Handwerk 
nachweisbar. Soviel Gesellen wie zur Besetzung von 16 Altersklassen 
gehören, fehlen also mindestens dem Handwerk, d. h. ungefähr so 
viel Gesellen müssen zu den Fabriken übergetreten oder ausgewan- 
dert sein oder den Beruf gewechselt haben. Für den Bedarf des 
Handwerks an Lehrlingen selber ist die gegenwärtige Lehrlingszahl 
also zu groß. Das ist aber, da die Großindustrie auch Arbeiter 
braucht, die in der Handwerkslehre ausgebildet sind, notwendig, ob 
dies allerdings in dem Maße, als es der Fall ist, notwendig ist, er- 
scheint sehr zweifelhaft, da es eine große Anzahl von Handwerken 
noch gibt, deren Erlernung in keiner Weise den Uebertritt in die 
Großindustrie ermöglicht, wie z. B. die Barbiere und Friseure, Perücken- 
macher, Bäcker, Schlachter, Konditoren, Maler und Schornsteinfeger etc. 

Daß die Gesamtzahlen über das Verhältnis der selbständigen 
Handwerker zu den Gesellen und Lehrlingen ungefähr richtig sind, 
geht daraus hervor, daß die vor dem Erlaß des Handwerkerorgani- 
sationgesetzes im Jahre 1895 veranstaltete Erhebung über die Ver- 
hältnisse im Handwerk, bearbeitet durch das Kaiserliche Statistische 
Amt, zu fast gleichen Resultaten kam. Damals wurden im Erhebungs- 
gebiet 61199 Meister, 42043 Gesellen und 21725 Lehrlinge gezählt. 
Die Verhältniszahlen sind also ungefähr ähnliche !). 

Was nun das Verhältnis der selbständigen Handwerker zu den 
Gesellen im einzelnen betrifft, so ist, wenn wir ebenfalls nun wieder 
die Zahlen über die preußischen Kammern in Betracht ziehen, auffällig, 
daß auf 100 Handwerker in der Kammer Berlin 133 Gesellen, Breslau 
114 Gesellen, Magdeburg 130 Gesellen, Hannover 100 Gesellen, Biele- 
feld 136 Gesellen, Dortmund 120 Gesellen und Düsseldorf 125 Ge- 
sellen fallen. Es sind dies meist Kammern, in denen die Großstädte, 
die in diesen Bezirken liegen, auf die Statistik einen maßgebenden 
Einfluß ausüben, denn in großen Städten haben sich naturgemäß 
auch im Handwerk größere Betriebe herausgebildet, oder es sind 
Kammern, die in Industriebezirken liegen, wie Dortmund, Düssel- 
dorf etc., in denen das Handwerk vielfach als Hilfsgewerbe der In- 


1) Es sind im Handwerk 1895 also 17 Jahrgänge nachweisbar und 13 Alters- 
klassen fehlen. Die Verhältnisse sind also seit 1895 in der Beziehung noch schlechter 
geworden. 


592 Thilo Hampke, 


dustrie auftritt und dadurch größere Handwerksbetriebe bedingt sind. 
Die wenigsten Gesellen auf 100 Handwerksmeister werden beschif- 
tigt in vorwiegend landwirtschaftlichen Bezirken namentlich des Ostens. 
Auf 100 Handwerksmeister kommen in Königsberg 59, in Insterburg 40, 
in Stettin 43, in Halle 52, in Erfurt 31, in Flensburg 45, in Köln 37, 
in Aachen 54 und in Sigmaringen 30 Gesellen. In Köln, Aachen 
und Halle sind die Zahlen allerdings auffällig und erscheint mir die 
Zuverlässigkeit derselben sehr zweifelhaft. Interessant ist, wenn man 
die Zahlen zwischen selbständigen Handwerkern und Lehrlingen ver- 
gleicht, denn man findet, daß die Kammern, die die größten Gesellen- 
zahlen aufweisen, die also meist durch Großstädte in ihrem Bezirk 
beeinflußt werden, die geringsten Lehrlingszahlen besitzen, während 
in vorwiegend ländlichen Bezirken die meisten Lehrlinge gehalten 
werden. In den großen Städten läßt eben die Lust, Lehrlinge aus- 
zubilden, mehr und mehr nach, während auf dem Lande die Hand- 
werker auf die Ausbildung der Lehrlinge angewiesen sind, wenn sie 
Hilfskräfte haben wollen, denn Gesellen sind vielfach nicht zu bewegen, 
die Städte zu verlassen und auf das Land oder in die kleinen Städte 
zu gehen, weil sie dort nicht so unabhängig sind und ihnen Ver- 
gnügungen nicht so vielseitig geboten werden, wie in den großen 
Städten. Während, wie wir sehen, in Preußen im Durchschnitt auf 
100 selbständige Handwerker 37 Lehrlinge kommen, kommen auf 
100 Handwerker in Stettin 30, in Erfurt 14, in Harburg 30, i 
Münster 32, in Arnsberg 30, in Wiesbaden 31, in Koblenz 20, i 
Köln 18, in Aachen 27, in Saarbrücken 22 und in Sigmaringen 
15 Lehrlinge. 

Die höchsten Lehrlingszahlen weisen folgende Kammern auf. 
Es kommen auf 100 Meister in Danzig 50, in Bromberg 75, in Bres- 
lau 57 und in Düsseldorf 54 Lehrlinge. Noch schärfer tritt die oben 
angedeutete Tendenz hervor, wenn man die Zahl der Gesellen zur 
Zahl der Lehrlinge in ein Verhältnis setzt. 

Während im Durchschnitt in Preußen auf 100 Gesellen 45 Lehr- 
linge kommen, kommen auf 100 Gesellen in Berlin 28, in Magde- 
burg 27, in Harburg und Hannover je 38, in Bielefeld 29 und in 
Koblenz 30 Lehrlinge. Dagegen kommen auf 100 Gesellen in Inster- 
burg 92, Bromberg 78, Halle 86, und Flensburg 76 Lehrlinge. 

Auf die Zahlen der einzelnen Bundesstaaten möchten wir nicht 
näher eingehen, weil sie erstens unvollständig sind und vielfach einen 
noch unrichtigeren Eindruck machen als die preußischen, und wo dies 
nicht der Fall ist, der Leser selbst schnell die erforderlichen Schlüsse 
ziehen kann. Wenn, wie ich nochmals betonen möchte, auch die 
angeführten Zahlen im einzelnen auf unbedingte Richtigkeit einen 
Anspruch nicht werden erheben dürfen, denn bei der Unsicherheit 
des Begriffes Handwerk, werden die einzelnen Kammern erst nach 
Jahren vollständige Klarheit geschaffen haben, so kann man doch 
die Tendenz der Handwerkerentwickelung ganz gut aus derselben 
erkennen. 

Interessant ist es nun auch, darüber Betrachtungen anzustellen, 
wie sich die Handwerker gegenüber der Bevölkerung verhalten. 


Die deutschen Handwerkerorganisationen. 593 


Nach den Berechnungen, die Paul Voigt auf Grund der im Jahre 
1895 veranstalteten Reichsenquête gemacht hat, kamen im Jahre 1895 
auf 100 Einwohner 2,67 selbständige Handwerker im Durchschnitt 11. 

Das Verhältnis der Einwohnerzahl zur Zahl der Handwerker ist 
in der nachstehenden Tabelle V S. 594 u. 595 zur Darstellung gebracht. 

Für Preußen ergibt sich bei 34611374 Einwohnern und 679 323 
Handwerkern ein Verhältnis von 1,90, d. h. es kommen auf 100 Ein- 
wohner 1,90 Handwerker. Es würde also die Zahl der Handwerker 
im Verhältnis zur Einwohnerzahl nicht unerheblich gefallen sein, 
was zutreffen dürfte, denn die Verhältniszahl hat eine fallende Ten- 
denz, denn es kamen auf 100 Einwohner 

1846 2,83 Handwerker 
1861 2,89 
1895 2,67 r 

In Bayern kamen dagegen auf 100 Einwohner nach den vor- 
liegenden Zahlen 3,00 Handwerker. Diese Zahl dürfte kaum richtig 
sein. Die bayerischen Kammern haben fast alle ihre Zahlenangaben 
über die Handwerker mit dem Wörtchen ,circa^ versehen. Daraus 
geht hervor, daß diese Zahlen in der Hauptsache schätzungsweise 
gewonnen sind und dieselben auf Richtigkeit nur einen bedingten 
Anspruch haben kónnen. 


B. Die Innungen. 


Neben der Schaffung der Handwerkskammern ist die wichtigste 
Neuerung des Handwerkerorganisationsgesetzes vom 26. Juli 1897 
die Schaffung der Zwangsinnung gewesen. 

8 100 der Reichsgewerbeordnung bestimmt: 

.Zur Wahrung der gemeinsamen gewerblichen Interessen der 
Handwerke gleicher oder verwandter Art ist durch die hóhere Ver- 
waltungsbehörde auf Antrag Beteiligter anzuordnen, daß innerhalb 
eines bestimmten Bezirks sümtliche Gewerbetreibende, welche das 
gleiche Handwerk oder verwandte Gewerbe ausüben, einer neu zu 
errichtenden Innung (Zwangsinnung) als Mitglieder anzugehören 
liaben, wenn 

1) die Mehrheit der beteiligten Gewerbetreibenden der Einfüh- 
rung des Beitrittzwanges zustimmt, 

2) der Bezirk der Innung so abgegrenzt ist, daß kein Mitglied 
durch die Entfernung seines Wohnortes vom Sitze der Innung be- 
hindert wird, am Genossenschaftsleben teilzunehmen und die Innungs- 
einrichtungen zu benutzen, und 

3) die Zahl der im Bezirke vorhandenen beteiligten Handwerker 
zur Bildung einer leistungsfühigen Innung ausreicht. 

Der Antrag kann auch darauf gerichtet werden, die im Absatz 1 
bezeichnete Anordnung nur für diejenigen daselbst bezeichneten Ge- 


1) Paul Voigt, Die Hauptergebnisse der neuesten deutschen Handwerkerstatistik 
in Schmollers Jahrbuch, Verwaltung und Volkswirtschaft, Jahrgang 21, S. 257 fg. 
Dritte Folge Bd, XXV (LXXX). 38 


594 Thilo Hampke, 


Tabelle V. . 


Ltd Sitz der 
No Bundesstaat Handwerks- | Einwohnerzahl |Handwerks- 
kammer 
Preußen Königsberg bh 1 144 589 ; 
P Insterburg 852037 1,8 
» Danzig 1 563 658 1,3 
» Berlin 3818 152 1,4 
» Frankfurt a/O. I 179 250 241 
» Stettin 1 418 492 2,1 
»" Stralsund 216 340 2,8 
» Posen I 198 252 1,6 
Se Bromberg 689 023 0,94 
m Breslau 1 697 719 2,1 
H Liegnitz 1 102 992 2,7 
» Oppeln 1 868 146 1,3 
d Magdeburg I 176 372 2,8 
5 Halle a/S. 1 189 825 L8 
Erfurt 504 139 3,0 
DI Altona 909 534 1,9 
S Flensburg 515 774 2,3 
= Hannover 701 569 2,8 
" Hildesheim 526 758 24 
» Harburg 847 615 24 
D Osnabrück 568 658 2, 
^ Münster 699 583 2,3 
» Bielefeld 636 875 1,7 
» Arnsberg 477 618 2,9 
» Dortmund I 373 701 1,4 
er Cassel 856 879 2,3 
5, Wiesbaden 1 007 839 2,7 
i Koblenz 682 454 3,1 
» Düsseldorf 2 599 806 1,7 
» Köln 1 021 878 1,9 
nu Aachen 614 964 3,0 
» Saarbrücken 884 103 2,1 
er Sigmaringen | 66 780 6,0 
34 611 374 679 323 | 1,90 
Bayern München ca. 1 323 888 40 092 3,8 
E Passau » 678192 10 000 15 
- Kaiserslautern | ,, 831678 30 000 3,6 
» Regensburg » 593841 14 608 2,6 
Bayreuth » 608 116 26 500 43 
T Mürnberg , 815895 27 500 34 
" Würzburg » 650766 30 000 4,6 
» Augsburg » 713681 7 000 1,0 
6176057 | 185 70| 3,0 
Sachsen Chemnitz I 099 415 32 000 2,9 
Go Dresden 1 376 944 — — 
n Leipzig 593 155 IO 241 1,7 
5 Plauen 727 529 16 398 2,2 
ss Zittau 405173 |ca. 6 800 1,6 


Die deutschen Handwerkerorganisationen. 


595 


|Auf 100 Einw. 


Lid Sitz der Selbständ. mérite 
N y Bundesstaat Handwerks- | Einwohnerzahl |Handwerks-| . 3. 
9 kammer betriebe |ständigeHand- 
werksbetriebe 
Württemberg Stuttgart 643 490 | ca. 18 000 2,8 
di Ulm 554 472 10 107 1,8 
S Heilbronn 462 260 7 848 1,7 
e Reutlingen 509 258 =- — 
Baden Konstanz 297 242 II 517 3,8 
3i Freiburg 510 274 18 105 3,5 
e Karlsruhe 517434 | ca. I5 400 2,9 
5 Mannheim 542 994 -— — 
Darmstadt Darmstadt I 119893 | ca. 40 000 3,5 
Mecklenburg (beide) Schwerin 710 372 12 930 1,8 
Sachsen-Weimar Weimar 362 873 8 395 2,3 
Oldenburg Oldenburg 318434 500 2,6 
Braunschweig Braunschweig 464 333 | ca. 18 000 3,8 
Sachsen-Meiningen Meiningen 250 731 6 113 2,4 
Sachsen-Altenburg und 
Reuß j. L. Gera 334 124 7052 2,1 
Koburg-Gotha Gotha 229 550 7 226 3,1 
Anhalt Dessau 316085 | ca. 6500 2,1 
Rudolstadt und Sonders- 
hausen Arnstadt 173 957 4512 2,6 
Reuß ä. L. Greiz 68 396 1 893 2,6 
Schaumburg-Lippe Stadthagen 43 132 | ca. 1400 3,2 
Lippe Detmold 138 952 3 408 2,5 
Lübeck Lübeck 96 775 — — 
Bremen Bremen 224882 | ca. 6000 2,6 
Hamburg Hamburg 768 349 — — 
Elsaß-Lothringen Straßburg 1719470 — — 


werbetreibenden zu erlassen, welche der Regel nach Gesellen oder 
Lehrlinge halten. 

Der Antrag kann von einer für das betreffende Handwerk be- 
stehenden Innung oder von Handwerkern gestellt werden, welche zu 
einer neuen Innung zusammentreten wollen. 

Ohne Herbeiführung einer Abstimmung kann der Antrag ab- 
gelehnt werden, wenn die Antragsteller einen verhältnismäßig nur 
kleinen Bruchteil der beteiligten Handwerker bilden, oder ein gleicher 
Antrag bei einer innerhalb der letzten 3 Jahre stattgefundenen 
Abstimmung von der Mehrheit der Beteiligten abgelehnt worden ist, 
oder durch andere Einrichtungen als diejenigen einer Innung für 
die Wahrnehmung der gemeinsamen Interessen der beteiligten Hand- 
werke ausreichende Fürsorge getroffen worden ist.“ 

Es können also, wenn die Majorität der beteiligten Gewerbe- 
treibenden zustimmt, Zwangsinnungen gebildet werden. Man hat 
diese Aenderung der Gesetzgebung mit der ausgesprochenen Absicht 
vorgenommen, die Organisation der Handwerker, d. h. die Innungen, 

38* 


596 Thilo Hampke, 


zu stärken. Es soll nun untersucht werden, wie weit dies ge- 
lungen ist. 

Die Begründung zu dem Handwerkerorganisationsgesetze be- 
sagt über die Gründe, die zur Ausgestaltung des Innungswesens 
führten, folgendes !). 

„Das Gesetz von 1881 verfolgte bei dieser Erwägung aus- 
gesprochenermaßen den Zweck, die Innungen wieder zu Organen 
der gewerblichen Selbstverwaltung werden zu lassen, welche im 
stande seien, einerseits durch die Forderung der gewerblichen 
Interessen ihrer Mitglieder und durch die Pflege des Gemeingeistes 
und des Standesbewußtseins eine wirtschaftliche und sittliche Hebung 
des Handwerkerstandes anzubahnen und andererseits dem Staate ge- 
eignete Organe für die Erfüllung wichtiger Aufgaben der Gewerbe- 
verwaltung darzubieten. Zu dem Ende wurden die Aufgaben der 
Innungen so bemessen, daß ihnen ein ausgiebiges Feld der genossen- 
schaftlichen Tätigkeit eröffnet und zugleich diejenigen Rechte ein- 
geräumt wurden, deren sie zu bedürfen schienen, um die statuta- 
rischen Vorschriften den einzelnen Mitgliedern gegenüber zur Geltung 
zu bringen und für ihren Kreis im Wege der Selbstverwaltung ge- 
wisse gewerbegesetzliche Bestimmungen zu handhaben, deren Durch- 
führung auf dem Gebiete des Kleingewerbes für die Organe des 
Staates auf Schwierigkeiten gestoßen war. In der Erkenntnis, daß 
manche den Innungen zugewiesene Aufgaben eine befriedigende 
Lösung nicht finden können, solange nur die einzelnen Innungen 
eine jede für ihren örtlich und sachlich begrenzten Kreis sie zu er- 
füllen suche, wurden ferner die gesetzlichen Grundlagen für die 
Bildung weiterer gewerblicher Verbindungen der Innungsausschüsse 
und der Innungsverbände geschaffen. Endlich wurde schon damals 
die Möglichkeit vorgesehen, solchen Innungen, welche in der Rege- 
lung des Lehrlingswesens befriedigende Erfolge erzielen würden, die 
Befugnis einzuräumen, die von ihnen auf diesem Gebiete geschaffenen 
Anordnungen auch denjenigen Handwerkern des gleichen Gewerbes 
gegenüber zur Geltung zu bringen, welche der Innung nicht bei- 
treten würden. Eine Erweiterung erfuhr diese Maßnahme durch die 
Novelle der Gewerbeordnung vom 18. Dezember 1884, die es er- 
möglichte, unter der Voraussetzung des Vorhandenseins einer auf 
dem Gebiete des Lehrlingswesens bewährt erfundenen Innung die 
Befugnis zum Halten von Lehrlingen auf den Kreis der Mitglieder 
der Innung zu beschränken. Weitere Schritte auf der so betretenen 
Bahn geschahen durch die Novelle zur Gewerbeordnung vom 23. April 
1886 und 6. Juli 1887, von denen die erstere den Innungsverbänden 
zur Verstärkung ihrer Wirksamkeit namentlich auf dem Gebiete des 
Hilfskassenwesens die Erlangung der Korporationsrechte zugänglich 
machte und die letztere Bestimmung traf, nach denen den Innungen 
unter gewissen Voraussetzungen die Befugnis eingeräumt werden 


1) Kurt von Rohrscheidt, Das Innungs- und Handwerkergesetz. Leipzig 1897, 
S. 2 fg. | 


Die deutschen Handwerkerorganisationen. 597 


kann, zur Bestreitung der Kosten einzelner von ihnen getroffenen 
Einrichtungen auch die ihnen nicht beigetretenen Gewerbetreibenden 
heranzuziehen. 

Von den hiermit gebotenen Handhaben hat der Handwerker- 
stand vornehmlich in Nord- und Mitteldeutschland zu seiner Wieder- 
erstarkung und einer zweckentsprechenden Ordnung seiner Verhält- 
nisse einen ziemlich ausgedehnten Gebrauch gemacht, wie denn z. B. 
gegenwärtig in Preußen rund 8000 Innungen bestehen, welche nach 
den Vorschriften der Novelle von 1881 eingerichtet sind. Hieraus 
ist zu erkennen, daß die alten Traditionen der Zusammengehörigkeit 
der Berufsgenossen noch für weite Kreise des Handwerkerstandes 
von Bedeutung ist, und auch die Form, welche der Gesetzgeber für 
einen solchen Zusammenschluß dargeboten hat, als eine geeignete 
gelten muß. Ebenso ist anzuerkennen, daß die Innungen da, wo sie 
im Handwerkerstande festen Boden gefunden haben, teilweise zu 
recht erfreulichen Ergebnissen ihrer Tätigkeit, namentlich auf dem 
Gebiete des Lehrlingswesens, des gewerblichen Unterrichts und des 
Hilfskassenwesens, gelangt sind. Es rechtfertigt die Annahme, daß 
man auf dem eingeschlagenen Wege wohl zu einer Gesundung der 
Verhältnisse des Handwerks hätte gelangen können, wenn die Ver- 
mutung, es würde sich noch der Reform der Gesetzgebung der über- 
wiegende Teil der Handwerker den fakultativen Innungen anschließen, 
richtig gewesen wäre. Diese Annahme hat sich jedoch als irrig er- 
wiesen. Den Innungen ist es nicht gelungen, den größeren Teil der 
Handwerker in sich zu vereinigen, und vielfach hat nur ein kleiner 
Bruchteil zum Anschlusse an sie sich bereit finden lassen. Soweit 
das vorhandene statistische Material reicht, kann angenommen werden, 
daß nur etwa ein Zehntel sämtlicher Handwerker den Innungen bei- 
getreten ist. Dementsprechend haben die auf Freiwilligkeit beruhen- 
den Innungen bisher nicht die persönlichen Kräfte und die finan- 
ziellen Mittel gewonnen, die sie befähigt haben würden, eine all- 
gemeine Besserung der Lage des Handwerks herbeizuführen. Ihre 
Tätigkeit ist vielmehr im allgemeinen auf verhältnismäßig enge 
Grenzen beschränkt geblieben, und auch da, wo sie in größerer Zahl 
errichtet werden und weitere Kreise des Handwerkerstandes ihnen 
beigetreten sind, haben sie die Wirksamkeit, zu der sie an sich be- 
fähigt sind, nicht im vollem Maße entfalten können, weil sie in ihrer 
gegenwärtigen Organisation des sicheren Bestandes ermangeln, in- 
dem es jedem einzelnen Mitgliede in jedem Augenblicke unbenommen 
ist, sich den Folgen ihm lästiger und seinen unmittelbaren Interessen 
vielleicht zuwiderlaufender Beschlüsse und Anordnungen der Innung 
durch den Austritt zu entziehen. 

Dieser Entwickelungsgang spricht dafür, die Organisation des 
Handwerks von dem Boden der Freiwilligkeit loszulösen und sie 
nach dem Vorschlage der Königlich Preußischen Regierung auf der 
Grundlage des Zwanges aufzubauen. Im Grundgedanken stimmt der 
vorliegende Entwurf mit jenem Vorschlage überein, nach gewissen 
Richtungen weicht er von demselben ab.“ 


598 Thilo Hampke, 


Es sollen also nach dieser Begründung des Handwerksorgani- 
sationsgesetzes nur ein Zehntel sämtlicher Handwerker den Innungen 
beigetreten sein. Es ist hier selbst der Regierung ein Irrtum passiert. 
Die Gesamtzahl der deutschen Handwerksmeister wurde damals infolge 
eines komischen Mißverständnisses auf 3 Mill. Handwerker veran- 
schlagt. Diesen stellte man die 321216 Innungsmeister gegenüber 
und so ergab sich das allen Innungsfeinden sehr willkommene Re- 
sultat, daß nur etwa 10 Proz. der Handwerker in den Innungen 
organisiert seien. Es ist das große Verdienst von Paul Voigt, diesen 
groben Fehler nachgewiesen zu haben. Derselbe sagt darüber!): 

„Durch ein komisches Mißverständnis, das hauptsächlich Böttger 
(Programm der Handwerker S. 14 und 129) verschuldet hat, an dem 
aber auch nationalökonomische Professoren und sogar Spezialisten 
auf dem Gebiet der Handwerkerfrage nicht ganz unschuldig sind, hat 
sich die Ansicht festgesetzt, die Zahl der deutschen Handwerker 
betrage 3 Millionen. Der Irrtum ist auf folgende Weise entstanden. Die 
Gewerbezählung (gewerbliche Betriebsstatistik) faßt sämtliche Betriebe 
in Gärtnerei, gewerbsmäßiger Tierzucht und Fischerei (Abteilung A), 
in Industrie und Bergbau (Abteilung B), und in Handel und Ver- 
kehr, Versicherungswesen, auch Gast- und Schankwirtschaft (Abtei- 
lung C) als „Gewerbebetriebe“ zusammen, denen sie die rein land- 
wirtschaftlichen Betriebe gegenüberstellt. Alle „Gewerbebetriebe“ 
dieser Art mit weniger als 5 Gehilfen hat Böttger nach Abzug der 
hausindustriellen Betriebe dem „Handwerk“ zu gut geschrieben, ob- 
wohl auf die Abteilung C (Handel etc.) allein 1106263 Betriebe 
entfallen und obwohl in Abteilung B ungefähr 500000 Wäscherinnen, 
Näherinnen, Plätterinnen, Schneiderinnen, Weberinnen etc. als „Allein- 
betriebe* gezählt worden sind.“ 

Voigt hat nachgewiesen, daß die Gesamtzahl der Selbständigen 
in den historischen Handwerken nicht mehr als etwa 1300000 Köpfe 
beträgt, daß also die 321216 Innungsmeister nicht den 10. Teil, 
sondern ungefähr 30 Proz. aller Handwerker betragen und die In- 
nungen und Gewerbevereine zusammen etwa 35 Proz. aller Hand- 
werker ausmachen?) Es ist im Anschluß an diese Darlegungen 
Voigts in einem Artikel des juristischen Literaturblattes Bd. 9 No. 8 
vom 1. Oktober 1897 von mir nachgewiesen worden, daß diese Schät- 
zung Voigts eine zu hohe ist?) Ich legte damals folgendes dar: 

„Für Preußen ist nun noch später, nämlich am 1. Dezember 
1892, eine Erhebung veranstaltet worden, die in Preußen 7925 In- 
nungen mit 221337 Mitgliedern ergab. Obgleich also in den Jahren 
1891—1892 die Zahl der Innungen in Preußen um 102 zugenommen 


1) Paul Voigt, Die neue deutsche Handwerkergesetzgebung. Archiv für soziale 
Gesetzgebung und Statistik, Bd. 3, S. 45. 

2) Paul Voigt, Die Hauptergebnisse der neuesten deutschen Handwerkerstatistik. 
Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft, Jahrgang 21, 
1897, S. 1004 fg. 

3) Thilo Hampke. Das Innungs- und Handwerkergesetz. Juristisches Literatur- 
blatt, Bd. 9, No. 8. 


Die deutsche Handwerkerorganisationen. 599 


hatte, war die Zahl der Innungsmeister um 4712 Mitglieder zurück- 
gegangen, d. h. also 1892 hatte die Innungsbewegung bereits ihren 
Gipfel überschritten und es trat bereits eine Rückschrittsbewegung 
ein. Seit dem Anfang der 90er Jahre ist sicher ein Stillstand in 
der Innungsbewegung eingetreten. Es wird kaum eine Vermehrung 
und kaum eine Verminderung in der Zahl der Innungsmeister statt- 
gefunden haben. Wir werden daher nicht fehl gehen, wenn wir auch 
für die jetzigen Verhältnisse 321219 Handwerker als in Innungen 
organisiert annehmen. Nach der Berufszählung von 1895 und nach 
der vom Kaiserlich Statistischen Amt im Jahre 1895 veranstalteten 
Erhebung über die Verhältnisse im Handwerk, wird man im ganzen 
Deutschen Reich 1300000 selbstündige Handwerksmeister annehmen 
müssen. Es machen also die 321219 Innungsmeister in Deutschland 
ungefähr 25 Proz. aller Handwerksmeister aus. 

Die neuesten Berechnungen von Paul Voigt in seiner Arbeit: 
Die Hauptergebnisse der deutschen Handwerkerstatistik von 1895 
im dritten Heft des 21. Jahrganges des Schmollerschen Jahrbuches 
sind meines Erachtens unrichtig. Voigt berechnet, daß 30 Proz. 
aller Handwerker in Innungen vereinigt sein sollen und kommt zu dem 
Resultat, daß, wenn man die Gewerbevereine dazu rechnet, daß dann 
35 Proz. aller Handwerker sich bereits Organisationen, wie Innungen und 
Gewerbevereinen angeschlossen haben. Daf die Richtigkeit der vorher 
berechneten Zahl wahrscheinlich ist, geht aus dem soeben erschie- 
nenen sechsten Jahrgang des Statistischen Jahrbuchs deutscher Stüdte 
hervor. In 30 Großstädten Deutschlands befanden sich 1895 nach 
der Berufsstatistik insgesamt 179739 selbständige Personen in den 
ungefähr 70 Handwerksarten. Dagegen waren in diesen Städten 
62485 Innungsmitglieder vorhanden. Nach dieser aus dem Jahre 
1895 stammenden Statistik machten also die Innungsmeister 31,6 Proz. 
der Handwerker in den 30 großen Städten aus. 

In den norddeutschen Städten ohne Rheinland berechnete sich 
die Zahl der Innungsmeister auf 38,6 Proz., in den süddeutschen 
Städten mit Rheinland nur auf 16,6 Proz. 

Wenn also in 30 deutschen Großstädten die Zahl der Innungs- 
meister nur 31,6 Proz. ausmacht, dann kann sie nicht für ganz Deutsch- 
land 30 Proz. betragen, denn es ist eine bekannte Tatsache, daß 
eigentlich nur in den Städten die Innungsentwickelung gut vorwärts 
gekommen ist, daß sie aber auf dem Lande nur ungemein geringe 
Fortschritte gemacht hat, weil dort der Boden wegen der örtlichen 
Verhältnisse nicht günstig für Innungsbildungen ist. 

Es spricht also die Wahrscheinlichkeit dafür, daß nur 25 Proz. 
der Handwerker bisher in Innungen vereinigt sind. 

Es ist also die Behauptung, die sich in der Begründung zu dem 
neuen Organisationsgesetz findet und die sowohl Hoffmann wie auch 
Rohrscheidt in ihren Kommentaren wiedergeben, falsch, daß nämlich 
sich bisher nur eben ein Zehntel sämtlicher Handwerker den Innungen 
angeschlossen habe. Aber auch die Berechnung Voigts bezüglich der 
Gewerbevereine scheint mir nicht richtig zu sein. 


600 Thilo Hampke, 


Im Verbande deutscher Gewerbevereine befanden sich Anfang 
1896 466 Vereine mit 53287 Mitgliedern, die größtenteils in Süd- 
deutschland heimisch sind. Voigt rechnet nun mit diesen 53287 Per- 
sonen als Mitgliedern von Gewerbevereinen. Dem Verbande deutscher 
Gewerbevereine gehört jedoch noch nicht an der Verband sächsischer 
Gewerbevereine, der 1891 mehr als 26000 Mitglieder umfaßte. Ferner 
ist noch nicht angeschlossen der Verband schlesischer Gewerbevereine, 
dessen Mitgliederzahl uns nicht bekannt ist, der jedoch auch große 
Bedeutung hat. Der Verband deutscher Gewerbevereine hat eigent- 
lich nur bei den süddeutschen Gewerbevereinen Boden gefunden. Alle 
die zahlreichen (rewerbevereine in den größeren norddeutschen Städten 
gehören mit Ausnahme derjenigen der Provinz Hannover und Thüringens 
ihm nicht an. Man wird die Zahl der Gewerbevereinsmitglieder daher 
wohl auf 100000 schätzen dürfen. Von diesen 100000 Mitgliedern 
müssen zunächst die abgezogen werden, die nicht Handwerker sind: 
denn es haben sich erfreulicherweise zahlreiche Männer, die Interesse 
für das Gewerbe besitzen, denselben angeschlossen. Ich vermute, 
daß ein Viertel der Mitglieder von Gewerbevereinen nicht Handwerker 
sind. Es bleiben demnach 75000 Handwerker übrig. Von diesen wird 
man ebenfalls mindestens ein Viertel abziehen müssen, weil sich diese 
bereits auch in Innungen befinden und dort schon mitgezählt sind. 
In Norddeutschland und namentlich auch in Sachsen werden häufig 
fast die Hälfte der Handwerksmitglieder im Gewerbeverein Innungs- 
mitglieder sein. In Süddeutschland wahrscheinlich weniger, weshalb 
ich als Mittel ein Viertel annehme. Es würden dann also von den 
100000 Gewerbevereinsmitgliedern 56250 übrig bleiben, die Hand- 
werker und dabei nicht Innungsmeister sind. Wir würden dann im 
ganzen 377469 organisierte Handwerker, d. h. Innungsmeister und 
Gewerbevereinsmitglieder erhalten, die 29 Proz. aller Handwerker 
ausmachen.“ 

Von Voigt ist in seinen späteren Arbeiten meine Berechnung 
anerkannt worden !). 

Bereits unter der Innungsnovelle vom 18. Juli 1881 hatten die 
Innungen also eine erfreuliche Entwickelung genommen, so daß 1896 
sicher cirea 25 Proz. aller selbständigen Handwerker in Innungen 
organisiert waren. Diese Tatsache erscheint in einem um so gün- 
stigeren Lichte, wenn man bedenkt, daß ein sehr großer Prozentsatz 
der Handwerker auf dem Lande wohnt (über ?/, aller Handwerker 
wohnen auf dem Lande) und daher schlecht organisiert werden kann 
und wenn man ferner in Betracht zieht, daß ebenfalls sehr große 
Prozentsätze der Handwerker kleine Alleinmeister sind, die natur- 
gemäß ein geringes Interesse an den Innungen haben, die doch gerade 
das Lehrlingswesen regeln und ferner die Verhältnisse der Gesellen 
zu den Meistern bessern wollen. Etwa nur 44,5 Proz. aller Hand- 
werker beschäftigen Personal. Man konnte damals also schon mit 


J 1) Paul Voigt, Erwiderung gegen Grützer. Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, 
Verwaltung und Volkswirtschaft, Jahrgang 22, S. 689 ff. 


Die deutschen Handwerkerorganisationen. 601 


Recht den Schluß ziehen, daß die Innnungen den Kern des leistungs- 
fähigen städtischen Handwerks bereits umfaßten. 

Eine wichtige Frage ist nun die, ob unter dem neuen Hand- 
werksorganisationsgesetz vom 26. Juli 1897 die Innungen eine weitere 
Entwickelung genommen haben und ob eventuell die Zwangsinnungen 
verstanden haben, bedeutende Teile des Handwerkerstandes zu um- 
fassen. Leider liegt eine Statistik hierüber überhaupt noch nicht vor. 
Vom preußischen Handelsministerium ist durch die Handwerkskam- 
mern eine Statistik im Jahre 1902 veranstaltet worden, die mir gütigst 
durch den Geheimen Reg.-Rat Dr. v. Sufeld zur Verfügung gestellt 
worden ist und die folgendes Bild ergibt (s. Tabelle VI S. 602 u. 603). 

Es waren also 1892 im ganzen 10851 Innungen in Deutschland 
vorhanden, von denen 7882 freie Innungen und nur 2969 Zwangs- 
innungen waren. Die Zwangsinnungen stellen demgemäß noch nicht ein 
Drittel sämtlicher Innungen dar. 

Ein Bild von den Innungsverhältnissen vor und nach der Hand- 
werkernovelle von 1897 ergibt folgende ale Wir besitzen für 
Preußen eine Statistik über den Stand vom l. Dezember 1896 und 
für die übrigen Bundesstaaten über den Sech im Jahre 1803. Diese 
Daten sind als Stand vor der Handwerkerorganisation der Statistik 
zu Grunde gelegt !). 

Die Entwickelung der Innungen zeigt dann folgende Tabelle VII 
S. 604. 

Während also 1896 10881 Innungen vorhanden waren, gab es 
1902 10851 Innungen. Die Zahl derselben wäre also nach der 
Reorganisation nach dieser Statistik um 30 zurückgegangen. 

Dieser Rückgang bedeutet natürlich keinen Rückgang der Innungs- 
entwickelung überhaupt, denn unter den zur Zeit bestehenden 10 851 
Innungen befinden sich 2069 Zwangsinnungen. Diese Zwangsinnungen 
werden aber in ihren Mitgliederzahlen viel größere Personenkreise 
umfassen als die entsprechenden früheren freien Innungen. Bei der 
Reorganisation haben sich naturgemäß zahlreiche Innungen, die in 
ihrer Mitgliederzahl sehr zurückgegangen waren und die nicht recht 
mehr etwas leisteten, aufgelóst, an deren Stelle sind aber je lünger, 
je mehr neue Innungen getreten, die leistungsfühigere Organisationen 
darstellen. 

Die Zwangsinnungen haben nicht eine so weite Verbreitung 
gefunden, als man wohl erwartet hatte. Es bestehen neben 7882 
freien Innungen doch nur 2960 Zwangsinnungen. Nach dem Inkraft- 
treten der Zwangsinnungen konnte man vielfach die Behauptung hóren, 
die Zwangsinnungen hätten sich nicht bewährt, denn sie lösten sich 
meist wieder auf. Es ist richtig, dafi sich eine Anzahl Zwangsin- 
nungen wieder aufgelóst haben, doch war dann meist ein Fehler bei 
der Bildung der Innung gemacht worden, indem man Zwangsinnungen 
für alle Gewerbetreibenden bildete, die besser nur für die Handw erker 


1) Paul Voigt, Die deutschen Innungen. Eine statistische Studie.  Schmollers 
Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft, Jahrgang 22, 1898, S. 708. 


602 Thilo Hampke, 


VI. Uebersicht über die Zahl der Innungen, welche in 
den Bezirken der einzelnen Handwerkskammern 


bestehen. 
Lfd Sitz der Zahl der 
N Bundesstaat Handwerks- frei ee Bemerkungen 
o. kammer reien 4 wangs- 
Innungen | innungen 
ge D 
Königreich Preußen 5586 | 2182 ei aldeck u. 
1 n T Königsberg 320 III 
2 5 Se Insterburg 179 28 
3 o » Danzig 338 | 69 
4 D pe Berlin 537 | 150 
5 " » Frankfurt a/O. 272 200 
6 i » Stettin 479 48 
7 SG 5 Stralsund 105 14 
8 " " Posen 428 16 
9 » » Bromberg 227 9 
10 " m Breslau 402 | 112 
11 „ T - | Liegnitz 379 84 
12 " " Oppeln , 355 73 
13 ^ h ' Magdeburg 134 | 72 
14 á S Halle 446 | 45 
15 " " | Erfurt 112 19 
16 n m | Altona 123 | 77 
^ i ai FREE 74 49 *) 2 freieu. 1 Zwangs- 
18 5 " Hannover *) { "e 4 : | innung entf. auf d. 
19 » f Hildesheim 84 | 85 Fürstent. Pyrmont. 
20 i5 ~ Harburg 84 | 150 
21 P " Osnabrück 77 70 
22 D D Münster 42 33 
23 T A Bielefeld 29 44 
24 " » Arnsberg 2 77 
33 » G Dortmund | 49 | 105 *) 2 freie Innungen 
26 i i Kassel *) | | 4b } 63 | entfallen auf das 
27 S 1 Wiesbaden 15 a4 |. Fürtent. Waldeck 
28 » D Coblenz | 15 59 
29 " " Düsseldorf 71 159 
30 e e Cöln 27 24 
31 e " Aachen ri 18 
32 ^ " Saarbrücken | 23 49 
33 ^" D Sigmaringen — — 
Königreich Bayern 177 110 
1 j » Oberbayern 31 21 
2 e T Niederbayern 6 18 
3 " » Pfalz | 33 16 
4 n E Oberpfalz 5 9 
5 D " Oberfranken | 24 4 
6 7 A Mittelfranken | 19 14 
7 D " Unterfranken | 25 12 
8 D " Schwaben | 34 16 
Königreich Sachsen 859 364 
1 » 5 Dresden | 228 114 
2 e Y Plauen 203 60 
3 " m Chemnitz 303 126 


Die deutschen Handwerkerorganisationen. 


603 


T Sitz der Zahl der 
N 5 Bundesstaat Handwerks- frei Bemerkungen 
0. Eieren reien ‚Zwangs- 
Innungen | innungen 
g B 
4 | Königreich Sachsen Leipzig 26 30 
5 » T Zittau 99 34 
3 Württemberg 72 11 
1 e 5 Stuttgart 25 3 
2 " om Ulm 24 3 
3 » de Heilbronn II 5 
E " D Reutlingen 12 = 
Großherzogtum Baden 38 12 
1 " " Mannheim 12 I 
2 e " Karlsruhe IO 6 
3 T » Freiburg 15 5 
4 ap ^ Konstanz I — 
1 e Hessen | Darmstadt 38 18 
1 | Mecklenburg-Schwerin u. 
Mecklenburg-Strelitz | Schwerin 505 6 
1 | Sachsen-Weimar Weimar 7 21 
1 | Oldenburg Oldenburg 53 6 
1 | Braunschweig Braunschweig 65 74 
1 | Sachsen-Meiningen Meiningen 41 14 
1 |Sachsen-Altenburg und 
Reuß j. L. Gera 51 | 37 
1 | Sachsen-Koburg-Gotha | Gotha 59 2 
1 | Anhalt Dessau 98 | 38 
1 |Schwarzb. - Sondershaus. 
u. Schw.-Rudolstadt | Arnstadt 39 8 
1 | Reub à. L. Greiz 12 7 
1 | Schaumburg-Lippe Stadthagen 10 I 
1 | Lippe Detmold 30 17 
1 | Lübeck Lübeck 6 16 
1 | Bremen Bremen 24 9 
1 | Hamburg Hamburg 8 16 
1 | Elsaß-Lothringen Straßburg 37 = 
Deutsches Reich Sa. 7882 2969 
—————— 1. 
Zusammen 10851 


gebildet worden wären, die Personal beschäftigten, denn es ist selbst- 
verständlich, daß Personen die kein Personal beschäftigen, nicht das 
Interesse an der Innung haben können, welches solche Handwerker, 
die Gesellen und Lehrlinge beschäftigen, besitzen müssen. 

Daß diese Auflösungen von Innungen doch nicht so erheblich 
gewesen, geht aus der Umfrage hervor, die der Vorort des Hand- 
werks- und Gewerbekammertages im Jahre 1902 veranstaltet hatte !). 
In 60 Handwerkskammerbezirken, die berichteten, lösten sich seit 
Errichtung der Kammern, also seit dem 1. April 1900 bis zum Jahre 
1902, im ganzen 174 Zwangsinnungen und 74 freie Innungen auf, 
von denen etwa 28 in Zwangsinnungen umgewandelt wurden. Diesen 
248 aufgelösten Innungen stehen aber 778 im gleichen Zeitraum neu 
gebildete Innungen gegenüber. 


1) Protokoll des III. deutschen Handwerks- und Handwerkertages am 25., 26. 
und 27. September 1902 zu Leipzig, 8. 9. 


604 Thilo Hampke, 


Tabelle VII. 


1896 Zahl] 1902 Zahl der Zus 
Lid. x. | m = E 
No Bundesstaat der frei Zwangs. ` [anun- 
No. Innungen |. freien Lwangs 
| E Innungen| Innungen BT 
| | g g 
1 [Preußen 7 940 5586 | 2182 7 768 J ëm 
2 [Bayern 226 177 | 110 287 \ Waldeck 
3 [Königreich Sachsen 1 283 859 364 1 223 
4 ^ Württemberg 29 e) II 83 
5 [Großherzogtum Baden 30 38 12 50 
6 |Hessen 33 38 | 18 56 
7 |Mecklenburg-Sehwerin 434 505 6 sit | 
8 [Sachsen- Weimar 89 74 21 95 | 
9 [Mecklenburg-Strelitz | 74 s. Schwerin | j7 mek. 
10 [Oldenburg 33 53 6 59 \ Schwerin 
11 [Braunschweig 138 65 74 139 | 
12 [Sachsen-Meiningen 65 I I4 55 
3 „ Altenburg 58 Ze 37 88 ee 
14 »  Coburg-Gotha 98 59 2 61 | Jung. ane 
15 [Anhalt 130 98 38 136 | 
16 [Sehwarzburg-Sondershausen 23 d y 
17 3 Rudolstadt 27 \ ` 39 8 47 |(u. Arnstadt) 
18 [Waldeck II s. Preußen ? 
19 eut à. Linie 25 12 7 I9 
20 [Reuß jüng. Linie 23 |s. Sachs.-Altenburg | 
21 [Schaumburg-Lippe 6 10 | x“ Il | 
22 |Lippe-Detmold 9 30 17 47 | 
23 [Lübeck 24 6 16 22 | 
24 [Bremen 31 24 9 33 | 
25 [Hamburg 29 8 I 24 | 
26 [|ElsaB-Lothringen 13 37 | — | 37 | 
Zusammen | 10881 7882 | 2969 | 10851 | 


Diese Zahlen zeigen, daß wir uns in einer Periode starker Neu- 
bildung von Innungen befinden, die namentlich wohl durch die Tätig- 
keit der Handwerkskammern veranlaßt ist. Würde heute eine Enquete 
veranstaltet werden, so würden wir jedenfalls nicht 30 Innungen 
weniger als 1896, sondern eine ganz erhebliche Anzahl Innungen 
mehr besitzen. Aus den Zahlen, die ich dem preußischen Handels- 
ministerium verdanke, lassen sich leider weitgehende Schlüsse nicht 
ziehen, weil die Zahlen über die Innungsmitglieder fehlen. Erfreu- 
licherweise hat aber der Fragebogen, den der Vorort des Handwerks- 
und Gewerbekammertages im Jahre 1902 versandte, auch eingehend 
die Verhältnisse der Innungen berücksichtigt. 

Die Zahlen dieser Enquête der Handwerkskammern werden aufziem- 
lich zuverlässige Richtigkeit Anspruch erheben dürfen, denn über den 
Stand des Innungswesens, des Rückgrates der ganzen Handwerks- 
organisation, werden die Handwerkskammern zuverlüssig orientiert 
sein. Es ist mir nun erfreulicherweise gelungen, die Zahlen, die in 
Leipzig nur unvollständig auf dem Kammertag geboten werden konnten 
zu vervollständigen !). Daß die Innungsorganisation wirklich unter 


"m 1) Es ist mir gelungen, durch mehrfache Anfragen alle Kammern zu veranlassen, 
die Zahlen über die Innungen anzugeben, nur über den Mitgliederstand der Innungen 


Die deutschen Handwerkerorganisationen. 605 


dem neuen Handwerksorganisationsgesetz erhebliche Fortschritte ge- 
macht hat, beweist folgende auf die oben geschilderte Weise gewonnene 
Statistik (s. Tabelle VIII S. 606 u. 607). 

Diese Statistik ergibt also, daß im August 1902 vorhanden waren 
in ganz Deutschland 10950 Innungen (nach der Statistik des preußi- 
schen Handelsministeriums waren es nur 10851 Innungen). Die Zahlen 
stimmen also ungefähr mit den durch das preußische Handelsmini- 
sterium ermittelten Zahlen überein) mit 457283 Mitgliedern. Wenn 
im August 1902 99 Innungen mehr als vom Handelsministerium ge- 
zählt worden sind, so liegt es jedenfalls daran, daß der Zählungstermin 
ein späterer als der des Handelsministeriums war und so viele Innungen 
in der Zwischenzeit neu begründet worden sind. Setzen wir die neu 
gewonnene Zahl von 10950 Innungen in einen Vergleich zu der Zahl 
der Innungen am 1. Dezember 1896, nämlich 10 881, so ergibt sich, 
daß nicht etwa nach der Reorganisation 30 Innungen weniger vorhanden 
sind, sondern sich die Zahl der Innungen um 69 gehoben hat. Die 
2955 Zwangsinnungen umfassen 198543 Mitglieder, es kommen also 
auf eine Zwangsinnung 67 Mitglieder. 

Die 7995 freien Innungen umfassen 258 740 Mitglieder, es kommen 
also auf eine freie Innung 32 Mitglieder. Es haben demzufolge im allge- 
meinen die Zwangsinnungen mehr als doppelt soviel Mitglieder als 
die freien Innungen. Die 10950 Innungen umfassen 457283 Mit- 
glieder, es kommen also auf eine Innung im Durchschnitt 42 Mitglieder. 

Im einzelnen ist zu dem Inhalt der Tabelle VIII zu bemerken, 
daß bei den Kammern Liegnitz, Koblenz, und Detmold nur die Zahlen 
für die Innungen und die Innungsmitglieder im allgemeinen vor- 
liegen. Es sind daher die Mitgliederzahlen für die Zwangs- und für 
die freien Innungen von mir geschätzt worden und zwar nach dem 
Verhältnis wie 2:1, d. h. ich habe angenommen, daß die Zwangs- 
innungen noch mal soviel Mitglieder haben werden als die freien 
Innungen. Ebenso sind die Mitgliederzahlen für Dresden geschätzt 
worden, indem die Durchschnittszahl der sächsischen Innungen zu 
Grunde gelegt worden ist. Alle anderen Zahlen beruhen auf eigenen 
Angaben der Kammern. 

Gar keine Innungen sind vorhanden in dem Kammerbezirk Sig- 
maringen, dort sind die Handwerker nur in Gewerbevereinen orga- 
nisiert. Keine Zwangsinnungen sind vorhanden in den Kammerbezirken 
Reutlingen, Konstanz und Straßburg, in diesen Bezirken ist aber über- 
haupt die Innungsentwickelung eine sehr geringe, denn auch freie 
Innungen sind nur in geringer Zahl vorhanden. 

Daß die Innungen wirklich und namentlich in Preußen zur Zeit 
den Kern der Handwerker umfassen, geht aus folgender Tabelle IX 
S. 608 u. 609 hervor. 

Es kommen demnach in Preußen auf 679323 Handwerker 310 677 
Innungsmeister, d. h. auf 100 Handwerker bereits 46 Innungsmitglieder. 


waren nicht in der Lage zu berichten die Kammern von Liegnitz, Koblenz, Dresden und 
Detmold. 


606 


Thilo Hampke, 


Tabelle VIII. Uebersicht über die vorhandenen 
Zwangs- und freien Innungen und deren Mitglieder 
im August 1902. 


Name der Zenger Freie Innungen Zusammen 
Handwerks- Re Va, Zahl der GE 
It- it- H 
kammer Anzahl glieder Anzahl glieder Innnugen glieder 
| = 
Königsberg III 3915| 320 qud 431 II 605 
Insterburg 28 560 | 184 000 212 6 560 
Danzig 76 | 3266| 338 | 9568 414 12 834 eg d. vom 
Berlin 151 | 22369 | 527 | 19252 678 41621 zember 1902 
Frankfurta/O.| 201: 9374| 272 7 156 473 16 530 
Stettin 39 2300, 492 | 13500 531 15 800 
Stralsund 14 599 | IOS 2 460 119 3 059 
Posen 17 662 | 427 | 11333 444 II 995 
Bromberg 9 500 | 227 2 000 236 2500 Verhältnis der 
Breslau 114 7000| 407 | 14 000 521 21 000 || Zwangsinnungsmit- 
Liegnitz 88 5314| 387 | 11686 475 17 000 |\ glieder zu den freien 
Oppeln 73 4443| 356 | 14520 429 18 963 || Innungsmitgliedern 
Magdeburg 72 5908| 116 4 268 188 IO 176 | ist geschätzt wie2:1 
Halle a/S. 45 2847| 442 8771 487 II 618 
Erfurt 19 1270| 112 4 114 131 5 384 
Altona 80 4684| 127 4 003 207 8 687 
Flensburg 49 2 696 74 2 549 123 5 245 
Hannover 45 3 700 61 3 300 106 7 000 
Hildesheim 85 4 438 84 2 495 169 6933 | 
Harburg 79 | 3477, 149 | 4310 228 7 787 
Osnabrück 70 3 975 76 3 298 146 7 273 
Münster 33 1495 40 2 596 83 4091| 
Bielefeld 59 3 133 28 1236 87 4 369 
Arnsberg 81 3 193 27 1428 108 4 621] 
Dortmund 105 5 500 49 2 600 154 8 100 
Cassel 60 2 400 51 I 283 III 3 683 
Wiesbaden 23 2 500 18 1250 41 3750 
Coblenz 61 3072 17 428 78 3 500 |wie Liegnitz 
Düsseldorf 175 | 11562 89 5 339 264 16 901 
Köln 24 2748 27 2179 51 4 927 
Aachen 19 1375 6 390 25 1 765 
Saarbrücken 48 4 000 24 1 400 72 5 400 
Sigmaringen — — — = — — keine Innungenjvorh. 
Preußen | 2153 | 134 275 | 5659 |176402| 7812 |310677 | 
München 21 4795 31 1934 52 6729 
Passau 17 900 6 315 23 1215 
Kaiserlautern 16 920 31 1 900 47 2 820 
Regensburg 9 482 6 305 15 787 
Bayreuth 4 252 25 839 29 1091 
Nürnberg 14 2057 19 1 296 33 3 353 
Würzburg 12 1 066 26 I 163 38 2 229 
Augsburg 16 703 34 I 483 50 2 186 
Bayern | 109 | ıı 175 | 178 9 235 287 | 20 410 | 
Dresden 113 8136| 282 | 11280 395 19 416 |geschätzt 
Plauen 60 3729| 203 6 114 263 9 843 
Chemnitz 126 7367| 303 | 14424 429 21 791 
Leipzig 32 5 192 23 1 498 55 6 690 
Zittau 33 | 1759| 100 | 2879 133 4 638 Br. 
Sachsen | 364 | 26 183 | grr | 36 195 | 1275 62 378 


Die deutschen Handwerkerorganisationen. 607 


Zusammen 


> Zwangs- bet 
Name der A Freie Innungen 
Handwerks- en | + 2 | Zahl der Zahl der 
k r it- | it- | Mit- 
Ammer [Anzahl] aiede [Anzahl] ziioder Innungen! zlieder 
Stuttgart 2 188 22 995 24 1 183 
Ulm 6 509 | 26 800 32 | 1309 
Heilbronn 7 516 | 6 187 13 703 
Reutlingen — — II 289 II 289 
Württemberg | 15 | 1213| 65| 2271| 80 | 3484| 
Karlsruhe 6 451 10 | 494 16 | ous 
Mannheim I 56 I3 639 I4 695 
Freiburg 1 756 II 404 22 1 160 
Konstanz ET = 4 77 4 77 
Baden | 18| 1263| 38 | 1614| 56 2877 
Darmstadt 16 | 1195, 40 | 1697 56 | 2892 
Schwerin 6 237| 503 9 326 509 9 563 
Weimar 21 540! 75 I 550 96 2 090 
Oldenburg 6 485 56 3 300 62 3785 
Braunschweig 74 8000| 65 4 000 139 12 000 
Meiningen 14 724 | 41 788 55 1512 
Gera 42 1931 48 1 680 | 90 3611 
Gotha 2 72 60 1949 62 2 021 
Dessau 37 I 500 96 2 600 133 4 100 
Arnstadt 9 346, 35 675 44 1021 
Greiz 9 573 II 319 20 892 
Stadthagen I 9 9 396 IO 405 
Detmold 18 927 30 773 48 1 700 |geschätzt 
Lübeck 15 715 5 257 20 972 
Bremen 9 747 24 1024 33 1771 
Hamburg 17 6433 9 889 26 7 322 
StraBburg — — 37 1 800 37 1 800 | 
| 296 | 24434| 1144 | 33023| 1440 | 57457 
Preußen 2153 | 134 275 | 5659 | 176 402 7812 |310677 S 
Bayern 109 | 11175| 178 9 235 287 20 410 
Sachsen 364 | 26183| ont | 36195 1275 61 378 
Württemberg 15 1213 65 2271 80 3 484 
Baden 18 1 263 38 1614 56 2 877 
Die übrigen 296 | 24434 | 1144 | 33023] 1440 | 574571 — 
Summa | 2955 | 198 543 | 7995 | 258 740| 10950 |457 283 | 


Die höchste Entwickelung in Preußen weisen die Kammern zu Oppeln 
mit 77, Berlin mit 74, Frankfurt a. O. mit 65, Königsberg mit 62, 
Stralsund und Posen mit je 61 und Breslau mit 60 Innungsmitgliedern 
auf 100 Handwerker auf. Es ist also im Osten und Nordosten die 
Innungsentwickelung in Preußen die höchste. Die geringste Innungs- 
entwickelung weisen Sigmaringen mit 0,0, Aachen mit 9, Wiesbaden 
mit 14, Koblenz mit 17, Kassel mit 18 und Köln und Münster mit 
je 25 Innungsmitgliedern pro 100 Handwerker auf. Die geringste 
Innungsentwickelung findet sich also im Rheinland, in Westfalen, 
Hessen-Nassau und Sigmaringen. 

In Bayern kommen nur 11 Innungsmeister auf 100 Handwerker. 
Die höchste Innungsentwickelung von allen deutschen Bundesstaaten 


608 Thilo Hampke, 


Tabelle IX. 


é Von 100 selb- 
z Sitz der | Selbständige | Zahl der |ständigen Hand. 
š Bundesstaat Handwerks- Handwerks- | Innungs- | werksmeistern 
3 kammer meister mitglieder |sind in Innungen 
organisiert 
1 PreuBen Kónigsberg 18596 | 11605 62 
2 e Insterburg 15 300 6 560 43 
3 H Danzig 21205 | 12834 57 
4 : Berlin 5$5722| 41621 | 74 
5 E Frankfurt a./O. 25 233 16 530 65 
6 »" ‚Stettin 30 000 15 800 | 52 
7 5 ‚Stralsund 5 000 3059 | 61 
8 d Posen 19400 11995 61 
9 e |Bromberg 6 500 2 500 38 
10 » | Breslau 35 000 21 000 60 
11 8 (Liegnitz 30 000 17 000 | 57 
12 D Oppeln 24555 18963 | 77 
13 »" Magdeburg 34 341 IO 176 29 
14 j Halle a./S. 21550 | 11618 54 
15 i | Erfurt 14990 | 5384 | 37 
16 i Altona 18031 | 8687 47 
17 e ‚Flensburg 11 806 | 5 245 44 
18 » |Hannover 16 000 | 7 000 44 
19 x Hildesheim 12496 | 6933 55 
20 ve Harburg 20035 | 7 787 38 
21 T Osnabrück 12 375 7273 58 
22 3 Münster 16 248 4 O9I 25 
23 3 Bielefeld II 432 | 4 369 38 
24 së Arnsberg 10 600 4 621 43 
25 ; Dortmund 20 000 8 100 45 
26 " Cassel 20 131 3 683 18 
27 » Wiesbaden 27 000 3750 14 
28 is Coblenz 21 000 3 500 17 
29 > (Düsseldorf 44 000 16 901 38 
30 " ‚Cöln 19 500 4927 25 
3 e Aachen 18 500 1765 9 
32 5 Saarbrücken 18777 | 5 400 28 
33 jt Sigmaringen 4 000 — — 
679323 | 310677 | 46 
34 Bayern München 40 092 | 6729 16 
35 a Passau ca. 10000 1215 12 
36 5 Kaiserslautern » 30000 2 820 9 
37 Regensburg 14 608 787 5 
38 2 Bayreuth » 26500 | 1091 4 
3 Le Nürnberg » 27500 3 353 12 
40 » Würzburg » 30000 2 229 7 
41 e Augsburg " 7 000 2 186 | 31 
185 700 20 410 | II 
42 Sachsen Dresden — | 19416 = 
43 7 Plauen 16 398 | 9843 60 
44 5 Chemnitz 32 000 21 791 68 
45 » Leipzig 10 241 | 6 690 65 
46 i Zittau 6 800 4 638 | 68 
62378 | 


eem 


Die deutschen Handwerkerorganisationen. 


609 


Von 100 selb- 


E | Sitz der Selbständige | Zahl der \ständigen Hand- 
7 Bundesstaat Handwerks- Handwerks- | Innungs- | werksmeistern 
z kammer meister mitglieder |sind in Innungen 
| organisiert 

47 [Württemberg Stuttgart 18 000 1 183 6 

48 e [Ulm 10 107 1309 13 

49 * | Heilbronn 7 848 703 9 

50 5; [Reutlingen 289 
3 484 

51 [Baden ‚Mannheim — 695 

92] „ ‚Karlsruhe 15 400 945 6 

531 Freiburg 18 105 I 160 6 

54] „ Konstanz 11517 77 0,6 
2877 

55 [Hessen ‚Darmstadt 40 000 2892 7 

56 [Beide Mecklenburg Schwerin 12 930 9 563 74 

57 |Sachsen- Weimar [Weimar 8 395 2 090 25 

58 [Oldenburg Oldenburg 8 500 3 785 44 

59 [Braunschweig |Braunschweig 18 000 12 000 66 

60 |Sachsen-Meiningen Meiningen 6 113 I 512 24 

61 |Sachsen-Altenburg und 7052 3611 5I 

Reuß j. L. Gera 

62 |Sachsen-Coburg-Gotha (Gotha 7 226 2021 28 

63 [Anhalt Dessau 6 500 4 100 63 

64 [Beide Schwarzburg | Arnstadt 4512 I 021 22 

65 [Reuß à. L. ‚Greiz 1893 892 47 

66 |Schaumburg-Lippe Stadthagen 1400 405 | 29 

67 |Lippe Detmold 3 408 1700 50 

68 [Lübeck Lübeck — 972 

69 |Bremen Bremen 6 000 1 771 29 

70|Hamburg Hamburg — 7322 

71 |Elsaß-Lothringen StraBburg — I 800 


hat unstreitig Sachsen, die beiden Mecklenburg, Anhalt und Braun- 
schweig, sehr niedrige Innungsentwickelung weisen Hessen, Baden, 
Württemberg und Bayern auf. Staaten, in denen, wie wir sehen 
werden, die Gewerbevereine noch die Haupttrüger der Handwerkerorga- 
nisation sind. 

Wie sich die Verhältnisse in der Innungsentwickelung seit dem 
Inkrafttreten des Handwerkerorganisationsgesetzes gestaltet haben, zeigt 
folgende vergleichende Statistik über die Verhültnisse im Jahre 1896 
und 1902 (s. Tabelle X S. 610). 

Während in Deutschland die Anzahl der Innungen nur um 
69 zugenommen hat, ist die Zahl der Mitglieder von 331364 auf 
451 283, also um 125 919 oder um 38 Proz. gestiegen. Die Anzahl 
der Innungsmitglieder hat sich in Bayern um 84 Proz., in Württem- 
berg um 211 Proz., in Baden um 206 Proz., in Hessen um 146 Proz., 
in Oldenburg um 197 Proz., in Braunschweig um 166 Proz., in 
Sachsen-Altenburg um 190 Proz. in Lippe-Detmold um 930 Proz., 
und in Elsaß-Lothringen um 426 Proz. gehoben. Gefallen ist die 


Dritte Folge Bd. XXV (LXXX). 39 


610 Thilo Hampke, 


Tabelle X. Vergleichende Uebersicht über den Stand 
der Innungen in Deutschland 1896 und 1902. 


1896 | 1902 
Lal LS SECH s8 àsSEsASSES 
Bundesstaat 3% = E: © S "7$ Ke Bi: Ri EE KE Bemerkungen 
“3 |=:% [35 |2% |le8e:l8.%38 
25,3% |35| 3» 3335213533 
SEERLEBLERELBHTE TT i- 
1 | Bayern 226 11.069, 287| 20410 + 27 | + 84 
2 | Königr. Sachsen | 1283| 53 865| 1 275| 62378) — 1 | + 16 
3 | Württemberg 29| 1121| Bo 3484 +176 | +211 
4 | Baden 30 940 56| 2877| + 87 | +206 
5 | Hessen Sal 301271 56, 2892| + 66 | +146 : = 
6 | Mecklenb.-Schwerin 434| 8102| 509  9563| + o | + 4 gr x em 
7 ii Strelitz 74| 1121| | | : 
8 | GroBhzgt. S.-Weimar 89| 1867 96 2090 + 8 | + 12 
9 | Oldenburg 33| 1275 62 3785 + 88 | +197 
10 | Braunschweig 138| 4533! 139 12000, + 1 | +166 
11 | Sachsen-Meiningen 65| 1086 55! 1512] — 15 | + 39 g e 
12 » Altenburg 58| 1246| 90| 3611| + 55 | +190 Se BEA 
13 Kob.-Gotha 98| 2560 62| 2021| — 37 | — 21 1 
14 | Anhalt 130| 3240| 133| 4100| + 2 | + 27 |(zus. mit Rudolstadt 
15 | Schwarzb.-Sondersh. 23| 361 44| 1021| — 8 | + 30 irae: 
16 e Rudolstadt) 27| 426| Arnstadt). 
17 | Waldeck nl un er one 
18 | Reuß à. L. 25| 2222 20| 892| — 20 | — 59 |(Greiz). 
19 F LR | 23| 197 | s. Sachsen-Altenburg. 
20 | Schaumburg-Lippe 6 311 10 405| + 67 | + 30 |(Stadthagen). 
21 | Lippe-Detmold 9 165 48| 1700) +433 | +930 
22 | Lübeck 24 742 20 972| — 16 | + 31 
23 | Bremen 31) EN 33| 1771 + 6 | +35 
24 | Hamburg | 29) 5208 264 7322| — 10 | + At 
25 | Elsaß-Lothringen | 13 342 37| 1800| +200 | +426 
Die deutschen Bundes- | 
staaten ohne Preußen, 2941|106 408 3138146606 + 7 | + 38 lohne Waldeck. 
26 | Preußen 1896 7 940/224 956| 7 812 310677| — 2 | + 38 |mit Waldeck. 
Deutsches Reich über-| a: | | | ` 
haupt 10 881,331 364110 950,457 283| + ı | + 38 


Zahl der Innungsmitglieder nur in Coburg-Gotha um — 21 Proz., in 
Reuß ältere Linie um — 59 Proz. In den Bundesstaaten außer Preußen 
hat sich die Innungsmeisterzahl um 38 Proz. und in Preußen selbst 
ebenfalls um 38 Proz. gehoben. Wir sehen daher also, daß die 
Innungsentwickelung einen großen Impuls durch das Handwerks- 
organisationsgesetz erhalten hat. 

Nach den Berechnungen von Paul Voigt waren nach der Zählung 
vom Jahre 1895 circa 1300000 Handwerker in Deutschland vor- 
handen. Die Zahl wird voraussichtlich ungefähr die gleiche ge- 
blieben sein, denn trotz der Bevölkerungszunahme wird sich die 
Zahl der selbständigen Handwerker voraussichtlich nicht vermehrt 
haben. Nimmt man also für 1902 ebenfalls noch 1 300000 selbständige 
Handwerker in Deutschland an, so umfassen die 457 283 in Innungen 
organisierten Handwerker 35,2 aller Handwerker. 


Die deutschen Handwerkerorganisationen. 611 


Ich hatte für 1896 die Zahl der in Innungen organisierten Hand- 
werker auf 25 Proz. berechnet. Es hat sich also seit dem Hand- 
werkerorganisationsgesetz, d. h. im wesentlichen infolge der Zwangs- 
innungen die Zahl der in Innungen organisierten Handwerker von 
25 Proz. auf 35,2 Proz. gehoben. Rechnet man die an anderer Stelle 
berechneten in Gewerbevereinen organisierten Handwerker, die nicht 
Innungsmitglieder sind, in Höhe von 89100 Handwerkern hinzu, so 
haben wir in Deutschland 546 383 überhaupt in Innungen und Ge- 
werbevereinen organisierte Handwerker, die also 42 Proz. aller 
Handwerker Deutschlands ausmachen. 

Diese Zahlen lernt man erst richtig würdigen, wenn man in Be- 
tracht zieht, daß im Jahre 1895 nach den Berechnungen von Paul 
Voigt von den 1300000 Handwerkern wenigstens zwei Fünftel auf 
dem platten Lande wohnten. Diese Landhandwerker werden, wenn 
man nicht sehr große Bezirke bilden will, sehr schwer durch die 
Innungsorganisation zu erfassen sein. Ferner muß man bedenken, 
daß nach der im Jahre 1895 vorgenommenen Enquete sich ergab, 
daß nur 44,5 Proz. aller Handwerker Personal beschäftigten. Die 
Verhältnisse werden auch heute noch ungefähr so liegen. 

Die Alleinmeister haben aber nur ein sehr geringes Interesse 
im allgemeinen an den Innungen und werden sich daher immer 
schwer der Innungsorganisation anschließen. 

Um die Möglichkeit der Innungsorganisation überblicken zu 
können, hatte das Reich im Jahre 1895 eine Erhebung über die Ver- 
hältnisse im Handwerk veranstaltet und vom Kaiserlichen Statistischen 
Amt bearbeiten lassen. Ueber die Ergebnisse dieser Enquete führt 
Paul Voigt in seiner Arbeit: „Die Hauptergebnisse der neuesten 
deutschen Handwerkerstatistik“ folgendes aus 1): 

„Es ist ohne weiteres klar, daß die Dezentralisierung des Hand- 
werks, die im Laufe dieses Jahrhunderts eingetreten ist, das Problem 
einer umfassenden Organisation des Handwerks zu einem äußerst 
schwierigen gemacht hat. In früheren Jahrhunderten wohnten die 
Handwerker dicht geschlossen in den Städten beisammen; zumal das 
mit Gehilfen arbeitende Handwerk war fast ausschließlich in den 
Städten konzentriert, und hier ließ sich eine Zunftorganisation leicht 
durchführen. Wo auf dem Lande in größerem Umfange das Klein- 
gewerbe vorhanden war, handelte es sich um hausindustrielle Produkte, 
für die besondere Organisationsformen geschaffen waren. Wenn 
auf dem Lande jetzt nur Alleinmeister vorhanden wären, die außer- 
halb der Innung bleiben könnten, so wäre eine Lösung der Organi- 
sationsfrage ohne große Schwierigkeiten möglich. Obwohl nun aber 
seit 1858 eine Verringerung der Durchschnittsgröße seiner Betriebe 
eingetreten ist, so hat das Landhandwerk doch noch in beträchtlichem 
Umfange Gesellen und Lehrlinge, deren Einziehung in die Organi- 


1) Dr. Paul Voigt, Die Hauptergebnisse der neuesten deutschen Handwerker« 
statistik von 1895 in Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirt« 
schaft. Leipzig 1897, Jahrg. XXI, S. 1319 fg. 

39* 


612 Thilo Hampke, 


sation grundsätzlich erstrebt werden muß. Andererseits darf der 
Innungsbezirk nicht allzu groß sein, wenn ein reges Innungsleben 
möglich sein loll. 

Um Material für die Beurteilung der Möglichkeit der Innungs- 
bildung zu erhalten, hat die „Erhebung“ eine umfangreiche Unter- 
suchung darüber angestellt, wie viele Handwerker sich in Innungen 
organisieren lassen, wenn als Innungsbezirk der einzelne Zählbezirk, 
der Kreis (oder der entsprechende politische Bezirk in den außer- 
preußischen Staaten) oder der Regierungsbezirk angenommen und 
zur Bildung einer Innung 5, 10, 15, 20, 30, 50 oder 100 Mitglieder 
als erforderlich erachtet werden; die Berechnung wurde zunächst 
unter der Voraussetzung durchgeführt, daß nur die Meister mit 
Personal zum Beitritt zu den Innungen verpflichtet sein sollten. 
Später wurde auch untersucht, wie die Innungsbildung ausfallen 
werde, wenn alle Meister, ohne Rücksicht darauf, ob sie Personal 
beschäftigten oder nicht, beitrittspflichtig sein würden; als Typus für 
die Innung wurden in beiden Fällen die reine Berufs- oder Fach- 
innung angesehen. 

Als die geeignetsten Innungsbezirke können unzweifelhaft die 
Zählbezirke gelten. Da 98 Handwerke und Spezialitäten und 156 Zähl- 
bezirke vorhanden waren, so lag überhaupt die Möglichkeit einer 
Innungsbildung 98 mal 156 = 15283 mal vor. Selbst wenn man 
5 Meister mit Personal in jedem Zählbezirk als ausreichend ansalı, 
konnten aber nur 1391 Innungen in 62 Handwerken oder Speziali- 
täten wirklich gebildet werden; für die 36 Handwerke oder Speziali- 
täten war die Möglichkeit einer Innungsbildung selbst in diesem 
allergünstigsten Falle gänzlich ausgeschlossen. Die gesamten Innungen 
würden 81,6 Proz. aller personalbeschäftigten Meister (aber nur 
36,3 aller Meister überhaupt) umfassen, die 81,2 Proz. aller Gesellen 
und 81 Proz. aller Lehrlinge beschäftigten. Bei einer Mindest- 
mitgliederzahl von 10 Meistern mit Personal sinkt die Zahl der 
wirklich möglichen Innungen schon auf 751, wobei 55 Handwerke 
oder Spezialitäten gänzlich ausgeschlossen bleiben. Von diesen 
Innungen wurden erfaßt: 66,2 Proz. der Meister mit Personal, 
29,5 Proz, der Meister überhaupt, 65,1 Proz. der Gesellen und 
65,1 Proz. der Lehrlinge. Bezieht man alle Meister überhaupt in 
die Innung ein, so wären bei einer Mindestmitgliederzahl von 
10 Meistern — und das wäre doch in diesem Falle die tiefste Grenze, 
zu der man überhaupt herabsteigen könnte — 81,4 Proz der Meister, 
76,3 der Gesellen und 75,8 Proz. der Lehrlinge in 1452 Innungen. 
die sich auf 52 Handwerke verteilen, zu organisieren; für 46 Ge 
me wäre in keinem einzigen der 156 Zählbezirke eine Innung zu 
ilden. 

Bei einer Mindestmitgliederzahl von 20 Meistern mit Personal, 
einer im Grunde doch auch noch recht geringen Zahl, die eine große 
Leistungsfähigkeit der Innung wahrhaftig nicht garantiert, lassen sich 
gar nur 295 Innungen bilden; sie umfassen: 43,6 Proz. der Meister 
mit Personal, 19,4 Proz. der Meister überhaupt, 41,7 Proz. der Ge 
sellen und 40,8 Proz. der Lehrlinge. Hierbei würden 70 Handwerke 


Die deutschen Handwerkerorganisationen. 613 


und Spezialitäten ohne jede Organisation bleiben. Genügen 20 Meister 

überhaupt zur Bildung einer Innung, so erhalten wir 742 Innungen 

in 43 Gewerben, so daß 55 Gewerbe noch gänzlich unorganisiert 
eiben. 

Einigermaßen vollständig läßt sich die lokale reine Fachorgani- 
sation nur bei den größten Handwerken, den Bäckern, Schlächtern, 
Schuhmachern, Tischlern, Schneidern und Schmieden durchführen, 
die aber auch hier, je höher man die Mindestmitgliederzahl setzt, 
immer unvollständiger wird und namentlich in den ländlichen Be- 
zirken immer seltener möglich ist. 

Nimmt man den Kreis als Innungsbezirk, so waren organisations- 
fähig bei einer Mindestmitgliederzahl von 10 Meistern mit Personal: 
33,9 Proz. aller Meister, 87,1 Proz. aller Gesellen, 85,9 Proz. aller 
Lehrlinge; bei einer Mindestmitgliederzahl von 10 Meistern über- 
haupt: 93,9 Proz. aller Meister, 92,3 Proz. aller Gesellen und 91,1 Proz. 
aller Lehrlinge. 

Dehnt man endlich den Innungsbezirk sogar auf den Regierungs- 
bezirk aus, so ließen sich, wenn alle Meister überhaupt beitritts- 
pflichtig wären, bei einer Mindestmitgliederzahl von 10 Meistern 
begreitlicherweise fast alle Handwerker organisieren, nämlich im Regie- 
rungsbezirk Danzig 98,6 Proz., in Aachen 94,4 Proz.; verlangt man 
aber 100 Mitglieder für die Regierungsbezirksinnung, so wären in 
Aachen 93,8 Proz., in Danzig 87,0 Proz. aller Meister in Innungen 
zu vereinigen. Beschränkt man jedoch die Beitrittspflicht auf die 
Meister mit Personal, so ließen sich von ihnen zwar bei einer Mit- 
gliederzahl von mindestens 10 in Danzig 97 Proz., in Aachen 98 Proz. 
erfassen, bei denen 96 Proz. resp. 97 Proz. aller Hilfspersonen be- 
schäftigt sind; von den Meistern überhaupt wären mit ihnen nur 
41,9 Proz. in Danzig, 40,1 Proz. in Aachen erfaßt. 

Diese Daten sind in verschiedener Hinsicht lehrreich. Sie zeigen 
zunächst, daß die rein lokale Organisation des Handwerks in Fach- 
innungen sehr enge Grenzen hat und sich stets nur für einen Teil 
der Gewerbe und auch hier nur sehr lückenhaft durchführen lassen 
wird. Will man trotzdem möglichst das ganze Handwerk organi- 
sieren, so muß man entweder zum System der gemischten Innungen 
oder zur Bildung größerer Innungsbezirke greifen. Das erste System 
ist in Oesterreich angewandt worden, wo wir augenscheinlich eine noch 
größere Dezentralisierung des Handwerks als in Deutschland finden. 

Von den österreichischen Genossenschaften waren nämlich Ende 
1894 


Zahl mit mit mit 
Meistern | Gesellen |Lehrlingen 


1 [Reine Fachgenossenschaften 552 53 959 72 086 22 374 
2 [Genossenschaften mit verwandten Gewerben! 440 61784 | 137 134 32 669 
3 ]Genossenschaften für mehrere nicht ver- 

wandte Gewerbe 2493 196 219 | 193 529 70621 
4 [Kollektivgenoss enschaften | 1832 242 37 115 599 48 741 


Im ganzen Genossenschaften 5317 | 554 335 | 518348 | 174405 


614 ` (Thilo Hampke, 


Es waren also nur 10,4 Proz. aller Genossenschaften reine Fach- 
genossenschaften: die Kollektivgenossenschaften und die Genossen- 
schaften für mehrere nicht verwandte Gewerbe zusammen machten 
dagegen 81,3 Proz. der Gesamtzahl aus. 

Unzweifelhaft hat das System der gemischten Innungen große 
Nachteile, die besonders auf dem Gebiete der Lehrlingsausbildung 
und der Lehrlingsprüfung liegen. Das zweite System, das die reine 
Fachbildung überall nach Móglichkeit durchzuführen sucht und zu 
dem Zweck ja noch der órtlichen Besetzung der verschiedenen Hand- 
werke bald kleinere bald gróftere Innungsbezirke bildet, wie es in 
der Konsequenz des Berlepschen Organisationsentwurfs lag, verdient 
ihm gegenüber durchaus den Vorzug, es ist auch unzweifelhaft, daß 
sich mit ihm eine ziemlich vollstindige Erfassung des ganzen Hand- 
werks erreichen lassen würde. 

Aus den obigen Angaben sieht man aber weiterhin, daß die 
Mitgliederzahlen der auf Meister mit Personal beschrünkten Zwangs- 
innungen selbst in der vollstindigsten Durchführung des Systems 
nicht allzusehr über den heutigen Mitgliederstand der freiwilligen 
Innungen hinausgehen würden. In Innungen und Gewerbevereinen 
sind jetzt, wie oben erwühnt, etwa 35 Proz.!) aller deutschen Hand- 
werker organisiert; mehr als etwa 40—42 Proz. aller Meister kónnten 
bei Beschrünkung des Beitritts auf die Meister mit Personal auf keinen 
Fall von den Zwangsinnungen erfafit werden, da ja überhaupt nur 
44,5 Proz. aller Meister Gehilfen beschäftigen. Ein freiwilliger Beitritt 
sehr zahlreicher Alleinmeister ist für die Zukunft ebensowenig zu 
erwarten, als er jetzt eingetreten ist. Eintrittszwang für sie läßt 
sich nur mit dem Wunsche rechtfertigen, eine möglichst stattliche 
Mitgliederzahl zu erzielen; innere Rechtfertigungsgründe lassen sich 
für diese Maßregeln nicht beibringen. Denn alle Aufgaben, die den 
Innungen in den ss 81a und 81b der Gewerbeordnung gestellt sind, 
haben nur für die Meister mit Personal irgendwelche "Bedeutung. 

Selbst wenn aber ein beträchtlicher Teil der Alleinmeister — 
nehmen wir an, 20 Proz. etwa von ihnen — freiwillig beitreten sollte, 
so dürfte doch kaum mehr als die Hälfte aller Meister überhaupt zu 
organisieren sein. Mit der jetzt geplanten freiwilligen Zwangsinnung. 
die auf einen ziemlich eng begrenzten Bezirk beschränkt sei und 
zwangsweise nur die Meister mit Personal umfassen soll, wird eine 
nennenswerte Vermehrung der Innungsmeister überhaupt nicht ein- 
treten. Man bedenke doch nur: bei Zählbezirksinnungen mit mindestens 
5 Personen beschäftigenden Meistern lassen sich im Erhebungsgebiet 
nur 36,3 Proz., bei solchen mit mindestens 10 Mitgliedern gar nur 
29,5 Proz. aller Meister organisieren. 30—35 Proz. sind bereits orga- 
nisiert; selbst wenn eine größere Zahl Alleinmeister den Innungen 
beitreten, werden sie, da man doch an der Mindestzahl von 10 Mit- 
gliedern wird festhalten müssen, wenn die Innungen nicht gar zu 
erbärmlich ausfallen sollen, kaum mehr als 40 Proz. der gesamten 


1) Voigt hat später zugegeben, daß diese Schätzung zu hoch war, daß vielmehr 
nur cirea 30 Proz. in Innungen und Gewerbevereine organisiert waren. 


Die deutschen Handwerkerorganisationen. 615 


deutschen Meisterschaft umfassen. Jedenfalls sieht man, daß die 
freiwilligen Innungen, was die Gewinnung von Mitgliedern anlangt, 
soviel geleistet haben, als sie unter den obwaltenden schwierigen 
Verhältnissen überhaupt leisten konnten.“ 

Diese Darlegungen Paul Voigts setzen das, was bisher mit der 
Innungsorganisation erreicht worden ist, erst in das richtige Licht. 
Jedenfalls können wir mit dem Erfolg des Handwerkerorganisations- 
gesetzes bezüglich der Handwerkerorganisation sehr zufrieden sein, 
denn zur Zeit sind 35,2 Proz. aller Handwerker in Innungen, und 
42 Proz. in Innungen und Gewerbevereinen organisiert. Die vielfachen 
Behauptungen, die man immer noch hören kann und die dahin gehen, 
daß die Zwangsinnungen keinen Zweck gehabt hätten, daß sich viel- 
mehr die meisten Innungen als zwecklos wieder auflösten, sind un- 
wahr und durch obige statistische Untersuchungen vollständig widerlegt. 

Im einzelnen ist über die Innungsentwickelung noch folgendes 
bemerkenswert. Es kommen, wie schon hervorgehoben, im ganzen 
Deutschen Reich auf eine Zwangsinnung 67 Mitglieder, auf eine freie 
Innung dagegen 32 Mitglieder, im Durchschnitt überhaupt 42 In- 
nungsmitglieder. Für Preußen stellen sich die Zahlen wie 62:31:39. 

Die größte durchschnittliche Mitgliederzahl haben die Zwangs- 
innungen in Hamburg mit 378 Mitglieder und dann folgen München 
mit 228 und Leipzig mit 162 Mitgliedern; erst dann kommt Berlin 
mit 148 Mitgliedern. Die kleinste Zwangsinnung findet sich im 
Bezirk der Handwerkskammer Stadthagen mit 9 Mitgliedern, dann 
folgt Insterburg mit durchschnittlich 20. Hamburg hat auch durch- 
schnittlich die höchste Mitgliederzahl bei den freien Innungen mit 
99 Mitgliedern, dann folgt die Handwerkskammer Köln mit 81 Mit- 
gliedern. Im einzelnen sind die Verhältnisse aus der nachfolgenden 
Tabelle zu ersehen (s. Tabelle XI S. 616 u. 617). 

Das Verhältnis der Zwangsinnungen zu den freien Innungen 
ist schließlich in der folgenden Tabelle XII zur Darstellung gebracht- 
(s. Tabelle XII S. 618). 

Es machen im Deutschen Reich die Zwangsinnungen 37 Proz. 
aller Innungen aus, in Preußen dagegen 38 Proz., in Bayern 61 Proz., 
in Sachsen 39 Proz., in Württemberg 23 Proz., in Baden 44 Proz., 
und in den noch übrig bleibenden Bundesstaaten zusammengenommen 
27 Proz. Ueberall da, wo bei der Reorganisation die Innungsbildung 
überhaupt eine sehr geringe war, zeigen sich jetzt die Zwangsinnungen 
verhältnismäßig am stärksten. Es haben sich daher vielfach bisher 
noch nicht organisierte Handwerker zu Zwangsinnungen zusammen- 
geschlossen. 

In Preußen haben sich in der Handwerkskammer Coblenz die 
meisten Zwangsinnungen gebildet, nämlich die Zwangsinnungen bilden 
359 Proz. der freien Innungen, in Arnsberg 300 Proz., in Aachen 
318 Proz. In der Handwerkskammer Posen und Bromberg machen 
dagegen die Zwangsinnungen nur je 4 Proz. der freien Innungen 
aus. Die Neigung, Zwangsinnungen zu bilden, ist also bisher eine 
ungemein verschiedene gewesen. 


616 Thilo Hampke, 


Tabelle XI. Uebersicht über die vorhandenen Zwangs- 
und freienInnungen und deren Mitglieder. 


Zwangs- SE Sa l ie I = S 5 Zusammen m 
Name der innungen S BS e ee en BS Innungen E ER 
Handwerks- | — N së —— A QÓÓ — 789 
kammer An | Mit LSZ An | Mit |Z 9E |, ul Mit |233 
| zahl | glieder | 2 B | zahl | glieder Ex 27 | glieder |? 7 
Königsberg ml 3915| 35 | 320| 7690| 24 ES 1160$| 27 
Insterburg 28 560 20 184| 6000| 32 212| 6560| 3 
Danzig 76| 3266 43 338| 9568| 27 414| 12834| 31 
Berlin 151| 22369| 148 527| 19252, 36 678| 41621! 61 
Frankfurt a/O. 201 9374 46 272 7156| 27 473 | 16530 | 35 
Stettin 39 2 300 59 492 | 13500! 27 531| 15800 | 29 
Stralsund 14 599 43 105 2 460 23 119 3059| 25 
Posen 17 662 39 427 | 11333 26 444| 1195| 27 
Bromberg 9| 500 55 227 2 000 9 236| 2500| 10 
Breslau II4| 7000 61 407, 14000| 34 521| 21000| 40 
Liegnitz 88| 5314 60 387 | 11686 30 475| 17000| 36 
Oppeln 73| 4443| 61 | 356, 14520| 40 | 429| 18963) 44 
Magdeburg 72| 5908 82 116| 4268| 37 188 | 10176 | 56 
Halle a/S. 45 2847 63 442 8771 19 487| 11618 | 24 
Erfurt 19 1270 66 112| 4114| 36 131 5384 | 41 
Altona 80| 4684 58 127| 4003| 31 207 | 8687 | 42 
Flensburg 49| 2696| 55 74| 2549| 34 123| 5245| 43 
Hannover 45 | 3700 82 61| 3300| 54 106 | 7000| 66 
Hildesheim 85 | 4438 52 84 2495| 28 169| 6933| 41 
Harburg 79| 3477| 44 149 4310| 29 228| 7787| 3 
Osnabrück 70| 3975 57 76! 3298| 43 146| 7273| 49 
Münster 33| 1495| 45 40 2596| 65 73| 4091| 56 
Bielefeld 59| 3133 53 28| 1236| 44 87| 4369| 50 
Arnsberg 81 3 193 39 27 1428 53 108| 4621| 4 
Dortmund 105 | 5500 52 A0 2600 53 154| 8100| 53 
Cassel 60| 2400 40 SI 1283| 25 III 3683| 3 
Wiesbaden 23| 2500| 109 ı8| 1250| 69 41 3750| 9! 
Koblenz 61| 3072 50 17 428| 25 78| 3500; 45 
Düsseldorf 175 | 11562 66 So 5339| 59 264| 16901| 64 
Cóln 24| 2748| 115 27| 2179| BI sı) 4927| % 
Aachen I9| 1375 72 6| 390| 65 25| 1765| 7! 
Saarbrücken 48| 4000 88 24| 1400| 58 72| 5400| 75 
Sigmaringen — — — — — — — | Bee 
Preußen | 2153 134 275 62 |5659 |176402| 31 7812 |310677| 39 
München 21| 4795| 228 31 1934| 62 52| 6729 135 
Passau 17 900| 53 6 ZTS ‚82 23 1215 53 
Kaiserslautern 16 920 56 31 1900| 61 47 2820 
Regensburg 9 482 53 6 305 St 15 787 Ai 
Bayreuth 4 252| 83 25 839| 33 29| rog: 3 
Nürnberg 14 | 2057| 147 19| 1296| 68 33| 3353, 1 
Würzburg 12| 1066| 88 26| 1163| 45 38| 2229| 58 
Augsburg 16 703 | 44 34| 1483| 44 5o| 2186| A 
Bayern | 109 | musl 102 | 178| 9235| 52 | 287| 20410 mn 
Dresden 113 8 136 72 282| 11280| 40 | 395| 19416] 49 
Plauen 60| 3729 62 203| 6114| 30 263| 9843 38 
Chemnitz 126| 7367| 58 | 303| 14424| 47 429| 21791| 5! 
Leipzig 32| 5192| ı62 23| 1498| 6 55| 6690| 121 
Zittau 33| 1759| 53 | 100| 2879| 29 133, 4638| 35 
Sachsen ` | 364j 26183| 72 | gır| 36195| 40 |1275| 62378) 49 


Die deutschen Handwerkerorganisationen. 617 


9 747| 83 24| 1024| 43 33| 1771| 54 
7| 6433, 378 9 889, 99 26| 7322| 281 
= = = 37| 1800| 48 37! 1800| 49 


Hamburg 
Straßburg 


A E ZS t6 

Zwangs- & ES e ^88 Zus 5.5 

Name der innungen ER F freie Innungen 3 HE ee : S E 

Handwerks- S EI EE dë Bé 

kammer An- | Mit- |Y Eka An- | Mit |Z sz Zan]| Mit SE 

"t | zah | glieder | 87 | zahl | glieder | Z 57 | ah glieder | F a 
Stuttgart 2 188 | 94 22 995! 45 24| 1183| 49 
Ulm 6 509 85 26 800| 31 32 1 309 41 
Heilbronn 7 516| 73 6 187 | 3! 13 703| 54 
Reutlingen — — — II 289 26 II 289 26 
Württemberg | 15| 1213] 8ı 65 2271 35 | 80| 3484 ! 43 
Karlsruhe | 6| Asil 75 | «ol 494 49 16 945 57 
Mannheim I 56| 56 13 639 49 I4 695 49 
Freiburg II 756 69 II 404 37 22 I 160 53 
Konstanz — — — 4 77 19 4 77 19 
Baden | 18 | 1 263 70 38 1614 40 56 2877 51 
Darmstadt 16 I I95 75 40 1697 45 56 2 892 52 
Schwerin 6 237 39 503 9 326 18 509 9 563 19 
Weimar 21 540 26 75 1550| 21 96 2090| 22 
Oldenburg 6 485 81 56| 3300 59 62| 3785 61 
Braunschweig 74 8000! 108 65 4000| 61 139 | 12000 86 
Meiningen 14 724 5I 41 788 19 55 1512 25 
Gera 42 1931 46 48 1680| 35 90, 3611 40 
Gotha 2 72 36 60 1949 32 62 2021 32 
Dessau 37| 1500 41 96| 2600| 28 133| 4100| 31 
Arnstadt 9 346 38 35 675 I9 44 I 021 23 
Greiz 9 573 61 II 319 29 20 892 44 
Stadthagen I 9 9 9 396 44 10 405 41 
Detmold 18 927 5I 30 773| 26 48 1700| 35 
Lübeck I5 715 47 5 257 SI 20 972 48 

Bremen 


296| 24434] 82 |1144| 33023] 29 |1440| 57457] 39 


Preußen 2153 | 134 275 62 |5659|176402| 31 7812 | 310 677 39 
Bayern 109| III75| 102 178 | 9235 52 287 | 20410 71 
Sachsen 364 | 26183 72 911! 36195 40 1275, 62378 49 
Württemberg 15 1213| 81 65| 2271 35 80, 3484| 43 
Baden 18 1263, 70 38! 1614| 40 56! 2877| 51 
Uebrigen 296| 24434 82 |1144| 33023] 29 |1440 57457| 39 


Deutsches Reich | 2955 | 198 543 | 67 |7995 |258 7490| 32 |10o950 457283, 42 


Es ist auch möglich, über Innungskrankenkassen und Innungs- 
schiedsgerichte statistische Angaben zu machen !). 

Einige Bedeutung haben die Innungskrankenkassen erlangt, 
deren es im Deutschen Reich 1885 nur 224 mit 24879 Mitgliedern 
gab, die seitdem aber ununterbrochen und erheblich zugenommen 
haben. 1890 existierten 452 Innungskrankenkassen mit 62898 Mit- 
gliedern und 1895 545 Innungskrankenkassen mit 102 857 Mitgliedern. 
Bis 1899 hat sich die Zahl der Kassen auf 612 und die Anzahl der 


1) Paul Voigt, Die deutschen Innungen. Schmollers Jahrbuch, Bd. 22, 1898, 
S. 349. 


618 
Tabelle XII. 


und freien Innungen. 


Thilo Hampke, 


Uebersicht über die vorhandenen Zwangs- | 
davon 


Verhältnis der 


Bi dávon |Verhültnis der, E 
Name der E E S SE Zwangs — | Name der b S g| al. al, ge 
DEER zu [ona Diii bi te. 
3 <25553!35 = 2558 ien 
mer Je EE = E g Z| Innungen kammer SE È = S | Innungen ' 
> 2 | NE Proz. ` ; zi NA _ Proz. 
Königsberg 431 | 320| III 35 Dresden 395 | 282 Zu 40 
Insterburg 212 | 184| 28 15 Plauen 263 | 203| 60 29 
Danzig a1 338. 76! n | Chownité 429 | 303| 126, A 
erlin 7 527| 151] 2 eipzig 55| 231 32 139 
pan a.0.| 473 | 272| 201| 74 | Zittau | 133| 100 33 3 
tettin 531 | 492 39! am \ 
Stralsund 119 | 105 14, 13 Hüchsen | 1275 gui] 364 39 
Posen 444 427, 17| 4 | Stuttgart 24| 22 2| 9 
Bromberg 236 | 227, 9j 4 Ulm 32| 26| 6 23 
Breslau 521 407) 114] 28 Heilbronn 13 6| 7 118 
Liegnitz 475 387 88, 23 Reutlingen II| 11] — — 
Oppeln 429 , 356 73 20 E E Gi | 
Magdeburg 188 116; 72 62 W ürttemberg | 8o | 65| IN 23 
Halle a. S. 487 442. 45| 10 Karlsruhe 16| 10] 6 60 
Erfurt 131 | 112) 19] 17 Mannheim 14| 13| ı 8 
Altona 207 | 127! 80 63 Freiburg 22| n| 11 100 
Flensburg 123 74: 49 66 Konstanz 4 4| — — 
Hannover 10661 45 73 
Hildesheim 169 | 84  85| IOI Baden | 56 38| 18 H | 
Harburg 228 149 79 53 Darmstadt 56, 40| 16] 40 
Osnabrück 146 | 76, 70| 91 | Schwerin 509! 503), 6 I 
Münster 73 | 40| 33| 82 Weimar 96| 75| 21| 28 
Bielefeld 87 | 28 59 211 Oldenburg 62| 56| 6 n 
EEE 108 | 27 81 300 areas 139| 65! 74 114 
ortmun 154 | 49 105| 214 einingen $5| 41; 14 34 
Cassel III 51, 60! 117 Gera 90| 48, 42 H 
Wiesbaden 41 i 18| 23| 128 Gotha 62| 60, 2 3 
Coblenz 78 17| 61 359 Dessau 133| 96! 37 3 
NR e si I 7 Ce 12 7 SIN 44| 35 9 FA 
n 7 4 rei? 20| II 9 
Aachen 25 6, r9 318 Stadthagen 10 9 I 9 
Saarbrücken 72 24 48 200 ||| Detmold 48| 30| 18 6o 
Sigmaringen = tm — = Lübeck 20 5| 15! 300 
ol || Bremen 2 37 
78 | 33 9 
. 7812 50659 2153| 3» Hamburg 26 9 17 188 
un 52 A 2I Ra | Straßburg 371-371: = ffe 
assau 23 I7 253 j H 
Kaiserslautern] 47 | 31 16! 52 | TAASI 296 a 
Regensburg 15 6 oa 150 ||| Preußen 7812|5659]2153| 38 
Bayreuth 29 | 25 4 16 || Bayern 287 | 178| 109 61 
Nürnberg 33 19 14 73 Sachsen 1275| 911| 364 3 
Würzburg 38 26 12 46 ||| Württemberg 80| 65| 15 23 
Augsburg 50 | 34 16 47 ||| Baden 56| 38| 18 A 
Zal 3 l 
Dayern m | 287 | 178 8 109, 61 Uebrigen 1440 1144 ion com 
| [10950 |7995|2955) — 


versicherten Mitglieder auf 144131 gehoben. Die Kassen haben also 
nach der Reorganisation einen erheblichen Aufschwung gewonnen. 
Eine wie untergeordnete Rolle sie jedoch im übrigen "trotz dieser 


Die deutschen Handwerkerorganisationen. 619 


Zunahme im ganzen System unserer Krankenkassen noch spielen, 
zeigen folgende Zahlen: 1899 zählten die 4623 Ortskrankenkassen 
4030949 Versicherte, die 7344 Betriebskrankenkassen 2394 615 Ver- 
sicherte und die 1447 eingeschriebenen Hilfskassen 814 938 Versicherte. 

Die Innungskrankenkassen haben also stetig Fortschritte gemacht, 
wenngleich sie von allen Kassenarten immer noch die unbedeutend- 
sten sind. 

Bei den Innungsschiedsgerichten ist nicht das Gleiche der Fall. 

Nach einer Statistik im „Gewerbegericht“ waren 1895 in Preußen 
474 Innungsschiedsgerichte vorhanden, von denen 165 allein auf den 
Regierungsbezirk Marienwerder, 54 auf Schleswig, 48 auf Magdeburg, 
46 auf Oppeln, 35 auf Frankfurt a. O., 24 auf Breslau und 20 auf 
Potsdam entfielen, während sie sich in den westlichen Provinzen 
nur ganz vereinzelt fanden. Im Königreich Sachsen bestanden 73, 
in Braunschweig 30, in Bayern 15, in Reuß ält. Linie 7, in Anhalt 5, 
in Sachsen-Weimar 4, in Hessen 3, in Sachsen-Altenburg und Lippe 
je 1, in den übrigen Staaten keines; die Zahlen für Baden sind unbe- 
kannt, und wahrscheinlich ist keines vorhanden. 

Nach der Zeitschrift „Das Gewerbegericht“ waren am 31. Dezember 
1900 nur noch 394 Innungsschiegsgerichte vorhanden neben 316 im 
Deutschen Reich bestehenden Gewerbegerichten. Eine Vergleichung 
gibt folgendes Bild. 


Zahl der Gewerbegerichte und Innungsschieds- 
gerichte. 


Uebersicht nach Staaten und Landesteilen. 


: —— 
èg |» 4 © | SS SAS 
E & 223 452 
Staat oder Landesteil | 83 1333 | Staat oder Landesteil | 52 1323 
SE JEZE FIE 
[42] to |S m [45] u |S X to 
— = = = — — — 1 — 
Provinz Ostpreußen 6 1 dg Uebertrag 281 353 
» Westpreußen 10 4 Mecklenburg-Schwerin I 2 
» Brandenburg 21 36 Sachsen-Weimar 5 4 
» Pommern 5 54 || Mecklenburg-Strelitz = = 
3 Posen d 7 x Oldenburg I FE 
» Schlesien 32 85 ||| Braunschweig 6 22 
5 Sachsen 2 13 51 Sachsen-Meiningen 2 — 
S Schleswig-Holstein 12 15 | » -Altenburg = I 
» Hannover 18 16 | »  -Coburg-Gotha 4 I 
: Westfalen 17 13 [| Anhalt 2 3 
" Hessen-Nassau 13 4 || Schwarzburg-Rudolstadt I I 
Rheinprovinz 33 22 | sp -Sondershausen — = 
Hohenzollernsche Lande | => = Waldeck = = 
Preußen | 187 | 3or | ReuB à. E ; " 
— ce [RPM M » "WO LP I 
Bayern rechts des Rheins 18 8 | C xa Lippe t. € 
», links des Rheins 10 |: 4 H Spt 
+ | Lippe I = 
Bayern | 28 | 12 || Lübeck 1 = 
5 \ 57 || Bremen 2 P 
Wette is 35 | Hamburg : = 
| ol E d — 
Baden i5 ` || Reiehsland Elsaß Lothringen S 
Hessen EN 5 |] Deutsches Reich | 316 394 


620 Thilo Hampke, 


Es ist anzunehmen, daß die Innungsschiedsgerichte auf Grund 
der veränderten und verbesserten Gesetzgebung nach der Novelle 
vom 26. Juli 1896 besser arbeiten werden, als dies früher der Fall 
war. Voraussichtlich werden aber die Innungsschiedsgerichte neben 
den Gewerbegerichten, namentlich auf Grund der neuen Gewerbe- 
gerichtsnovelle, mehr und mehr in ihrer Bedeutung zurückgehen. 
Jedenfalls haben die neuen Bestimmungen des Handwerksorgani- 
sationsgesetzes nicht vermocht, den Rückgang in der Zahl der In- 
nungsschiedsgerichte aufzuhalten. Es ist wohl nur ein einziges In- 
nungsschiedsgericht von größerer Bedeutung vorhanden und das ist 
das des Innungsausschusses zu Berlin. 


Innungsausschüsse. 


Um der Organisation des Handwerks in Innungen noch einen 
weiteren Halt zu geben und die einzelnen Innungen eines kleinen 
Bezirkes in ständiger Fühlung zu erhalten, hat .die Reichsgewerbe- 
ordnung in den së 101 und 102 die Errichtung von Innungsaus- 
schüssen vorgesehen. Die gesetzlichen Bestimmungen darüber lauten: 


$ 101. Für alle oder mehrere derselben Aufsichtsbehörde unterstehende In- 
nungen kann ein gemeinsamer IunungsausschuB gebildet werden. Diesem liegt 
die Vertretung der gemeinsamen Interessen der beteiligten Innungen ob. Außer- 
dem können ihm Rechte und Pflichten der beteiligten Innungen übertragen werden. 

Die Errichtung des Innungsausschusses erfolgt durch ein Statut, welches 
von den Innungsversammlungen der beteiligten Innungen zu beschließen ist. Das 
Statut bedarf der Genehmigung der höheren Verwaltungsbehörde In dem die 
Genehmigung versagenden Bescheide sind die Gründe anzugeben. Gegen die 
Versagung kann binnen 4 Wochen Beschwerde an die Landeszentralbehörde ein- 
gelegt werden. Abänderungen des Statuts unterliegen den gleichen Vorschriften. 

Durch die Landeszentralbehörde kann dem Innungsausschusse die Fähigkeit 
beigelegt werden, unter seinem Namen Rechte zu erwerben, Verbindlichkeiten ein- 
zugehen, vor Gericht zu klagen und verklagt zu werden. In solchem Falle haftet 
den Gläubigern für alle Verbindlichkeiten des Innungsausschusses nur das Ver- 
mögen desselben. 

Auf die Beaufsichtigung der Innungsausschüsse finden die Bestimmungen des 
$ 96 entsprechende Anwendung. 

$ 102. Die Schließung eines Innungsausschusses kann erfolgen, wenn der 
Ausschuß seinen statutarischen Verpflichtungen nicht nachkommt oder wenn er 
Beschlüsse faßt, welche über seine statutarischen Rechte hinausgehen. 

Die Schließung wird durch die höhere Verwaltungsbehörde ausgesprochen. 

Gegen die die Schließung aussprechende Verfügung findet der Rekurs statt. 
Wegen des Verfahrens und der Behörden gelten die entsprechenden Bestimmungen 
des $ 97 Abs. 3. 

Die Eröffnung des Konkursverfahrens über das Vermögen eines Innungs- 
ausschusses hat die Schließung kraft Gesetzes zu Folge. 

Vom Zeitpunkte der Auflösung oder Schließung eines Innungsausschusses 
ab bleiben die beteiligten Innungen noch für diejenigen Zahlungen verhaftet, zu 
welchen sie statutarisch für den Fall eigenen Ausscheidens aus dem Innungsaus- 
schusse verpflichtet sind. 

Auf die Verwendung des Vermógens finden die Vorschriften des $ 98 Abs. 1 
und des $ 98a entsprechende Anwendung. 

Soweit das Statut nicht ein anderes bestimmt, ist der Austritt aus dem In- 
nungsausschusse jeder Innung mit Ablauf des Rechnungsjahres gestattet, sofern 
die Anzeige des Austritts mindestens 3 Monate vorher erfolgt. 


Die einzige wesentliche Aenderung in den gesetzlichen Bestim- 
mungen, die durch das Handwerkerorganisationsgesetz von 1597 


Die deutschen Handwerkerorganisationen. 621 


geschaffen ist, ist die, daß jetzt den Innungsausschüssen auf ihren 
Antrag durch die Landeszentralbehörde die Fähigkeit beigelegt werden 
kann, unter ihren Namen Rechte zu erwerben, Verbindlichkeiten ein- 
zugehen, vor Gericht zu klagen und verklagt zu werden. 

Die Innungsausschüsse hatten nach dem Innungsgesetz vom 
18. Juli 1881 keine nennenswerte Entwickelung genommen, voraus- 
sichtlich werden auch die neuen gesetzlichen Bestimmungen vom 
26. Juli 1897 keinen Aufschwung in der Bedeutung der Innungsaus- 
schüsse herbeiführen. Bisher hat, soweit bekannt, nur der Innungs- 
ausschuß zu Berlin sich die Rechtsfähigkeit durch Erlaß des Ministers 
für Handel und Gewerbe vom 17. Oktober 1900 verleihen lassen. 

Es ist im Gegenteil anzunehmen, daß die Innungsausschüsse durch 
die Handwerkskammern an Bedeutung verlieren werden, namentlich 
wird der Innungsausschuß in allen den Orten, in denen sich der 
Sitz einer Handwerkskammer befindet, nur eine sehr beschränkte 
Wirksamkeit auszuüben vermögen, wenn er nicht ganz überflüssig 
geworden ist. In Preußen bestanden am 1. Dezember 1857 über- 
haupt 63 Innungsausschüsse und 3 Jahre später am 1. Dezember 
1890 war ihre Zahl auf 133 gestiegen !). Bis zum 1. Dezember 1892 
hatte eine weitere Vermehrung auf 156 Innungsausschüsse statt- 
gefunden, 1894 finden wir sogar 210, die jedoch bis zum 1. Dezember 
1896 auf 139 zusammengeschmolzen waren und den Stand von 1890 
beinahe erreicht hatten. 1893 betrug die Gesamtzahl der außer- 
preußischen Innungsausschüsse nur 23. Die meisten Innungsaus- 
schüsse (7) hat das Königreich Sachsen; Bayern, Anhalt und Braun- 
schweig hatten je 3, Coburg-Gotha hatte 2, 5 andere Staaten hatten 
je einen, während in 15 Staaten überhaupt keine Innungsausschüsse 
vorhanden war. 

Es gab also nach dem Stande vom 1. Dezember 1896 in Deutsch- 
land 162 Innungsausschüsse, d. h. 139 in Preußen und 23 in den 
anderen Bundesstaaten. 

Im Jahre 1902 hat nun das preußische Handelsministerium durch 
die Handwerkskammern eine Enquete auch über die Innungsaus- 
schüsse aufnehmen lassen, deren Resultate mir durch den Geheimen 
Reg.-Rat Dr. von Seefeld gütigst zur Verfügung gestellt worden sind 
und deren Ergebnis die folgende Tabelle No. XIII S. 622 darstellt. 

Es sind demnach jetzt 173 Innungsausschüsse vorhanden, d.h. 
die Zahl hat sich in ganz Deutschland nach der Reorganisation um 
11 gehoben, und zwar ist diese Steigerung in der Hauptsache auf 
Sachsen zurückzuführen. In Preußen hat die Zahl der Innungs- 
ausschüsse sich nur um einen vermehrt. In allen anderen Bundes- 
staaten gibt es 33 gegen 23 im Jahre 1896. Sachsen hat von diesen 
Staaten die meisten Innungsausschüsse, nämlich 13, Anhalt und 
Braunschweig haben je 3, Bayern, Coburg-Gotha und Elsaß-Loth- 


1) Thilo Hampke, Die Innungsentwickelung in Preußen, eine statistische Studie. 
Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft, Jahrgang 18, 
1894, S. 209 f. 


622 Thilo Hampke, 


Tabelle XIII. Uebersicht über die Zahl der Innungsausschüsse, 
welche in den Bezirken der einzelnen Handwerkskammern 


bestehen. 
& 
5 Ss i 
zZ Sitz der ISS Sitz der 
| Bundesstaat | Handwerks- |Y 5 un Bundesstaat | Handwerks- end 
= kammer ž |$ E 8 kammer 
m 9 
= 
iN 
| 
TI einschl. Königr. Bayern |Mittelfranken 
Königr. Preußen 140 Waldeck u. 
1 E T Königsberg 3| Pyrmont 
2 5 Insterburg 1! 
3 en » Danzig 3 
4 S > Berlin 5 
Bh. ss »  |Frankfurta/O.| 12| 
6 , „ [Stettin 4 
7 T » Stralsund 1| 
8| „ » Posen —| 
9 » E Bromberg H 
1 e n Breslau o 
11 ek » |Liegnitz ET e 5 Heilbronn 
12 o M Oppeln H vi » Reutlingen 
13 2 » Magdeburg 4| Großh. Baden 
14 T 5 Halle 6 » = Mannheim 
ti 5 5 Erfurt 3 2 »  |Karlsruhe 
16] 4 5 Altona 17| D » Freiburg 
17 $5 ep Flensburg H n » Konstanz 
18 5 ZS Hannover I Hessen Darmstadt 
19] ,, » Hildesheim 5| Mecklb.-Schwerin R 
20 " »  |Harburg 4 " Strelitz | Schwerin 
21 P "i [Osnabrück 6 Sachsen-Weimar |Weimar 
22 ; »  |Münster 4 | [Oldenburg Oldenburg 
23 ; ër Bielefeld | »2 | [Braunschweig Braunschweig 
94| „ „ ‚Arnsberg 3 ||  |Sachs.-Meiningen Meiningen 
25 Se S Dortmund 10 | [Sachs.-Altenburg Gera 
26| „ » Cassel 2 u. ReuB j. L. | 
27 is »  |Wiesbaden 2 Sachs.-Cob.-Gotha Gotha 
28 i »  [Coblenz I Anhalt Dessau 
29 n 5 Düsseldorf I2 Schw.-Sondersh. 
3) . ` ` ais 2 , Rudolstadt Arnstadt 
31 3 + Aachen — Reuß ält. Linie Greiz 
32 is ji Saarbrücken 2 | Schaumb.-Lippe |Stadthagen 
33 T „(Sigmaringen | Lippe Detmold 
Königr. Bayern | 2 | Lübeck ‚Lübeck 
1 A »  lOberbayem -— | Bremen Bremen 
2 e 2 Niederbayern | — | [Hamburg Hamburg 
3 - 3 Pfalz — | 
4 FR » Oberpfalz — | 
5 T » Oberfranken -— | 


ringen haben je 2 und Baden, Sachsen-Weimar, Oldenburg, Sachsen- 
Meiningen, Sachsen-Altenburg, Reuß ält. Linie, Bremen und Hamburg 
haben je einen. In 12 Bundesstaaten ist also auch zur Zeit kein 
Innungsausschuß vorhanden. 


Die deutschen Handwerkerorganisationen. 623 


Der Erfolg der Tätigkeit der Innungsausschüsse wird immer davon 
abhängen, ob in den einzelnen Innungen Männer sind, die den Nutzen 
eines Innungsausschusses begreifen und seiner Tätigkeit die richtigen 
Grenzen stecken, sowie Fähigkeiten und Zeit genug haben, um als 
Mitglieder des Ausschusses die schwierige Aufgabe zum Wohle der 
Gesamtheit lösen zu können. Da solche Männer im Handwerk ver- 
hältnismäßig wenig vorhanden sind, und wenn sie vorhanden sind, 
dann ihre Tätigkeit in der Hauptsache der Handwerkskammer widmen 
werden, so ist ein Aufschwung in der Tätigkeit der Innungsausschüsse 
nicht zu erwarten. 


Innungsverbände. 


Um der Handwerkerorganisation eine weitere Stärkung zu geben, 
hat die Reichsgewerbeordnung auch noch in $ 104 die Errichtung von 
Innungsverbänden vorgesehen. Diese Verbände umfassen in der 
Regel das Deutsche Reich. 

Nach $ 104 können Innungen, welche nicht derselben Aufsichts- 
behörde unterstehen, in Verbänden zusammentreten. Der Beitritt 
zum Verband ist durch die Innungsversammlung zu beschließen. 

Die Innungsverbände haben die Aufgabe, zur Wahrnehmung der 
Interessen der in ihnen vertretenen Gewerbe, die Innungen, Innungs- 
ausschüsse und Handwerkskammern in der Verfolgung ihrer gesetz- 
lichen Aufgaben, sowie die Behörden durch Vorschläge und An- 
regungen zu unterstützen, sie sind befugt, den Arbeitsnachweis zu 
regeln, sowie Fachschulen zu errichten und zu unterstützen. 

Für den Innungsverband ist ein Statut zu errichten. Die vorteil- 
hafte Seite dieser Vereinigung zeigt sich darin, daß auf diese Weise 
für gewerbliche Zwecke reichlichere Mittel zur Verfügung stehen 
und eine größere Operationsbasis geschaffen wird. Manche Einrich- 
tungen, die die Innung nur unvollkommen schaffen kann, vermag der 
Innungsverband in geeigneter Weise herzustellen, wie Kranken- und 
Sterbekassen. 

Die früheren Aufgaben der Innungsverbände, welche in der 
gemeinsamen Verfolgung ihrer Aufgaben sowie in der Pflege der 
gemeinsamen gewerblichen Interessen der beteiligten Innungen be- 
standen haben, konnten durch die Novelle von 1897 nur insoweit 
aufrecht erhalten werden, als sie fortan nicht den Handwerkskammern 
und den Innungen zugewiesen sind. Es gilt dies namentlich von 
den Vorschriften zur Regelung des Lehrlingswesens, zu deren Erlaß 
nunmehr die Handwerkskammern bezw. die Gewerbekammern für 
den gesamten Handwerkerstand des Bezirks sowie außerdem die 
Innungen berufen sind. Es müssen die Innungsverbände, soweit es 
sich um Aufgaben handelt, die den Handwerkskammern überwiesen 
werden, auf eine anregende, beratende und begutachtende Tätigkeit 
sich beschränken. Die Aufgaben der Innungsverbände sind daher 
durch die Handwerkskammer erheblich beschränkt. Trotzdem haben 
die Innungsverbände weiter eine erfreuliche Entwickelung genommen. 
Die Verbände leisten auch heute noch Erhebliches für ihre Gewerbe 


624 Thilo Hampke, 


durch Unterhaltung von Fachschulen, von Kranken- und Sterbekassen, 
durch Regelung des Legitimationswesens und Herausgabe von Fach- 
zeitungen etc. Namentlich werden auch von manchen Verbänden mit 
den Verbandstagen Ausstellungen von Lehrlingsarbeiten verbunden, 
um so eine Hebung der Lehrlingsausbildung zu befördern, oder es 
finden Ausstellungen von neuen Maschinen und Techniken in den 
betreffenden Gewerben statt, um so Fortschritten unter den Hand- 
werkern Eingang zu verschaffen und auf diese Weise eine Hebung 
des ganzen Gewerbes herbeizuführen. 

Leider ist auch über die Innungsverbände wenig statistisches 
Material vorhanden. 

Am 1. Dezember 1890 bestanden 27 Innungsverbünde!) Von 
diesen 19 mit dem Sitz in Berlin, ferner 2 mit dem Sitz in der 
Provinz Schleswig-Holstein und dann je eine mit dem Sitz in den 
Regierungsbezirken Marienwerder, Potsdam, Oppeln, Magdeburg, 
Stade und Düsseldorf. 

Am Ende des Jahres 1890 haben folgende Innungsverbände den 
Sitz in Berlin gehabt. (S. Tabelle XIV.) 


Tabelle XIV. Uebersicht über die Innungsverbände 
mit dem Sitz in Berlin 1890. 


Zahl der beteiligten 
Lfd 


No. Innungsverbünde Innungs- | Einzel- | Verbands- 

Innungen mitglieder| mitglieder| genossen 
1 [Schneider 276 12 082 — 12 082 
2 [Schuhmacher 302 20 115 = 20 115 
3|Sattler, Riemer, Täschner 59 1439 = I 439 
4 |Schmiede 141 5144 7 5151 
5 [Glaser 64 1494 20 1514 
6 [Schornsteinfeger 55 1773 = 1773 
7 |Barbiere, Friseure u. Perückenmacher 291 8 655 = 8655 
Perückenmacher 762 
8 [Friseure 32 600 162 138 
9 [Tischler 124 6 138 — 6 002 
10 |Bücker 886 21 865 137 22 002 
11|Dach-, Schiefer-, Blei- u. Ziegeldecker 14 244 14 258 
12 [Kürschner 14 219 17 236 
13 |Stellmacher und Wagner 61 2 327 17 2 344 
14 [Buchbinder 35 1 288 70 1 358 
15 |Baugewerksmeister 244 5 226 — 5 226 
16 [Drechsler 24 967 9 976 
17 |Korbmacher 24 711 31 742 
18 |Schlosser 92 3 132 4 3136 
19 |Steinsetzer 20 289 — 289 


Summa 2758 93 708 488 94 196 


; 1) Dr. Thilo Hampke, Die Innungsentwickelung in Preußen. Eine statistische 
Studie, in Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft, 
XVIII. Jahrgang, Leipzig 1894, S. 210 f. 


Die deutschen Handwerkerorganisationen. 625 
Tabelle XV. Uebersicht über die bestehenden 
Innungsverbände. 
Zahl der Beteiligten) 
x am 1. Januar 1902| 3 5 
n e eege En N "x 
e Name des Innungsverbandes nn S SE E $ [ E i Bemerkungen 
= 8 5 = Dal H = 
g S [SH CO m 
&| 54 [sil 
ilZentralverband deutscher Bäcker- 
innungen „Germania“ Deutsches Reich 988 42031| 68| 42099 Sitz Berlin 
9|Bund deutscher Barbier-, Friseur- 
und Perückenmacherinnungen ge 8i 355 15972) — 15 972 S T 
3[Innungeverband deutscher Bauge- | 
werksmeister r " 310 9421| 17 9 438 En á 
4|Bund deutsch. Buchbinderinnungen z a 35 2000| 92 2092 im FA 
5[Verband deutscher Bürstenmacher- : 
innungen » » 5 191| 11 202 i à 
6|Bund deutsch. Dachdeckerinnungen n 5 14: 651) 53 704 » » 
7lZentralverband deutsch. Drechsler- | war trotz mebr- 
innungen und Fachgenossen 3; P 13 ? ? ? m Anfragen 
8[Verband v. Glaserinnungen Deutsch- | nicht zu erhalten 
lands à Ge 79 2931| 194 3 125 Sitz Berlin 
9|Bund deutsch. Korbmacherinnungen! Pr D 23| 77 42 818 j FR 
10[Bund deutscher Perückenmacher- 
und Friseurinnungen 5 ; 14 470| 405 75 e n 
11]Bund deutscher Sattler-, Riemer- 
und Tüschnerinnungen n + 65 2 402 5 2 407 T ï 
1?|Bund deutscher Schmiedeinnungen " » 170/eca. 10 OOO|  10|ca. IO 010 » e 
13|Bund deutscher Schneiderinnungen " er 297 19648 24| 19672 "^ hi 
14|Zentralverband d. Schornsteinfeger- 
meister des Deutschen Reiches a A 62 2723 — 2723 d M 
15|Bund dtsch. Schuhmacherinnungen » a 144| 14.350 I I4 351 5 " 
16[Bund deutsch. Steinsetzerinnungen 2 5 20 425| — 425 » do 
17lBund deutscher Stellmacher- und | 
Wagnerinnungen : 5 32 1285| 16 I 301 Pr 71 
13[Bund deutscher Tapezierer und ver- | 
wandter Gewerbetreibender 5 D 46 4430 38 4 468 e js 
19|Bund deutscher Tischlerinnungen m e 110 9 500, — 9 500! 3 " 
20)Bund der Färber und verwandter | 
Gewerbe Deutschlands " e 6 161| 60 221 Sitz Weißenfels 
21[Verband deutscher Klempner- und 
Installateurinnungen o m 80 3900 82 3982| „ Leipzig 
22|Deutseher Malerbund 5 i 125 $ 256, 220 54761 „ d 
93|Verband dtsch. Sehlosserinnungen 35 » 109 4800 10 4810| ,, À 
»,Bund deutscher Büttcherinnungen + 9 9 165 3 168 , Magdeburg 
3;jInnungsverband der Besorger frem- in Cöln nicht 
der Rechtsangelegenheiten ag — { mebr zu — » Cóln a/Rh. 
ermitteln 
26|Deutscher Fleischerverband H » (1063| 35015| 223| 35238| „ Frankf. a/M. 
27[Verband deutscher Juweliere, Gold- 
und Silberschmiede - i; 28 964| 596 1560| , Berlin 
Summa 4202 189 467 2170| 191 637 
E Innungsverband d, Schneider beider k | 
Mecklenburg [Beide Mecklenb.| 17 390) — 390! , Rostock 


Dritte Folge Bd. XXV (LXXX). 


40 


626 


Thilo Hampke, 


Zahl der Beteiligten] 


: am 1. Januar 1902 3 S 
2 Bezirk des s iss 3:3 
i Name des Innungsverbandes NX erbandes d bi $i ke: Bemerkungen 
2 8| 52 imo * 

A| "7B [92 i 
29|Innungsverband der Maler- und! 

Lackiererinnungen beider Großh.| 

Mecklenburg u. der freien Stadt Beide Mecklenb. : 

Lübeck | und Lübeck 6 198| — 198|Sitz Rostock 
30|Verband Mecklenburgischer Müller- Beide Mecklenb. : 

innungen ‚u. d. benachbart.| 15 337 — 337 gs vd es 

Gebietsteile deut- sitzende angehört 
scher Staaten 
31/Verband Mecklenburgischer Schuh- à 
macherinnungen Beide Mecklenb.| 13 497| — 497 ‚Sitz Rostock 
32|Bückerinnungsverband an d. Unter- Die Kr. Geeste- £ 
weser |münde, Lehe u. 2| 42| 15 57| »» Geestemünde 
Bremervörde u. | 
id. Stadt Bremer- 
| haven 
33|Provinz Brandenburgischer Bezirks- | s 

verein i. dtsch. Fleischerverbande s. Spalte 2 95 2766| 2 2768| „ Nowaves 
34|Innungsverband für den Regierungs- 

bezirk Oppeln i 164 5476 1 5477| „ Oppeln 
35|Provinzialverband der Innungsaus-| am 98. Juli 

schüsse und Innungen f. Schles- 1902 uf lost! 

wig-Holstein s 46! AUNA nues — |, Altons 
36|Provinzial-Schmiede- und Schlosser- | 

verband | T 24 1450|) 8 1458 , Kiel 
37|Baugewerksinnungsverband  ,Bau- Gemeind. Geeste- | 

hütte an der Unterweser“ zu münde, Bremer- 

Bremerhaven haven und Lehe I 47| — 47| , Bremerhaven 
S8|Weberinnungsverband in Heyerode| s. Spalte 2 13 940| — 940| , Heyerode 
39|Ostfriesischer Innungsverband f. d. 3 

Regierungsbezirk Aurich E 48| 2221| — 2221| , Aurich 
40|Maler- u. Anstreichermstrinnungs- ^ 

verband im Rheinland u. Westf. H 19 1493| 20) 1513| „ Düsseldori 
41|Verband der Innungen u. selbstünd, 

Meister des Bäcker- und Kon- 

ditoreigewerbes im Bezirk der i 

Handwerksk. zu Saarbrücken » 7 550| 27 577| „ Neunkirchen 
49|Süchsischer Innungsverband yi 300| 179000| — 19 000| ,, Vorort Dresden 


Es sind also von den 42 Verbünden 27 solche, welche das ganze Deutsche Reich 
umfassen, und ein Verband, der süchsische Innungsverband, der auch wegen seiner Größe 
von Bedeutung ist, die übrigen Verbände sind nur lokale Organisationen ohne erhebliche 
Bedeutung. Die Zahl der Verbände, die das Deutsche Reich umfassen, ist die gleiche 
geblieben, denn für den im Jahre 1899 aufgelösten Kürschnerverband ist der Verband 
deutscher Juweliere, Gold- und Silberschmiede ins Leben getreten. Ueber den Innung* 
verband der Besorger fremder Rechtsangelegenheiten war nicht möglich, nähere Zahlen 
zu erhalten. Die 25 Verbünde, die das Deutsche Reich umfassen, und über welche 
Zahlenangaben zu erlangen waren, umfaßten 4202 Innungen mit 191 637 Mitgliedern. 
Diese Zahlen zeigen, daß die Verbände sehr wohl verstanden haben, ihre Es 
berechtigung zu behaupten. Interessant ist, daß der Baugewerksinnungsverband „Bauhütte 
an der Unterweser zu Bremerhaven angeblich immer noch besteht, obwohl ihm doch nur 
noch eine Innung angehört, also von einem Verbande keine Rede mehr sein kann. 


Die deutschen Handwerkerorganisationen. 627- 


Tabelle XVI. Uebersicht über die bestehenden 
Innungsverbände im Jahre 1890 und 1902. 


à 1890 | 1902 
z Zahl der beteiligten 
A Innungsverbände der 3 AS S | aa 5 jS S A a 
| 4|58|78)$5&]| a | 58 |" 8| 25 
Schneider 276 |ı2082 — |ı2082| 297 | 19648| 24 | 19672 
Schuhmacher 302 |20115| — |20115| 144 | 14350 I | 14351 
3|Sattler, Riemer und 
Täschner | 59| 1439 — 1439| 65 2 402 5 2 407 
Schmiede | 141 | 5144 7 5151] 170 | 10000 IO | 10010 
Glaser 64 | 1494| 20 | 1514] 79 | 2931| 194 | 3125 
Schornsteinfeger 55 | 1773| — 1773 62 | 2723, — 2723 
Barbiere, Friseure und | 
Perückenmacher 291 | 8655| — 8655| 355 | 15972. — 15 972 
Perückenmacher und 
Friseure | 32 600! 162 7621 14 | 470 405 875 
Tischler | 124 | 6138! — 6138] r10| 9500 — 9 500 
Bücker | 886 |21 865| 137 |22002| 988 | 42031, 68 | 42099 
Dach-, Schiefer-, Blei- 
und. Ziegeldecker | 14 244| 14 258 14 651| 53 704 
Kürschner ı 14 219| 17 236| ist im Jahre 1899 aufgelöst 
Stellmacher u. Wagner, 61 | 2327| 17 2344| 32 1285| 16 | 1301 
Buchbinder | 35 | 1288| 7o 1358 35 | 2000| 92 2 092 
Baugewerksmeister | 244 | 5226, — 5226| 310 | 9421 17 9 438 
j | Drechsler | 24 967 9 9761 — — — — 
Korbmacher | 24 71!| 31 742 23 76) 42 818 
Schlosser 92 | 3132! 4 3136| 109 4800 10 4810 
Steinsetzer | 20 289 — 289 20 ! 425 — | 425 
2758 |93 708| 488 | 94 196 | 2827 |139 385° 937 |140 322 


Diese vergleichenden Zahlen zeigen deutlich, wie erhebliche Fortschritte einzelne 
Verbünde in ihren Mitgliederzahlen gemacht haben. 

Allein diese 19 Verbände umfassen 2758 Innungen mit insgesamt 
94196 Mitgliedern, ein Zeichen, daß die Innungsverbände eine sehr 
gute Entwickelung damals bereits genommen hatten. 

Zur Zeit sind 40 Innungsverbünde vorhanden !). (S. Tabelle XV 
S. 625 u. 626.) 

Leider sind über die Größen der einzelnen Verbände nicht überall 
neuere Daten zu erlangen gewesen. Daß die Verbände aber einen 
großen Aufschwung genommen haben, geht aus folgender ver- 
gleichenden Uebersicht hervor. (S. Tabelle XVI S. 627.) 

, Es hat darnach der Bückerverband Germania, der 1890 nur 22 002 
Mitglieder zählte, jetzt über 42000 Mitglieder; er ist auch der größte 
Innungsverband. Der Fleischerverband hat ca. 35000 Mitglieder. 


1) Auch das Verzeichnis der Innungsverbünde verdanke ich der Güte des Geh. 
Reg.-Rats von Seefeld aus dem preußischen Handelsministerium. Die Zahlen sind von 
mir selbst auf Grund einer Umfrage gewonnen worden. Dieselben zeigen den Stand am 
1. Januar 1902. 


40* 


628 Thilo Hampke, 


Der Schneiderverband, der 1890 12082 Mitglieder zählte, hat über 19000 
Mitglieder. Der Barbier-, Friseur- und Perückenmacherverband zählte 
1890 ca. 8655 Mitglieder, zur Zeit ist die Zahl der Mitglieder auf 
15972 gestiegen. Der Sächsische Innungsverband soll ca. 19000 Mit- 
glieder umfassen. 

Jedenfalls haben sich die Innungsverbände in letzter Zeit erheb- 
lich gefestigt und bereits viel für den festen Zusammenschluß der 
einzelnen Gewerbszweige getan. 

Welche große Tätigkeit die Innungsverbände heute noch ent- 
wickeln, mögen folgende Daten über den Germaniaverband der Bäcker- 
innung zeigen. Der Verband, der 988 Innungen mit 42000 Mit- 
gliedern umfaßte, hat in den letzten 3 Jahren 19157 Germaniaarbeits- 
bücher, 15055 Lehrbriefe, 27172 Lehrverträge verausgabt. Außerdem 
sind 2280 Meisterbriefe, 736 Ehrendiplome, 217 Gesellendiplome, 
654 Lehrbücher und 903 Leitfäden versandt worden. 

Die Innungsverbände haben seit 1884 im Zentralausschuß der 
vereinigten Innungsverbände Deutschlands zu Berlin eine gemeinsame 
Oberleitung, die die Organisation des deutschen Handwerkerstandes 
auf der korporativen Grundlage der Innungen zu fördern sucht. Es 
haben die Innungsverbände durch ihre bisherige Tätigkeit bewiesen, 
daß sie sehr wohl neben den Handwerkskammern eine segensreiche 
Tätigkeit zum Wohle der einzelnen Gewerbe zu entwickeln vermögen. 


Gewerbevereine. 

Seitdem $ 103a des Handwerksorganisationsgesetzes bestimmt: 

„Die Zahl der Mitglieder der Handwerkskammer wird durch das 
Statut bestimmt. 

Für die Mitglieder sind Ersatzmänner zu wählen, welche für die- 
selben in Behinderungsfällen und im Falle des Ausscheidens für den 
Rest der Wahlperiode in der Reihenfolge der Wahl einzutreten haben. 

Die Mitglieder werden gewählt: 

1) von den Handwerkerinnungen, welche im Bezirke der Hand- 
werkskammer ihren Sitz haben, aus der Zahl der Innungsmitglieder ; 

2) von denjenigen Gewerbevereinen und sonstigen Vereinigungen, 
welche die Förderung der gewerblichen Interessen des Handwerks 
verfolgen, mindestens zur Hälfte ihrer Mitglieder aus Handwerkern 
bestehen und im Bezirk der Handwerkskammer ihren Sitz haben, 
aus der Zahl ihrer Mitglieder, soweit denselben nach den Bestim- 
mungen dieses Gesetzes die Wählbarkeit zusteht. Mitglieder, welche 
einer Innung angehören oder nicht Handwerker sind, dürfen an der 
Wahl nicht beteiligt werden. 

Die Verteilung der zu wählenden Mitglieder auf die Wahlkörper 
sowie das Wahlverfahren werden durch die von der Landeszentral- 
behörde zu erlassende Wahlordnung geregelt.“ 
haben die Gewerbevereine als Wahlkörper zu der Handwerkskammer 
eine erhöhte Bedeutung gewonnen. Es ist daher nötig, auch an 
dieser Stelle auf die Gewerbevereine einzugehen. 


Die deutschen Handwerkerorganisationen. 629 


Die Gewerbevereine sind freie gewerbliche Vereinigungen. Die 
Mehrheit ihrer Mitglieder wird gebildet aus Vertretern des Hand- 
werks wie des gewerblichen Mittelstandes überhaupt, außerdem zählen 
zu den Mitgliedern viele Fachmänner auf dem Gebiete des gewerb- 
Hchen Unterrichtswesens, also Lehrer, ferner Ingenieure, Baumeister 
und Leiter industrieller Betriebe als Freunde und Förderer des Hand- 
werks und Gewerbes!). 

Die Gewerbevereine bezwecken im allgemeinen 

1) Förderung der Gewerbe und Hebung des Handwerks; 

2) Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse; 

3) Belehrung der Mitglieder über die in Betracht kommende 
Gesetzgebung und die Fortschritte der Technik; 

4) Forderung des Arbeitsnachweises und schließlich Vertretung 
in der Handwerkskammer. 

Die Gewerbevereine suchen ihre Zwecke zu verfolgen durch 

1) Pflege der Beziehungen der Mitglieder und zu ähnlichen 
Vereinen; 

2) Förderung des gewerblichen Unterrichts; 

3) Bücher und Lesezimmer: 

4) Preisausschreiben und Preiserteilungen ; 

5) Erteilung von Auskünften, Gutachten und Ratschlügen an die 
Mitglieder ; 

6) Vorträge; 

7) Veranlassung und Förderung von Ausstellungen, insbesondere 
auch von Lehrlingsarbeiten ; 

8) Vorstandssitzungen und Vereinsversammlungen, in diesen Er- 
örterungen der das Gewerbe und Handwerk berührenden Fragen 
und Gedankenaustausch über dieselben; 

9) Ausflüge zum Besuche gewerblicher Anlagen u. s. w. 

Die Gewerbevereine haben sich namentlich in Süddeutschland, 
da sie sich der Fórderung der dortigen Regierungen zu erfreuen 
hatten, gut entwickelt und Großes zur Förderung des Gewerbes 
namentlich auf dem Gebiete des Unterrichtswesens geleistet. 

In Preußen stützt man sich seitens der Regierung stets mehr 
auf die Innungen und deshalb haben die Gewerbevereine nicht eine 
solche große Entwickelung genommen, eigentlich sind nur in Nassau 
und Hannover leistungsfähige gewerbevereinliche Verbände vor- 
handen, die sich noch aus der Zeit der Selbständigkeit dieser Länder 
erhalten haben. Es hat lange Zeit ein schroffer Gegensatz zwischen 
den Innungen und den Gewerbevereinen bestanden. Man hat seitens 
der Innungen den Gewerbevereinen zum Vorwurf gemacht, daß in 
ihnen neben dem Handwerker Männer aller Berufsstände und Rang- 
ordnung Mitglieder wären, und daher die Anschauung der Hand- 
werker nicht genügend zum Ausdruck kommen könnte. Die Mit- 
arbeit von Nichthandwerkern hat sicher vielfach ungemein befruchtend 


1) B. Berghausen, Gewerbevereine im Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 
Bd. IV, 2. Aufl., Jena 1900, S. 558 f. 


630 Thilo Hampke, 


auf die Tätigkeit und Leistungsfähigkeit der Gewerbevereine gewirkt. 
Die Gegensätze zwischen Innungen und Gewerbevereinen sind, seit- 
dem beide zu Wahlkörpern der Handwerkskammer gemacht worden 
sind, ungefähr ausgeglichen. Die Tatsache, daß auch die Gewerbe- 
vereine als Wahlkörper zur Handwerkskammer herangezogen sind, 
hat ungemein befruchtend auf die Entwickelung der Gewerbevereine 
namentlich in Süddeutschland gewirkt. 

Erst seit dem Jahre 1891 sind die Gewerbevereine zum Verband 
deutscher Gewerbevereine zusammengeschlossen, dessen Vorort bisher 
Cöln war. Neuerdings ist der Vorort dieses Verbandes, der auf 
gute Erfolge in der Organisation der Gewerbevereine zurückblicken 
kann, nach Darmstadt verlegt worden!) Während der Verband 
deutscher Gewerbevereine im Jahre 1892 304 Vereine mit 32 021 Mit- 
gliedern umfaßte, ist die Zahl der Mitglieder im. Jahre 1902 auf 
857 Vereine mit 97154 Mitgliedern gestiegen. Von diesen Mit- 
gliedern sind 64024 Handwerker d. h. 66 Proz. Es ist damit be- 
wiesen, daß der Kern der Gewerbevereine aus Handwerkern besteht. 

Die Verbandsstatistik zeigt folgendes Bild: 


Tabelle XVII. Verbandsstatistik?). 


z Bezeichnung der Nach Angabe der Vorstände | Von den Mitgliedern 1902 
€ Verbünde und vorhanden 1902 sind Handwerker 
s Vereine Vereine | Mitglieder Zahl Pros. 
A. Verbände 
1 | Baden 203 | 13 800 IO 134 74 
2 | Bayern 69 | 10 825 5 600 52 
3 | Württemberg 145 24 000 16 ooo 66 
4 | Pfalz 45 5 706 3 932 69 
5 | Hessen 109 10 147 6 908 68 
6 | Nassau 115 | 9 672 5 803 60 
7 | Thüringen 56 | 9 500 6 175 65 
8 | Hannover 18 2 264 1750 77 
9 | Mecklenburg 35 4 123 2762 67 
10 | Elsaß-Lothringen 53 4 200 3 700 88 
B. Vereine 
1 | Aachen I 447 148 33 
2 | Cóln I 400 250 63 
3 | Cassel I 440 135 30 
4 | Trier I 320 260 81 
5 | Querfurt I 85 47 53 
6 | Eupen I 52 25 48 
7 | Viersen I 34 30 88 
8 | Minden i. W. I 116 94 80 
9 | Erfurt I 1023 | 27I 26 
857 97 154 64 024 66 


1) Dr. Thilo Hampke, Der Verband deutscher Gewerbevereine, seine Entstehung, 
Organisation und bisherige Betriebsamkeit, in Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, 
Verwaltung und Volkswirtschaft. Leipzig 1893, XVII. Jahrgang, S. 1141 fg. 

2) Verhandlungen der XI. ordentlichen Hauptversammlung des Verbandes Deutscher 
Gewerbevereine zu Kaiserslautern am 1. und 2. Dezember 1902, S. 14. 


Die deutschen Handwerkerorganisationen. 631 


Von den Verbänden ist also bei weitem der größte der Württem- 
bergische mit 145 Vereinen und 24000 Mitgliedern. Wie ungemein 
stark die Entwickelung der Vereine in den letzten 10 Jahren ge- 
wesen ist, zeigt folgende vergleichende Statistik 


Tabelle XVIII. Gewerbevereinsverbände. 


Zahl der Vereine resp. Mitglieder | 


È | Zuwachs bis 1902 seit 1892 

z Bezeichnung der 1892 1902 

= Verbände d : Zahl der 

= : e Mit- e Mit- Zahl der * 

= Vereine glieder Vereine glieder | Vereine Proz. Mit- Proz. 
SEN rt ee EEN =". 
1 [Baden 65 5 581 203 | 13 800 138 |212| 8219 |147 


3 [Hessen 54 4901 109 10 147 55 102 5 246 | 107 
4 [Nassau 72 5 672 115 9672 43 | 60| 4000 | 71 
5 [Thüringen 40 6 500 56 9 500 16 40 | 3000 | Ap 
6 [Hannover 19 1 790 18 2 264 I 5 474 | 26 
7 [Mecklenburg 23 2518 35 4123 12 52| 1605 | 64 


2 [Pfalz 17 2 400 45 5 706 28 |165| 3306 | 138 
| 


Sa. 


Es haben die 7 Verbände an der Zahl der Vereine um 100 Proz. 
und an Zahl der Mitglieder um 88 Proz. zugenommen. Man wird 
die Zahl der Mitglieder der Gewerbevereine, über die genaue Zahlen 
nicht vorliegen, auf circa 180 000 schätzen müssen. Nach einer im 
Jahre 1898 in Preußen aufgenommenen Statistik sollten in Preußen 
43 976 in Gewerbevereinen inkorporierte Handwerkermitglieder vor- 
handen sein und zwar (s. Tabelle S. 632). 

Der Verband deutscher Gewerbevereine hat 82201 Mitglieder 
außerhalb Preußen, zählt man die 43 976 preußischen Mitglieder hinzu 
und zieht man weiter in Betracht, daß der Verband sächsischer 
Gewerbevereine, der dem deutschen Verbande noch nicht angehört, 
im Jahre 1898/99 142 Vereine mit über 30000 Mitgliedern umfaßte, 
so kommt man auf 156177 Mitglieder von Gewerbevereinen. Zieht 
man ferner in Betracht, daß bei dieser Zahl als Mitglieder der 
Gewerbevereine in Preußen nicht alle, sondern nur die Handwerker- 
mitglieder gezählt sind und daß weiter von einer Anzahl deutscher 
Bundesstaaten die Zahlen fehlen, so wird die Zahl der Gewerbevereins- 
mitglieder mit 180000 nicht zu hoch geschätzt sein. Die Gewerbe- 
vereine haben daher neuerdings eine sehr erhebliche Entwickelung 
genommen und sind als Organisationen zur Förderung des Hand- 
werks nicht zu unterschätzen. 

Da eine zuverlässige Statistik über die Gewerbevereinsentwicke- 
lung Deutschlands nicht vorhanden ist, so mußten die Zahlen ge- 
schätzt werden. Daß die von mir geschätzten Zahlen der Wahrheit 
ziemlich nahe kommen, läßt sich durch folgende Statistik erweisen. 

In seiner Enquête vom August 1892 hatte der Vorort des deutschen 
Handwerks- und Gewerbekammertages, die Handwerkskammer Han- 
nover, auch die Frage gestellt: 

„Zahl der gewerblichen Vereine und ihrer Mitglieder“ ? 


290 | 29362 | 581 | 55 212 | 291 100 | 25 850 | 88 


632 Thilo Hampke, 


Zahl der Handwerker 


Ungefähre Ichei 
Lfd. : i Zahl der welche in kreira welche in 
No. Regierungsbezirke Handwerker | Innungen in- ee Vereinen und 
überhaupt ee korporiertsind Innungen sind 
1 Königsberg 22 825 10 837 568 373 
2 Gumbinnen 15 412 5 032 545 282 
3 | Danzig 9 146 4 238 564 503 
4 Marienwerder 15 634 7 344 196 133 
5 | Potsdam 37 204 16 707 514 189 
6 | Frankfurt a. O. 30 737 12 871 412 145 
7 | Stettin 16 546 8 288 306 139 
8 | Köslin 14 356 5 483 514 190 
9 | Stralsund 5 341 2611 106 40 
10 Posen | 23657 11 676 404 309 
11 Bromberg 13 568 5 330 265 172 
12 Breslau 40 147 19 149 1333 967 
13 | Liegnitz 31 123 10916 1654 905 
14 | Oppeln 28 961 14 769 869 731 
15 | Magdeburg 27 108 6 482 864 260 
16 Merseburg 27 601 11 769 2575 1051 
17 Erfurt 17 464 3 095 892 193 
18 | Schleswig 30 857 8 572 148 53 
19 | Hannover 15 674 3972 | 2392 953 
20 | Hildesheim 13 941 3581 | 1152 602 
21 Lüneburg I1 884 3246 -— 551 206 
22 Stade | 9 360 787 519 132 
23 | Osnabrück 6728 711 881 541 
24 | Aurich 5 251 722 540 121 
25 | Münster 16 013 2 860 931 311 
26 | Minden 12 962 1 821 745 17 
27 | Arnsberg 35 540 5 270 I 305 328 
28 Kassel | 23 629 1 687 419 3 
29 Wiesbaden | ?9 014 1269 | 4515 219 
30 | Coblenz 20 785 733 787 18 
31 | Düsseldorf 43 840 5 121 2610 488 
32 | Cüln 23011 2648 I 724 196 
33 | Trier 18 740 593 578 33 
34 | Aachen | 18 599 851 396 31 
35 | Sigmaringen 3 689 — | 161 — 
36 Stadt Berlin | 34 680 17 080 II out 2781 
Zusammen | 751027 218121 | 43976 | 13777) 


Diese Frage war insofern unvorsichtig gestellt worden, als nicht 
aus derselben hervorging, ob die Kammern nur die Mitglieder der 
gewerblichen Vereine aufgeben sollten, die als Handwerker wahl- 
berechtigt zur Handwerkskammer sind, oder alle Mitglieder, ferner 
ging nicht aus der Frage hervor, ob sie alle gewerblichen Vereine 
aufgeben sollten, oder nur die, welche, weil sie in der Majorität Hand- 
werker umfassen, zur Handwerkskammer wahlberechtigt sind. 

Es ist schon wegen der nicht glücklichen Fragestellung diese 


1) Richard Pape, Die praktische Durchführung der Handwerkerkartelle vom 26. Juli 
1888, Leipzig 1902, S. 75. 


Die deutschen Handwerkerorganisationen. 633 
Tabelle XIX. 
Handwerkerver- 
Ltd. Sitz der A bände u. sonstige PRE 
No. | Handwerkskammer Gewerhevereine gewerbliche Ver- Mitglieder 
einigungen 
1 | Königsberg 7 420 
2 | Insterburg 12 1 400 
3 | Danzig 7 427 
4 | Berlin 77 
5 | Frankfurt a/O. = 
6 | Stettin 10 750 
7 | Stralsund 4 7 
8 | Posen 9 
9 | Bromberg — — 
10 | Breslau 50 
11 | Liegnitz 12 
12 | Oppeln 15 1 386 
13 | Magdeburg 18 785 
14 | Halle a/S. 14 593 
15 | Erfurt 6 
16 | Altona 16 4 700 
17 | Flensburg 14 543 
18 | Hannover 12 950 
19 | Hildesheim 4 1 096 
20 | Harburg 9 1 140 
21 | Osnabrück 7 550 
22 | Münster 6 200 
23 | Bielefeld 21 1 130 
24 | Arnsberg 17 I 346 
25 | Dortmund 23 500 
26 | Cassel 25 1 200 
27 | Wiesbaden 157 7 600 
28 | Coblenz 67 4 600 
29 Düsseldorf 50 2 500 
30 | Cöln 25 3 683 
31 | Aachen 24 1 580 
32 | Saarbrücken 16 1 200 
33 | Sigmaringen 70 2 500 
PreuBen 804 | 43 156 = 
Von 154 Vereinen 650 Gewerbevereine 
fehlen die Angaben 
über Mitgliederzahl 
34 | München 54 6.078 
35 | Passau 16 1 020 
36 | Kaiserslautern 45 8 6 000 
37 Regensburg 8 
38 Bayreuth 23 I 365 
3c En 25 II 3 110 
39 | Nürnberg (mit 2560) (mit 550) 
10 | Würzburg 20 I 223 
41 Augsburg 27 1981 
Bayern 218 | 19 | 20777 — 


Von 8 Vereinen fehlen 


die Mitgliederzahlen 


229 Vereine 


634 


Ltd. 
No. 


51 


Thilo Hampke, 
Handwerkerver- 

Sitz der S bände u. sonstige das 

Handwerkskammer Sagesse gewerbliche Ver- Mitglieder 
einigungen 
Dresden | ? ? 
Plauen 25 3 000 
Chemnitz 64 IO 500 
Leipzig 10 5 274 
Zittau | 28 3 102 
Sachsen 127 21 876 
Vom Kammerbezirk Dresden fehlen 
die Angaben 
Stuttgart 33 36 4057 
(mit 3206) (mit 1851) 
Ulm 80 7 590 
Heilbronn ? 3 665 
m 

Reutlingen 80 

Württemberg 193 | 36 | 15 312 


Angaben von Heilbronn über Zahl der Vereine fehlen 
ganz, von 80 Vereinen fehlen die Mitgliederzahlen. 


Mannheim 119 5 400 
Karlsruhe 105 5 379 
Freiburg 84 4 200 
Konstanz 55 3 496 
Baden 363 | 18 475 
Darmstadt 129 10 430 
Schwerin 38 | 
Weimar 31 2054 
Oldenburg 10 600 
Braunschweig 3 i N 400 
Meiningen 3 | 212 
Gera 12 | 2325 
Gotha 7 863 
Dessau 7 | 400 
Arnstadt 8 | 1234 
Greiz 2 96 
Stadthagen 6 | 400 
Detmold 4 ca. 100 
Lübeck 2 367 
Bremen 5 258 
Hamburg 
Straßburg 79 4 800 
348 24 539 — 


Ganz fehlen die Angaben von Hamburg. 


die Mitgliederzahlen. 


308 Gewerbevereine 
Von 45 Gewerbevereinen fehlen 


Gewerbevereine und 
sonstige gewerbliche darunter 
Vereinigungen 
Preußen 804 650 mit 43 156 Mitgl. 
Bayern 237 229 „ 20777 » 
Sachsen 127 127 , 218756 „ 
Württemberg 229 149 ,  I164 ^ | 
Baden 363 363 », 18475 » | 
Uebrige Staaten 345 300 ,, 23305 » CT 
| 2105 1818 mit 139 236 Mitgl. 
+ 3665 f. Heilbronn _ 


142 883 


Die deutschen Handwerkerorganisationen. 635 


Hinzuzurechnen sind: 
für Preußen von Ve Vereinen die fehlenden Mitglieder 
„ Bayern „ 
» Sachsen die Vereine des Bezirks Dresden mit ihren Mitgliedern 
Württemberg | für Heilbronn die fehlenden Vereine mit 3665 Mitgliedern 

? „ Reutlingen von 80 Vereinen die Zahl der nicht bekannten Mitglieder 
» Sehwerin von bs Vereinen die fehlenden Mitglieder 
„ Hamburg die Vereine des Hamburger Bezirks mit Mitgliedern 
Im ganzen von 274 Vereinen die (nicht bekannten Mitgliederzahlen. 

für 2 Bezirke (Hamburg und Dresden): die (nicht bekannte) 

Zahl der Vereine nebst ihren Mitgliedern, 
„ 1 Bezirk (Reutlingen) die (nicht bekannte) Zahl der Vereine. 


Frage sehr mangelhaft und sehr verschieden beantwortet worden, 
sodann scheinen viele Kammern sich selbst noch gar nicht genügend 
über den Stand der Gewerbevereinsbewegung in ihrem Bezirke in- 
formiert zu haben. 

Die Antworten, soweit sie überhaupt vorhanden sind, sind in 
nachfolgender Statistik zusammengestellt: (s. Tabelle XIX S. 633, 
634 u. 635). 

Es waren also nach dieser Statistik 3923 gewerbliche Vereine 
mit 142883 Mitgliedern in Deutschland vorhanden. Es kommen dem- 
nach auf einen Verein ca. 36 Mitglieder. Nun fehlen die Angaben von 
279 Vereinen. Nimmt man an, daß in diesen Vereinen die durch- 
schnittliche Mitgliederzahl ebenfalls auf 36 sich beliefe, so werden 
noch 9864 Mitglieder hinzuzurechnen sein und wir auf 152747 Ge- 
werbevereinsmitglieder in Deutschland kommen. Da die Angaben 
der einzelnen Kammern voraussichtlich aber zu niedrige sein werden, 
da sie die Gewerbevereinsentwickelung nicht genügend kennen, und 
vielfach ausdrücklich angegeben ist, daß nur die Handwerkermitglieder 
in den Gewerbevereinen gezählt sind, so wird man rund 180 000 Ge- 
werbevereinsmitglieder für Deutschland annehmen dürfen, auf welche 
Zahl wir schon bei unserer Schätzung gekommen waren. Von diesen 
180000 Mitgliedern werden voraussichtlich nur 66 Proz. Handwerker 
sein. Wir würden dann 118800 in Gewerbevereinen organisierte 
Handwerker in Deutschland besitzen. Von diesen wird man mindestens 
ein Viertel abziehen müssen, weil sich diese bereits auch in Innungen 
befinden. In Norddeutschland und namentlich auch in Sachsen werden 
häufig fast die Hälfte der Handwerkermitglieder in Gewerbevereinen 
auch Innungsmitglieder sein. In Süddeutschland wahrscheinlich viel 
weniger, weshalb ich als Mittel ein Viertel annehme. Es würden 
dann ca. 89100 Handwerker übrig bleiben, die nur Gewerbevereins- 
mitglieder und nicht Innungsmitglieder sind. 


C. Schluß. 


Die in den obigen Ausführungen gemachten Darlegungen be- 
wegen sich sehr auf der Oberfläche der Materie. Wir erfahren wohl, 
wie viele Handwerkskammern vorhanden sind, welchen Flächenraum 
sie umfassen und wie viele Einwohner ihre Bezirke haben. Wir 
erfahren aber nichts, und das wäre doch eigentlich die Hauptsache, 


636 Thilo Hampke, 


über ihre Tätigkeit als Interessenvertretung oder als Selbstverwaltungs- 
körper. Allerdings hat der Vorort des deutschen Handwerks- und 
Gewerbekammertages in seiner Enquête auch darüber etwas zu er- 
mitteln gesucht. In dem Fragebogen beschäftigen sich die Fragen 
10—16 mit dieser Materie. Dieselben lauten: 
10) Wieviele Genossenschaften sind neu gegründet: 
a) Kreditgenossenschaften ? 
b) Werk- und Rohstoffgenossenschaften ? 
11) Höhe der tatsächlichen Ausgaben der Kammern: 
; a) im 1. Jahr? 
b) im 2. Jahr? 
12) Zahl der Gesellenprüfungsausschüsse: 
13) Zahl der Meisterprüfungskommissionen: 
14) Was ist von der Kammer geschehen zur Fórderung 
a) der Fortbildungsschulen ? 
b) der Fachschulen ? 
c) der fachlichen Meisterkurse ? 
d) der Buchführungskurse? 
e) des Genossenschaftswesens ? 
f) des Lehrlingswesens im allgemeinen ? 
15) In welchem Maße wird die Kammer zur Erteilung von Rat 
in gewerblichen Angelegenheiten in Anspruch genommen? 
16) Was ist über sonstige Betütigung der Kammer mitzuteilen? 
Das Resultat der Enquéte über obige Fragen ist aber ein sehr 
unvollständiges gewesen, nicht etwa weil die Handwerkskammern 
auf diesen Gebieten nichts geleistet hütten, sondern weil sich der- 
artige wirtschaftliche Tätigkeiten schwer zahlenmäßig darstellen lassen 
und weil schließlich die Enquete, die vom Handwerks- und Gewerbe- 
kammertag veranstaltet wurde, viel zu wenig von langer Hand vor- 
bereitet war. Am 6. August wurde der Fragebogen versandt und 
am 31. desselben Monats sollte er bereits beantwortet sein. Will 
man derartige Fragen eingehend und sachgemäß beantwortet haben, 
dann müssen die Kammern schon lange Zeit vorher wissen, daß 
dann und dann eine Umfrage über die und die Punkte veranstaltet 
werden soll, damit sie sich darauf vorbereiten können. Es wäre im 
Interesse der Handwerkskammern selbst daher sehr wünschenswert, 
wenn vielleicht auf dem nächsten Handwerks- und Gewerbekammer- 
tage zu München im September 1903 wiederum die Veranstaltung einer 
Enquête beschlossen würde und dann ein Fragebogen dieser Umfrage 
zu Grunde gelegt würde, der eingehender die Materie zu erfassen 
sucht. Je eingehender auf Grund solcher statistischer Aufnahmen 
die wirklichen Verhältnisse des Handwerks ermittelt werden, je mehr 
haben Wünsche auf Abänderung des Handwerksorganisationsgesetzes 
oder auf Verbesserung der Lage des Handwerkerstandes Aussicht 
auf Erfolg. 
Gibt man z. B. in der Frage des Genossenschaftswesens, wie 
dies in Leipzig geschehen ist, an, daß nach dem damals vorliegenden 
Material 86 Kredit- und 171 Werk- und Rohstoffgenossenschaften 


Die deutschen Handwerkerorganisationen. 637 


errichtet worden sind, so erhält man durch derartige Zahlen nicht 
ein erschöpfendes Bild von der großen Tätigkeit, die seitens der 
Kammern nach der Richtung hin entwickelt worden ist. Die Haupt- 
verdienste liegen da sicher in der aufklärenden Tätigkeit, der sich 
die Kammern unterzogen haben, daß sie immer und immer wieder 
bei jeder Gelegenheit in Wort und Schrift auf die Vorteile des Ge- 
nossenschaftswesens hingewiesen haben. Die Früchte dieser Tätigkeit 
kommen natürlich nicht so schnell in der Gründung von Genossen- 
schaften zu Tage, sondern diese Früchte werden erst sehr allmählich 
reifen. 

Ebenso gibt uns die Tatsache, daß die Handwerkskammern, so- 
weit darüber überhaupt in Leipzig Zahlen vorlagen, 14161 Gesellen- 
und 3603 Meisterprüfungskommissionen gebildet haben, über die 
segensreiche Tätigkeit der Kammern auf dem Gebiete des Prüfungs- 
wesens kein richtiges Bild, sondern wir müssen zu ermitteln suchen, 
wie viele Gesellenprüfungen und Meisterprüfungen abgehalten worden 
sind, um uns darüber klar zu werden, ob es gelingt, auf diesem 
Wege wieder Ordnung in das Handwerk zu bringen. 

Aehnlich wie bei den Genossenschaften liegen die Dinge be- 
züglich der Frage der Fach- und Fortbildungsschulen, der Meister- 
kurse etc. 

Nur wenn man ganz spezialisierte Umfragen veranstaltet, wird 
man ein richtiges Bild erhalten, sonst wird sich im allgemeinen die 
Tätigkeit der Kammer, die noch mehr oder weniger eine anregende 
ist, nicht zahlenmäßig erfassen lassen. Eine Handwerkskammer, die 
z. B. durchgesetzt hat, daß der Besuch der Fortbildungsschulen durch 
Ortsstatut in ihrem Bezirke obligatorisch gestaltet wird, hat für das 
Fortbildungsschulwesen erheblich mehr getan als eine andere Kammer, 
die vielleicht mehrere Fach- oder Fortbildungsschulen selbst ins 
Leben gerufen hat. Wir wollen daher das vorliegende Material über 
diese Fragen gar nicht vorführen, weil es leicht zu falschen 
Schlüssen führen würde und der Hoffnung Ausdruck geben, daß 
möglichst bald eine neue Enquete durch den Vorort des Handwerks- 
und Gewerbekammertages erfolgt, die auf Grund eines Fragebogens 
vorgenommen wird, der in möglichst eingehender Weise die Tätigkeit 
der Kammern auf den verschiedensten Gebieten zu erfassen sucht. 
Voraussichtlich wird sich dann zeigen, daß unser Handwerkerstand 
mehr und mehr einsieht, daß die Handwerkerfrage eine Bildungsfrage 
ist, und daß die Handwerkskammern vor allen Dingen bemüht sind, 
unter diesen Gesichtspunkt die Handwerkerfrage ihrer Lösung ent- 
gegenzuführen. 


638 Miszellen. 


Nachdruck verboten 


Miszellen. 


XI. 


Die kontradiktorischen Verhandlungen über deutsche 
Kartelle. 


Von Dr. Robert Liefmann, Privatdozent an der Universität GieBen. 


I. 

Die Kartellenquete oder, wie die offizielle Bezeichnung lautet, „die 
kontradiktorischen Verhandlungen über deutsche Kartelle“ haben mi: 
zwei Sitzungen am 26. und 27. Februar und 26. und 27. März be- 
gonnen. In der ersten wurde das rheinisch-westfálische Kohlensyndikat, 
in der zweiten dieses ebenfalls und die oberschlesische Kohlenkonvention 
besprochen.  Vorausgegangen war beiden eine Vorbesprechung am 14. 
November 1902, in welcher die Grundlagen für die Enquete festgestellt 
wurden. Zu dieser Vorbesprechung habe ich in meinem Aufsatz: Was 
kann heute den Kartellen gegenüber geschehen ? (in diesen Jahrbüchern, 
Dezember 1902, S. 802— 13) Stellung genommen. Hier sollen, einer freund- 
lichen Aufforderung des Herrn Herausgebers folgend, die bisherigen Ver- 
handlungen besprochen worden. Eine Darstellung der Ergebnisse, d.h. 
also der Organisation und Wirksamkeit der beiden untersuchten Kartelle 
zu liefern, ist natürlich im Rahmen einer kurzen Besprechung nicb: 
möglich. Dazu sind dieselben viel zu kompliziert und die Meinungen 
über sie auch immer ‘noch zu weit auseinandergehend. Andererseits 
aber möchte ich auch nicht ganz darauf verzichten, neben der Be- 
sprechung des Ganges der Verhandlungen selbst auch einige der wich- 
tigsten Ergebnisse zu erörtern. Diese Ergebnisse sind freilich immer 
noch subjektiver Natur, beruhen auf einer Beurteilung und Be- 
wertung der vorgebrachten Tatsachen und Anschauungen. Denn wer 
erwartet hatte, ein sicheres, gewissermaßen mathematisch zu gewinnendes 
Resultat über den Nutzen oder Schaden der besprochenen Kartelle au: 
den Verhandlungen ziehen zu können, mußte natürlich enttäuscht werden. 
Es wurden zwar mancherlei Tatsachen angeführt, aber selbst aus ihnen 
sind schlüssige Beweise nur mit großer Vorsicht zu gewinnen und 
das Meiste, was gesagt wurde, waren Ansichten und Meinungen, deren 


Miszellen. 639 


besondere Bedeutung nur darin besteht, dal sie von sehr sachverständiger 
Seite ausgingen !). : 

Zu jeder der beiden Sitzungen waren etwa 70 Personen aus den 
verschiedensten Berufskreisen geladen. Nach einer Begrüfungsansprache 
des Vorsitzenden, Geh. Regierungsrat Prof. Dr. van der Borght, in 
welcher derselbe erklärte, daß die Verhandlungen nicht in Form eines 
Verhörs, sondern als eine gegenseitige freie Aussprache der Meinungen 
und Erfahrungen stattfinden sollten, wurde in die Besprechung des 
Rheinisch-Westfälischen Kohlensyndikats eingetreten. Der Referent, 
Regierungsrat Dr. Voelcker, gab einen sehr instruktiven, größtenteils auf 
aktenmäßiger Grundlage beruhenden Bericht über die Organisation des 
Syndikats und seine drei Aufgaben der Produktions-, Preis- nnd Ver- 
triebskartelierung. Auf die wirtschaftliche Bedeutung des 
Kohlensyndikats ging der Vortragende nicht ein (merkwürdigerweise 
betonte er aber sowohl am Anfang wie am Schluß seiner Rede, daß er 
auch über die wirtschaftliche Bedeutung des Kohlensyndikats 
sich aussprechen wolle, bezw. ausgesprochen habe) und zwar mit Recht, 
da darüber ja die folgenden Verhandlungen Aufschluf geben sollten. 
Darauf sollte in die Generaldiskussion eingetreten werden. Da sich 
dieselbe aber nicht recht entwickeln wollte, wurde der Fragebogen 
vorgenommen. Die ersten sechs Fragen waren sehr bald erledigt. 
Eine eingehendere Diskussion entstand erst bei Frage 7: Organi- 
sation des Kartells. Es zeigte sich hier, daß manche Herren trotz 
des einleitenden Referates noch sehr wenig orientiert waren (die 
dringend gewünschte Liste der Syndikatsmitglieder und ihrer Be- 
teiligungsziffern ist z. B. etwas, was alljährig veröffentlicht wird und 
längst bekannt ist) und sehr beachtenswert war daher der schon hier 
(von Bergrat Gothein, M. d. R.) und später noch mehrfach geäußerte 
Wunsch, das Material den Mitgliedern schon vorher zur Kenntnis zu 
bringen. Ich würde dies auch für sehr zweckmäßig halten, da es die 
Verhandlungen zweifellos außerordentlich fördern wird. Denn, wie die 
beiden Herren Kirdorf mit Recht betonten — und das stimmt genau 
mit meinen Ausführungen in diesen Jahrbüchern (dritte Folge, Bd. 24, 
S. 812 und 813) überein — man kann den Kartellmitgliedern nicht zu- 
muten, daß sie über alle Vorgänge in einem Kartell aus freien Stücken 
Vorträge halten, sondern sie müssen gefragt werden, und dazu ist 
eben eine gewisse Sachkenntnis nötig, die dadurch gefördert werden 
sollte, daß von der Regierung in möglichst großem Umfang vorher 
Material gesammelt und den Kommissionsmitgliedern zur Kenntnis ge- 
bracht wird. 

Zu einer eingehenden Besprechung kam es bei Frage 8 und 9: 


1) Die folgende Besprechung der Sitzung vom 26.—27 Februar beruht auf dem 
Abdruck des offiziellen Stenogramms, welcher unter dem Titel „Kontradiktorische Ver- 
handlungen über deutsche Kartelle* im Verlage von Franz Siemenroth, Berlin erscheint. 
Für den im Buchhandel noch nicht vorliegenden Bericht über die Sitzung vom 26. 
bis 27. März wurde mir vom Reichsamt des Innern der offizielle Abdruck im Reichs- 
anzeiger gütigst zur Verfügung gestellt, wofür ich auch an dieser Stelle meinen verbind- 
lichsten Dank aussprechen móchte. 


640 Miszellen. 


„Mit welchen Mitteln und mit welchem Erfolg ist die Hebung und 
Regelung des Absatzes nach dem Inlande und nach dem Ausland ver- 
sucht worden?“ Welche Preise konnte das Kartell auf dem in- und 
ausländischen Markt für seine Erzeugnisse erzielen? Welche Erwägungen 
waren für die Festsetzungen der Inlands- und der Auslandspreise mal- 
gebend?“ Bei beiden Fragen machte der Referent, Regierungsrat Dr. 
Voelcker, einleitend nähere Angaben über den Absatz und die Preis- 
politik des Syndikats. Ausführlich legten dann der Aufsichtsratsvor- 
sitzende des Kohlensyndikats, Generaldirektor Geheimrat Kirdorf, sowie 
die beiden Direktoren desselben, Bergrat Graßmann und Direktor 
Unckell, die Gründe für die vielumstrittene Syndikatspolitik der letzten 
Jahre dar und suchten die Ausführungen des Herrn Bergrat Gothein 
zu widerlegen, der dieselbe seit dem Umschlag der Konjunktur als 
verfehlt bezeichnete. Im allgemeinen habe ich aus den Verhandlungen 
den Eindruck erhalten und meine mehrfach geäußerte Ansicht bestätigt 
gefunden, daß im großen und ganzen die Syndikatspolitik doch als 
maßvoll zu bezeichnen ist. Auch der Zwang zu langen Abschlüssen 
ist mehr vom Koks- und Roheisensyndikat als vom Kohlensyndikat 
ausgeübt worden. Bezüglich des Hochhaltens der Preise in den beiden 
letzten Jahren, also nach Eintritt der Krisis, einem der Hauptvorwürfe, 
die dem Syndikat gemacht werden, war es interessant, von mehreren 
großen Verbrauchern zu hören, daß ein weiteres Herabgehen der Kohlen- 
preise voraussichtlich durchaus nicht für die übrigen Industrien von 
Nutzen gewesen würe. Direktor Schott-Heidelberg, der Leiter einer 
der größten deutschen Zementfabriken meinte (S. 123): „Es unterliegt 
gar keinem Zweifel, daß ein weiteres Sinken der Kohlenpreise nur ein 
weiteres Herabgehen der Zementpreise zur Folge gehabt haben würde. 
Generaldirektor Kaiser-Wetzlar (Buderussche Eisenwerke) bestàtigte das 
für die Eisenindustrie und andere. 

Schon bei diesen Fragen, ganz besonders aber bei Frage 10, in 
deren Erórterung am folgenden Tage, 27. Februar eingetreten wurde, 
ergab sich die Notwendigkeit, eine ganze Reihe von Unterfragen zu 
stellen (siehe z. B. die des Geheimrat Goldberger, S. 139), die mit der 
Hauptfrage oft nur sehr lose zusammenhängen. Es war das verursacht 
durch die Knappheit des Fragebogens, der, wie ich schon in dem oben 
zitierten Aufsatze bemerkt habe, mancherlei wichtige Punkte nicht ent- 
hielt. Ein Nachteil für die Enquete ergab sich aber daraus nicht, da 
eben die notwendigen Fragen seitens sachverständiger Kommissions- 
mitglieder gestellt wurden und, indem man sich nicht streng an den 
Fragebogen hielt, eine Einschiebung immer möglich war. Daß doch hin 
und wieder etwas übersehen wurde, ist ja unvermeidlich. : 

Bei Besprechung der Frage 10: „Hat das Kartell einen Einfluß auf 
die von ihm abhängigen Industrien und Händlerkreisen ausgeübt, ins- 
besondere durch die Festsetzung der Verkaufsbedingungen? Welche 
Stellung nimmt das Kartell gegenüber den Einkaufsvereinigungen ein?“ 
wurden die verschiedenen Industrien und Erwerbszweige gesondert 
behandelt. Von besonderer Bedeutung waren hier die eingehenden Aus- 
führungen der Vertreter der reinen Puddel- und Walzwerke, der Herren 


Miszellen. 641 


Springmann und Wuppermann, der Vorsitzenden der Rheinisch-West- 
falischen Schweißeisen- und der Rheinisch-Westfälischen Bandeisenver- 
einigung. 

Beide erklärten, daß die Preise des Kohlensyndikats zu hoch seien, 
um die Konkurrenz der kombinierten Werke aushalten zu können. Es 
ging aus den Verhandlungen deutlich hervor, was übrigens schon längst 
bekannt war, daß hier wieder einmal ein Erwerbszweig Organisations- 
veränderungen in der Volkswirtschaft zum Opfer zu fallen droht. Es 
wurde in der Versammlung mehrfach betont (z. B. durch Generaldirektor 
Kirdorf-Aachen), daß dem auch nicht durch Preisermäßigung des Kohlen- 
syndikats abgeholfen werden könne, da es unmöglich sei, daß dasselbe 
seine Preise bis auf die Produktionskosten der eigene Kohlenzechen 
besitzenden Hütten- und Walzwerke und damit auch auf seine eigenen 
Produktionskosten ermäßige. Natürlich ist aber damit noch nicht ge- 
sagt, daß nicht trotzdem das Kohlensyndikat mit seinen Preisen hätte 
mehr herabgehen kónnen. 

Von den übrigen Industrien wurde insbesondere in der Klein- 
eisenindustrie über die ungünstige Lage geklagt. Aber auch hier scheint 
es in erster Linie die Betriebsform, der Kleinbetrieb, zu sein, 
welcher dieselbe verschuldet hat, und den hohen Preisen des Kohlen- 
syndikats nur eine sekundàre Rolle zuzufallen. Die Blei- und Zink- 
industrie erklárte sich im allgemeinen als mit den durch das Syndikat 
geschaffenen Verhältnissen zufrieden. 

Die Unterfrage: „Gelten die von den Händlern zu entrichtenden 
Preise als Minimalpreise oder ist es ihnen gestattet, unter diesen zu 
verkaufen?“ führte zur Erörterung einer der schwierigsten Fragen des 
ganzen Kartellproblems); der Stellung des Handels und der Einkaufs- 
genossenschaften. Der Vertreter des Vereins der Hausbrandkonsumenten, 
Dr. Stein-Frankfurt a. M., wandte sich hauptsächlich gegen die Händler, 
betonte die Gefahr, die die von ihnen abgeschlossenen Kartelle für die 
Konsumenten haben, und empfahl dagegen direkten Verkehr des Syn- 
dikats mit den Einkaufsgenossenschaften. Die Syndikatsvertreter machten 
demgegenüber geltend, daß der Bedarf dieser Einkaufsgenossenschaften 
zu wechselnd sei, als daß sich das Syndikat mit ihnen einlassen könnte. 
Seitens einiger Händler wurde über die rigorosen Bedingungen des 
Syndikats geklagt, insbesondere über den sogenannten Handelskammer- 
paragraphen, der im Jahre 1900 aufgenommen wurde: „Sie verpflichten 
sich, beim Weiterverkauf die Verkaufspreise so zu bemessen, daß die 
Höhe des Gewinns zu ihrer Tätigkeit und zu ihrem Risiko den Um- 
ständen nach in keinem Mißverhältnisse steht“, sowie über die Bestim- 
mung, daß Händler, die auch von Nichtsyndikatszechen kaufen, 50 Pfg. 
pro Tonne mehr bezahlen müssen. Bezüglich der letzteren Bestimmung 
war die Mitteilung von Interesse, daß die königliche Bergwerksdirektion 
in Saarbrücken den Händlern, die mit ihr arbeiten, überhaupt verbietet, 
von anderen Zechen zu kaufen. 

Frage 12 lautete: „Hat das Kartell einen Einfluß ausgeübt a) auf 
die Konzentration der Betriebe durch Ausschaltung minder leistungs- 
fähiger Betriebe? b) auf die Konzentration der Betriebe durch Zu- 

Dritte Folge Bd, XXV (LXXX). 41 


642 Miszellen. 


sammenfassen der verschiedenen Stadien des Produktionsprozesses 
dienenden Betriebe in einer Hand ?“ 

Die Frage a) beantwortete Direktor Unckel-Essen mit nein, zu b) 
gab er die Erklärung ab, daß sie für das Kohlensyndikat nicht zutreffe. 
Merkwürdigerweise erhob sich dagegen in der Versammlung nicht der ge- 
ringste Widerspruch und in der Märzsitzung erklärte, wohl infolge davon, 
der Vorsitzende bei Verlesung der Frage b) sofort selbst, daß sie für das 
Kohlensyndikat nicht passe und von vornherein ausscheide. Demgegen- 
über muf ich erklüren, da( Frage b) gerade für das Kohlensyndikat und 
fast ausschließlich für dasselbe paßt, und daß hier offenbar ein großes 
Mißverständnis, hervorgerufen durch nicht ganz klare Fragenstellung, 
vorliegt, das von der ganzen Versammlung geteilt wurde. Frage b) 
bedeutet doch selbstverständlich nicht, daß das Kohlensyndikat seine 
Mitglieder, die Kohlenzechen zu Kombinationen, zur „Konzentration 
der Betriebe durch Zusammenfassen der verschiedenen Stadien des 
Produktionsprozesses dienenden Betriebe in einer Hand“ veranlaßt hat 
— das hat natürlich gar keinen Sinn, warum sollte z. B. das Walz- 
drahtsyndikat die Wirkung haben, daß seine Mitglieder sich eigene 
Hochöfen anlegen? — sondern sie bezieht sich auf die Abnehmer 
des Kartells; die Eisenwerke werden durch die Kohlenkartelle zur 
Angliederung von Zechen veranlaßt. Das ist in der Tat, worauf übrigens 
auch Herr Regierungsrat Dr. Voelcker hinwies, gerade unter der Ein- 
wirkung des Kohlensyndikats im rheinisch-westfälischen Industriebezirk 
in großem Umfange geschehen, während bei anderen Kartellen eine 
derartige Wirkung bisher noch kaum konstatiert werden konnte. Die 
mir bekannt gewordenen Beispiele solcher Kombinationen von Kohlen- 
und Eisenwerken in Rheinland-Westfalen sind folgende: Zeche ver. 
Hannibal mit Friedr. Krupp (Mai 1899), Pluto A.-Ges. mit A.-Ges. 
Schalker Gruben- und Hüttenverein (Juni 1399, besonders beachtenswert 
durch die außerordentlich günstigen Erfolge), A.-Ges. Dannenbaum mit 
A.-Ges. Differdingen-Dannenbaum, jetzt Deutsch-Luxemburgische Berg- 
werks- und Hütten-A.-Ges. (Juni 1899), ver. Westphalia mit Eisen- und 
Stahlwerk Hösch A.-Ges (März 1899), Gewerkschaft Crone mit Fentscher 
Hütten-A.-Ges (Oktober 1899), Gewerkschaft General mit Lothringer 
Hüttenverein, Aumetz-Friede (Januar 1900), Zentrum mit Rheinische 
Stahlwerke (April 1900), ver. Karolinenglück mit Bochumer Gulßstahl- 
verein (Mai 1900). Schon seit früher besitzen eigene Zechen folgende 
Eisenwerke im Ruhrgebiet: Bochumer Gußstahlverein (seit 1868), Dort- 
munder Union (1872), Gutehoffnungshütte, Friedr. Krupp, Hörder Berg- 
werks- und Hüttenverein, Phönix, Bergbau- und Hüttenaktiengesellschaft 
letzteres seit 1896 durch Ankauf der Meidericher Kohlenbergbaugesellschaft 
und der Zechen Westende und Ruhr und Rhein. Ein kombiniertes 
Eisen- und Kohlenwerk ist auch die Gewerkschaft Deutscher Kaiser 
der Firma Thyssen. 

Endlich kommen noch solehe Werke in Betracht, die, um sich vom 
Kohlensyndikat unabhängig zu machen, nach Erwerbung von Kohlen- 
feldern eigene Zechen angelegt haben. Es sind: Minister Achenbach 
(Gebr. Stumm), Werne (Georg-Marien-Bergwerks- und Hüttenverein bei 


Miszellen.' 643 


Osnabrück), Zeche De Wendel bei Hamm (Firma De Wendel), Zeche 
Maximilian bei Hamm (Maximilianshütte), Zeche Emscher-Lippe bei 
Mengede (Friedr. Krupp und Norddeutscher Lloyd), ferner die Stein- 
kohlenfelder, die die Mansfelder Kupferschieferbauende Gewerkschaft 
erworben hat. 

Uebrigens ist die ganze Fassung der Frage 12 recht unklar !). 
Soll „Konzentration der Betriebe durch Ausschaltung minder leistungs- 
fähiger Betriebe“ eine Verminderung der Zahl der Unternehmungen, 
durch Zugrunde gehen einiger bedeuten, so ist der Ausdruck Kon- 
zentration nicht angebracht, weil er unter b) in ganz anderem rich- 
tigen Sinne gebraucht wird, ist aber dabei an eine Verschmelzung mit, 
eine Angliederung an andere Zechen gedacht, so ist wieder die Be- 
zeichnung Ausschaltung unzutreffend. Es handelt sich um drei 
Möglichkeiten: 1) Beseitigung, Verdrängung minder leistungsfähiger Be- 
triebe, 2) Konzentration, Fusionierung, Zusammenschluß von Betrieben 
innerhalb des Kartells, 3) Kombination, Zusammenfassung verschiedener 
Stadien des Produktionsprozesses in einer Unternehmung. 

Es ist dringend zu wünschen, daß die so versäumte Erörterung 
dieser wichtigen Probleme in den folgenden Sitzungen der Enquete 
(etwa beim Kokssyndikat) nachgeholt wird. Denn diese Kombinationen 
sind von höchster Bedeutung, einerseits für die Steigerung unserer 
Konkurrenzfähigkeit gegenüber dem Auslande, andererseits sind sie es, 
wie gesagt, die mit in erster Linie die ungünstige Lage der reinen 
Weiterverarbeiter, die von kartellierten Rohstoffindustrien kaufen 
müssen, verschulden. (Für das Nähere vergleiche meine demnächst im 
Verlage von Gustav Fischer in Jena erscheinende Arbeit: Schutzzoll 
und Kartelle.) 

Schließlich möchte ich noch mit einigen Worten auf die Debatte 
eingehen, die im Anschluß an Frage 13 stattfand: „Hat das Kartell 
auf die Arbeiter- und Lohnverhältnisse der syndizierten Betriebe Einfluß 
gehabt?“ Dazu waren folgende Unterfragen gestellt: „Hat sich das 
Kartell auch eine Einwirkung auf die Arbeits- nnd Lohnverhältnisse 
der in den kartellierten Betrieben beschäftigten Arbeiter zur Aufgabe 
gestellt ? 

Welche Vereinbarungen sind in dieser Richtung unter den kar- 
tellierten Betrieben getroffen worden ? 

Ist insbesondere versucht worden, die Arbeiterschaft von gewissen 
Arbeiterorganisationen (Gewerkschaften, politischen Parteien u. s. w.) 
fernzuhalten oder zum Austritt zu bestimmen ? 

Welche Mittel der Einwirkung auf Arbeitnehmer sind bisher tat- 


1) Zu a) wurde die Uebernahme der nicht mehr rentierenden Zeche Steingatt 
durch die Bergbaugesellschaft Konkordia erwähnt, also eine Fusion zum Zwecke der 
Erhöhung der Beteiligungsziffer beim Kohlensyndikat. Es ist dies aber nicht der ein- 
zige derartige Fall. Ich habe schon in meiner Schrift über die Unternehmerverbände 
einen anderen erwähnt, die Erwerbung der Zeche Helene durch die A.-Ges. Nordstern. 
— Neuestens ist auch die Uebernahme der Zeche Bommerbänker Tiefbau durch die 
Gewerkschaft Mont Cenis zu nennen. Für die Konzentrationsbewegung kommen aber 
SE die zahlreichen Angliederungen noch leistungsfähiger Zechen an andere größere in 

tracht. 


41* 


644 Miszellen. 


sächlich seitens des Kartells in Anwendung gebracht worden? (Aus- 
sperrung aus den kartellierten Betrieben u. s. w.) 

Welche Erfahrungen sind hinsichtlich der Einwirkung auf die 
Lohn- und Arbeitsverhältnisse der in kartellierten Betrieben beschäf- 
tigten Personen bisher gemacht, welche Erfolge damit erzielt worden? 

Sind Entschädigungen der in den kartellierten Betrieben beschäf- 
tigten Personen bei Produktionseinschränkungen oder beim Auflassen 
von Betrieben einzelner dem Kartell angehöriger Unternehmer vor- 
gesehen ? 

Wie hätten sich wahrscheinlich die Arbeiter- und Lohnverhältnisse 
gestaltet, wenn das Kohlensyndikat nicht zu stande gekommen wäre? 

Welchen Einfluß hätte voraussichtlich die Auflösung des Kohlen- 
syndikats auf die Arbeiter- und Lohnverhältnisse 

a) innerhalb der syndizierten Betriebe? 
b) in den anderen Industriezweigen ?“ 

Wenn Frage 13 sowohl in dieser wie in der Märzsitzung zu langen 
allgemeinen Debatten führte, so liegt das daran, daß man noch immer 
Kartelle und Arbeitgeberverbände nicht genügend unterscheidet. Eine 
gemeinsame Verabredung der Arbeitgeber über die Arbeitsbedingungen 
in ihren Betrieben ist kein Kartell und es ist, wie ich schon mehrfach 
hervorgehoben habe (zuletzt in diesen Jahrbüchern, Bd. 24), irre- 
führend, auch solche in den Begriff Kartelle einzubeziehen. Daß die 
Kartelle keinen direkten Einfluß auf die Arbeiterverhältnisse ihrer Mit- 
glieder nehmen, ist klar (indirekt können sie einen günstigen Einfluß 
haben, nämlich den größerer Stetigkeit der Beschäftigung und eventuell 
einer Erhöhung der Löhne). Wohl aber können natürlich die Mitglieder 
eines Kartells auch an einem Arbeitgeberverband beteiligt sein; das ist 
aber etwas, was mit dem Kartell gar nicht zusammenhängt, und wenn 
es z. B. im rheinisch-westfälischen Kohlenbergbau zu Arbeitsstreitig- 
keiten kommen sollte und die Unternchmer es für notwendig erachten, 
einen Arbeitgeberverband gegen die Koalition der Arbeiter zu bilden, 
so werden demselben jedenfalls nicht nur die Mitglieder des Syndikats 
beitreten, sondern auch die außerhalb desselben bestehenden Zechen. 
Beide Vereinigungen haben an sich nichts miteinander zu tun. Denkbar 
ist freilich, daß wenn in einem Industriezweige ein festes Kartell besteht, 
und es kommt zu Arbeitsstreitigkeiten, daß sich dann die Bildung eines 
Arbeitgeberverbandes im Anschluß an das Kartell vollzieht, ebenso wie 
sie oft im Anschluß an einen Fachverein entstehen, der sonst nur die 
allgemeinen Interessen der betreffenden Industrie, z. B. in der Zollfrage 
vertritt. So lange aber das nicht der Fall ist — und es ist bei den 
meisten deutschen Kartellen nicht der Fall — stehen Kartell und Arbeit- 
geberverband in keiner Beziehung. 

Wenn man also die direkte Beeinflussung der Arbeitgeberverhältnisse 
durch Unternehmerkoalitionen untersuchen will — und das ist zweifel- 
los eine höchst interessante und wichtige Frage — so wird man dafür 
eine besondere Enquete veranstalten müssen, bei welcher nicht das 
Kartell gewisser Produzenten, sondern der Arbeitgeberverband bestimmter 
Industrien oder eines bestimmten Ortes einzuladen sein wird — denn 


Miszellen. 645 


sehr häufig beschränken sich diese Verbände nicht auf die Unternehmer 
einer gewissen Industrie, sondern sind lokal organisiert und umfassen 
die Arbeitgeber verschiedener Gewerbe. Ob heute Veranlassung zu 
einer solchen Enquete, wie sie auch von den Herren Prof. Schmoller 
und Prof. Francke empfohlen wurde, vorhanden ist und ob sie sich an 
die gegenwärtigen Verhandlungen anschließen sollte, das zu beurteilen, 
kann man der Regierung überlassen. Für die gegenwärtige Enquete 
kommt also hauptsáchlich nur die Frage in Betracht, ob bei Produktions- 
einschránkungen oder -einstellungen den Arbeitern Entschädigungen ge- 
zahlt worden sind, und eventuell die Frage nach den Wirkungen einer 
Auflósung des Kartells für die Arbeiter. 


IL. 


In der zweiten Tagung am 26. und 27. März wurden die Verhand- 
lungen über das rheinisch-westfälische Kohlensyndikat fortgesetzt und 
die Besprechung der oberschlesischen Kohlenkonvention damit verbunden. 
Es waren außer den Vertretern der beiden Kartelle eine große Anzahl 
beteiligter Personen, namentlich Händler und Leiter landwirtschaftlicher 
Genossenschaften, außerdem Angehörige verschiedener Erwerbszweige, 
deren Beziehungen zum Kohlenbergbau das letzte Mal nicht erörtert 
worden waren, endlich Vertreter städtischer Gas- und Wasserwerke er- 
schienen. Der Referent Regierungsrat Dr. Völcker berichtete über die 
Organisation der oberschlesischen Kohlenkonvention, und um dieselbe 
und ihre Verschiedenheit gegenüber dem Kohlensyndikat drehten sich 
zunächst die Verhandlungen. Es trat deutlich zu Tage, von welch 
außerordentlicher Bedeutung die Organisation eines Kartells (hier nur 
lose Preis- und Produktionsvereinbarung) auf die Wirkungen desselben 
ist. Insbesondere die Stellung zu den Händlern und zu den Konsumenten 
ist bei der oberschlesischen Kohlenkonvention, da die Werke stets direkt 
mit allen Käufern in Beziehung treten, eine ganz andere als bei dem west- 
fälischen Kartell. Die Besprechung ging dann auf die Preisfestsetzungen 
der letzten Jahre über mit eingehenden Erörterungen, ob dieselben nach 
dem Eintritt der Krisis hätten ermäßigt werden sollen. Hierbei kam 
es zu langen Auseinandersetzungen über die Zulässigkeit der Mitteilungen 
eines Breslauer Stadtrats, der aus den Steuerlisten Angaben über die 
Einkommenssteigerung Breslauer Kohlenhändler gemacht hatte. Ich will 
auf die Sache selbst nicht näher eingehen — der Redner hatte seine 
Angaben als vertraulich bezeichnet, und sie sind im Protokoll weg- 
gelassen, aber die nicht unterdrückten Ausführungen der folgenden 
Redner nehmen fortwährend darauf Bezug — sondern nur einige Be- 
merkungen über Fehler in der Organisation der Enquete daran knüpfen, 
die meines Erachtens dabei zu Tage getreten sind. 

Ausgehen will ich dabei von der Erklärung, die der Referent in 
der an die Mitteilungen des Breslauer Stadtrats sich anknüpfenden 
Diskussion machte. Herr Regierungsrat Dr. Voelcker betonte, daß „die 
Reichsverwaltung von Anfang an den größten Wert darauf gelegt hat, 
daß alles, was hier vorgebracht wird, durch Beweismaterial belegt wird“, 
und wandte sich gegen eine Bemerkung in meinem Aufsatz in diesen 


646 Miszelllen. 


Jahrbüchern, die sich auf seine diesbezüglichen Ausführungen in der 
Vorbesprechung bezog. Er hatte dort behauptet: ,,Der Fragestellung liegt 
die Tendenz zu Grunde, nur Auskunft über solche Tatsachen zu erhalten, 
welche entweder ziffernmäßig oder durch schriftliche Unterlagen, wie 
Verkaufsbedingungen, Korrespondenzen, Sperrlisten u. s. w. belegt werden 
können.“ Demgegenüber hatte ich gesagt: „Wenn das wirklich durch- 
geführt werden würde, wenn man also gewissermallen nur den Urkunden- 
beweis zulassen wollte, tüte man am besten, die ganze Enquete fallen 
zu lassen.“ „Eine Enquete hat einen anderen Zweck, als schriftliches 
Material zu sammeln. Es kann nicht genug betont werden, daß es 
darauf ankommt, die Wirkungen der Kartelle festzustellen, für die 
zumeist keine schriftlichen Belege vorhanden sind, sondern über welche 
die beteiligten Personen selbst vernommen werden müssen.^ Wenn nun 
bei Gelegenheit der erwühnten Diskussion Herr Regierungsrat Dr. Voelcker 
es wiederum für notwendig erklärt, daß alles, was bei den Verhand- 
lungen behauptet wird, auch bewiesen werden kann, so scheint er 
mir den Charakter der wirtschaftlichen Probleme, die klargelegt werden 
sollen, zu verkennen, die Aufgabe sozusagen nur vom juristischen Stand- 
punkt aus aufzufassen, und ich sehe mich genótigt, meine Ansicht noch 
einmal deutlicher zu erlàutern. Denn das, worauf es ankommt: die 
Wirkungen der Kartelle zu untersuchen, das läßt sich durch schrift- 
liche Unterlagen und Material nicht erreichen. Die Wirkungen der 
Kartelle, die Frage, inwieweit und wann sie schädlich oder nützlich ge- 
wesen sind, läßt sich, wie die meisten volkswirtschaftlichen Fragen über- 
haupt nicht „beweisen“. Das dürfte doch gerade der Gegenstand der 
Diskussion zur Genüge gezeigt haben. Da wurden Tatsachen vor- 
gebracht, die Einkommenssteigerung Breslauer Kohlenhändler — wieviel 
sie betrug, ist hier gleichgültig — und diese Tatsachen beruhen sogar auf 
Urkundenmaterial, wie Deklarationen und Steuerzettel es sind, also alles ist 
vorhanden, worauf der Referent seine Enquete aufbauen will, und doch ist 
mit diesen Tatsachen und diesem Material nichts anzufangen; denn, wie 
Herr Generalsekretär Dr. Beumer sich drastisch ausdrückte: „da kann 
einem von diesen Kohlen- oder Zementhändlern außer den gewöhnlichen 
Einnahmen, die er hat, eine reiche Schwiegermutter gestorben sein, oder er 
hat aus sonstiger gewinnbringender Beschäftigung, etwa aus literarischer 
Beschäftigung (!) einen Gewinn gehabt.“ Jene Angaben beweisen also 
nichts für die Wirkungen der Kartelle. Daraus dürfte wohl klar hervor- 
gehen, daß mit der Beschränkung auf Material und Tatsachen nichts 
anzufangen ist, und es würde den Erfolg der ganzen Enquete in Frage 
stellen, wenn dieser jetzt hoffentlich aufgegebene Standpunkt von den 
übrigen Mitgliedern der Verhandlungen geteilt würde, was aber glück- 
licherweise nicht der Fall ist. Ich kann nur nochmals betonen, die Ver- 
handlungen sollen Ansichten und Urteile und zwar möglichst sachver- 
ständiger Personen herbeibringen, und eine Beschränkung auf Anführung 
von Tatsachen und Material steht mit dem Wesen kontradiktorischer 
Verhandlungen in Widerspruch. 

Aber selbstverständlich darf die Sammlung von Tatsachen und 
Material nicht vernachlässigt werden; sie ist gerade die Aufgabe des 


Miszellen. 647 


Referenten und der die Enquete leitenden Behörde. Ich habe schon 
mehrmals auf die Wichtigkeit hingewiesen, daß neben der Enquete im 
größten Umfang Material gesammelt wird. Aber das sollte nicht in 
der Enquete, durch die Verhandlungen, sondern vor der Enquete ge- 
schehen. Daß dies bei den leitenden Stellen noch nicht genügend be- 
rücksichtigt wird, wird durch den erwähnten Zwischenfall bewiesen; 
denn er verdankt dem seine Entstehung. Der Breslauer Magistrat, 
hätte, wenn er der Meinung ist, daß die Einkommenssteigerungen dortiger 
Kohlenhändler etwas für die Beurteilung der Kartellfrage bedeuten, 
sein Material vorher der Regierung zur Verfügung stellen sollen, und 
diese hätte dasselbe vertraulich zu behandeln gehabt, da es bestimmte 
Personen betraf, oder unter Weglassung des Ortes es so mitgeteilt, daß 
man die Personen nicht hätte erkennen können. 

Daß das nicht so geschah, daran trägt aber nicht der Breslauer 
Magistrat die Schuld, und es ist deshalb ganz verkehrt, seinem Ver- 
treter vorzuwerfen, daß seine Angaben unzulässig seien, sondern es 
beruht auf einem oder eigentlich zwei Organisationsfehlern der Enquete, 
nämlich teils auf dem Mangel einer Trennung der Materialsammlung 
und der kontradiktorischen Verhandlungen, wobei die erstere den letzteren 
vorauszugehen hat, teils auf der Unklarheit, die über den óffentlichen 
oder nicht óffentlichen Charakter der Verhandlungen besteht. 

Ersteres ist der Hauptfehler. Die mit der Untersuchung beauf- 
tragte Behörde hätte durch Umfrage bei allen möglichen Personen zu 
versuchen, sich Material über das Kartell, das später besprochen werden 
soll, zu verschaffen, sie hätte dann aus diesem Material das, was nicht 
als vertraulich bezeichnet ist, zu veröffentlichen oder es wenigstens den 
Teilnehmern vor den mündlichen Verhandlungen mitzuteilen. Erst 
wenn dieselben so genügend vorbereitet sind, sollen diese sach- 
verständigen Personen der verschiedenen Berufszweige zu den Verhand- 
lungen eingeladen werden, und diese haben dann, das sei nochmals 
betont, nicht mehr der Materialsammlung zu dienen, wobei natürlich 
nicht ausgeschlossen ist, daß solches noch beigebracht wird, sondern 
sie sollen Urteile und Ansichten der verschiedenen Personen 
bringen, diese sollen in gemeinsamer Aussprache einander gegenüber- 
gestellt werden und es soll versucht werden, ob man darauf hin zu 
einem einheitlichen Urteil über das Kartell gelangen kann. 

Also zeitliche und örtliche Trennung des Materialsammelns von den 
Verhandlungen! Ersteres ist Aufgabe der Behörde, deren Referent in 
der Versammlung ein Resumee des Tatsachenmaterials zu geben hätte, 
wie Regierungsrat Dr. Voelcker es bei Eröffnung der Verhandlungen über 
das Kohlensyndikat getan hat. Trennt man in dieser Weise, so ist 
der zweite Fehler der bisherigen Enquete eo ipso vermieden, denn 
dann wird jeder Teilnehmer von selbst nur das mitteilen, was veröffent- 
licht werden kann, und der Breslauer Magistrat hätte seine Angaben 
nicht in den Verhandlungen, sondern schriftlich der Regierung gemacht. 
Die bisherige Anordnung, wonach die Verhandlungen im allgemeinen 
öffentlich sein, bezw. veröffentlicht werden sollen, jeder Teilnehmer 
aber seine Aussage als vertraulich bezeichnen und von der Veröffent- 


648 Miszellen. 


lichung ausschließen kann, war eine Halbheit. Denn erstens kann man 
es kaum mehr als vertraulich bezeichnen, wenn vor 70 Personen Mit- 
teilungen gemacht werden, die unter Umständen einige der Anwesenden 
betreffen — denn daß sich auch Angaben auf Anwesende beziehen 
und es unter Umständen leicht möglich ist, die betreffenden Persön- 
lichkeiten herauszufinden, wird sich bei dem Gegenstand der Verhand- 
lungen nicht immer vermeiden lassen; — zweitens aber kann wohl die 
als vertraulich bezeichnete Mitteilung aus dem Protokoll weggelassen 
werden, nicht aber die ganze Erörterung über dieselbe. Demgegenüber 
gibt es nur ein Mittel: die vorgeschlagene Trennung der Material- 
sammlung von den Verhandlungen, sorgfältige Vorbereitung der letzteren 
durch die ersteren seitens der Behörde und vollständige Oeffent- 
lichkeit bezw. Veröffentlichung der Verhandlungen, wodurch alles als 
vertraulich Bezeichnete aus denselben von selbst fern bleibt und 
höchstens in die Materialsammlung, d. h. also zur entsprechender Ver- 
wendung der Regierung kommt. Es wäre im Interesse der erfolgreichen 
Weiterführung der gesamten Enquete, und um zu verhindern, daß solche 
Zwischenfälle die Beteiligten in Zukunft übermäßig zurückhaltend machen, 
erwünscht, wenn sich die Regierung bald zu einem derartigen Vor- 
gehen entschlösse. 

Im weiteren Verlaufe der Verhandlungen und am folgenden Tage 
wurden unter Frage 10 (s. oben) die Wirkungen der Kohlenkartelle 
insbesondere des Kohlensyndikats auf die Landwirtschaft be- 
sprochen. Es waren mehrere Vertreter von Landwirtschaftskammern 
und landwirtschaftlichen Genossenschaften, sowie Landesökonomieräte 
zur Stelle. Dieselben klagten vielfach über die hohen Preise der Kar- 
telle, vor allem aber darüber, daß das Kohlensyndikat und seine Ver- 
kaufsabteilungen nicht direkt mit den landwirtschaftlichen Einkaufs- 
genossenschaften in Verkehr treten, bezw. denselben nicht die gleichen 
Rabatte geben wolle wie den Händlern, und daß auch die letzteren 
oft, insbesondere während der Hochkonjunktur, die Konsumenten 
schlecht und zu übermäßig hohen Preisen versorgt hätten. Ich kann 
auf Einzelheiten der interessanten Debatte hier nicht eingehen, und 
möchte nur betonen, daß ich aus den Verhandlungen den Eindruck ge- 
wonnen habe — und das wurde auch von dem Leiter der oberschlesischen 
Kohlenkonvention anerkannt — daß das Syndikat wohl die größeren 
Genossenschaften mehr berücksichtigen könne. Allerdings müssen die- 
selben regelmäßig die bestellten Quantitäten auch übernehmen — die Stetig- 
keit des Absatzes ist für das Kartell das Wichtigste — und das wird 
kleineren Genossenschaften wegen zu geringen Kapitals vielfach nicht 
möglich sein. Es ist aber zu hoffen, daß bei gegenseitigem Entgegen- 
kommen die bisherigen Schwierigkeiten, die das Syndikat zu einer gar 
zu schroffen Ablehnung des Verkehrs mit großen Genossenschaften und 
Konsumvereinen veranlaßten, überwunden werden können. 

Bei der dann folgenden Besprechung des Einflusses der Kohlen- 
kartelle auf die Maschinenindustrie wurden sehr eingehende Aus- 
führungen gemacht seitens der Herrn Kommerzienräte Claus (Thale a. H.) 
und Caro (Gleiwitz), beides Leiter großer Eisenwerke, die ihren Kohlen- 


Miszellen, 649 


bedarf nicht selbst produzieren, sondern kaufen müssen. Namentlich der 
Erstere tadelte die auf Hochhaltung der Preise gerichtete Politik des 
Kohlensyndikats, während der Letztere in interessanter Weise die Ver- 
hältnisse und Bestrebungen eines auf den Kohlenbezug angewiesenen 
Eisenwerks schilderte. Aus seinen Ausführungen und denen der folgen- 
den Redner scheint mir aber hervorzugehen, daß es, wie schon bei der 
Besprechung der ersten Sitzung betont, in erster Linie nicht die hohen 
Kohlenpreise sind, welche die ungünstige Lage der reinen Weiter- 
verarbeiter verschulden, sondern die eigene Konkurrenz und insbesondere 
auch die der kombinierten Werke, die das Haupthindernis zur Bildung 
eines Kartells sind. Weniger unzufrieden mit den Wirkungen der 
Kohlenkartelle zeigte sich der Vertreter des Schiffsbaues Kommerzien- 
rat Stahl (Stettiner Vulkan). Ich entnehme daraus und aus den An- 
gaben, die z. B. über die Bismarckhütte gemacht wurden, daß die von 
mir an anderem Orte ausgesprochene Ansicht richtig ist, wonach eine 
weitergehende Spezialisation als eines der wichtigsten Mittel betrachtet 
werden mul, um die reinen Eisenwerke lebensfühig zu erhalten. 

In den Verhandlungen über die Einwirkung der Kohlenkartelle 
auf die Textilindustrie wurde ebenfalls über die zu hohen Preise Klage 
geführt. Bemerkenswert war auch die Erklärung des Generaldirektors 
Marwitz (Dresden), daß die Geheimnistuerei der Syndikate einen großen 
Teil der Schuld an der Kohlenangst der Konsumenten im Jahre 1900 
gehabt habe. „Wenn damals die Konsumenten die Bestimmungen des 
Kartells so gekannt haben würden, wie es heute der Fall ist, dann 
würde eine große Beruhigung eingetreten sein.“ 

Nachdem der Direktor des Norddeutschen Lloyd, Bremermann, als 
Vertreter der Reederei die größere Unabhängigkeit dargelegt hatte, in 
der sich die großen Schiffahrtsgesellschaften infolge der Möglichkeit, 
fremde Kohle zu beziehen, befinden (übrigens hat der Lloyd in Gemein- 
schaft mit der Firma Krupp eine eigene Zeche erworben, um sich vom 
Kohlensyndikat unabhängig zu machen und ein gleichmäliges Brenn- 
material zu erhalten), gab die Besprechung des Einflusses der Kartelle 
auf den Handel und der Stellung desselben den Konsumenten gegenüber, 
ebenso wie bei der ersten Tagung, wieder zu sehr interessanten Debatten 
Anlaß. Insbesondere wurden die Verhältnisse im Jahre 1900 besprochen, 
wo zahlreiche Personen aus allen möglichen Erwerbsklassen einen wilden 
Kohlenhandel etablierten und damit die Kohlennot außerordentlich 
steigerten. Es wurde demgegenüber für den regulären Zwischenhandel 
die Notwendigkeit betont, sich ebenfalls zusammenzuschließen. Dagegen 
wurde die höchst wichtige Frage des Verhältnisses zwischen dem Kohlen- 
syndikat und den Händlern, sowie der Stellung der Verkaufsabteilungen 
desselben nicht genügend geklärt (vergl. die Angaben des Herrn Voss- 
Magdeburg). Es wäre sehr erwünscht, wenn die Regierung hier weiteres 
Material sammeln würde. Das ganze Problem ist eins der wichtigsten 
für die Verbesserung des Kartellwesens. Denn es erscheint sehr zweifel- 
haft, ob es für die Gesamtheit vorteilhaft ist, wenn die Syndikate den 
selbständigen Händlerstand ausschalten oder zu sehr beschränken. Es 
ist wahrscheinlicher, was ich einmal in diesen Jahrbüchern ausführte 


650 Miszellen. 


(Bd. 24, S. 814) und was auch in den Verhandlungen bestätigt wurde, 
daß in Zukunft der Händler „für das große Publikum jenen Machtfaktor 
gegen die Kartelle bilden muß, zu dem sich dasselbe nicht selbst 
organisieren kann“. 

In der dann folgenden allgemeinen Erörterung zu Frage 10 und 11 
suchte Herr Oberbergrat Wachler nachzuweisen, daß von einem Mil- 
brauch ihrer Macht durch die Kartelle keine Rede sein könne und ge- 
setzliches Eingreifen daher nicht in Frage komme. Dagegen wandte sich 
Professor Schmoller, der mit Recht betonte, daß man jetzt noch kein 
Urteil abgeben könnte, dann aber doch die Frage aufwarf, ob nicht 
eine Gesetzgebung notwendig sei, um „die Gesamtinteressen der übrigen 
deutschen Industrien und der deutschen Nation zu einem etwas stärkeren 
Ausdruck in diesen großen Gebilden zu bringen“. Die Frage wurde 
nicht weiter verfolgt, da dies, wie der Vorsitzende bemerkte, nicht zu 
den Aufgaben der Enquete gehört. 

Bei Frage 12b (Anregung zur Bildung von Kombinationsunter- 
nehmungen) machte der Vorsitzende seine oben beanstandete falsche 
Auffassung geltend und verhinderte mit der Erklärung, daß dieselbe 
nicht für das Kohlensyndikat passe, eine Besprechung der sehr inter- 
essanten Probleme, die bei einer klareren Fragestellung hier hätten er- 
örtert werden müssen. Was übrigens die oberschlesische Kohlenkonvention 
betrifft, hat sie nicht, wie das Kohlensyndikat, die Angliederung von 
Kohlenzechen durch Hüttenwerke gefördert, weil die großen Hütten 
Oberschlesiens schon vorher, die meisten seit ihrer Gründung, eigene 
Zechen im Besitz gehabt haben !). 

Auf die Frage 13 nach dem Einfluß der Kartelle auf die Arbeiter 
bin ich schon oben bei Besprechung der ersten Sitzung eingegangen. 
Zu Frage 14: Einfluß des Kartells auf die Qualität und die Herstellungs- 
kosten der Erzeugnisse wurde nichts Bemerkenswertes vorgebracht. — 

Wenn ich mir zum Schluß noch ein allgemeines Urteil über die 
bisherigen Verhandlungen erlauben darf, möchte ich sie im ganzen als 
sehr gelungen und erfolgreich bezeichnen. Auch ich hatte ursprünglich 


1) Soweit mir bekannt, stellen folgende oberschlesische Unternehmungen eine 
Kombination von Kohlen- und Metallindustrie dar: Bergwerksgesellschaft „Georg von 
Giesches Erben“ (Kohle, Zink und Blei); Vereinigte Königs- und Laurahütte (Kohle 
und Eisen); Fürstlich Guido Henckel-Donnersmarcksche Bergwerke und Hütten (Kohle 
und Eisen); Fürstlich Hohenlohesche Montanwerke (Kohle, Zink und Blei); Gräflich 
Schaffgotschsche Werke (Kohle, Eisenerz, Zink); Kattowitzer Aktiengesellschaft für 
Bergbau und Eisenhüttenbetrieb (Kohle und Eisen); Donnersmarckhütte, Obersehlesische 
Eisen- und Kohlenwerke A.-G. (Kohle, Eisenerz, Eisen); Berg- und Hüttenwerke der 
Grafen Hugo, Lazy, Arthur Henckel von Donnersmarek (Kohle, Zink, Eisen); Borsig- 
sche Berg- und Hüttenwerke (Kohle, Eisen); Oberschlesische Eisenbahnbedarfs-Aktien- 
gesellschaft (Eisen und Beteiligung an Kohlenzechen); Schlesische A.-G. für Bergbau- 
und Zinkhüttenbetrieb (Kohle und Zink). Alle 11 Unternehmungen gehören der Ober- 
schlesischen Kohlenkonvention an, die also nur 4 reine Kohlenwerke und 2 große 
Handelsfirmen umfaßt. Uebrigens besitzt auch der preußische Fiskus sowohl Kohlen- 
als Eisenwerke. Die enge Verbindung, die in Oberschlesien zwischen der Kohlen- und 
Eisenindustrie besteht, zeigt sich auch darin, daß der Vorstand der Kohlenkonvention, 
Generaldirektor Williger von der Kattowitzer Gesellschaft, gleichzeitig auch Vorstand 
des Eisenkartells ist. 


Miszellen. 651 


zu denen gehört, die angesichts der bisherigen Geheimnistuerei der 
deutschen Kartelle es für notwendig erachteten, die Enquete auf einen 
festen Boden zu stellen und eine Art Mitteilungszwang, aber nur der 
Regierung gegenüber, einzuführen. Die bisherigen Verhandlungen dürften 
indessen gezeigt haben, daß dies nicht notwendig war, daß vielmehr die 
jetzige Form der Enquete, die einer gegenseitigen Aussprache der ver- 
schiedenen von der Regierung berufenen Industriellen und Sachverständigen, 
die zweckmäßigste war. Ob sie es auch für alle später zu besprechenden 
Kartelle sein wird, wird davon abhängen, ob diese dem von den beiden 
Kohlenkartellen gegebenen guten Beispiele folgen und ihre Verhältnisse 
offen darlegen werden. Daß das geschieht, dazu kann natürlich die 
Regierung viel beitragen, indem sie möglichst sachverständige und un- 
abhängige Personen aus den verschiedenen Interessengruppen beruft, 
und auch die sorgfältige Vorbereitung der mündlichen Verhandlungen 
und Mitteilung des gesammelten Materials an die Teilnehmer wird den 
Erfolg der Enquete sicherer stellen. Es ist bekannt, daß das Kohlen- 
svndikat auch bisher dasjenige Kartell war, welches in der Veröffentlichung 
seiner Angelegenheiten am wenigsten zurückhaltend war (ganz anders 
verhält es sich schon mit dem Kokssyndikat, auf das sich die nächsten 
Verhandlungen beziehen werden), und es kann nicht verkannt werden: 
wenn die Verhandlungen bisher so erfolgreich gewesen sind, so gebührt 
das Hauptverdienst daran den Kartellmitgliedern, die auf alle Fragen 
offen und ausführlich Auskunft gegeben haben. Ein Verdienst daran 
hat aber auch das Reichsamt des Innern, welches hervorragende Ver- 
treter der verschiedenen Berufszweige ausgewählt hat. Denn den Ein- 
druck wird jeder haben, der die Verhandlungen liest — und ich möchte 
nicht unterlassen, noch besonders darauf hinzuweisen — die Berichte 
so vieler sachkundiger Personen enthalten weit über die eigentliche 
Kartellfrage hinaus eine ausgezeichnete Darstellung unserer gegenwärtigen 
wirtschaftlichen Verhältnisse. Denn der Gegenstand mit seinen so 
außerordentlich vielseitigen Wirkungen bringt es mit sich, daß nicht 
nur die Kartelle selbst behandelt werden, sondern in Wahrheit die ganze 
heutige großindustrielle Organisation. Ich kenne in der Tat kein Buch, 
das uns einen besseren und lebendigeren Einblick in das Wirken und 
die Organisation einer modernen Großindustrie gewährt, als diese Ver- 
handlungen, und deshalb kann die Lektüre derselben allen, die das 
wirtschaftliche Leben der Gegenwart verfolgen, angelegentlich empfohlen 
werden. 


652 Miszellen. 


Nachdruck verboten. 


XII. 


Die deutschen Kleinbahnen im Jahre 1901. 
Von Kurt Wiedenfeld. 


Auf Anregung und mit Unterstützung des preußischen Ministers 
der öffentlichen Arbeiten hat der Verein deutscher Straßenbahn- und 
Kleinbahnverwaltungen (Vorort: Hamburg) im Jahre 1901 zum ersten- 
mal den Versuch gemacht, eine Verkehrs- und Finanzstatistik für die 
deutschen Kleinbahnen aufzustellen ; das Ergebnis ist in der Zeitschrift 
für Kleinbahnen, Septemberheft 1901, veröffentlicht und im folgenden 
Heft kurz zusammengefaßt worden. Es versteht sich von selbst, daß 
ein solcher erster Versuch noch starke Ungleichmäligkeiten und Lücken 
aufzuweisen hatte, zumal er für die außerpreußischen Bahnen vollstän- 
dig vom freien Willen der privaten Bahnverwaltungen abhing, wie 
auch innerhalb Preußens ein direktes Zwangsmittel nicht gegeben war. 
Immerhin war doch das Ergebnis insoweit befriedigend, daß eine Fort- 
setzung und Erweiterung dieser Aufnahme ins Auge gefaßt werden 
konnte; und in der Tat haben die weitaus meisten Kleinbahnverwal- 
tungen Deutschlands sich der nicht geringen Mühe bereitwillig unter- 
zogen, das erweiterte Fragenformular auszufüllen. Der zweite Jahrgang 
der deutschen Kleinbahnstatistik liegt jetzt vor; er ist in seinen Ta- 
bellen als Ergänzungsheft der Zeitschrift für Kleinbahnen, Jahrgang 
1903, veröffentlicht und im Februarheft zu einem Gesamtbild verar- 
beitet worden. Die Einzelangaben sind diesmal wesentlich vollständiger 
und gleichmäßiger ausgefallen als bei dem ersten Versuch; die Bahnen, 
die eine Beteiligung abgelehnt haben, sind sowohl jede für sich als 
auch in ihrer Gesamtheit nur von ganz geringer Bedeutung, und auch 
die Lücken bei den beteiligten Unternehmungen vermögen den Wert 
der Statistik nur wenig zu beeinträchtigen; nur einige neu eingestellte 
Fragen haben noch im ganzen eine Beantwortung erfahren, die es ver- 
bietet, daraus einen Schluß auf die Gesamtheit der Bahnen zu ziehen. 

Eine wertvolle Ergänzung zu dieser Leistungsstatistik des Straßen- 
und Kleinbahnvereins bildet die amtliche Nachweisung über die in 
Preußen konzessionierten Kleinbahnen, die alljährlich dem Landtage 
vorzulegen ist und diesmal in demselben Ergänzungsheft der Zeitschrift 
für Kleinbahnen sich abgedruckt findet, während im Januarheft eine 
zusammenfassende, zu erheblichem Teil jedoch auch neues bietende 
Darstellung Platz gefunden hat. Ist die Vereinsstatistik auf das Erfassen 
der Betriebsleistungen und der Finanzergebnisse abgestellt, so will die 
amtliche Nachweisung mehr die rechtlichen und technischen Grundlagen 
sowie die Kapitalverhältnisse zur Feststellung bringen, ist also eine 
Bestandsstatistik; sie unterscheidet sich aber im Gegenstand ihrer Auf- 
nahmen von der Vereinsstatistik dadurch, daß sie auch die nur schon 


Miszellen. 653 


konzessionierten, wenngleich noch nicht im Betriebe befindlichen Bahnen 
umfaßt. 

Das ist jedoch ein Unterschied, der nicht viel besagen will, der 
jedenfalls dem Wunsch nach einer Ausdehnung dieser preußischen Be- 
standsstatistik auf die außerpreußischen Unternehmungen seine Berech- 
tigung nicht nimmt. Denn erst wenn dieser Wunsch im wesentlichen 
erfüllt ist, dann kann daran gedacht werden, die beiden Aufnahmen 
zu einer statistischen Einheit auch im Tabellenwerk zu vereinen; die 
Vorbereitungen sind bereits im Gange. — 

Zu den einzelnen Positionen der Statistik ist zu bemerken: 

Eine jede Kleinbahnenstatistik leidet von vornherein und unver- 
meidlich unter dem Mißstand, daß der Begriff der zu erfassenden 
Bahnenart in den verschiedenen Bundesstaaten nicht einheitlich auf- 
gestellt ist und daß die Einordnung der verschiedenen Unternehmungen, 
entsprechend der schwankenden Natur der dafür maßgebenden Gesichts- 
punkte, nicht nach unverrückbaren Grundsätzen erfolgen kann, vielmehr 
der freien Entschließung der Behörden notwendig einen weiten Spiel- 
raum läßt. Hier ist die preußische Einteilung, wie sie im Gesetz vom 
28. Juli 1892 und in der Ausführungsanweisung vom 13. August 1898 aus- 
gesprochen ist, zur Grundlage genommen worden: als Kleinbahnen werden 
charakterisiert „die dem öffentlichen Verkehr dienenden Eisenbahnen, welche 
wegen ihrer geringen Bedeutung für den allgemeinen Eisenbahnverkehr 
dem Eisenbahngesetz vom 3. November 1838 nicht unterliegen“, ins- 
besondere solche Bahnen, „welche hauptsächlich den örtlichen Verkehr 
innerhalb eines Gemeindebezirks oder benachbarter Gemeindebezirke 
vermitteln, sowie Bahnen, welche nicht mit Lokomotiven betrieben 
werden“; diese Bahnen zerfallen wieder in Straßenbahnen — entspre- 
chend dem landläufigen Begriff — und in nebenbahnähnliche Klein- 
bahnen, d. h. Kleinbahnen, „welche den Personen- und Güterverkehr 
von Ort zu Ort vermitteln und sich nach ihrer Ausdehnung Anlage 
und Einrichtung der Bedeutung der nach dem Eisenbahngesetz von 
1838 konzesssionierten Nebeneisenbahnen nähern“. Eine ähnliche Ein- 
teilung besteht in Baden und Oldenburg. Dagegen haben, die übrigen 
Bundesstaaten, so namentlich Bayern, Sachsen, Württemberg und Hessen, 
ihre „Lokal- und Vizinalbahnen*, ihre „Schmalspurbahnen“ selbst dann 
als Nebeneisenbahnen im Sinne der Reichsnebenbahnordnung klassifiziert, 
wenn sie zwar über den Bereich eines Orts hinausgehen, sich aber 
doch der Bedeutung städtischer Straßenbahnen nähern; aus diesen Staaten 
sind daher nur solche Linien, die außerhalb der Statistik des Reichs- 
eisenbahnamts geblieben sind, zu der Kleinbahnstatistik herangezogen 
worden, d. h. vorwiegend Straßen- und Spezialbahnen, so daß nament- 
lich das Netz der nebenbahnähnlichen Kleinbahnen hier im Verhältnis 
zu Preußen als zu klein erscheint. 

Die Berichtszeit ist ziemlich einheitlich das Kalenderjahr 1901 
oder doch das Geschäftsjahr, dessen größerer Teil in dieses Kalender- 
jahr fällt, meist die Zeit vom 1. April 1901 bis 31. März 1902. Doch 
1. Juli 1901 1. Oktober 1900 
: 30. Juni 1902 "30, Septbr. 1901 
vereinzelt noch andere Berichtszeiten vor. 


kommen auch die Perioden sowie 


654 Miszellen. 


Bei der Erfragung der Betriebsleistungen hat mangels jeg- 
licher Grundlage darauf verzichtet werden müssen, für die Straben- 
bahnen die ihnen am besten angepalten Platzkilometer festzustellen; es 
mußte bei der Zählung der Wagenkilometer verbleiben, obwohl natür- 
lich die Fahrt eines großen vierachsigen Motorwagens eine wesentlich 
andere Leistung als die eines zweiachsigen Pferdewagens bedeutet. 
Ebenso ist es nicht gelungen, für die nebenbahnähnlichen Kleinbahnen 
die Personen- und Gütertonnenkilometer in genügender Vollständigkeit 
zu erfassen; man mußte sich vielmehr mit der Aufnahme der Wagen- 
achskilometer sowie der Zahl der beförderten Personen und des Gewichts 
der beförderten Güter begnügen. 

Besondere Aufmerksamkeit ist der Erfragung der Finanzergeb- 
nisse gewidmet worden. Die Einnahmen werden getrennt nach Be- 
triebseinnahmen aus dem Personen- und dem Güterverkehr und Ein- 
nahmen sonstiger Quellen; bei den Ausgaben sind die Betriebsausgaben 
von den Wohlfahrtsausgaben und Steuern gesondert; beide Gesamt- 
summen sind bei den nebenbahnähnlichen Kleinbahnen noch auf die Ein- 
heiten der Länge, der Betriebs- und der Beförderungsleistungen reduziert 
worden. Ferner sind die vertraglich festgelegten Zuschüsse Dritter, so- 
wie die für die einzelnen Rücklagefonds berechneten Betrüge, der Schulden- 
dienst, die Gewinnbeteiligung Dritter, die Dividenden und Tantiemen 
sowie der Gewiunvortrag je besonders aufgeführt. 

Dagegen ist der Versuch, das werbende Kapital zu erfassen, 
vorlàufig gescheitert; aber im wesentlichen nur dank der nicht alle 
Zweifel ausschließenden Formulierung der entsprechenden Fragen. Das 
Anlagekapital der preußischen Bahnen wird in der amtlichen Nach- 
weisung notiert, wie diese auch die Belastung der Provinzen und Kreise 
diesmal festgestellt hat. 

Den Beschlufi macht eine Statistik der im Fahrbetriebe vor- 
gekommenen Unfälle. Dabei sind als „getötet“ auch solche Per- 
sonen aufgeführt, die innerhalb 72 Stunden nach dem Unfall an dessen 
Folgen gestorben sind; als „schwere“ Verletzungen gelten Gehirner- 
schütterungen, innere Verletzungen, mit mehr als 3-wóchigem Bettlager 
verbundene Quetschungen, Knochenbrüche und Verrenkungen sowie 
der Verlust von Kórpergliedern. — 

Von den Ergebnissen der Statistik seien die wichtigsten Daten 
noch kurz mitgeteilt: 

Die Länge der Straßenbahnen betrug am Ende des Berichts 
jahres 3006 km gegenüber 2746 km im Vorjahr, was eine Zunahme 
von 260 km — 9,5 Proz. bedeutet; in Preußen allein hat sich die Aus- 
dehnung von 1946 auf 2119 km, d. h. um 173 km — 9,0 Proz. gehoben; 
nur 12 Stüdte von mehr als 30000 Einwohnern sind jetzt noch ohne 
eine Straßenbahn. Die nebenbahnähnlichen Kleinbahnen haben sich in 
Deutschland von 4965 auf 5711 km, d. h. um 746 km — 15,0 Proz, 
in Preußen von 4728 auf 5429 km, d. h. um 701 km — 14,8 Proz. 
vermehrt. 

Diese Zunahme bedeutet trotz ihrer Höhe bereits eine Verlang- 
samung des Kleinbahnenbaues. Nach den Anschreibungen der preulisch- 
amtlichen Statistik sind nämlich konzessioniert worden: 


Miszellen. 655 


1. Oktober 1892 . 


in der Zeit 30. Septbr. 1896 im ganzen 2257 km 

oder durchschnittlich jährlich 564 , 
dagegen 

1 ., 1. Oktober 1896 ` 

in der Zeit 30. Septbr. 1900 im ganzen 4791 ,, 

oder durchsehnittlich jührlich 1198 ,„ 
endlich 

1. April 1901 


in dem Jahre 31. März 1902 774 » 


Von Hóc-hstpunkt bezeichnet das Jahr 1897/98, in dem Konzessionen 
für 1414 km Kleinbahnen erteilt worden sind; diese Zahl sinkt dann 
in den folgenden Jahren auf 1211 und 1199 km, um schließlich mit 
weitem Abstand die Ziffer 774 km zu erreichen. 

Will man nun die Eisenbahnausstattung der einzelnen Landesteile 
miteinander vergleichen, so empfiehlt es sich, die nebenbahnähnlichen 
Kleinbahnen nicht für sich allein zu betrachten, sie vielmehr als ein 
Glied des gesamten nichtstraßenbahnmäßigen Eisenbahnnetzes zu be- 
handeln, da nur so die Verschiedenheiten der Anschreibung auszugleichen 
sind. Dann ergibt sich folgende Uebersicht: 

(Siehe Tabelle auf S. 656.) 

An Unternehmungen óffentlicher Kórperschaften gab 
es am Ende des Berichtsjahres 34 Straflenbahnen mit 507 km Gesamt- 
lànge( — 16,92 Proz. aller Straßenbahnen) und 58 nebenbahnähnliche Klein- 
bahnen mit 1952 km (34,2 Proz.) ungerechnet die allem Anschein nach 
recht beträchtliche Zahl von Bahnen, für die die beteiligten Kommunal- 
verbände formell besondere Gesellschaften gebildet haben; gegenüber 
dem Vorjahr ergibt das eine Zunahme von 110 km Straßenbahnen und von 
381 km nebenbahnáhnlicher Kleiubahnen. In kommunalem Betriebe 
standen dagegen nur 422 km Straßenbahnen (14,0 Proz.), 180 km mehr 
als im Vorjahre, und 957 km nebenbahnähnlicher Kleinbahnen (16,8 Proz.), 
290 km mehr. 

Privatpersonen gehören dagegen nur 16,96 km Straßenbahnen 
und 52,94 km nebenbahnähnliche Kleinbahnen; es sind lauter ganz 
kleine Betriebe, da sich 6 und 5 Personen darin teilen. Der ganze 
Rest ist im Besitz von Aktiengesellschaften. 

Das größte Einheitsnetz besitzt unter den Straßenbahnen 
die Große Berliner Straßenbahn, die zusammen mit ihren Tochterbetrieben 
323 km zu bedienen hat und damit alle deutschen Privateisenbahnen, 
allein die Pfälzischen Bahnen ausgenommen, erheblich an Umfang über- 
trifft. Unter den nebenbahnähnlichen Kleinbahnen stehen die Mecklen- 
burg-Pommerschen Schmalspurbahnen mit 151 km an der Spitze; doch 
betreibt die Firma Lenz & Co. mit ihren Tochtergesellschaften ein — 
meist gepachtetes — Netz von nicht weniger als 2229 km Länge, das 
sich auf 55 Einzelunternehmungen verteilt. — 

Als Betriebsmittel überwiegt bei den Straßenbahnen bereits 
bei weitem die Elektrizität, da nur noch 96 km — 3,3 Proz. mit 
Pferden und 175 km — 5,9 Proz. mit Dampf, sowie 6,4 km mit Seilen 
betrieben werden. Umgekehrt entfallen bei den nebenbahnähnlichen 
Kleinbahnen nur 226 km — 4,2 Proz. auf den elektrischen Betrieb, 


656 


Miszellen. 


Länge der Eisenbahnen 


Eisenbahnen nach der G lü 
Seng Reichsstatistik RER 

er — 
Bundesstaaten Straßen-| Klein- e Schmal- auf ie 
bahnen | bahnen | Haupt- | Neben- spur- im auf je |10 000 
ganzen |100 qkm Ein- 
Bahnen wohner 

kın km kın km | km 
— + = —— — 

Preußen und zwar in: i 
Ostpreußen 48,30] 372,56| 864,77) 1454,65 2691,98, 7,28 | 13,46 
Westpreußen 57,66 | 238,89 744,52 927,69 I 911,10 7,48 | 12,14 
Brandenburg 448,21] 563,40 | 2445,43, 1 127,87 4 136,70| 10,37 8,20 
Pommern 31,08 | 1191,67 735,11) 1 180,95 3 107,73! 10,32 | 18,90 
Posen 23,40 | 469,60 | 1015,87 1 083,67 2569,14 8,87 | 13,58 
Schlesien 97,85 | 368,04 | 2622,31, 1319,22] 135,84 | 4445,41, 11,03 9,45 
Sachsen 136,93 | 477,06 | 1 878,36, 888,39| 57,80| 3 301,61) 13,07 | 11,58 
Schleswig-Holstein 103,18 | 420,28| 838,60 587,42] 28,70| 1875,00) 9,87 | 13,40 
Hannover 176,66 | 410,39 | 1 777,983) 1 002,99| 33,80 | 3 225,11) 8,37 | 12,34 
Westfalen 248,18 | 188,43 | 1819,05| 804,01| 43,47 | 2854,96| 14,13 | Bai 
Hessen-Nassau 113,17 | 195,73 | 1 117,89, 598,37 15,84 | 1927,83| 12,28 | 10,07 
Rheinprovinz 634,16 | 494,42 | 2471,79 1301,45, 143,17 | 4410,83, 16,34 7,56 
Hohenzollern 38,65 65,77 24,91 129,33, 11,32 | 19,31 
Preußen 2118,78 | 5429,12 |18 397,36 12 301,59| 458,62 |36 586,73] 10,49 | 10,52 
Dagegen Ende 1900 1946,34 | 4728,21 |18 361,40/11 605,83| 486,89 |35 181,79] 10,09 | 10,11 

I I 

Bayern 116,13 4607,3| 2144,64 82,61 | 6834,88) 9,01 | 10,18 
Württemberg 40,27 14,62 | I 465,59| 215,09, 218,03 | 1913,33) 9,80 | 8,11 
Sachsen 293,41 1750,88| 704,37) 424,45 | 2879,70| 19,21 6,78 
Baden 58,14 42,19 | 1468,10| 426.06) 250,20 | 2187,15| 14,50 | 11,61 
Hessen 17,96 | 40,30 | 826,74| 404,83 5,68 | 1277,55) 16,68 | 11,30 
Oldenburg 3.81) 31,26, 311,59] 250,15) 7,00| 600,00! 9,33 | 14,89 
Mecklenburg-Strelitz 65,56 150,82 97,27! 313,65] 10,71 | 3048 
Mecklenburg-Schwerin 11,50 511,14| 661,51 6,61 | 1 179,26) 8,93 | 19,33 
Sachs.-Weimar- Eisenach 19,29 217,01), 136,37) 91,57| 444,95] 12,30 | 12,17 
Sachsen-Coburg-Gotha 3,21 141,20) 155,23. 296,43] 14,99 | 12,82 
Sachsen-Meiningen 0,20 173,93 78,52, 54,30) 306,95| 12,44 | 12,14 
Sachsen-Altenburg 3,70 106,08 82,55| 2,01 191,24| 14,45 | 9,73 
Braunsehweig 33,69 23,54! 345,80| 239,56) 47,51 656,41! 17,88 | 14,02 
Anhalt 17,88] 40,30! 215,84 78,93| 3410| 369,17| 16,06 | 11,58 
Schaumburg-Lippe 12,99 24,32 13,68 50,99| 14,99 | 11,75 
Lippe 10,70 43,97 40,33 84,30| 6,94 | 6,03 
Reuß ältere Linie 25,33 17,95! 43,28| 13,67 | 6,30 
ReuB jüngere Linie 17,49 44,79 50,02 16,09 110,90| 13,41 7,90 
Schwarzb.-Sondershaus. 60,76 86,77 147,58| 17,11 | 18,14 
Schwarzburg-Rudolstadt 52,28 59,76 112,04| 11,91 | 11,97 
Waldeck 313 3,87 35,44 2,06 41,37) 3,69 74 
Hamburg 108,78 38,33 6,65 44,98| 10,83 | 0,58 
Bremen 42,04 9,89 46,17 5,15 61,21] 23,87 | 259 
Lübeck 12,72 51,57 51,57) 17,32 5,26 
Elsaß-Lothringen 73,74 1305,66| 361,16) I9r,81| I 858.65| 12,81 | 10,61 
Außerpreußen 887,63 | 281,45 |13 989,20) 6 351,99| 1434,63 |22 057,27| 11,48 | 9,99 
Dagegen Ende 1900 799,35 | 237,25 |13 850,75 6060,46) 1313,24 21 461,70, 11,17 9,72 
Zusammen Deutschland | 3006,41 | 5710,57 |32 380,60|18 653,58] 1893,25 [58 644,00| 10,85 | 10,31 
Dagegen Ende 1900 2745,69 | 4965,46 |32 212,11 12 666,29| 1799,63 |56 ei 10,48 | 9,96 


Miszellen. 657 


und darunter haben noch 70 km daneben Dampflokomotiven in regel- 


mäßiger Benutzung. 


Die Zahlder Angestellten betrug bei den preußischen Straßen- 
bahnen 16 164 Beamte und 7379 ständige Arbeiter, bei den nebenbahn- 
ähnlichen Kleinbahnen 3483 Beamte und 3564 Arbeiter; auf eine Straßen- 
bahn entfallen hiernach bei einer Durchschnittslänge von 16,8 km 170, 
auf eine nebenbahnähnliche Kleinbahn bei 32,1 km 38 Bedienstete. — 


Die Betriebsleistungen waren diese: es wurden 


im 
Personen- l Güter- 
verkehr 
auf ee : z 
HER Personen W er: Gütertonnen 
gefahren befördert gefahren befördert 
den preußischen Straßen- | 
bahnen 
im Jahre 1901 insgesamt 
auf 2065 km Bahn!) 225 978 334 799 949 824 I 924 516 726 139 
auf je 1 km 109 433 387 385 932 352 
im Jahre 1900 insgesamt 
auf 1764 km Bahn !) 178 924 344 640 131 856 2 032 849 691 844 
auf je 1 km 101 431 362 886 1153 392 
allen deutschen Straßen- 
bahnen 
im Jahre 1901 insgesamt 
auf 2923 km Bahn !) 349 646 303 | 1 191 457 092 2 566 239 971377 
auf je 1 km 119 619 407 615 878 333 
im Jahre 1900 insgesamt 
auf 2659 km Bahn !) 299 546 356 | 1043 943 064 — — 
auf je 1 km 112 654 392 607 — -— 
den preuBischen nebenbahn- 
ähnlichen Kleinbahnen 
im Jahre 1901 insgesamt 3 
auf 4900 km Bahn ?) 79 482 162 39549 151] 72123 297 8 330 591 
auf je 1 km 16 102 8 192 14 629 1 681 
im Jahre 1900 insgesamt 
auf 4125 km Bahn !) — 36 691 135 — 7 121 656 
auf je 1 km — 8 895 — 1 726 
allen deutschen nebenbahn- 
ähnlichen Kleinbahnen 
im Jahre 1901 insgesamt 
auf 5200 km Bahn 8) 87 172049 45954714| 74814258 | 8446404 
auf je 1 km 16 786 9 007 14 310 1 620 
im Jahre 1900 insgesamt 
auf 4338 km Bahn !) — 43 359 689 — 7 196 029 
auf je 1 km — 9 995 — 1659 
den deutschen Vollbahmen 
im Jahre 1901 auf je 1 km 86 767 — 252 315 — 


1) Hier ist die Zahl der berichtenden Bahnen eingesetzt. 
2) Die Zahl der Bahnen ist für jede Rubrik verschieden und bewegt sich zwischen 


1828 und 4955 km. 


3) Hier bewegt sich die Länge der berichtenden Bahnen zwischen 5102 und 5214 km. 


Dritte Folge Bd. XXV (LXXX). 


42 


658 Miszellen. 


Bei den Straßenbahnen tritt hiernach, wie nicht anders zu erwarten, 
der Personenverkehr weit in den Vordergrund; bei den nebenbahn- 
ähnlichen Kleinbahnen stehen sich beide Dienstzweige ziemlich gleich- 
wertig gegenüber, bei den Vollbahnen überwiegt der Güterverkehr. 
Die Straßenbahnen haben im Personendienst eine Steigerung der Ver- 
kehrsintensität erfahren, im Güterdienst dagegen eine Abnahme; auf 
den nebenbahnähnlichen Kleinbahnen ist in beiden Zweigen ein sehr 
beträchtlicher Rückgang der auf 1 km entfallenden Leistung eingetreten 
— ein Zeichen, daß der Bau derartiger Bahnen dem Bedürfnis voraus- 
geeilt ist. Mit den Vollbahnen können sich die Kleinbahnen an Ver- 
kehrsintensität noch bei weitem nicht messen. — 

Das Finanzergebnis war dieses: auf 1 km berechnet, betrug 


die i die | der 
Betriebs- Betriebs- ' Betriebs- 


ber einnahme | ausgabe | überschuß 
M. |. M. M. 

den preußischen Straßenbahnen 

im Jahre 1901 38 155 23 237 14 918 

im Jahre 1900 37 354 23 135 14 219 
allen deutschen Straßenbahnen 

im Jahre 1901 42457 25 380 17 077 

im Jahre 1900 E. IOI 24 248 15 853 
den preußischen nabentahnähälichen Kleinbahnen 

im Jahre 1901 3 988 2 923 1 065 

im Jahre 1900 — = en 
allen deutschen nebenbahnähnlichen Kleinbahnen 

im Jahre 1901 3 964 2 905 1059 

im Jahre 1900 3513 2513 1 000 
den deutschen Vollbahnen 

im Jahre 1901 38 853 25 801 13 052 


Die bei beiden Bahnarten nicht beträchtliche Einnahmesteigerung 
ist hiernach bei den Straßenbahnen zu gutem Teil, bei den nebenbahn- 
ähnlichen Kleinbahnen fast vollstandig durch die Ausgabenvermehrung 
aufgezehrt worden. Gegenüber dem kilometrischen Anlagekapital von 
203042 M., wie es die amtliche Nachweisung für die preußischen 
Straßenbahnen berechnet, und von 51 711 M. für die nebenbahnähnlichen 
Kleinbahnen bedeutet der Betriebsüberschuß einen Ertrag von 7,35 und 
2,06 Proz.; von den nebenbahnähnlichen Kleinbahnen haben nicht weniger 
als 40, allerdings meist ganz junge Unternehmungen mit einer Länge 
von 1245 km mit einem Verlust abgeschlossen, d. h. 22 Proz. der be- 
richtenden Verwaltungen und 23 Proz. der Länge. -— 

Das Anlagekapital ist für die preußischen Kleinbahnen auf 
folgende Beträge festgestellt: es haben aufgebracht 

(Siehe Tabelle auf S. 659.) 

Das ergibt ein Gesamtanlagekapital von 483 882 785 M. für die 
Straßenbahnen und von 354063137 M. für die nebenbahnähnlichen 
Kleinbahnen. 


Miszellen. 659 


bei den | bei den 
e nebenbahnähnl. 
StraBenbahnen Kleinbahnen 

der Staat 49500 M. | 45493065 M. 
die Provinzen 499 167 „ 38758204 ,, 
die Kreise 46 247 939 „ 79 362 869 ,, 
die Nüchstbeteiligten| 15716034 ,, 28 822 556 „, 
die Unternehmer 420870 145 ,, | 161626 443 „, 


Die Jahresbelastung der preußischen Kommunal- 
verbände ist für das Jahr 1901 für die Provinzen auf 1173828 M. 
und für die Kreise auf 1 562 895 M. festgestellt. Diese Summen ver- 
teilen sich auf die Provinzen, wie folgt: es hatten zu verzeichnen 


die Kreisausschüsse 
die Provinzial- - 7 
^ verwaltungeinen| ei i insgesam 
n Zuschnß. yon Md Sex p^ er also einen 
M. M x M Zuschuß von 
A d M. 

Ostpreußen 115 427 128 307 — 128 307 
Westpreußen 68 636 90 298 — 90 298 
Brandenburg 97 142 249 973 — 249 973 
Pommern 377 483 485 265 — 485 265 
Posen 30 087 305 197 747 364 450 
Schlesien 41 826 64 026 — 64 026 
Sachsen 44 405 | 62 243 — 62 243 
Schleswig-Holstein 125 613 299 092 — 299 092 
Hannover 85 610 203 981 I 338 202 643 
Westfalen 23 288 243 692 213677 30015 
Bezirk Kassel 30 860 A ^ ; 
Bezirk Wiesbaden 27 314 ( 53967 1040935 | (+ 968 968) 
Rheinprovinz 75 080 654 705 85 854 568 851 
Hohenzollern 31057 4 700 — 4 700 


Der Ueberschuß, der sich hiernach für die Kreise der Provinz 
Hessen-Nassau rechnerisch ergibt, rührt lediglich von den Bahnen des 
Stadtkreises Frankfurt a. M. her; sieht man von diesen ab, so bewegen 
sich die Ueberschüsse zwischen 747 M. (Kreis Wreschen) und 190512 M. 
(Stadtkreis Bielefeld), während die Zuschüsse von 64 M. (Merzig in 
der Rheinprovinz) bis auf 285543 M. (Stadtkreis Düsseldorf) an- 
steigen. 

Der Staat hat im Jahre 1901 aus seiner gesamten Kleinbahnen- 
beteiligung nur 267 969,58 M. Einnahmen gehabt. Der Kleinbahn- 
unterstützungsfond betrug Ende 1902 69 Mill. M.; davon waren 
50928 884 M. bereits bewilligt und 4837 487 M. in Aussicht gestellt, 
im ganzen also 55766371 M. vergeben, während weitere 10 364 500 M. 
schon beantragt und noch 61 Anträge zu erwarten waren. — 

$ 42% 


660 Miszellen. 


An Unfällen endlich sind im Jahre 1903 vorgekommen 


Tötungen Verletzungen 
bei Fahrgäste ^ Fahrgüste 

und fremde is ge, und fremde |, en 

Personen as Personen | lenstete 
den preußischen Straßenbahnen 142 9 356 121 
allen deutschen " 198 IO 533 158 
den preußischen | nebenbahnähnlichen 23 6 34 21 
allen deutschen Kleinbahnen 23 6 37 22 


Im ganzen haben sich die deutschen Kleinbahnen als ein wichtiges, 
nicht mehr zu entbehrendes Glied der Verkehrsorganisation erwiesen. 
Andererseits ist aber auch nicht zu bestreiten, daß die Entwickelung 
namentlich der nebenbahnähnlichen Kleinbahnen während des industriellen 
Aufschwungs, zu gutem Teil als dessen Ursache, ein allzu schnelles 
Tempo angeschlagen hatte; und auch bei den Straßenbahnen hat die 
Einrichtung des elektrischen Betriebes nicht überall vorteilhaft gewirkt. 
Wie weit den finanziellen Lasten, die insbesondere die preußischen 
Kommunalverbände sich aufgebürdet haben, indirekte Vorteile gegenüber- 
stehen, ist bei einer Beurteilung der Kleinbahnenpolitik zwar nicht außer 
acht zu lassen, aus einer Kleinbahnenstatistik aber aufgabegemäß nicht 
zu entnehmen. 


Miszellen. 661 


Nachdruck verboten. 


XIII. 


Das Genossenschaftswesen im europáischen Weinbau. 
Von Dr. Grabein- Darmstadt. 


Vor einer Reihe von Jahren hat Prof. Huber-Stuttgart in 
Schmollers Jahrbüchern die Winzergenossenschaften in ihrer Bedeutung 
für die Massenerziehung und für die Massenorganisation gewürdigt). 
Er schilderte ihre Entwickelung als vorbildlich für die Lösung des 
Problems, den Kleinbetrieb im Wege genossenschaftlicher Organisation 
technisch und wirtschaftlich mit dem Grofbetrieb konkurrenzfáhig zu 
machen. Die einst als Zauberformel betrachtete bloße Empfehlung der 
Assoziation, so führte er aus, sei unwirksam, wenn nicht die Ueber- 
windung der psychologischen Hindernisse — mangelnde Erkenntnis 
und Energie — auf seiten der kleinen Produzenten gelänge. Hierzu 
bedürfe es einmal eines starken äußeren Druckes, schwerer wirt- 
schaftlicher Notlage und tatkräftiger, hilfsbereiter Agitation von oben 
durch Staat, Genossenschaftszentralen. Selbst ein solcher äußerer Anstoß 
würde indes kaum zum Ziele führen, wenn nicht durch lokale Organe, 
insbesondere durch schon vorhandene einfachere genossenschaftliche 
Organisationen (Kreditgenossenschaften, Bezugsgenossenschaften) Einsicht 
und Wille für die weit schwierigeren Aufgaben genossenschaftlicher 
Produktiv- und Absatzorganitationen geschult seien. 

Unter ähnlichen psychologischen und soziologischen 
Gesichtspunkten, wie sie damals Huber im wesentlichen unter Be- 
schränkung seine Darstellung auf deutsche Verhältnisse anwandte, hat 
vor kurzem Berget?) in einem umfangreichen Werke: ,Coopération 
dans la viticulture européenne“ die Entwickelung des Ge- 
nossenschaftswesens im gesamten europäischen Weinbau ge- 
schildert. Da seine Studien sich zu einer allgemeinen Analyse der 
psychologischen, sozialen, volkswirtschaftlichen Bedingungen und Grenzen 
genossenschaftlicher Organisation vertieft haben, dürfte eine eingehendere 
Beachtung seines Werkes trotz der relativ untergeordneten Bedeutung 
des speziellen Behandlungsgegenstandes gerechtfertigt sein. 


1) Schmollers Jahrbücher, 1892, S. 1063 ff. 
2) Adrien Berget, La coopération dans la viticulture européenne. Etude d'economie 
rurale et d'histoire agronomique. Lille 1902, p. 716. 


662 Miszellen. 


Nach einleitenden Betrachtungen über das Genossenschaftswesen 
im allgemeinen wendet sich Berget, in der Hauptsache im Hinblick auf 
französische Verhältnisse, zu einer Schilderung des Milieus der weinbau- 
treibenden Bevölkerung. Nach weit verbreiteter Auffassung sei 
dasselbe kein günstiger Nährboden für die Entwickelung 
des Genossenschaftswesens. Der Weinbau, als eine höchst 
arbeitsintensive, von den individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten 
des einzelnen in ihren wirtschaftlichen Erfolgen sehr bedingte Kultur, 
fördere eine individualistische Richtung des Volkscharakters. In Ver- 
bindung mit den in früheren Jahrzehnten aus dem Weinbau vielfach 
fließenden reichlichen Einnahmen sei daher häufig der Typus extrem indi- 
vidualistischer Emporkömmlinge entstanden, welche Sinn und Herz für 
ein genossenschaftliches Zusammengehen verloren haben. Diese übliche 
psychologische Analyse des französischen Weinbauern sei indes nur 
bedingt und nicht mehr in der Gegenwart zutreffend. Die intensive 
Kultur ermögliche einmal ein enges räumliches Zusammenwohnen, 
fördre damit das Zusammensein und den Geselligkeitssinn. In 
gleicher Richtung wirke der übliche reichliche Genuß der von Bacchus ge- 
spendeten Gaben, die bekanntlich mit größerem Genuß im Kreise froher 
Gesellen, als allein verzehrt werden. Die höhere Technik der Weinkultur 
hebe fernerhin Intelligenz und Bildung des Winzerstandes, erschließe 
daher leichter das Verständnis für die Vorteile genossenschaftlichen Zu- 
sammenschlusses. Zu diesen psychologischen Motiven tritt der eiserne 
Druck der wirtschaftlichen Notlage, welche heute fast über den 
gesamten europäischen Winzerstand sich ausdehnt. Einmal sind es die 
Verheerungen der Reblaus, welche dem Winzerstande Kapitalverluste 
von enormer Höhe — Berget beziffert sie allein für Frankreich auf die ge- 
waltige Summe von 10—20 Milliarden fres. — gebracht haben. Hierzu ge- 
sellt sich die Konkurrenz der Kunstweine, welche eine mit allen Kennt- 
nissen moderner Chemie ausgestattete Weinindustrie, billig und geschickt 
dem Geschmack der Konsumenten angepaßt, in großen Massen auf den 
Markt wirft. Damit verbindet sich eine vielfach durch die Anpflanzung 
neuer an Stelle der von Reblaus vernichteten Rebstöcke verursachte 
Ueberproduktion von Naturweinen, die infolge der ver- 
besserten Verkehrsmittel zu  gesteigerter, preisdrückender Ausfuhr 
nach anderen teuerer produzierenden Weinbauländern führt. Insbe- 
sondere in Frankreich haben die reichen Ernten der Jahre 1899 und 
1900 die Preise der billigen Massenweine auf ein bis dahin nicht ver- 
zeichnetes niedriges Niveau, heruntergehend bis auf 1 frc. pro 
Hektoliter, gedrückt. Diese Verschlechterung der Absatzverhältnisse 
mußte den Gedanken verbesserter Absatzmethoden im Wege genossen- 
schaftlicher Organisation nahe legen, und in die gleiche Richtung 
drängten die Fortschritte der önologischen Technik. Die rationelle 
Weinbereitung erfordert heute eine Fülle technischer Kenntnisse und 
verbesserter Betriebseinrichtungen, welche der kleine Winzer nicht in 
seiner Isolierung, sondern nur im genossenschaftlichen Zusammenschluß 
sich verschaffen kann. 

So dringlich die Notwendigkeit genossenschaftlicher Organisation 


Miszellen. 663 


für den europäischen Winzerstand sei, so wäre doch ihre Verwirklichung 
in den einzelnen Ländern eine sehr verschiedene. Deutschland ge- 
bühre das Verdienst, die genossenschaftliche Organi- 
sation im Weinbau äußerlich am weitesten, innerlich 
am vollkommensten ausgebildet zu haben. Ursächlich be- 
gründet sei das durch die größere genossenschaftliche Schulung der 
deutschen Landbevölkerung, die ihrerseits eine Folge des dichten Netzes 
ländlicher Genossenschaften, namentlich von Spar- und Darlehnskassen, 
sei. Ueber diese erzieherische Wirkung hinaus hätten die Spar- und 
Darlehnskassen direkt durch Gewährung von Anlage- und Betriebskredit 
in wirksamster Weise die Ausbreitung der Winzergenossenschaften, 
materieli gefördert. Bezüglich der Organisation der deutschen Winzer- 
genossenschaften betont Berget den Nutzen der üblichen engen räum- 
lichen Begrenzung, wodurch Technik wie Bildung, wirtschaftlicher wie 
sozialer Geist in intensivster Weise gefördert würde. Als die Frucht 
einer solchen sozialen Erziehung gilt es ihm, daf heute an der Spitze 
der aus kleinen Anfängen herausgewachsenen Winzergenossenschaften 
einfache Landwirte stehen, „welche an Weite des Gesichtskreises und 
praktischer Einsicht in nichts ihren Rivalen, den Weinhändlern, nach- 
stehen. Ihr Charakter stellt eine originelle Mischung kaufmännischer 
Findigkeit mit gründlicher bäuerlicher Verstündigkeit dar“. Wie weit 
die wirtschaftliche und soziale Erziehung auch bei der Masse der Ge- 
nossen gediehen, beweise die Tatsache, daß ein Winzerverein für ein 
ihm plötzlich gekündigtes größeres Kapital binnen 24 Stunden von 
seinen Mitgliedern durch Inanspruchnahme ihrer und ihrer Verwandten 
Kredit- und Kapitalmittel Ersatz schaffen konnte. 

Entsprechend der geringeren genossenschaftlichen Entwickelung und 
Schulung in den meisten ausländischen Weinbaugebieten, ist hier die 
genossenschaftliche Organisation der Weinbauern im Vergleich zu 
Deutschland relativ und absolut im Rückstand. In der Schweiz be- 
deuten die neuerdings unter dem Druck der italienischen Weineinfuhr 
gegründeten Weinverkaufsgesellschaften (syndicats vinicoles) erst eine 
Vorstufe genossenschaftlicher Entwickelung, denn sie betreiben zumeist 
nur kommissionsweise den Absatz der von ihren Mitgliedern individuell 
erzeugten Weine. Der Schritt zur gemeinsamen Kelterei und Ver- 
wertung ist nur vereinzelt erfolgt, die älteste Keltereigenossenschaft 
ist allerdings schon 1872 zu Sion, Kanton Waadt, gegründet. Auch 
hier gab die extreme Not der kleinen Winzer, welche mangels aus- 
reichender Kellereianlagen zum Traubenverkauf gezwungen waren und 
damit ganz der Ausbeutung der Traubenaufkäufer ausgeliefert waren, 
den ersten Anstoß. Es bedurfte dabei der hilfreichen Mitwirkung eines 
größeren Besitzers, um diesen ersten Versuch zur erfolgreichen Durch- 
führung zu bringen. Nach dem Vorbild von Sion sind neuerdings eine 
Reihe weiterer Kellereigenossenschaften entstanden; ihr Charakter ist 
indes — abgesehen von ihrer äußeren Form (Aktiengesellschaft mit 
niedrigen Aktienbeträgen) — insofern kein rein genossenschaftlicher, 
als sie in größerem Umfange fremde, nicht von ihren Mitgliedern er- 
zeugte Trauben verarbeiten. 


664 Miszellen. 


Während in der Schweiz die Entwickelung eine autochthone ist 
und sich insbesondere die Entstehung der Weinverkaufssyndikate aus 
älteren Organisationen der Winzer verfolgen läßt, sind in Tyrol neuer- 
dings zahlreiche Kellereigenossenschaften direkt unter deutschem Ein- 
fluß nach Muster der deutschen Winzergenossenschaften errichtet worden. 
Hier zeigte sich dabei der günstige Erfolg einer tatkräftigen, finanziell 
hilfsbereiten Propaganda von oben (Staats- und Kommunalbehörden, 
Genossenschaftsverbände) zugleich aber die mindest ebenso wertvolle 
Mitwirkung der bereits vorhandenen lokalen genossenschaftlichen Organi- 
sationen (Spar- und Darlehnskassen). 

In Rußland und in den Balkanstaaten hemmen der niedrige 
Kulturstand, der Mangel an Kapital eine genossenschaftliche Organi- 
sation, obwohl sie bei der skrupellosen Ausbeutung des Weinbauern 
durch den Händler fast dringlicher als anderwärts erscheint. Für Ruß- 
land vermag Berget nur von einer Winzergenossenschaft — Kakhetie 
in Transkaukasien — günstige, bemerkenswerte Erfolge zu verzeichnen. 
Sie wurde 1896 von 30 Winzern aus der intelligenten georgischen Be- 
völkerung errichtet, zählte 1900 schon 86 Mitglieder, wies einen Absatz 
von 438000 l im Werte von 487 000 frcs. und verfügte über eigene 
lediglich von ihren Mitgliedern und aus dem eigenen Geschäftsbetrieb 
aufgebrachte Kapitalmittel in Höhe von 202 500 fres. Es ist ihr ge- 
lungen, in direkte Geschäftsbeziehungen mit den Konsumenten — wohl- 
habenden Privatleuten, Offizierskasinos, Klubs u. a. — zu treten und 
damit durch Vermeidung der zahlreichen Spesen des sonst weit- 
verzweigten Zwischenhandels den Produzenten gegen früher um 15 bis 
20 Proz. erhöhte Preise zu verschaffen. Ihre Erfolge verdankt die Gesell- 
schaft lediglich der Selbsthilfe, ihr ist keinerlei staatliche Förderung 
zu Teil geworden und auch die finanzielle Unterstützung durch lokale 
Banken hält sich in engen Grenzen, da diese der Gesellschaft den ihr 
benötigten langfristigen Kredit nicht zur Verfügung stellen können. So 
ist sie in der Hauptsache auf die Kapitalmittel ihrer Mitglieder und 
die Ueberschüsse ihres eigenen Geschäftsbetriebes angewiesen. Es ist 
daher um so höher anzuschlagen, wenn schon gegenwärtig so erhebliche 
Umsatzzahlen erreicht und Betriebsmittel angesammelt sind. Was hier 
eine intelligente und ohne Zweifel auch materiell gutgestellte Klasse 
größerer und mittlerer Winzer aus eigener Kraft erreicht hat, das wird 
der großen Masse kulturell und wirtschaftlich tiefstehender Winzer Rub- 
lands allerdings nicht gelingen. Als Voraussetzung einer umfangreicheren 
Entwickelung der genossenschaftlichen Organisation im Weinbau er- 
achtet Berget daher auch für Rußland die Ausbreitung eines Netzes 
lokaler Kreditkassen und tätige Mithilfe der Staatsgewalt. Möglich sei, 
daß hier der genossenschaftlichen Organisation vorerst die Bildung großer 
kapitalistischer Weinerzeugung- und -Handelsgesellschaften vorangehen 
würde, welche durch Hebung der Technik des Weinbaues und der 
Kellerwirtschaft, sowie durch Ausschaltung des lokalen Kleinhandels 
den Boden für eine spätere genossenschaftliche Organisation vorbereiten. 
Ob indes gegenüber einer solchen kapitalkräftigen Organisation später- 
hin die Bildung von Winzergenossenschaften leicht sein wird, das dürfte 
u. E. nach den Erfahrungen in anderen Ländern fraglich sein. 


Miszellen. 665 


Aehnlich wie in Rußland hemmen in den Balkanstaaten das 
niedrige Kulturniveau im allgemeinen, die rückständige Technik, Kapital- 
mangel im besonderen die Ausbreitung genossenschaftlicher Organi- 
sationen. Nur für Serbien, wo die Raiffeisenkassen bereits 
eine ansehnliche Verbreitung gefunden haben — es wurden 1899 
deren schon 180 gezählt — wird das Bestehen zweier Weinverkaufs- 
genossenschaften kurz erwähnt. In Rumänien sind mehrere Versuche 
genossenschaftlicher Organisation an dem nationalen Gegensatz zwischen 
Wallachen und Moldauern gescheitert. In Bulgarien haben sich bis- 
her erst großkapitalistische Weinerzeugungs- und -Ausfuhrgesellschaften 
gebildet, die Türkei!) kennt keinerlei genossenschaftliche Organi- 
sationen und in Griechenland besteht nur das eigenartige Institut 
der staatlichen Rosinenbank, die, neben ihren fiskalischen und protek- 
tionistischen Aufgaben, als Kreditbank und als Einkaufszentrale für Be- 
darfsartikel des Weinbaues wirkt. 

In Spanien hat das neuerliche Sinken seiner Weinausfuhr infolge 
der Regeneration des französischen Weinbaues die Lage der Winzer 
wesentlich verschlechtert. Daher sind in den letzten Jahren Bestrebungen 
zur Bildung genossenschaftlicher Organisationen im Weinbau auch hier 
erwacht. Die geringe, im wesentlichen auf die Ausbreitung von städtischen 
Konsumvereinen in den Industriegebieten beschränkte Verwirklichung 
des Genossenschaftsprinzips hemmt indes die Entstehung höherer Organi- 
sationsformen, wie der Winzergenossenschaften. In Zusammenwirkung 
mit den allgemeinen Verhältnissen der Agrarverfassung und der volks- 
wirtschaftlichen Entwickelung war es daher verständlich, daß hier die 
Grundherren mit der Einrichtung moderner Kellereianlagen voran- 
gingen. Die gesamte von ihren, im Halbbau arbeitenden Pächtern ge- 
wonnene Traubenernte wird dort verarbeitet und alsdann den Püchtern 
der auf sie entfallende Anteil des erzeugten Weines in natura über- 
wiesen. Diese bleiben bei einem solchen Verfahren mit dem Risiko 
und dem Nachteil des Absatzes ihrer kleinen zersplitterten Verkaufs- 
mengen belastet. Es würde daher einen wünschenswerten und tatsäch- 
lich auch schon angestrebten Fortschritt darstellen, wenn die Grundherren 
auch den Verkauf des Weinanteils ihrer Pächter übernehmen. Diese 
grundherrlichen Kellereien lassen sich allerdings in keiner Weise als 
genossenschaftliche Organisationen betrachten, aber unter den gegebenen 
wirtschaftlichen Verhältnissen erscheinen sie als notwendig und nützlich 
für die Vorbereitung späterer genossenschaftlicher Bildungen, für welche 
die Agitation kürzlich greifbarere Formen angenommen hat. In Portu- 
gal besteht seit 1889 eine in der Hauptsache aus Großgrundbesitzern 
gebildete Weinexportgesellschaft, welche als einen bislang allerdings 
noch nicht verwirklichten Programmpunkt die Bildung von kleinen 
lokalen Winzergenossenschaften aufführt. Lediglich das Bestehen von 
zwei Genossenschaften der Art ist heute zu verzeichnen, andere 
Versuche sind an dem Mangel an Beständigkeit und den extremen 


1) In Palästina ist zu Sarona von deutschen Kolonisten eine Winzer- 
genossenschaft gebildet worden, 


666 Miszellen. 


politischen Gegensätzen selbst innerhalb der kleinsten Gemeinden ge- 
scheitert. 

Eine interessante Entwickelung zeigt Italien, nächst Frankreich 
das bedeutendste Erzeugungsgebiet des Weines. Bis in die jüngste 
Vergangenheit waren hier genossenschaftliche Organisationen der Winzer 
durch die Erinnerung an die Mißerfolge älterer großkapitalistischer 
Weinhandelsgesellschaften gehemmt worden. Diese, zu Anfang der 70er 
Jahre, in hochfliegender Selbstüberschätzung der wirtschaftlichen Kräfte 
des jungen Königreiches, gegründet, gingen alsbald infolge mangelnden 
Absatzes zu Grunde und brachten über die zum Teil an ihnen be- 
teiligten größeren Weingutsbesitzer schwere Verluste. Allmählich ließ 
die Ausbreitung des Genossenschaftswesens, insbesondere auch der 
Molkereigenossenschaften, den Unternehmungsgeist wiederum erwachen. 
Aehnlich wie in Spanien, gaben hier namentlich in den Gebieten des 
Halbpachtsystems die Grundherren zu dieser Bewegung den Anstol. 
Daher tragen diese formell als Aktiengesellschaften mit kleinen Aktien- 
beträgen errichteten Kellereigenossenschaften (Cantine sociali) vielfach 
einen stark patronalen Charakter, insofern ein oder mehrere Großgrund- 
besitzer nach Maßgabe ihrer Kapitalbeteiligung und Traubenlieferungen 
das Uebergewicht haben. Diese patronalen Winzergenossenschaften er- 
wiesen sich indes als eine nützliche Vorstufe für wahrhaft genossen- 
schaftliche Organisationen, wie sie nunmehr in den letzten 3—4 Jahren 
in größerer Zahl dank weitgehender Mithilfe der lokalen Spar- und 
Darlehenskassen sich gebildet haben. Bemerkenswert ist hierbei die 
Erscheinung, daß einige dieser neueren Kellereigenossenschaften zu dem 
Zwecke gegründet wurden, um bestehenden städtischen Konsumvereinen 
ihren Weinbedarf zu liefern. Damit war für sie von vornherein die Absatz- 
frage in glücklichster Weise gelöst. Umgekehrt haben einige städtische 
Konsumvereine den Schritt zur Eigenproduktion ihres Weinbedarfs unter- 
nommen. So stellte z. B. die Unione cooperativa di Milano schon im 
Jahre 1896 in ihrer Kellereianlage 40000 hl Wein her und 
kaufte 14000 hl zu Mischungszwecken hinzu. Gefördert wurde 
übrigens die Ausbildung der Winzergenossenschaften durch die Mithilfe 
des Staates, der unter anderem Prämien bis zu 5000 Lire für die am 
besten organisierte und am erfolgreichsten wirkende Genossenschaft 
aussetzte. Erwähnt sei endlich, daß begünstigt durch Degression bei 
der Alkoholsteuer, sich eine Anzahl Trauben verarbeitende Brennerei- 
genossenschaften gebildet haben sowie daß einige der zahlreichen land- 
wirtschaftlichen Syndikate neben dem gemeinschaftlichen Einkauf von 
Bedarfsartikeln auch kommissionsweise bezw. auf eigene Rechnung den 
Verkauf der Weine ihrer Mitglieder übernommen haben. 

Das Haupterzeugungsgebiet des Weines, Frankreich, zeigt gleich- 
falls eine gegenüber Deutschland noch absolut und relativ geringfügige 
Entwickelung des genossenschaftlichen Zusammenwirkens auf dem Ge- 
biete des Weinbaues. Die Verheerungen der Phylloxera, welche die 
Tätigkeit der Winzer und ihrer Vereinigungen vornehmlich auf die Be- 
kämpfung dieser Krankheit konzentrierten, der stark ausgeprägte Indi- 
vidualismus der französischen Winzer, die auch in Zusammenhang hier- 


Miszellen. 667 


mit relativ geringere Ausbreitung des ländlichen Genossenschaftswesens 
überhaupt sind die allgemeinen Ursachen einer solchen Rückständigkeit. 
Zu ihnen gesellen sich eine Fülle lokaler Gründe, die nur bei einer 
gesonderten Betrachtung der verschiedenen Weinbaugebiete Frankreichs 
erkennbar werden. 

Berget unterscheidet die Gebiete des Qualitätsweinbaues 
(Champagne, Charentes, Bourgogne, Franche-Comté u. a.) von denen 
der Erzeugung billiger Massenkonsumweine. Die erst- 
genannten Gebiete gleichen in gewissen natürlichen und wirt- 
schaftlichen Verhältnissen den Produktionsstätten besserer Weine in 
Deutschland. Sie sind gekennzeichnet durch hohe Kulturkosten und 
phantastisch hohe Bodenpreise, vereinzelt bis 100000 fres. pro Hektar. 
Der bedeutende Wert der hier gewonnenen Produkte macht es erklär- 
lich, daß dieselben nicht im Lande selbst konsumiert werden können, sondern 
ein notwendiger und ebenso gesuchter Ausfuhrartikel für die gesamte 
Kulturwelt sind. Die Organisation dieses Exportes erfordert einen 
kapitalkräftigen, hochstehenden Großhandel, und so ergab sich in diesen 
Gebieten eine besonders drückende Abhängigkeit der Produzenten von 
dem stetig an wirtschaftlicher Bedeutung gewinnenden Weinhandel. 
Am schärfsten trat diese Entwickelung in den Gebieten der Sekt- und 
Cognacbereitung, in der Champagne und Charentes, zu Tage. 
Denn die erhebliche technische Kenntnisse erfordernde Massenherstellung 
einheitlicher Sekt- und Cognacmarken durch Mischung zahlreicher, ver- 
schiedener Weinsorten setzte sehr bedeutende Kapitalien voraus, deren 
Aufbringung dem einzelnen Produzenten unmöglich war. So wurde 
hier der Weinproduzent von ehedem immer mehr zum bloßen Trauben- 
verkäufer, und geriet als solcher bei der Leichtverderblichkeit seiner 
relativ so wertvollen Ware in völlige Abhängigkeit von dem schma- 
rotzerhaften Heere der Traubenaufkäufer. Die Wirkungen dieser Zu- 
stände sind zunehmende Verschuldung der kleinen Winzer und Aufkauf 
ihrer Ländereien durch die großen Weinfirmen, die heute schon in der 
Champagne eine 550 ha, eine andere 100 ha, zahlreiche andere 20—50 ha 
Weinland besitzen. 

Wenn unter solchen Verhältnissen, namentlich in der Champagne, 
der Gedanke genossenschaftlicher Vereinigung bei den Winzern besonders 
lebhaft erwachte, so war das begreiflich. Indes sind mehrere in dieser 
Richtung gemachten Anläufe an der wirtschaftlichen Ueberlegenheit 
der großen Sektfirmen gescheitert. Wie oft bei mangelnder genossen- 
schaftlicher Schulung versuchte man es hier mit einer Aktion im größten 
Stile und so wurde im Jahre 1889 von einem jugendlichen, sozialistischen 
Phantasten die Idee zur Bildung eines großen, sämtliche Weinproduzenten 
der Champagne umfassenden Produktions- und Verkaufsring 
mit monopolistischen Preistendenzen ausgegeben. An seiner angesichts 
der gegebenen Verhältnisse innerlichen Unmöglichkeit und der hieraus 
erklärlichen Zurückhaltung der Mehrheit der Produzenten litt auch dieses 
Unternehmen, wie mehrere seiner im kleineren Maßstab erschienenen 
Vorgänger, Schiffbruch. Wenn nun auch in der Folge mit der Bildung 
kleiner lokaler Winzergenossenschaften ein organisatorisch richtigerer Weg 


668 Miszellen. 


eingeschlagen wurde, so vermochten auch diese bei der absoluten Gegner- 
schaft des Handels sich nicht zu halten und wurden bald zur Auflösung 
gezwungen. Nur die genossenschaftliche Sektfabrik zu Daméry ist be- 
stehen geblieben und hat versucht, bei sozialistischen Konsumvereinen 
Abnehmer zu finden. Sehr befriedigend scheinen ihre Erfolge nicht 
gewesen zu sein. Diese Tatsachen beweisen aufs neue, daß dort, wo 
ein kapitalkräftiger, kommerzieller und industrieller Großbetrieb aus 
technischen und wirtschaftlichen Gründen bereits die Herrschaft ge- 
wonnen hat, die genossenschaftliche Organisation nicht oder nur sehr 
schwer Eingang zu finden vermag. 

In ähnlicher Weise, wenn auch nicht im gleichen Grade, besteht 
in anderen Gebieten des Qualitätsweinbaues ein Uebergewicht des Han- 
dels, welches Versuche zur Ringbildung sowohl, wie die Entstehung 
kleinerer lokaler Produktivgenossenschaften erdrückt hat. Nur einige 
Winzergenossenschaften haben zu prosperieren vermocht, so die ge- 
nossenschaftliche Cognacbrennerei zu Cognac, welche mit Konsum- 
vereinen in Geschäftsverbindung getreten ist und diese am Reingewinn 
beteiligt, und eine genossenschaftliche Sektfabrik zu Lavigny in der 
Franche-Comté. 

Bemerkenswert ist wieder die Tatsache, daß der Bildung der 
leztgenannten Genossenschaft das Bestehen einer örtlichen 
Spar- und Darlehnskasse förderlich war und daß sie für 
zaghafte oder von der Vortrefflichkeit ihres eigenen Kellereiverfahrens 
überzeugte Genossen die eigene Herstellung der Weine zuläßt und 
nur deren Verkauf übernimmt. Neben solchen vereinzelten Produktiv- 
genossenschaften haben die in erster Linie der Bekämpfung der Reb- 
laus, der Verbesserung der Weinkultur, dem Einkauf von landwirt- 
schaftlichen Bedarfsartikeln dienenden Syndikate kommissionsweise 
oder auf eigene Rechnung die Absatzvermittelung des von ihren Mit- 
gliedern erzeugten Weines sich zur Aufgabe gestellt. Da indes die 
Syndikate nach ihrer Rechtsstellung für solche Handelsgeschäfte nicht 
sehr befähigt und geeignet erscheinen, so führte die Entwickelung 
mehrfach zur Bildung großer, zum Teil in der Form von Aktiengesell- 
schaften errichteter Verkaufsvereinigungen. Als das bedeutendste Unter- 
nehmen der Art verzeichnet Berget die Coopérative vinicole generale 
zu Libourne, welche schon im Jahre 1900 einen Absatz von 1!/, Millionen 
fres. erreichte. Sozialpolitisch interessant ist das „Syndicat des petits 
vignerons Tonnerois“, in dessen Geschäftsbetrieb und Organisation sich 
sozialistische Ideen mischen, die zu Geschäftsverbindungen mit gleich- 
gesinnten städtischen Konsumvereinen hinüberleiteten. 

Im Gebiete der Massenproduktion von billigen Kon- 
sumweinen (Südfrankreich) hat sowohl die Uebererzeugung der 
letzten Jahre wie die vom Weinhandel im größten Umfang betriebene 
Produktion geringwertiger Kunstweine den Absatz ungemein ungünstig 
gestaltet, so daß die Verbesserung der Absatztechnik durch genossen- 
schaftliche Organisationen eine Lebensfrage wurde. Da hier nun bei 
dem geringeren Werte und kürzerer Haltbarkeit des Weines dessen tech- 
nische Herstellung und Behandlung eine wirtschaftlich minder wichtige 


Miszellen. 669 


Bedeutung hat, wurden die genossenschaftlichen Bestrebungen demgemäß 
in der Hauptsache auf die Organisation des Verkaufs gerichtet. 
Der bedeutende Umfang der Weinproduktion wies auf die Errichtung 
großer Weinverkaufssyndikate hin. Einige ältere, schon Anfang der 
90er Jahre gegründete Verkaufsgesellschaften der Winzer, die mit der 
Errichtung von Weinverkaufsstellen in Paris vorgingen, hatten Mißerfolge. 
Kreditgewährung an zahlungsunfähige Abnehmer, entgegenstehende Ge- 
schmacksgewohnheiten der Konsumenten, welche an die mundgerechten 
Weine des Handels gewohnt waren, in Verbindung mit unzuverlässiger 
Geschäftsfübrung waren die Ursachen dieser Mißerfolge. Günstiger fuhren 
solche Verkaufsgesellschaften, welche direkte Geschäftsverbindungen 
mit Konsumvereinen anzuknüpfen vermochten. Die Krisis der letzten 
Jahre hat nun der Bildung von solchen Verkaufsgesellschaften erneuten 
Anstoß gegeben, Berget steht dieser Entwickelung etwas skeptisch gegen- 
über, namentlich soweit es sich um Unternehmungen größten Stiles 
handelt. Dieselben könnten leicht, wie die älteren kapitalistischen Wein- 
verkaufsgesellschaften in Italien, am Mangel von Betriebskapital und Ab- 
nehmern, Schiffbruch leiden. Ihre volkswirtschaftliche Bedeutung sei 
zudem eine relativ geringe, denn sie vermöchten angesichts ihrer großen 
territorialen Ausdehnung weder eine Sicherheit für Reinheit und Echt- 
heit ihrer Weine zu liefern, noch auf Verbesserung der Weinkultur und 
Kellerwirtschaft der kleineren Produzenten hinzuwirken. Nach dieser 
Richtung hin müßten sie durch den Unterbau lokaler Vereinigungen 
von Winzern unterstützt werden, die allerdings aus den schon an- 
gedeuteten Gründen kaum in großem Umfange zur höchsten Stufe ge- 
nossenschaftlicher Organisation, zur genossenschaftlichen Weinproduktion 
übergehen würden. So sehr im übrigen die Weinverkaufsgesellschaften 
die Anknüpfung direkter Geschäftsverbindungen mit den Konsumenten 
bezw. Konsumentenorganisationen erstreben sollten, würden sie vorerst 
den kapitalkräftigen, durch seine Erfahrungen und festen Geschäftsver- 
bindungen überlegenen Weingroßhandel kaum aus dem Felde schlagen 
können. Allein schon die Ausschaltung entbehrlicher Zwischenglieder 
des Weinhandels durch die Verkaufsgenossenschaften würde von be- 
achtenswerter Bedeutung sein und müsse als ein zunächst erstrebens- 
wertes Ziel erscheinen. 

An diese beschreibende Darstellung der Entwickelung der Winzer- 
genossenschaften in den einzelnen Weinbauländern knüpft Berget eine 
umfängliche systematische Kritik, deren wesentlichste Ergebnisse hier 
schon vorweg genommen worden sind. Nur einige Gesichtspunkte ver- 
dienen demgemäß noch besondere Hervorhebung, so die interessante 
Frage, ob die in Italien zu beobachtende Eigenproduktion der 
Konsumvereine der Produktion durch die vereinigten 
Produzenten volkswirtschaftlich überlegen sei. Berget 
verneint diese Frage. Mangels genügend technischer Bildung bei den 
Leitern und Mitgliedern der Konsumvereine infolge höherer Transportkosten 
für das Rohmaterial, geringer Transportfähigkeit der besseren, leicht ver- 
derblichen Traubensorten arbeiteten Eigenbetriebe der Konsumvereine 
nicht billiger als die örtlichen Betriebe der Produzenten. Die wünschens- 


670 Miszellen. 


werte Anpassung des Produktes an den Geschmack der Winzer ließe 
sich zudem ohne erhebliche Mühe durch entsprechende gegenseitige Ver- 
ständigung zwischen den organisierten Produzenten und Konsumenten, 
bezw. durch Vornahme des Verschnitts seitens der Konsumvereine er- 
reichen. In einer derartigen verständnisvollen Zusammenarbeit erblickt 
Berget eine der wichtigsten Bedingungen für die zukünftige Entwicke- 
lung der Winzergenossenschaften, und es ist gewiß, daß seine Aus- 
fübrungen für die Weinkonsumländer West- und Südeuropas beachtens- 
werte Bedeutung haben. In geringerem Male gilt das für Deutschland, 
da hier die in den Konsumvereinen vorzugsweise vertretenen minder- 
bemittelten Volksklassen nur in relativ geringem örtlichen und quan- 
titativen Umfang als Weinabnehmer in Betracht kommen. Eine ähnliche 
Beurteilung vom deutschen Standpunkt aus verdient der Gedanke Bergets, 
für den Bezug der oft durch den Zwischenhandel enorm verteuerten 
besseren Qualitätsweine spezielle Bezugsgenossen- 
schaften aus wohlhabenden Kreisen zu bilden. Den praktischen Ge- 
nossenschafter in Deutschland leitet dieser Vorschlag zu dem nahe- 
liegenden Gedanken hinüber, die schon bestehenden Vereinigungen von 
bessergestellten Kreisen angehörigen Konsumenten — unsere Offiziers- 
kasinos, Beamtenvereine, Klubs u.s. w. — mehr als bislang für den 
Weinbezug direkt von den Produzenten bezw. von den Winzer- 
genossenschaften zu interessieren. Diese in Verbindung mit einer 
großen Schar von Einzelkunden schon heute wichtige Abnahme der 
Winzergenossenschaften bildenden Kreise werden in gesteigertem Maße 
gewonnen werden können, wenn das zur Zeit die deutschen Winzer- 
genossenschaften beschäftigende Problem, große, leistungsfähige ge- 
nossenschaftliche Zentralweinverkaufsstellen zu bilden, befriedigend ge- 
löst ist. Bei dem volkswirtschaftlich allerdings nicht gerechtfertigten, 
vom einseitigen Interessenstandpunkt freilich verständlichen Wider- 
stand des Weingroßhandels gegen die Winzergenossenschaften ist die 
Errichtung solcher, auf einer großen Zahl angeschlossener Winzer- 
genossenschaften fußenden, mit reichen Anlage- und Betriebskapitalien 
auszustattenden Zentralstellen für den Weinabsatz im großen und kleinen 
eine wesentliche Vorbedingung für eine weitere gedeihliche Entwickelung 
des genossenschaftlichen Weinverkaufs. Nicht die möglichste Aus- 
schaltung des Großhandels durch Anknüpfung direkter Geschäftsverbin- 
dungen zwischen den organisierten Produzenten und Konsumenten, 
sondern ein teilweiser Ersatz privater Großhandelsbetriebe durch ge- 
nossenschaftliche Großhandelsbetriebe erscheint uns vielfach für deutsche 
Verhältnisse als ein wichtiges Ziel der Genossenschaftsbewegung im 
Weinbau. 


Miszellen. 


[ep] 
1 
Ken 


Nachdruck verboten. 


XIV. 
Die Bevölkerung Russlands. 


Auszug aus der Abhandlung des Statistikers Pokrowski in dem unter 
der Redaktion von Kowalewski herausgegebenen Sammelwerke „Rußland 
am Ende des 19. Jahrhunderts“. 


Von E. Davidson. 


Die ersten 10 Volkszählungen, die in Rußland im 18. und 19. Jahr- 
hundert vorgenommen wurden, dienten vorzüglich zu fiskalischen Zwecken, 
da sie hauptsächlich die Zahl der mit Kopfsteuer belegten „männlichen 
Seelen“ zu bestimmen suchten. Von den Steuerständen wurde eine 
namentliche Liste geführt, die von der Kopfsteuer befreite Bevölkerung 
dagegen wurde nur annähernd nach den polizeilichen Angaben und nach 
den äußerst unvollständigen Ständeverzeichnissen bestimmt. Erst die 
an einem Tage, am 28. Januar 1897, vorgenommene Volkszählung, die 
in ganz Rußland (außer Finnland) durchgeführt und als die „erste all- 
gemeine Zählung“ bezeichnet wurde, trug in ihre Listen die gesamte 
Bevölkerung beiderlei Geschlechts aller Stände und Berufe ein. Die Zahl 
der Einwohner Rußlands wurde nach den verschiedenen Zählungen in 
folgenden Ziffern angenommen: 


Jahre Einwohnerzahl à Jahre Einwohnerzahl 
1. Volkszählung 1724 14 Millionen 6. Volkszählung 1812 41 Millionen 
2. S 1742 16 P 7. 5 1815 45 7 
3. s 1762 19 AN 8. E 1835 60 = 
4. s 1782 28 E 9. z 1855 69 5 
5 1796 36 - 10. f 1858 74 T 


Nach der Zählung vom 28. Januar 1897 gab es in Rußland, ohne 
Finnland, 126411736 Einwohner; Finnland zählte nach der letzten 
Revision vom 31. Dezember 1896 2555462 Einwohner, so daß die 
Gesamtzahl der Einwohner Ruflands Anfang 1897 ca. 129 Millionen 
betrug. Da die Geburtenzahl im Reiche, nach den Angaben der letzten 
3 Jahre zu urteilen, jährlich um 2 Millionen die Zahl der Todesfälle 
übersteigt, so wird man wohl für das Jahr 1900 eine Bevólkerung 
Rußlands von 135 Millionen annehmen dürfen. Die Bevölkerung Rußlands 
stieg somit: 

vom Jahre 1724—1900 im Laufe von 175 Jahren um 9,71 Millionen 
2' o 1906—1900 5. à m XOQp b 3,05 
ái 4  1851—1900 ,, 55 vw 49 ü » 1,95 


672 Miszellen. 


Die ganze Bevölkerung ist auf einem Areal von 22 Mill. qkm (die 
inneren Gewässer inbegriffen) verteilt, was nur 6 Einwohner auf einen 
Quadratkilometer ausmacht. Diese allgemeine Proportion aber würde 
our von dem Vorhandensein einer Menge unbewohnter und teilweise auch 
für menschlichen Wohnort ungeeigneter Gebiete in Rußland Zeugnis 
ablegen. Eine richtige Vorstellung über die Bevölkerungsdichte Rußlands 
kann nur durch einen Vergleich der Bevölkerungsdichte in den ver- 
schiedenen Gebieten des Reiches gewonnen werden. 

Die erste Stelle der Bevölkerungsdichte nach nimmt Kongreß-Polen 
ein, wo bei einer Gesamtbevölkerung von 91/, Millionen 74 Einwohner 
auf je einen Quadratkilometer entfallen — ungefähr dieselbe Dichte 
wie in den benachbarten Teilen Preußens. Sodann folgt das dicht an 
Polen grenzende südwestliche Gebiet, welches eine Gesamtbevölkerung 
von 9,6 Millionen und eine Bevölkerungsdichte von 58 Einwohnern auf 
je einen Quadratkilometer zu verzeichnen hat. Etwas dünner bewohnt 
ist das von diesem Gebiete durch den Dnjeper abgeteilte fruchtbare 
Kleinrußland, wo bei einer Bevölkerung von 7,5 Millionen 49 Einwohner 
auf einen Quadratkilometer entfallen. Nahe daran an Bevölkerungsdichte 
ist der angrenzende zentrale Ackerbaurayon mit 43 Einwohnern auf je 
einen Quadratkilometer bei einer Gesamtbevölkerungszahl von 141/, Mill. 

Der am dichtesten bevölkerte Streifen des Reiches erstreckt sich 
somit von Polen nach dem Inneren Rußlands und umfaßt hauptsächlich 
den steppenlosen Teil des Schwarzerderayons. Von den bewaldeten 
Teilen des Nichtschwarzerderayons besitzen die größte Bevölkerungs- 
dichte Litauen und das Moskauer Industriegebiet, jenes hat 4,8 Millionen 
Einwohner und etwas weniger als 40 Einwohner pro Quadratkilometer, 
dieses 11 Millionen und 32 Einwohner pro Quadratkilometer. 

Zieht man das Fazit für die 6 aufgezählten an einander angrenzenden 
Gebiete, so ergibt sich, daß hier die Hälfte der Bevölkerung des 
europäischen Rußlands auf einem Viertel der Fläche desselben, oder 
44 Proz. der Bevölkerung des Reiches auf 6 Proz. des gesamten Reichs- 
territoriums, konzentriert ist. 

Von den übrigen Gebieten des europäischen Rußlands sind ver- 
hältnismäßig dicht bevölkert: Weißrußland 6,3 Mill. Gesamtbevölkerung 
und 26 Einwohner per Quadratkilometer, und das Baltische Gebiet: 
2,4 Mill. Gesamtbevölkerung und 25 Einwohner per Quadratkilometer. 
Sodann folgen die 3 Gebiete des südlichen und südöstlichen Rußlands, 
welche noch im 16. Jahrhundert jenseits der ethnographischen Grenzen 
Rullands lagen und nach welchen in den letzten 2 Jahrhunderten die 
russische Kolonisation aus den am dichtesten bevölkerten Teilen des 
Reiches zustrómte, welcher Prozeß auch jetzt noch vor sich geht. Es 
sind: Neurußland bei einer Gesamtzahl von 113/, Mill. 24 Einwohner 
per Quadratkilometer, das Wolgagebiet bei einer Gesamtzahl von 9,9 Mill. 
17 per Quadratkilometer, und das Uralgebiet bei einer Gesamtzahl von 
9,9 Mill 12 per Quadratkilometer. Aehnliche Bevölkerungsdichte weist 
auch das Seegebiet auf, welches 5 Mill. Einwohner bei einer Bevölkerungs- 
dichte von 14 per Quadratkilometer zählt; aber auch diese Bevólkerung:- 


Miszellen. 613 


dichte besitzt das Seegebiet nur dank der großen Anhäufung der Be- 
völkerung in Petersburg und seiner Umgegend. 

Endlich ist die geringste Bevólkerungsdichte im europäischen Ruß- 
land für diejenigen Gebiete zu konstatieren, deren nórdliche Teile bereits 
in der Polarzone liegen. Hierzu gehóren: Finnland bei 2,6 Mill. Be- 
völkerung 7 Einwohner per Quadratkilometer und der äußerste Norden 
bei 1260000 Bevölkerung 1 Einwohner per Quadratkilometer. 

Im asiatischen Rußland weist der Kaukasus die größte Bevölkerungs- 
dichte auf. Trotz der vielen ungeeigneten Bodenstücke und der für die 
Kultur unzugänglichen Schneegipfel und Bergschluchten beträgt die 
Bevölkerung des Kaukasus 8!/, Mill. bei einer Dichte von 23 Ein- 
wohnern per Quadratkilometer, was auf die Reichtümer der Natur, 
sowie auf das warme Klima zurückzuführen ist. 

In ganz anderen Verhältnissen befindet sich das Turkestangebiet, 
dessen 80 Proz. von den Wüsten der Aralokaspischen Niederung besetzt. 
sind. Hier gibt es nur 3 Einwohner per Quadratkilometer bei einer 
Bevölkerung von 5!/, Mill. Aber diese Bevólkerungsdichte nimmt in 
den für Irrigation geeigneten fruchtbaren Bergtälern und Oasen, sowie 
in den Gebieten Fergan und Samarkand betrüchtlich zu und erreicht 
15 Einwohner per Quadratkilometer. 

Betrachtet man Sibirien als ein Ganzes, so bekommt man da eine 
Bevölkerungsdichte von 5 Einwohnern per 100 qkm. Diese Proportion 
aber verliert an Bedeutung, wenn man bedenkt, welche ungeheueren 
Flächen Sibiriens ihren klimatischen Bedingungen, sowie ihrer polaren 
Lage nach für Kultur und für ansässige Lebensweise gänzlich ungeeignet 
sind. Von den sibirischen Gebieten bildet das Steppengebiet den Ueber- 
gang von Turkestan zu Westsibirien und ist hauptsächlich von Nomaden- 
völkern, bei einer Gesamtbevölkerung von 2,6 Mill. und einer Bevölkerungs- 
dichte von 14 Einwohnern per je 10 qkm, bewohnt. Westsibirien weist 
eine Bevölkerungsdichte von 25 Einwohnern und Mittelsibirien 8 Ein- 
wohnern per je 10 qkm auf. Noch dünner zber sind die ostsibirischen 
Grenzgebiete bevölkert; in der südlichen Hälfte des Amurküstengebietes 
gibt es noch 7 Einwohner per 10 qkm; das ganze Lena- oder Amur- 
gebiet besitzt nur 6 Einwohner per 100 qkm, und in der polaren Zone 
Sibiriens wird es kaum 1!/, Einwohner per 100 qkm geben. 

Von der Gesamtzahl der Einwohner Rullands wohnten in den 
Städten: 


Im Jahre 1724 328000 oder 3 Proz. der Gesamtbevölkerung 
" s. 1782 802000 , 31 » ^» T 

LL "n 1796 1 301 000 n 4,1 DI » » 

" » 1812 I 653 000 LE 4,4 HI » » 

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»  » 1867 8157000 , 10,6 ,  , » 

js » 1897 16785212 „ 13,9. a 54 » 


Aus einer Zusammenstellung dieser Tabelle mit den Angaben über 
die ländliche Bevölkerung ist zu ersehen, daß die städtische Bevölkerung 
Rußlands viel rascher wächst als die ländliche: im Zeitraum von 1724 
bis 1897 hat jene um das 5lfache, diese nur um das 8fache zugenommen. 

Dritte Folge Bd, XXV (LXXX). 48 


674 Miszellen. 


Während der letzten 30 Jahre hat sich die städtische Bevölkerung ver- 
doppelt und auch proportional beträchtlich zugenommen. Am stärksten 
wuchs die Bevölkerung in den 19 Großstädten mit über 100000 Ein- 
wohnern, und zwar: 


1867 1897 : 
Einwohnerzahl Zunahme in Proz, 

in Petersburg 539 471 I 267 023 136,7 
» Moskau 351 609 I 035 664 194,8 
» Warschau 180 657 638 208 253,0 
» Odessa 118 970 405 O41 240,4 
„ Lodz 32 437 315 209 872,0 
„ Riga 77 468 282 943 264,6 
„ Kiew 68 429 247 432 261,7 
„ Charkow 52016 174 846 236,0 
» Tiflis 60 77 160 645 163,3 
„ Wilna 69 476 159 568 129,7 
» Taschkent 80 000 156414 95,5 
„ Saratow 84 391 137 109 62,5 
„ Kasan 63 084 131 508 106,9 
„ Jekaterinoslaw 19 908 121 216 508,0 
„ Rostow am Don 29 261 119 889 310,0 
„ Astrachan 42 832 113 OOI 163,8 
„ Baku 13 992 112 253 702,0 
» Tula 53 739 111 048 106,6 
» Kischeneff 94 124 108 796 15,6 


Insgesamt ist für diese 19 Großstädte eine Zunahme von 185,2 Proz. 
zu verzeichnen. 

Städte mit einer Einwohnerzahl von 50—100000 gab es im Jahre 
1867 12 mit 834000 Einwohnern, im Jahre 1897 37 mit 2401000 Ein- 
wohnern. In 110 kleinen Städten ging die Einwohnerzahl von 661042 
bis auf 556436 oder um 16 Proz. zurück. 

Die ländliche Bevölkerung betrug nach der Volkszählung von 1897 
112139000 Einwohner. Dörfer gab es, nach den Angaben des zentralen 
statistischen Komitees für 1896, im ganzen Reiche 577500, so daß auf 
jedes Dorf im Durchschnitt etwa 200 Einwohner entfallen. Die größten 
Dörfer befinden sich im Wolgagebiet und in der südlichen Hälfte des 
Uralgebiets (im Durchschnitt über 450 Einwohner auf je ein Dorf). 
Sodann folgen die Gebiete: Südwesten, Kleinrußland, Zentralschwarzerde 
und Neurußland (durchschnittlich 400 - 300 Einwohner pro Dorf). Es 
ist somit klar, daß die Bevölkerung sich im ganzen Schwarzerdestreifen 
Ruflands in großen Dörfern gruppiert, was darauf zurückzuführen ist, 
daß man sich hier nur an den Flüssen niederläßt. Dagegen in den 
waldreichen Nichtschwarzerdegebieten der ganzen nordwestlichen Hälfte 
Rußlands zieht es die Bevölkerung vor, in kleinen Dörfern zu wohnen, 
die von Rodeland umgeben sind und kleine Kulturoasen mitten im 
Walde bilden. So beträgt die durchschnittliche Einwohnerzahl eines 
Dorfes im Moskauer Industrierayon und in der nördlichen Hälfte des 
Uralgebiets 160, und das auch nur, weil es hier große Industriedörfer 
gibt. Weißrußland, Litauen, das Seegebiet und der äußerste Norden 
weisen eine durchschnittliche Einwohnerzahl eines Dorfes von 100—950 
auf. Endlich wohnt die ländliche Bevölkerung des Baltischen Gebiets 
in kleinen Fermen, so daß die durchschnittliche Einwohnerzahl kaum 
20 beträgt. 


Miszellen. 675 


Was die Verteilung der Einwohner auf die einzelnen Wohnungen 
anbetrifft, so entfallen im europäischen Rußland auf dem Lande auf je 
ein Haus 6,6 Einwohner. Das Baltische Gebiet zeichnet sich durch die 
am dichtesten bewohnten Häuser aus: 11—13 Einwohner auf je ein 
Haus. Im Gouvernement Petersburg entfallen 10, im Gouv. Kowno 9, 
im Gouv. Moskau 8 Einwohner auf je ein Haus. Am geringsten sind 
die Häuser bevölkert in den Gouvernements Nowgorod 4,5, Twer 4,7, 
Kostroma 5,1, Jaroslaw 5,2, Wladimir 5,3, Smolensk und Pskow 5,4. 
In den übrigen Gouvernements des europäischen Rußlands beträgt die 
durchschnittliche Zahl der Einwohner per Haus 6—7. Bewohnte 
Häuser in den ländlichen Ansiedlungen des europäischen Rußlands gibt 
es 141/, Mill, im ganzen Reiche ca. 20 Mill. 

Die Großstädte Rußlands zeichnen sich durch eine äußerst dichte 
Bevölkerung ihrer Häuser aus. So zählt das Durchschnittshaus in 
Petersburg 14 Wohnungen mit 106 Einwohnern, in Moskau dagegen 
nur 5 Wohnungen mit 49 Einwohnern. Eine Durchschnittswohnung in 
Petersburg hat 3,6, in Moskau 4,3 Zimmer. 

Die Daten der allgemeinen Volkszählung vom 28. Januar 1897 
enthalten vortreffliche Materialien über die Verteilung der Bevölkerung 
nach den einzelnen Völkerschaften; da aber die Bearbeitung dieser 
Materialien zur Zeit noch nicht abgeschlossen ist, so müssen wir uns 
hier mit einer annähernden Berechnung der prozentualen Verhältnisse 
der Hauptvölkerschaften Rußlands begnügen. Die Slaven bilden 73 Proz. 
der Gesamtbevölkerung, von welchen auf die Russen 66 Proz. (86 Mill.) 
und auf die Polen 7 Proz. (9 Mill.) entfallen. Von den aufgezählten 
Gebieten des europäischen Rußlands sind als echt russische zu be- 
trachten: der Moskauer Industrierayon, der zentrale Schwarzerderayon, 
Kleinrußland und das Seegebiet, in welchen die russische Bevölkerung 
94 Proz. beträgt. Sodann folgen: der äußerste Norden mit 89 Proz., 
Neurußland mit 87 Proz., Weißrußland mit 85 Proz, Südwesten mit 
80 Proz., das Uralgebiet mit 80 Proz. und das Wolgagebiet mit 75 Proz. 
Einwohner russischer Nation. In den übrigen vier (westlichen) Gebieten 
des europäischen Rußlands befindet sich die russische Nation in der 
Minderheit. Das Weichselgebiet (Kongreß Polen) stellt in ethno- 
graphischer Hinsicht ein polnisches Gebiet dar, da hier die polnische 
Bevölkerung 70 Proz. ausmacht. 

Die finnischen Stämme sind in Rußland stark verbreitet; bei einer 
absoluten Ziffer von über 6 Mill. machen sie 5 Proz. der Gesamt- 
bevölkerung aus. Vorwiegend ist das finnische Volk nur in Finnland 
vertreten, 86 Proz. der Gesamtbevölkerung. Im Baltischen Gebiet ist 
die finnische Bevölkerung der littauischen gleich und beträgt 45 Proz. 
Auch sind Finnen im Seegebiet im äußersten Norden, im Uralgebiet 
und im Wolgagebiet wohnhaft. 

Einen etwas kleineren Prozentsatz der Bevölkerung des Reiches 
weist der litauische Volksstamm auf, bei einer absoluten Ziffer von 
5,6 Mill. In Litauen beträgt die litauische Bevölkerung 60 Proz. und 
in dem benachbarten Baltischen Gebiete 45 Proz. 

Von den Fremdvólkerschaften, die zu den östlichen Stämmen ge- 

43* 


676 Miszellen. 


hören, nehmen ihrer Zahl nach die erste Stelle in Rußland die türki- 
schen Volksstämme ein, zu welchen wir nicht nur die wolgaschen, die 
krimschen, die kaukasischen und die sibirischen Tataren und Türken, 
sondern auch die turkestanschen Sarten, Turkmenen, Kirgisen, den 
tatarisch gewordenen finnischen Stamm der Baschkiren und die Jakuten 
hinzuzählen. Bei einer absoluten Ziffer von 11 Mill. machen diese 
Volksstämme 9 Proz. der Gesamtbevölkerung des Reiches aus Im 
europäischen Rußland bilden sie nirgends die vorwiegende Bevölkerung, 
sind aber im Wolgagebiet, Uralgebiet und Neurußland merkbar ver- 
treten. 

Einen erheblichen Teil der Bevölkerung des Reichs bilden die 
Juden. Ueber 3 Proz., bei einer absoluten Ziffer von über 4 Mill. Als 
der für Juden gesetzlich bestimmte Ansiedelungsrayon dienen: das 
Weichselgebiet, Litauen, das südwestliche Gebiet und ein Teil Weiß- 
rußlands; in geringen Mengen befinden sich Juden in sämtlichen Ge- 
bieten des Reichs. 

Von den übrigen Völkerschaften sind im europäischen Rußland 
beträchtlich vertreten: Deutsche (bis 1 Mill), Rumänen (850 000, 
Schweden (400 000), Griechen, Armenier und Mongolen (Kalmüken). 

Das bunteste ethnographische-Bild stellt der Kaukasus dar. Hier 
bildet keine einzige Vülkerschaft die Mehrheit der Bevölkerung. Am 
stärksten sind die Russen vertreten (25 Proz.), sodann folgen die ta- 
tarischen Stämme (20 Proz.), die kaukasischen, die Bergstämme, die 
Grusier, Armenier (je 15—13 Proz.) und die Perser (1 Proz.). Es gibt 
noch aber eine große Anzahl einzelner kleiner Vöikerschaften, die zu 
diesen Stämmen gehören und ihr Idiom sowie ihre Tracht und ihre 
Sitten erhalten haben. 

Eine ziemlich mannigfaltige ethnographische Zusammensetzung hat 
auch Turkestan. Hier ist aber der türkische Stamm der vorwiegende 
(80 Proz.), während nur 10 Proz. auf die Völkerschaften des iranschen 
Stammes, und nur 4 Proz. auf die Russen entfallen. 

Das an Turkestan grenzende Kirgissteppengebiet ist viel einfürmiger 
seiner Bevölkerung nach. Hier besteht die vorwiegende Bevölkerung aus 
nomadisierenden Kirgisen, welche ca. 80 Proz. der Bevölkerung bilden; 
der übrige Teil der Bevölkerung besteht aus Russen, welche die für 
Kultur geeignetsten Ortschaften des Steppengebiets kolonisieren. 

Die zwei Hauptgebiete Sibiriens — Westsibirien und Mittelsibirien 
— sind schon längst gänzlich russifiziert. Im ersten sind 94 Proz. und 
im zweiten 90 Proz. der Bevölkerung Russen. Auch das Amurküsten- 
gebiet, obgleich es vor verhältnismäßig kurzer Zeit occupiert worden 
ist, ist bereits zu einer russischen Provinz auch im ethnographischen 
Sinne geworden, denn die Russen bilden hier 75 Proz. der Bevölkerung, 
die übrigen 25 Proz. entfallen auf die Fremdvölkerschaiten: 20 Proz. 
Burjäten und 5 Proz. Mandschustämme, Chinesen, Japaner und polare 
Volksstämme. 

Nur das Jakutengebiet ist ethnographisch fast gänzlich fremdvölker- 
schaitlich. Die Hauptmasse bilden hier die Jakuten (90 Proz.); 7 Proz. 
entfallen hier auf die russische Bevölkerung, und der übrige Teil besteht 
aus Tungusen und polaren Volksstämmen. 


Miszellen. 677 


Nach den Konfessionen ist die Bevölkerung Rußlands folgender- 
malen verteilt: 87 Proz. Christen, darunter 71 Proz. griechisch-orthodoxe, 
9 Proz. Katholiken, 5 Proz. Protestanten und 1 Proz. Armenisch-Grego- 
rianer; unter der nicht christlichen Bevölkerung sind die Mahomedaner 
vorwiegend (9 Proz.); sodann folgen Juden (3 Proz.) und Buddhisten 
(3/, Proz.). 

Von den Ständen des russischen Volkes sind am zahlreichsten die 
Bauern, welche 81,5 Proz. der Bevölkerung bilden; sodann folgen die 
städtischen Stände, d. h. Kaufleute und Kleinbürger (9 Proz.), der Militär- 
stand (61/, Proz.), der Adel (über 1 Proz.) und die Geistlichkeit (1 Proz.). 

Nach den Daten der allgemeinen Volkszählung vom 28. Januar 1897 
hat sich die Anzahl der Männer und Frauen als fast gleich erwiesen 
(64504000 Männer und 64436 000 Frauen), aber in verschiedenen Orten 
ist ein Vorwiegen des männlichen Geschlechts zu verzeichnen; so ent- 
fallen in den Städten auf 100 Männer weniger als 90 Frauen, während 
es auf dem Lande auf je 100 Männer 101,8 Frauen gibt. In den Groß- 
städten tritt das numerische Uebergewicht der Männer noch schärfer 
hervor: So in Moskau 100 Männer gegen 80 Frauen, in Petersburg und 
Kiew gegen 83, in Odessa gegen 86. In den Grenzlàndern aber ist 
keine Ueberzahl der Männer zu gewärtigen: in Riga befinden sich das 
männliche und weibliche Geschlecht fast im Gleichgewicht, in Warschau 
und Lodz sind die Frauen sogar vorwiegend. Das alles weist darauf 
hin, daß die echt russischen Städte vorzugsweise die männliche ländliche 
Bevölkerung heranziehen, welche in großen Mengen ihre Familien auf dem 
Lande lassen und nach der Stadt ziehen, um Arbeit zu suchen. 

Das numerische Verhältnis der Frauen und Männer in der länd- 
lichen Bevölkerung kann ebenfalls als Bestätigung dieser Schlaßfolgerung 
dienen. Im Moskauer Industrierayon gab es nach der Volkszählung 
vom 28. Januar 1897 in der ländlichen Bevölkerung auf je 100 Männer 
120 Frauen, und im Gouvernement Jaroslaw, woher am meisten die 
ländliche Bevölkerung im Suchen nach Arbeit nach den Großstädten 
wandert, auf je 100 Männer 140 Frauen. Wie bekannt, verrichten die 
Frauen in diesem Gouvernement infolge der Abwesenheit der Familien- 
häupter und überhaupt der erwachsenen Männer alle Feldarbeiten. 

Das Vorwiegen der Frauen in der ländlichen Bevölkerung ist noch 
im äußersten Norden (auf je 100 Männer 109 Frauen), im Baltischen 
und in dem Seegebiete (107), im zentralen Ackerbaurayon (106), im 
Uralgebiet (105) zu konstatieren. Dagegen überwiegt die Zahl der 
Männer in Neurußland (auf je 100 Männer 96 Frauen), wohin die Männer 
als Pioniere der Auswanderungsbewegung in großen Mengen ziehen. In 
den übrigen Gebieten des europäischen Rußlands befinden sich Männer 
und Frauen in der ländlichen Bevölkerung fast in gleicher Anzahl. Im 
Kaukasus ist ein merkliches Uebergewicht der Männer zu konstatieren 
(anf je 100 Männer 90 Frauen); desgleichen im Steppengebiete und in 
Mittelsibirien. Noch größer ist dieses Uebergewicht in Turkestan (auf 
100 Männer 85 Frauen), und im Amurküstengebiete (auf 100 Männer 
82 Frauen) und erreicht sein Maximum im Küstengebiete (auf 100 
Männer 46 Frauen); auf der Insel Sachalin entfallen auf 100 Männer 


678 Miszellen. 


37 Frauen. Offenbar wandern nach dem fernen Osten die Männer in 
größeren Mengen als die Frauen, was namentlich bei der Zwangsüber- 
siedelung der Verbannten begreiflich ist. 

Die erste Volkszählung vom 28. Januar 1897 gab zum ersten Male 
unmittelbare Daten über die Zusammensetzung der Bevölkerung nach 
den Altersstufen ; da aber die Bearbeitung dieses Teiles der Volkszählung 
noch nicht abgeschlossen ist, so können wir hier nur die Altersverteilung 
der Bevölkerung Rußlands nach den Berechnungen von Besser und 
Ballod angeben, die auf der Untersuchung der Geburtenzahl und der 
Zahl der Todesfälle der griechisch-orthodoxen Bevölkerung während des 
Zeitraumes von 1851—1890 beruhen. Auf Grund dieser Berechnungen 
entfallen auf je 10000 Kopf der Bevölkerung: 


im Alter männl. Geschl. weibl. Geschl. 
bis 5 Jahren 1 628 r 615 
von 5—10  , 1234 I 206 
» 10—15 5 I 049 1052 
n Aoma i 974 969 
» 20—30  , I 615 1 628 
» 30—40 , I 285 1 288 
» 40—50  , 986 998 
n 50—60 »n 670 697 
„ 60—65  , 228 229 
„ 65-70  , 150 146 
» 70—80  , 140 133 
über 80  ,, 41 39 
Summa IO 000 10 000 


Wendet man das Schema von Besser und Ballod auf die Bevölke- 
rung des ganzen Reiches an, so bekommt man für die Bevölkerung von 
135 Mill. (inkl. Finnland) folgende Zusammenstellung: 


Kinder männl. Geschl. weibl. Geschl. Zusammen 
in Tausenden 
bis 5 Jahren 10979 . 10 918 21 897 
von 5-10  ,, 8 821 8 148 16 469 
» 10-15  , 7 074 7 107 14 (Bt 
Insgesamt Kinder 26 374 26 173 52 547 
Minderjährige 
von 15—20 Jahren 6 568 6547 13 115 
Im Arbeitsalter: 
von 20—30 Jahren 10 891 IO 999 21 890 
» 30-40  , 8 665 8 702 17 367 
„ 40—50 p 6649 6 742 13 391 
» D0—60  , 4 518 4 708 9 226 
Insgesamt im Alter j 
von 20—60 Jahren 30 723 31 151 61874 
Im Alter 
von 60—65 Jahren 1537 1547 3 084 
Alte: 
von 65—70 Jahren 1012 985 1997 
n 70—80 " 944 899 I 843 
über 80 e 276 264 540 — 
Insgesamt Alte 2 232 2 148 4 380 


Summa summarum 67 434 67 566 135 000 


Miszellen. 679 


Zum Erwerb aller Art Existenzmittel gibt es somit in Rußland auf 
eine Bevölkerung von 135 Mill. ein Kontingent von ca. 31 Mill. Er- 
wachsene, 61/, Mill. Minderjährige und 1!/, Mill. Halbarbeiter (im 
Alter von 60—65 Jahren). Zur Zahl der Halbarbeiter sind noch die 
erwachsenen Frauen hinzuzuzählen. 

In Rußland liegt die Registrierung der Bevölkerungsbewegung, d. h. 
der Ehen, Geburten und Todesfülle der Geistlichkeit ob, die zu diesem 
Zweck die noch von Peter dem Großen eingeführten Tauf- und Geburts- 
bücher führt. Die Akten selbst in diesen Büchern werden ganz regel- 
mäßig geführt, so daß es in den Büchern der christlichen Konfession fast 
keine Lücken und sogar keine ungenauen Angaben gibt, 'aber die 
Zusammenstellung statistischer Tabellen aus diesen Büchern wird vom 
zentralen statistischen Komitee erst seit 1867 in befriedigender Weise 
durchgeführt. Von dieser Zeit an haben wir ganz zuverlässige Daten 
über die natürliche Bewegung der Bevölkerung. 

Der Zahl der Eheschließungen nach nimmt Rußland unter den euro- 
päischen Ländern die erste Stelle ein, da der Koeffizient der Ehe- 
schließungen in Rußland selten unter 9 pro 1000 fällt, während in den 
anderen Ländern Europas er kaum 8 erreicht. Unter den einzelnen 
Gebieten Rußlands gebührt die erste Stelle dem Uralgebiet und dem 
zentralen Ackerbaurayon (9,7 und 9,6); sodann folgen das Wolgagebiet 
(9,4) und Neurußland (9,3). Den kleinsten Koeffizienten der Eheschließungen 
weisen das Seegebiet (6,3), das Baltische Gebiet (7,1) und der äußerste 
Norden (8,0) auf, alle übrigen Gebiete haben einen höheren Koeffizienten 
als der durchschnittliche in Europa. 

Die Geburtenzahl nimmt in Rußland, so wie überall, im Laufe der 
Zeit ab; gegenwärtig steht sie auf der Höhe von 48 pro mille, während 
in den meisten Ländern Westeuropas sie nicht über 36 hinausgeht, in 
einigen kaum 22 erreicht. In den Städten Rußlands werden durch- 
schnittlich 34, auf dem Lande 49 pro 1000 Einwohner geboren. Durch 
die größte Geburtenzahl (über 50 pro mille) zeichnen sich die Gouver- 
nements des Schwarzerderayons, namentlich die des Steppenstreifens, 
durch die kleinste (30 pro mille) das Gouvernement Petersburg und die 
Ostseeprovinzen aus. Außereheliehe Geburten gibt es in Rußland 26 
pro 1000 Geburten, wobei in den Städten dieses Verhältnis bis auf 108 
steigt, und auf dem Lande bis auf 18 fällt. 

Der Koeffizient der Sterblichkeit ist in Rußland sehr hoch und 
erreicht im Durchschnitt 34 per 1000 Einwohner; in den letzten Jahren 
fiel er bis auf 32. In den Städten ist die Sterblichkeit geringer als 
auf dem Lande: dort betrug sie im Jahrfünft 1890—94 18 pro mille, 
hier 33, was vornehmlich auf den Mangel an ärztlicher Hilfe in den 
russischen Dórfern zurückzuführen ist. Die erste Stelle dem Koeffizienten 
der Sterblichkeit nach nehmen folgende Gebiete ein: der zentrale Acker- 
baurayon (41), das Wolgagebiet (40) und das Uralgebiet (39), während 
die kleinste Sterblichkeit auf das baltische Gebiet (21), das Seegebiet (24) 
und Litauen (28) entfällt. 

Trotz der hohen Sterblichkeitsziffer ist in Rußland das Mehr der 


680 Miszellen. 


Geburtenzahl über die Zahl der Todesfälle größer als in allen anderen 
Ländern, im Durchschnitt betrug es während des Jahrzehnts 1888—97 
im europäischen Rußland 1,41 Proz, in den Jahren 1896 und 1897 
1,73 Proz, in Sibirien, im Kaukasus und in Mittelasien 1,60 Proz, 
in Kongreß Polen 1,50 Proz. Der durchschnittliche jährliche Zu- 
wachs der Bevölkerung ist auf 1,55 Proz. oder ca. 2 Mill. zu schätzen. 
Der größte Bevölkerungszuwachs ist im europäischen Rußland für die 
Gebiete Neurußland (20 pro mille), Weißrußland und Kleinrußland (18; 
und der kleinste für das Baltische Gebiet (8), das Seegebiet (9) und 
den Moskauer Industrierayon (10) zu konstatieren. 

Die Zahl der nach dem Auslande über die europäische Grenze 
gehenden Russen übertrifft im allgemeinen die Zahl der zurückkehrenden, 
welche Ueberzahl in den letzten 5 Jahren durchschnittlich 26 000 das 
Jahr betrug, darunter bis 16000 Auswanderer nach Amerika. Aus- 
länder dagegen kommen nach Rußland über die europäische Grenze 
mehr als sie aus Rußland verreisen, welche Ueberzahl jährlich ca 15 (00 
beträgt. Was die asiatische Grenze anbetrifft, so ist auch hier eine 
Ueberzahl der verreisenden Russen über die heimkehrenden (im Durch- 
schnitt während des Jahrfünfts 1894—98 21/, Tausend jährlich) zu 
merken. Aus den asiatischen Ländern kommen Ausländer jährlich nach 
Rußland um 16000 mehr als verreisen. Die Emigration aus Rußland 
sowie die Immigration der Ausländer nach Rußland sind somit ganz 
unbedeutend. 


Dafür aber sind die Wanderungen der Volksmassen innerhalb des 
Reichs ungeheuer groß, namentlich seit der Aufhebung der Leibeigen- 
schaft. Der rasche natürliche Zuwachs der ehemaligen leibeigenen Be- 
völkerung, welche im Laufe des 18. Jahrhunderts und in der ersten 
Hälfte des 19. Jahrhunderts gar keine Vermehrung erfuhr, brachte die 
Bevölkerung des am dichtesten bevölkerten Teiles des Schwarzerde- 
streifens bis zur Kapazitätsgrenze des Landes (bei den gegenwärtigen 
wirtschaftlichen Verhältnissen), und es begann, namentlich im letzten 
Viertel des Jahrhunderts, südwärts und ostwärts ein zentrifugales 
Streben der Bevölkerung, das durch die rasche Entwickelung des Eisen- 
bahnnetzes sehr gefördert wurde. Gegenwärtig findet nach Neurußland, 
nach Transwolgarayon, nach der südlichen Hälfte des Uralgebiets und 
nach allen Teilen Sibiriens bis zum japanischen Meere eine starke Ueber- 
siedelung statt. 

Der tatsächliche Zuwachs der Bevölkerung gelangt in folgenden 
Ziffern zum Ausdruck: 

Vor zwei Jahrhunderten, im Jahre 1700, betrug die Gesamtbevölke- 
rung Rußlands kaum 12 Mill, im Jahre 1800 erreichte sie 38 Mill. und 
im ‚Jahre 1900 135 Mill. Diese enorme Vermehrung der Bevölkerung 
ist nicht nur auf das fortwährende, mit Ausnahme einiger Jahre, Ueber- 
gewicht der Geburtenzahl über die Zahl der Todesfälle, sondern auch 
auf die Erweiterung des russischen Territoriums zurückzuführen. 50 
wohnten auf dem Territorium, welches Rußland bis Peter I. angehörte, 
und auf dem späterhin annektierten: 


im Jahre 1700 
5 sar "6798 
1851 
3» LÉI 1397 
» » 1900 


Zieht man somit die Gebiete, 


Miszellen. 


auf dem auf dem 
ersteren letzteren 
12 Mill. — Mill. 
29 DI 7 3 
47 » 22 „ 
78 ar 51 y 
82 , 53 » 


insgesamt 


ı2 Mill. 


36 
69 
129 
135 


681 


welche dem russischen Reiche am 


Anfang des 18. Jahrhunderts nicht angehörten und welche jetzt circa 
53 Mill. Einwohner zählen, ab, so erhält man für die urrussischen 
Gouvernements und Gebiete eine Bevölkerung von 82 Mill., was im 
Vergleich mit dem Jahre 1700 eine 6,83-fache Zunahme ausmacht. 
Aus den angeführten Daten ist zu ersehen, daß der natürliche, sowie 
der wirkliche Zuwachs der Bevölkerung Rußlands rascher im 19. Jahr- 
hundert vor sich ging als im 18. 


CU men 


682 Literatur, 


Nachdruck verboten, 


Literatur. 


II. 
Die niederländische Berufszáhlung von 1899. 


Von Dr. C. A. Verryn Stuart, 
Direktor am Kgl. niederlündischen statistischen Zentralbüreau, Haag. 


In der letzten Lieferung dieser Jahrbücher findet sich (S. 530) 
von der Hand des Herrn Privatdozenten Dr. B. Harms, eine Rezension 
der Ergebnisse der am 31. Dezember 1899 in den Niederlanden ge- 
haltenen Berufszählung. Referent versucht in diesem Aufsatze eine 
Kritik zu liefern des Grundprinzips, welches bei der Anfertigung 
der Ergebnisse dieser Zählung maßgebend gewesen ist. Da diese Kritik 
zu bedenklichen Irrtümern in Bezug auf Inhalt und Wert dieser Berufs- 
zählung führen könnte, sei mir eine kurze Ergänzung und Berichtigung 
derselben gestattet. 

Das oben erwähnte Grundprinzip war, in kürzester Fassung fol- 
gendes: die Gewerbearten, worin die verschiedenen Be- 
rufe ausgeübt werden, als eine nähere, spezialisierende 
Andeutung dieser Berufe in der Statistik zur Geltung 
zu bringen. Das heißt, wir wollten uns nicht damit begnügen, z. B. 
die Gesamtzahl der Maschinisten mitzuteilen, ungeachtet in welcher 
Gewerbeart sie tätig sind, sondern sie spezialisieren als: Maschinisten 
bei den Eisenbahnen, auf Dampfschiffen, in verschiedenen Fabriken u. s. w. 

Bei der Ausarbeitung mußte nun dieses Prinzip dahin führen, das 
Betriebselement in den Ergebnissen vorangehen zu lassen. Jedoch 
ohne auch nur ein Geringes zu opfern der in der Berufszählung un- 
bedingt erforderlichen Differenzierung des Berufselementes. Unrichtig 
wäre es deun auch, wenn das Beispiel, welches Dr. Harms dem Brau- 
gewerbe entnimmt (S. 531), so gedeutet würde, als wären diese 24 
in dem Braugewerbe tätigen Personen ohne weiteres in den Zählungs- 
ergebnissen als „24 zum Braugewerbe Zugehörige“ vorgeführt. In 
Wirklichkeit sind in diesem Gewerbe nicht weniger als 33 verschiedene 
Berufe in den Ergebnissen unterschieden worden (vgl. Teil XII, zweite 
Lieferung, S. 101). 

Eine notwendige Folgerung des oben angedeuteten Systems ist es 
selbstverständlich, daß in Bezug auf diejenigen Berufe, welche in meh- 


Literatur. 683 


reren Gewerbearten ausgeübt werden, eine weitere Totalisierung aller 
in diesem Berufe tätigen Personen vorgenommen wird (unter Gliederung 
nach der sozialen Stellung, Geschlecht, Zivilstand und Alter, wie diese 
durchweg in den Ergebnissen der Berufszühlung stattgefunden hat). 
Eine derartige Totalisierung ist im Moment noch in Bearbeitung und 
wird der allgemeinen Einleitung zur Volks- und Berutszählung, welche 
ich den Ergebnissen dieser Zählung folgen zu lassen beabsichtige, ein- 
verleibt werden. Vermutlich wird diese Einleitung in einigen Monaten 
erscheinen können. 

Auf die Vorteile, welche das in den Niederlanden bei der Be- 
rufszählung befolgte System bietet, will ich jetzt nicht näher ein- 
gehen. Ich wünschte nur, dieses System richtiger, wie es in dem Auf- 
satze des Dr. Harms geschieht, erkennen zu lassen, und zu verhindern, 
daß der geneigte Leser dieses Aufsatzes etwa glauben sollte, wir hätten 
bei der letzten Berufszählung die grundverschiedenen Aufgaben einer 
Berufs- und einer Betriebszählung verwechselt. Der Unterschied beider 
Zählungen ist auch uns hier in den Niederlanden nicht unbekannt! 


Haag, 12. Mai 1903. 


Antwort. 


Aus der obigen Erwiderung des Herrn Direktors Stuart ersehe 
ich mit großem Interesse, daß eine Verarbeitung der 1899er Zählung 
in dem von mir angedeuteten reinberuflichen Sinne bereits seit längerer 
Zeit in Vorbereitung ist und demnächst publiziert werden soll. Es wird 
deshalb zweckmäßig sein, weitere methodologische Erórterungen bis nach 
Erscheinen der oben angekündigten offiziellen Bearbeitung zurückzustellen. 
Ich behalte mir vor, dann darauf ausführlicher zurückzukommen. 


Tübingen, im Mai 1903. Bernhard Harms. 


Ti ug 


684 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


U ebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands 
und des Auslandes. 


L Geschichte der Wissenschaft. Encyklopádisches. Lehrbücher. Spezielle 
theoretische Untersuchungen. 

Wasserrab, Karl, Sozialwissenschaft und soziale Frage.  Eiue 
Untersuchung des Begriffs sozial und seiner Hauptanwendungen. Leipzig 
(Duncker & Humblot) 1900. 

Der Verfasser geht aus von den Worten Sozialwissenschaft 
und Sozialwissenschaften und entnimmt den verschiedenen Anwen- 
dungen derselben eine dreifache Bedeutung. Er findet Sozialwissen- 
schaft cinmal gefaßt als Soziologie oder allgemeine Gesellschafts- 
wissenschaft, dann im engeren, speziell gesellschaftswissenschaftlichen 
Sinne als eine neue Zusammenfassung von Nationalókonomie und Statistik 
und endlich als Gesamtheit der Staats- und Gesellschaftswissenschaften; 
Sozialwissenschaften einerseits im engeren Sinne als National- 
ókonomie und Statistik, sodann im weiteren Sinne als Staats- und 
Gesellschattswissenschaften, endlich im weitesten Sinn als umfassendste 
Hauptgruppe geschichtlich-kultureller Geisteswissenschaften neben den 
historisch-philologischen Disziplinen (S. 13). Im allgemeinen kann für 
beide Worte, wenn nicht ein anderer Sinn deutlich erhellt, die weitere 
Bedeutung, nàmlich Staats- und Gesellschaftswissenschaften angenommen 
werden. Hieraus ergibt sich die erste Grundbedeutung des Begrifis 
sozial: staatlich-politisch und gesellschaftlich. 

Die zweite Bedeutung dieses Begriffes sucht der Verfasser zu ge- 
winnen aus einer Prüfung, was unter sozialer Frage verstanden 
wird. Diese ist nach seiner Meinung Einheit und Vielheit zugleich. Sie 
betrifft, als Einheit aufgefaßt, die Gesamtheit der tiefergreifenden wirt- 
schaftlichen wie physisch-geistigen Schäden und Bewegungen in der 
Gesellschaft, welche darauf hindrängen, durch Veränderungen in Recht, 
Struktur und Geist der Gesellschaft bezw. Wirtschaft einer jeweils 
wachsenden Zahl von Gesellschaftsgruppen, Klassen und Individuen ein 
steigend immer menschenwürdigeres, zugleich den ewigen Zielen an- 
genähertes Gesellschaftsdasein zu ermöglichen. Als Vielheit umspannt 
die soziale Frage eine große Zahl einzelner Probleme, welche die 
Klassenbildung, die allgemeinen physischen Lebensverhältnisse, die 
geistige Kultur, die Bevölkerungsgestaltung, Wirtschaftsverfassung und 
die Rechtsgrundlagen der Gesellschaft überhaupt betreffen (S. 19, 20). 
Die soziale Frage ist ihrem unmittelbaren Gegenstand nach ein aus- 
gesprochenes Gesellschaftsproblem und zeigt so eine Hauptanwendung 
des Begriffs sozial in seiner zweiten Grundbedeutung: gesellschaftlich 
in Gegenüberstellung zu staatlich-politisch. 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 685 


Der Verfasser geht drittens von dem Wort Sozialpolitik aus. 
Unter diesem Wort wird gewóhnlich verstanden die Gesamtheit und die 
wissenschaftliche Darstellung der verschiedenen Bewegungen und Maß- 
nahmen im Gebiete der Gesetzgebung und staatlichen und kommunalen 
Verwaltung und Koalierung, welche eine Besserung der wirtschaftlichen 
wie physischen und geistigen Klassenverhältnisse, namentlich zu Gunsten 
bedrüngter Kreise bezwecken (S. 22). So gewinnt der Verfasser die 
dritte Grundbedeutung des Wortes sozial: auf bestimmte Teile der 
Gesellschaft oder des Gesellschaftslebens bezüglich, namentlich auf 
Gesellschaftsordnung und Gesellschaftsgliederung, zumal wirtschaftliche 
Klassengliederung, mit vorwiegender Rücksicht auf bedrängte Volks- 
kreise, also insbesondere arbeiterfreundlich. 

Der letzte Abschnitt „der Begriff sozial“ beginnt mit einer 
kurzen, nicht erschópfenden und nicht immer zutreffenden Kritik früherer 
Bestimmungen dieses Begriffs und gibt dann eine Zusammenstellung 
und Erläuterung der aus den ersten Untersuchungen gewonnenen drei 
Grundbedeutungen. 

Eine solche Betrachtung der zahlreichen Anwendungen dieses Mode- 
begriffs „sozial“ und eine Zurückfülirung auf bestimmte Grundbedeutungen 
ist sicher außerordentlich dankenswert. Es erhebt sich jedoch gegen 
die Erklärungen, welche der Vertasser gibt, von sonstigen Einwänden 
abgesehen, das grundsätzliche Bedenken, daß die Bedeutung der Aus- 
drücke, mit denen er den verschiedenen Sinn des Begriffs sowal darlegt, 
selbst wiederum eine mehrfache ist, nicht genügend feststeht und von 
ibm nicht klar gelegt wird. So bedurfte es in erster Linie einer Prüfung, 
was unter „gesellschaftlich“ und „staatlich-politisch“ zu verstehen sei, 
um mit diesen Worten eine genaue Bestimmung des Begriffs „sozial“ 
geben zu können. 


Halle a. S. A. Hesse. 


Kleinwächter, Friedrich, Lehrbuch der Nationalökonomie. 
Leipzig (C. L. Hirschfeld) 1902. XIV und 477 SS. 

Wie wenige war Kleinwächter berufen, ein Lehrbuch der National- 
ökonomie zu schreiben. Hat er doch Mangoldts Grundriss in 2. Auflage 
herausgegeben, an dem Schönbergschen Handbuche wie an dem Franken- 
steinschen Sammelwerke mitgearbeitet und mehrere Male neue Er- 
scheinungen des wirtschaftlichen Lebens zuerst auf ihren national- 
ökonomischen Gehalt geprüft. Es sei nur an seine Schriften über die 
englische Landarbeiterbewegung und die Kartelle erinnert. Aus diesem 
Grunde erscheint der Nachweis der Berechtigung zur Herausgabe eines 
„Lehrbuches“, den er im Vorworte führt, dem Leser als ein hors d’oeuvre, 
und dies um so mehr, als die „Grundrisse“ von Conrad, Philippovich, 
Schmoller das Unternehmen begründen müssen. Man wäre fast versucht 
zu glauben, Kleinwächter habe in ironischer Laune geschrieben, 
wenn das in demselben Vorwort aufgestellte Programm nicht so ernst- 
haft durchgeführt würde. Er wolle, sagt er dort, der „studierenden 
Jugend“ ein Buch in die Hand geben, „das ihnen in relativer Kürze 
ein abgerundetes Bild des betreffenden Wissenszweiges bietet“. Das 


686 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Werk ist eine der reichhaltigsten Darstellungen der theoretischen National- 
ökonomie, in der kein Gegenstand fehlt, der irgendwo in den Kreis der 
Betrachtung gezogen worden ist — mit Ausnahme der Kartelle und Trusts. 
In schlichter, leichtverständlicher Weise wird gewöhnlich in möglichster 
Kürze der Kern der Dinge herausgeschält. Hie und da ist die Dar- 
stellung zu breit und sie streift an das — Volkstümliche. Ich greife ein 
Beispiel heraus: „Da kam dieser Mann (Ricardo nämlich)“, so schreibt 
er S. 385, „aus den engen Räumen seiner Wechselstube sozusagen zum 
ersten Male hinaus vor die Stadttore und sah draußen die grünenden 
Felder; und als er diese Felder genau betrachtete, da machte er die 
geradezu verblüffende Entdeckung, daß zwei gleichgroße Felder, die mit 
dem gleichen Aufwande von „Kapital“ und Arbeit bestellt werden, 
häufig einen ungleichen Ertrag abwerfen. Diese Tatsache erschien dem 
kapitalistisch geschulten Kopfe des Bankiers, der nur in englischen 
Konsols zu denken gewohnt war, so ganz abnorm und ungewöhnlich, 
daß sie einer besonderen Erklärung bedurfte.“ Daß die gewaltigen 
wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Wandlungen, die den Nähr- 
boden der Lehre von der Grundrente bilden, in dieser Weise vereinfacht 
werden, ist vielleicht als ein Tribut zu erklären, der der historisch- 
soziologischen Methode Ricardos gezollt wird. Ricardo einen „Schola- 
stiker“ zu nennen, ist vielleicht unter uns Nationalökonomen gestattet, 
da zuweilen „systematisch“, „abstrakt“ und „deduktiv“ als Synonyma 
gebraucht werden. Im übrigen betrachtet man gewöhnlich Scholastik 
und Kausalforschung als Gegensätze. Auch die Kritik der Definition 
Ricardos, die Rente werde bezahlt für die Benutzung der unzerstör- 
baren Kräfte des Bodens, scheint doch einen wichtigen Umstand 
außer acht zu lassen. Ricardo hat meines Erachtens recht wohl gewult, 
daß der Boden ausgesogen werden kann. Der rationelle Betrieb erfordert 
aber, daß dem Boden das Entzogene zurückerstattet wird. Diese Zurück- 
erstattung gehört zu den Produktionskosten. Eine Rente kann erst 
dann entstehen, wenn die Produktionskosten (zu denen auch die Düngung 
gehört) gezahlt sind. Und darum erscheint mir die Definition Ricardos 
durchaus richtig. Wäre in der einem Grundbesitzer gezahlten Pacht- 
summe etwas enthalten, was als Entgelt für dem Boden entzogene 
Bestandteile zu betrachten wäre, so würde Ricardo es jedenfalls nicht 
als Rente, sondern als einen Reservefonds zur Erhaltung der Renten- 
quelle betrachtet haben. Diese Auseinandersetzung möge man damit 
entschuldigen, daß Kleinwächter mit seiner Auffassung nicht allein steht. 
Scholastisch angehaucht ist ein Teil der älteren deutschen National- 
ökonomen. Da sie dem Bestande der volkswirtschaftlichen Lehren nichts 
Neues hinzuzufügen vermochten, so gefielen sie sich in Definitionen, 
Divisionen, Partitionen und in der sauberen Durchführung ihrer 
Deduktionen. Scholastisch ist die S. 7 vorgetragene Klassifikation 
der Bedürfnisse, welche Kleinwächter von Hermann übernimmt. Sehr 
treffend ist die Beurteilung ihres wissenschaftlichen Wertes. Er schreibt 
S. 8: „Daß man die vorstehend aufgezählten Unterscheidungen (und 
eventuell noch einige andere dazu) aufstellen kann, soll nicht bestritten 
werden. Ebenso unzweifelhaft erscheint es mir jedoch, daß mit der 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 687 


Aufstellung derartiger Unterscheidungen — die lediglich dem Bestreben 
entspringen, möglichst viel Schulbegriffe zu konstruieren, um sie sodann 
fein säuberlich einzuschachteln — blutwenig gewonnen ist, weil die 
bloßen Einteilungen kein klares Bild von demjenigen geben, was eigentlich 
erklärt werden soll.“ Und dennoch druckt er sie ab! Könnte man 
so zuweilen wünschen, daß der Verf. sich kürzer fasse oder seine Aus- 
führungen durch andere ersetze, so bedauert man es hier und da auch 
wohl, daß er der studierenden Jugend nicht einiges mehr gesagt hat. 
So über die Methoden. Ich glaube zwar, daß die Darstellungen der 
Methodik in den Lehrbüchern nicht viel Gutes stiften, da dem Leser 
gewöhnlich mancherlei zu ihrem Verständnis oder zu ihrer Würdigung 
tehlt. Wenn sich aber der Verf. eines Lehrbuches dazu entschließt, 
die Methodik zu behandeln, dann müßte es gründlicher, als in Klein- 
wächters Lehrbuch, geschehen. Er hat mit Recht die englischen Lehren 
von Senior bis Cairnes über Bord geworfen, weil sie die National- 
ökonomie zu einer unmöglichen Wissenschaft gestempelt haben, die 
nicht nach Ursachen forscht, sondern nur Wirkungen aus bekannten 
Ursachen ableitet. Aber die Wendung Mills zur induktiven Methode 
leidet daran, daß er Induktion und Generalisation verwechselt, die 
unzweifelhaft einen Bestandteil der induktiven Methode bildet. Was 
allen englischen Logikern vor Jevons von Bacon bis Mill fehlte, war 
die Erkenntnis, daß der Geist etwas Eigenes, einen Einfall, eine Idee 
zur Interpretation der Wirklichkeit mitbringt, die nicht mit den an- 
geborenen Ideen Descartes auf eine Linie zu stellen ist. Sie alle 
meinten, man könne die Wahrheit aus der Erfahrung heraus destillieren. 

Wir haben damit einige Punkte bezeichnet, die in einer hoffentlich 
bald erscheinenden 2. Auflage Berücksichtigung finden dürften. 


Kiel. W. Hasbach. 


Abhandlungen, volkswirtsehaftliche, der badischen Hochschulen, hrsg. von 
genannten Autoren. Bd. VII, 2. Ergünzungsbd. Karlsruhe, G. Braunsche Hofbuchdr., 
1903. gr. 8. VIII—162 SS. M. 5.—. (Inhalt: Rabinowitsch, Sara, Die Organisationen 
des jüdischen Proletariats in Rußland.) 

Bericht über die Verhandlungen der 28. Generalversammlung der Vereinigung 
der Steuer- und Wirtschaftsreformer zu Berlin am 10. II. 1903, erstattet vom Bureau 
des Ausschusses. Berlin-Wilmersdorf, Allgem. Verlagsagentur, 1903. gr.8. IV—164 SS. 
M. 2.—. 

Czaykowski, K., Die Zeitschriften der polnisehen Sozialisten aus dem letzten 
Jahre. Ein Beitrag zur sozialen Psychologie. Krakau. (Der polnische Text befindet sich 
im Dezemberheft 1902 und im Januarheft 1903 der Zeitschrift „Przeglad Powszechny.‘) 

GroBmann, Ludw., Kompendium der praktischen Volkswirtschaft und ihrer 
mathematischen Disziplinen. Eine Sammlung populärwissenschaftlicher Essays, behandelnd 
das Wesen und die Fortschritte auf dem Gebiete des gesamten Versicherungs-, Bank- 
und Finanzwesens vom praktischen Standpunkte, unter Zugrundelegung der mathe- 
matischen Gesetze der politischen Oekonomie. Teil IV. Wien, Selbstverlag, 1902. Lex.-8. 
IV—80 SS. M. 5.—, 

Hand- und Lehrbuch der Staatswissenschaften in selbständigen Bänden. Begründet 
von Kuno Frankenstein, fortgesetzt von Max v. Heckel. I. Abteilung: Volkswirtschafts- 
lehre. Bd. VIII, Teil 1: Leipzig, C. L. Hirschfeld, 1903. gr. 8 X—590 SS. M. 17,50. 
(Inhalt: K. Helfferich (LegatR., Prof.), Geld und Banken. Teil I. Das Geld.) 

v. Inama-Sternegg, Karl Theodor, Staatswissenschaftliche Abhandlungen. 
Leipzig, Duncker & Humblot, 1903. gr. 8. VI—391 SS. M. 8.—. (Inhalt: Vom Wesen 
und den Wegen der Sozialwissenschaft. — Allgemeine Gedanken über soziale Politik. — 


688 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Lorenz v. Stein. — Die Entwickelung der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechtes 
seit dem Tode von Lorenz v. Stein. — Vom Nationalreichtum. — Das Zeitalter des 
Kredits. — Das Recht der Staatshilfe in wirtschaftlichen Krisen. — Die Reform des 


Agrarrechts, besonders des Anerbenrechts. — Gewerbefreiheit und genossenschaftliche 
Bindung. — Ueber Statistik. — Geschichte und Statistik. — Geographie und Statistik. 
— Zur Kritik der Moralstatistik. — Neue Beiträge zur allgemeinen Methodenlehre der 
Statistik. — Arbeitsstatistik.) 

v. Komorzynski, Joh. (k. k. a. o. UniversProf., Wien), Die nationalökono- 
mische Lehre vom Kredit. Innsbruck, Wagnersche UniversBhdl., 1903. gr. 8. XXXIX— 
520 SS. M. 8,80. 

Sombart, W., Die deutsche Volkswirtschaft im 19. Jahrhundert. Berlin, G. Bondi, 
1903. gr. 8. XVIII—647 SS. M. 10.—. (A.u.d. T.: Das XIX. Jahrhundert in Deutsch- 
lands Entwickelung, herausgeg. von Paul Schlenther. Bd. VII.) 


Compte rendu du premier congrès national du parti socialiste de France (Union 
socialiste. révolutionnaire) tenu à Commentry les 26, 27 et 28 IX 1902. Lille, impr. 
Dhoossche, 1903. 8. 88 pag. fr. 0,25. 

d’Eichthal, E., La solidarité sociale et ses nouvelles formules. Paris, A. Picard 
& fils, 1903. 8. 32 pag. 

Millerand, A., Le socialisme réformiste francaise. Paris, Bellais, 1903. 8. 121 pag. 
(Bibliotheque socialiste, n° 15.) 

Régnier, Jacques, Les idées religieuses, politiques et sociales de Saint Simon. 
Paris, Nouvelle Revue, 1903. gr. in-8. 23 pag. 

Travaux du congrès de Roubaix. Ai" assemblée générale de l'association prote- 
stante pour l'étude pratique des questions sociales, 21—22 octobre 1902. Nîmes, impr. 
coopérat. la Laborieuse, 1003. 8. 212 pag. et grav. fr. 3,50. 

Worms, R., Philosophie des sciences sociales, Ir partie: Objet des sciences 
sociales. Paris, Giard & Brière, 1003. 8. 230 pag. fr. 4.—. 

Brijce, R. J., A short study of State socialism. London, Baynes, 1903. 8. 62 pp. 

Coming reaction, the. A brief survey and criticism of the vices of our economie 
system (by Legislator). London, J. Milne, 1903. 8. VIII—320 pp. 7/.6. 

Johnson, A. Saunders, Rent in modern economie theory: an essay in distri- 
bution. New York, Macmillan C°, 1902. 8. 126 pp. 

Patten, Simeon, N., Heredity and social progress. London, Macmillan, 1003. 
8. 5/.—. 

Studies in history, economies and publie law, edited by the faculty of political 
science of Columbia University. Vol. XIV, 1901—1902. Contents: 1. Loyalism in 
New York during the American revolution, by Alex. Clar. Flick. $ 2,00; 2. The 
economie theory of risk and insurance, by Allan H. Willett. $ 1,50; 3. The eastern 
question: a study of diplomacy, by Stephen P. H. Duggan. $ 1,50.— Vol. XV, 1002: 
Crime in its relations to social progress, by Arthur Cleveland Hall. $ 3,50. — Vol. XVI, 
1902—1903: 1. The past and present of commerce in Japan, by Yetaro Kinosita. 
$ 1,50; 2. The employment of women in the clothing trade, by Mabel Hurd Willett. 
$ 1,50. — Vol. XVII, 1903: Centralizing tendencies in the administration of Indiana, 
by Will A. Rawles. $ 1,50. New York, the Macmillan Comp». 

Ward, Lester F., Pure sociology. A treatise on the origin and spontaneous 
development of society. London, Maemillan, 1903. 8. 620 pp. 17/.—. 

Acqua, Camillo (prof), La legge naturale e l'evoluzione della società. Firenze, 
Biblioteca popolare italiana di cultura liberale. Roma, tip. A. Pieri, 1903. 12. 155 pp. 
Atti del IV congresso nazionale delle società economiche tenutosi in Torino in 
occasione della I esposizione internazionale de arte decorativa moderna, 1* sessione, 
ottobre 1902. Torino, tip. Camilla & Bertolero, 1902. 8. 234 pp. 1. 5.—. (Contiene: 
Esercizio ferroviario, relazione per Giov. Sacheri. — Sullo sciopere nei servizi pubblici, 
relazione per Pasquale Jannaccone. — I trattati di commercio considerati specialmente dal 
punto di vista della produzione industriale, relazione per Gaetano Mosca. — Sulle cause 
dell’ eecessiva emigrazione della popolazione agricola nelle città e sui rimedi più oppor- 
tuni per evitare lo spopolamento delle campagne e l’eccessivo addensamento delle città, 
relazione per Luigi Guelpa.) 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 689 


Baratta, Carlo (sacerd.), Prineipi di soeiologia eristiana. Parma, ditta Fiaccadori, 
1903. 8. 301 pp. l. 2,50. 


Cossa, Emilio, Conflitti e alleanze di capitale e lavoro. Milano, U. Hoepli, 
1903. 8. XII—201 pp. 1. 3,50. 


Ferri, Enrico, I socialisti e la caserma: discorso pronunciato alla Camera dei 
Deputati. Genova, tip. Opraia, 1903. 12. 31 pp. (Biblioteca di propaganda socialista.) 

Sorel, Giorgio, Saggi di critica del marxismo pubblicati per eura con prefa- 
zione di Vittorio Racca. Milano-Palermo, R. Sandron, 1903. 12. XLVIII—400 pp. 
1. 3,50. (Biblioteca di seienze sociali e politiche, n° 45.) 

Woltmann, L., Teorja Darwina i demokraeya społeczna. (Die Darwinsche Theorie 
und die soziale Demokratie.) Warschau, Wissenschaftl. Verlag, 1903. 8. 500 pp. (in 
polniseher Sprache). 

2. Geschichte und Darstellung der wirtschaftlichen Kultur. 

Wright, Carroll D., L'évolution industrielle des États-Unis. 
Traduit par F. Lepelletier. Avec une préface de E. Levasseur, membre 
de l'Institut. Paris 1901. (Bibliothéque internationale d'Economie poli- 
tique publiée sous la direction de Alfred Bonnet.) 

Es war ein glücklicher Gedanke der Herausgeber der Bibliothéque 
internationale d'Economie politique, ein Werk über die industrielle 
Entwickelung Amerikas übersetzen zu lassen, welches den bekannten 
Commissioner of Labor der Vereinigten Staaten, Carroll D. Wright, zum 
Verfasser hat. Es wird wenige Werke in der nationalókonomischen 
Literatur geben, in denen sich Wärme für den Gegenstand mit Unpar- 
teilichkeit der Darstellung in so glànzender Weise gepaart findet. 
Nirgends drängt sich eine Tendenz vor, aber die Tatsachen reden eine 
überzeugende Sprache. Der Verfasser bekundet selbst den praktischen 
Sinn seiner Landsleute, indem er sich durch keine Popularitätshascherei 
und Modemeinung verleiten läßt, sondern die Dinge schildert, wie sie 
sind, und die für seine Nation vorteilhafteste Nutzanwendung daraus zu 
ziehen sucht. 

Das Buch Wrights ist für uns auch deshalb eine Fundgrube des 
Wissens, weil uns kein Land der Welt die Wirkungen des Industrie- 
systems vollendeter und unverfälschter demonstrieren kann als Amerika. 
Bei uns mußte die freie Großindustrie erst Jahrhunderte alte Formen 
und Vorurteile niederbrechen, sie kämpft zum großen Teil noch heute 
mit ihnen, nach den Vereinigten Staaten von Amerika aber wurde sie 
durch tüchtige und unternehmende Menschen verpflanzt und auf jung- 
fräulichem Boden zu überraschender Blüte gebracht. Dort zeigt der 
Industrialismus seinen reinsten Charakter, dort äußert er seine schroffsten 
Wirkungen, dort müssen sich die Vorteile und Nachteile am deutlichsten 
ausgeprägt finden. Und da jete bezeichnend, daß der Chef des ameri- 
kanischen Arbeitsamtes am Schlusse seines Werkes dem Industrialismus 
einen in Worten malvollen, in Gedanken aber schwungvollen Dithy- 
rambus singt. 

Zu Beginn enttäuscht das Werk. Der Verfasser teilt die industrielle 
Entwickelung Amerikas in drei Perioden, in die Kolonialzeit bis zur 
Unabhängigkeitserklärung, in die Zeit vor dem Bürgerkriege und in die 
Zeit nach der Sklavenbefreiung. Der erste Teil bringt eine überreiche 
Fülle von Details, aus denen der Leser nur ein buntes und wenig in- 
struktives Mosaikbild zu konstruieren vermag. Die Kapitel über die 

Dritte Folge Bd. XXV (LXXX). 44 


690 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Entwickelung der Großindustrie in den beiden Perioden 1790—1860 
und 1860—1890 sind unvergleichlich konziser, bewegen sich aber, wie 
der Verfasser selbst zugibt, auf sehr schwankem Boden. Die summarischen 
Vergleiche zwischen Kapitals- und Produktionswert der einzelnen In- 
dustrien am Anfang und am Ende der beiden Zeiträume sind sehr 
trügerisch. Bei den Produktionsdaten erscheinen die Werte für das 
Rohmaterial und für die auf die erste Veredlung verwendete Arbeit 
bei allen weiteren industriellen Verarbeitungen immer wieder mitgezählt, 
so daß sich nicht bloß eine doppelte, sondern häufig sogar eine mehr- 
fache Zählung derselben Werte ergibt. So hübsch also auch die im 
Text eingestreuten kleinen graphischen Tabellen sind, die das Wachs- 
tum von Kapital und Produktion in den einzelnen Industriezweigen ver- 
anschaulichen, so sind sie doch alle falsch. Der Fehler hebt sich auch 
nicht durch seine relative Gleichmäßigkeit, wie Wright (S. 120) an- 
nimmt, sondern er potenziert sich, weil unterdessen auch die Spezialisierung 
der Industrien vorgeschritten ist und die Doppelzählung viel häufiger 
eintritt. Von der Schwierigkeit, ja Unmöglichkeit, solche Pauschalziffern 
zu erheben, wie sie die Amerikaner lieben, will ich gar nicht sprechen. 

Eine Untersuchung der Einflüsse, welche die Zollgesetzgebung, die 
Finanzwirtschaft, die ökonomischen Lehren u. s. w. auf das industrielle 
Wachstum ausgeübt haben, hat der Verfasser aus dem Rahmen seiner 
Arbeit ausdrücklich ausgeschieden. Der Schwerpunkt der letzteren liegt 
in der Untersuchung des Einflusses, welchen das Maschinenzeitalter auf 
die sozialen Verhältnisse ausgeübt hat, und darin entfaltet der Ver- 
fasser eine Meisterschaft, die das Werk für lange Zeit hinaus zu einem 
Leitfaden für Beobachtungen und Erfahrungen aller Art macht. 

Schon das Kapitel, welches die am Beginn der neuen Aera aufge- 
tretene industrielle Revolution behandelt und die Ueberlegenheit der 
freien Arbeit über die Sklavenarbeit darlegt (S. 148 ff.), ist von hohem 
Interesse. Weiterhin wird auf Grund eines gut durchgearbeiteten 
statistischen Materials gezeigt, daß die Maschine die Zahl und Produktions- 
kraft der Arbeiter vermehrt, ihre Löhne erhöht und die Arbeitszeit ver- 
ringert hat. Ueberhaupt ist der Anteil der Arbeit am industriellen 
Erzeugnis gesunken, der Anteil des Kapitals gestiegen (S. 200). 

Der Eintritt der Frauen in die Großindustrie hat die Lage der 
Männer nicht verschlechtert, sondern hat die Verwendung der Kinder- 
arbeit eingeschränkt und den Männern zu höheren und besser bezahlten 
Stellungen verholfen. Die Löhne haben durchweg eine Tendenz zur 
Steigerung; eine Verringerung war immer nur eine Ausnahme und von 
kurzer Dauer (S. 232). 

Der Verfasser begnügt sich aber nicht damit, die ziffermäßigen 
Lohnschwankungen festzustellen, er untersucht auch den realen Wert 
des Arbeitslohnes. Er kommt zu dem Schlusse, daf sich die Lóhne in 
der Zeit von 1860—1891 von 100 auf 168,6 gesteigert, in derselben 
Zeit aber 223 allgemeine Konsumartikel im Preise von 100 auf 94,4 
ermäßigt haben (S. 236). 

Ein besonderer Teil des Buches ist der Arbeiterbewegung und der 
Arbeiterorganisation gewidmet, die viele charakteristische und von den 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 691 


europäischen Verhältnissen abweichende Züge aufweisen. Nach den 
Angaben Wrights gehören etwa 150 000 Arbeiter zur Organisation der 
Knights of Labor, etwa 500 000 zur Fédération Américaine du Travail, 
welche eine Zentrale verschiedener fachlicher und lokaler Vereinigungen 
bildet, etwa 150000 zur Union Americaine du Travail, welche die 
Eisenbahnbediensteten umfaßt, und außerdem 600 000 zu verschiedenen, 
nicht zentralisierten Körperschaften. Im ganzen umschlingt die Organi- 
sation 29,71 Proz. der in den beteiligten Industrien beschäftigten Arbeiter 
(S. 277). 

Die Arbeiterschutzgesetzgebung hat, wenn man beispielsweise die 
deutsche und österreichische Gesetzgebung gegenüberstellt, recht wenig 
geleistet. Sie kennt keine allgemeine Beschränkung der Arbeitszeit für 
männliche Arbeiter, läßt sogar das Trucksystem zu, auch erklärt sie die 
Arbeiterkoalitionen im Prinzip wenigstens für strafbar. Die vorbildlich, 
gewordenen Institutionen der Arbeitsämter, der Gewerbeinspektion 
u. s. w. gleichen diesen Mangel nicht aus. 

Man sieht deutlich, daß die Verbesserung der ökonomischen Lage 
des amerikanischen Arbeiters nicht eine Folge der Arbeiterschutzgesetz- 
gebung, auch nicht eine Folge der Arbeiterorganisation, sondern viel- 
mehr die Folge der praktischen Einsicht der amerikanischen Indu- 
striellen ist. 

Lehrreich sind die Ausführungen, welche dem Einfluß der Maschine 
auf die Arbeit gewidmet sind. Dieser Einfluß ist ökonomischer und 
ethischer Natur. Wirtschaftlich sieht man freilich zuerst die Verdrängung 
der Handarbeit; Wright glaubt, daß heute durchschnittlich 1 Arbeiter 
das leistet, wozu früher durchschnittlich 50 Arbeiter nötig waren. 
Gleichzeitig ist aber auch die Verwendungsmöglichkeit des Arbeiters so 
gestiegen, daß tatsächlich die Zahl der beschäftigten Arbeiter weit mehr 
gewachsen ist, als dies ohne die Maschine jemals möglich gewesen wäre. 
Neue Erwerbszweige sind geschaffen worden (Eisenbahnen, Telegraphen, 
Telephone u. s. w.), neue Industrien sind erstanden (Kautschukindustrie 
u. s. w.) Auch der ethische Einfluß ist ein segensreicher. Die Arbeits- 
zeit nimmt ab, der Arbeitslohn nimmt zu, die harte Händearbeit tritt 
gegen die leichtere Intelligenzarbeit zurück. Auch ist nirgends der 
Boden für sozialistische Utopien so unfruchtbar geworden wie in Amerika. 
Die Industrialisierung führt uns also nicht zur Katastrophe, sondern 
zur Höhe der Kultur. Nach soviel falschen Elendsbildern, an denen 
die moderne nationalökonomische Literatur leidet, ist es herzerquickend, 
die goldnen Schlußworte des gerade auf sozialpolitischem Gebiete hoch- 
erfahrenen Meisters zu lesen: „The centres devoted to industrial pur- 
suits are the centers of thought, of mental friction, of intelligence and 
of progress.“ Josef Grunzel. 


Silbergleit, Heinrich, Magdeburgs Industrie. Handwerk und 
Handel und deren gewerbliche Steuerkraft. Im Auftrage des Magi- 
strats der Stadt Magdeburg bearbeitet. 8°. 478 SS. 6 graphische 
Tafeln. Magdeburg (C. E. Klotz) 1901. 

Dem Interesse, das die Städte an der näheren Erforschung des 

44* 


692 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes, 


gewerblichen Lebens, welches sich in ihren Mauern abspielt, nehmen 
müssen, will die vorliegende umfangreiche Schrift entsprechen, indem 
sie das Magdeburger gewerbliche Leben an der Hand der Gewerbe- 
statistik und der Ergebnisse der Gewerbesteuerveranlagung einer ein- 
gehenden Untersuchung unterzieht. 

Die Kombinierung der Gewerbestatistik mit der Gewerbesteuer- 
statistik ist meines Wissens noch niemals erfolgt. Es ist somit ein 
durchaus neues Gebiet sozial- und wirtschaftsstatistischer Feststellung, 
welches der Verfasser, der Leiter des Magdeburger statistischen Amtes, 
betritt. Man kann ihm zu seinem Vorgehen Glück wünschen, denn 
die Ergebnisse, die er bei seinen mühevollen Untersuchungen gefunden 
hat, sind bedeutsamer Art und verdienen die größte Beachtung. 

Bei der Gewerbezählung vom Jahre 1895 hat das Magdeburger 
‚statistische Amt von jedem für die Reichsstatistik hergestellten Gewerbe- 
bogen eine Abschrift angefertigt und auf dieselbe die aus der Gewerbe- 
steuerrolle ermittelten gewerbesteuerlichen Merkmale des betreffenden 
Betriebes (Betrag der veranlagten Steuer, Zugehörigkeit zu den einzelnen 
Steuerklassen) eingetragen. Auf diese Weise wurde ein Zählkarten- 
material geschaffen, welches nach den verschiedensten Gesichtspunkten 
verarbeitet werden konnte und tatsächlich auch verarbeitet worden ist. 
Zwar kann man in der Steuerleistung des Gewerbebetriebes ein genau 
zutreffendes Bild seiner wirtschaftlichen Bedeutung nur dann erblicken, 
wenn die Steuer nach einem bestimmten Prozentsatz des Ertrages zu 
entrichten ist. Dies ist bekanntlich bei der preußischen Gewerbesteuer 
nach dem Gesetz vom 24. Juni 1891 allein bei den zur I. Steuerklasse 
veranlagten Betrieben der Fall. Bei den übrigen Klassen werden die 
Steuerpflichtigen des Veranlagungsbezirks zu einer Steuergesellschaft 
vereinigt, welche für das Veranlagungsjahr die Summe der für jeden 
Betrieb in Ansatz kommenden Mittelsätze aufzubringen hat. Infolge- 
dessen kann hier die Steuerleistung nicht ohne weiteres für die Dar- 
stellung der wirtschaftlichen Bedeutung der betreffenden Betriebe ver- 
wandt werden. Immerhin lassen sich jedoch, wie es auch in den vor- 
liegenden Untersuchungen in durchaus einwandfreier Weise geschehen 
ist, mittelbar aus der Veranlagung Schlüsse ziehen, welche für die Er- 
forschung der zu untersuchenden gewerblichen Verhältnisse von Belang 
sind. 

Auf die wertvollen Ergebnisse der Untersuchungen kann leider bei 
dem für dieses Referat zur Verfügung stehenden Raum nicht näher ein- 
gegangen werden. Es sei nur noch hervorgehoben, daß die Arbeit auch 
eine rein praktische Bedeutung hat. Sie ist nämlich zugleich eine gewerbe- 
steuerpolitische Betrachtung. Die örtliche Gewerbesteuerreform hat be- 
kanntlich seit Außerhebesetzung der staatlichen Gewerbesteuer die größeren 
Gemeinden nachhaltig beschäftigt und ist eine Frage, welche in mancher 
Gemeinde noch zu lösen ist. Diesem gewerbesteuerpolitischen Charakter 
der Schrift wird besonders in ihrem Anhang unter der Ueberschrift 
„zur Gewerbesteuerreform* Rechnung getragen. Es werden hier aus- 
führlich die Grundsätze dargelegt, welche für die kommunale Gewerbe- 
steuerordnung Magdeburgs in Betracht kommen müssen. Manche der 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 693 


diesbezüglichen Ausführungen dürften auch für andere Großstädte mit 
reichgegliedertem gewerblichen Leben Geltung haben. 

Zum Schluß noch einige Worte über die Methode und Darstellung 
der Schrift. Das Urteil hierüber muß nach jeder Richtung günstig aus- 
fallen. Schon beim flüchtigen Durchsehen des umfangreichen Bandes 
wird der Leser den Fleiß und das Geschick bemerken, mit dem hier 
ein gewaltiges Material gesichtet und verarbeitet ist. 


Aachen. M. Mendelson. 


Die Verwaltung der Stadt Essen im 19. Jahrjhundert. 
Bd. 1. Essen 1902. 600 SS. 

Herr Oberbürgermeister Zweiger erstattet in dem vorliegenden 
Prachtbande den ersten Verwaltungsbericht der Stadt Essen, welcher von 
dem Leiter des statistischen Amtes Dr. Wiedfeldt bearbeitet ist. Der Be- 
richt erhält dadurch ein besonderes Interesse, daß er einen Rückblick 
auf die Zeit von gerade 100 Jahren werfen kann, wührend welcher die 
Stadt nach Verlust ihrer Selbständigkeit unter die preußische Regierung 
gelangte. Es ist darin nicht unterlassen, auf die Segnungen hinzuweisen, 
welche der Stadt durch die Vereinigung mit dem Königreich Preußen 
zu teil geworden sind. Durch den Umstand, daß die städtische Gemeinde 
die Kruppschen Werke umfaßt, ist die Entwickelung derselben in dem 
letzten halben Jahrhundert natürlich eine ganz exzeptionelle und bedeut- 
same gewesen. Durch die reichen finanziellen Mittel, die dadurch der 
Gemeinde zuflossen, konnten die óffentlichen Einrichtungen eine beson- 
dere Förderung erfahren, und dieses ist in dem Abschnitt III, „die 
stádtische Fürsorge für das geistige Leben", wobei zum Teil weit in 
frühere Zeiten zurückgegriffen werden konnte, und Abschnitt IV, „die 
öffentlichen Einrichtungen zur Versorgung der Bevölkerung mit Nah- 
rungs- und Gebrauchsmitteln“ zum eingehenden und interessanten Aus- 
druck gekommen. J. C. 


Adams (P., Mission.), Lindi und sein Hinterland. Berlin, D. Reimer, 1903. gr. 8. 
71 SS. mit Karte. 

Chronik, volkswirtschaftliehe, für das Jahr 1902. Jena, G. Fischer, 1903. gr. 8. 
636 SS. M. 14. (Sonderabdruck aus den „Jahrbb. f. NatOek. u. Statist") 

Calwer, Rich., Das Wirtschaftsjahr 1902. Jahresbericht über den Wirtschafts- 
und Arbeitsmarkt. Teil I. Handel und Wandel in Deutschland. Jena, G. Fischer, 1903. 
gr. 8. IX—336 SS. M. 8.—. 

Heil, Bernh., Die deutschen Städte und Bürger im Mittelalter. Leipzig, B. G. 
Teubner, 1903. 8. VIII—151 SS. Mit Abbildgn., geb. M. 1,25. 

Mitteilungen der Geographischen Gesellschaft in Hamburg. Bd. XVIII. Im 
Auftrage des Vorstandes herausgeg. v. L. Friederichsen. Hamburg, L. Friederichsen & C°, 
1902. gr. 8. VIII-319 SS. Mit 1 Karte in 2 Blättern und 17 Autotypien. M. 12. 
(Aus dem Inhalt: Meine dritte Forsehungsreise im Atlasvorlande von Marokko im Jahre 
1901, von (Prof.) Theob. Fischer. —  Reisebriefe aus Russisch Zentralasien, von Max 
Friederichsen.) 

Popescu, Stef. D. (HandelshochschProf.), Wirtschaftsgeographische Studien aus 
Großbritannien. Leipzig, H. Lorenz, 1903. gr. 8. 178 SS. M. 3.—. 

Vanderlip, Frank A. (Vizepräsid. der National-City-Bank in New York), Amerikas 
Eindringen in das europäische Wirtschaftsgebiet. 2. Ausgabe. Berlin, Jul. Springer, 
1903. gr. 8. 81 SS. 


694 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Verney, N. et G Dambmann, Les puissances étrangères dans le Levant en 
Syrie et en Palestine. Lyon, A. Rey & C^, 1903. gr. in-8. 800 pag., 2 plans et 
3 grandes cartes en couleurs. fr. 40.—. (Ouvrage couronné par l’Académie française 
(prix Fabien) et par la Société de géographie commerciale de Paris, médaille Dupleix.) 

Brandes, George, Poland: a study of the land, people, and literature. London, 
Heinemann, 1903. 8. 318 pp. 12,.—. 

Gay, Susan E., Old Falmouth. The story of the town from the days of the 
Killigrews to the earliest part of the 19" century. London, Headley, 1903. 8. 274 pp. 
7/.6. 

d Gerrare, Wirt., Greater Russia: the continental empire of the old world. New 
York, Macmillan, 1903. 8. XIII—337 pp. with map, cloth. $ 3.—. (Contents: Tracts 
-of the commercial and industrial development of the Empire. — The Russian colonies 
in Siberia, partieularly in the far eastern provinees. — The Russian settlements in 
Mangolia and Manchuria.) 

Sykes, Percy Molesworth, Ten thousand miles in Persia, or eight years in 
Irán. London, J. Murray, 1902. 8. XV—481 pp. with 72 plates and 1 chart. 

Cocchi, Igino (prof). La Finlandia: ricordi e studi. Firenze, suce. L. Monnier, 
1902. 8. XI—390 pp. e 3 tav. 

Marchlewski, J. B., Stosunki spoleczno-ekonomiczne w ziemiach zaboru pruskiego. 
Lemberg 1903. 8. 359 pp. (Die nationalókonomischen Verhültnisse in PreuBisch-Polen.) 


3. Bevölkerungslehre und Bevölkerungspolitik. Auswanderung 
und Kolonisation. 

Kuezynski, R., Die Einwanderungspolitik und die Bevölkerungsfrage der Ver. 
Staaten von Amerika. Berlin, L. Simion, 1903. gr. 8. M. 1.—. (Volkswirtschaftliche 
Zeitfragen, Heft 194.) 

Leue, A. (Hauptm. a. D.), Dar-es-Salaam. Bilder aus dem Kolonialleben. Berlin, 
W. Süsserott, 1903. gr. 8. IV—318 SS. mit 15 Vollbildern u. 1 Titelbild, geb. M. 6.—. 

Verhandlungen des deutschen Kolonialkongresses 1902 zu Berlin am 10. und 
11. X. 1902. Berlin, D. Reimer, 1903. gr. 8. XVI—856 SS., geb. M. 30.—. 


Renard, M., Le régime foncier dans les colonies frangaises de l'Afrique. Caen, 
impr. Valin, 1903. 8. IX—313 pag. 

Annual report, XLVIIl'", of the Registrar-General on the births, deaths, and 
marriages registered in Scotland during the year 1902; ete. Glasgow 1903. 8. XXVI— 
63 pp. 

Farmer, Edwin, The Transvaal as a mission field. London, Gardner, 1903. 8. 
150 pp. 2/.6. 

Kimball, Gertrude $., Correspondence of the colonial governors of Rhode Island, 
1723—1775. 2 vols. Boston, Houghton, Mifflin & C°, 1903. 8. ill., cloth. $ 10.—. 

Papers relating to progress of administration in the Transvaal and Orange River 
Colony. London, 1903. 8. with maps. 2/.—. (Contents: Repatriation of ex-burghers. — 
Return of British refugees and revival of industry. — New settlers. — Report upon 
the working of the Department of Agriculture since its formation. — Report on education 
in camp and town schools, — Report of Commissioner of mines. — Report by Com- 
missioner of native affairs. — ete.) (Parl. pap. issued in April, 1903.) 

Bastogi, G. A., Una scritta colonica. Firenze, tip. M. Ricci, 1903. 8. 187 pp. 

Lonhitano, Paolo (avvocato), Osservazioni sul fenomeno dell’ emigrazione ita- 
liana e sulla legge e regolamento sull'emigrazione dopo un anno dalla sua applicazione, 
novembre 1902. Genova, tip. P. Pellas fu L., 1902. 4. 91 pp. 


4. Bergbau. Land- und Forstwirtschaft. Fischereiwesen. 

Mitteilungen über den Niederrheinisch-westfäli- 
schen Steinkohlenbergbau. Essen 1901. 

Der Verein für die bergbaulichen Interessen im Oberbergamtsbezirk 
Dortmund zu Essen hat den Teilnehmern am 8. allgemeinen deutschen 
Bergmannstag in Dortmund die vorliegende Festschrift gewidmet, welche 
auch für weitere Kreise Interesse hat. Mehrere Fachmänner haben sich 
vereinigt, um in 13 größeren Abhandlungen eine eingehende Darstellung 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 695 


des betreffenden Betriebes zu geben. Leider fehlt jede verbindende 
Einleitung, die in hohem Mafle wünschenswert gewesen würe. Die Herren 
Bergassessoren Hundt und Kóhne haben eine ausführliche Darstellung 
der Lagerungsverhältnisse der Steinkohlen im Ruhrbecken, sowie der 
Art der bergmännischen Verwertung gegeben. Eingehend sind dabei 
die Schutzmaßregeln (Bergwerksdirektor G. A. Meyer), die geschäftliche 
Verwendung des Materials und der Arbeiterverhältnisse behandelt. Es 
reiht sich daran als Schlufistein die Behandlung der Eisenhüttenindustrie 
vom Bergassessor Dr. Tübben. Eine Menge statistischer Tabellen, graphi- 
scher, namentlich kartographischer Darstellungen erleichtern die Ueber- 
sicht. Um nur ein Beispiel herauszugreifen, geben wir an, daf Seite 111 
die durchschnittliche Verzinsung des im Ruhrkohlenbecken angelegten 
Kapitals in Prozenten von 1873—92 (leider nicht weiter) graphisch 
dargestellt ist. Die Prozentsütze schwanken zwischen 18 und 1,3 Proz., 
von 1875—1888 bleiben sie unter 4 Proz. Die Entwickelung der Löhne 
ist in 4 Klassen von 1878—1900 für Hauer und Schlepper, wenn auch 
mit einigen Lücken bis 1853 zurückverfolgt, die Leistung der Arbeiter 
in der Förderung sogar bis 1790 zurück, wodurch für die letzten drei 
Dezennien eine Vergleichung der Leistungen mit den Löhnen ermög- 
lieht wurde (S. 189). J. C. 


Brentano, Lujo, Die Getreidezólle als Mittel gegen die Not der Landwirte. 
Berlin, Schwetschke & Sohn, 1903. 8. 64 SS. (Sonderabdruck aus „Deutschland“ 
Monatsschrift für die gesamte Kultur.) 

Franke, O., Die Rechtsverhältnisse am Grundeigentum in China. Leipzig, Diete- 
riehsche Verlagsbhdlg., 1903. gr. 8. VIII—104 SS. M. 3.—. 

Kaffee, der. GemeinfaBliche Darstellung der Gewinnung, Verwertung und Beur- 
teilung des Kaffees und seiner Ersatzstoffe. Berlin, J. Springer, 1903. gr. 8. VI— 
174 SS. mit 7 Abbildgn. u. 1 Karte. M. 1,40. (Herausgeg. vom kais. Gesundheitsamt.) 

Muck, Jos. (Bergingen.), Der Erdwachsbau in Boryslaw. Berlin, Jul. Springer, 
1903. gr. 3. VI—218 SS. mit 53 Fig. u. 2 Taf. M. 6.—. 

Roheisen, das, unter Mitberücksichtigung seiner weiteren Verarbeitung. I. Teil: 
Die einzelnen Produktionslünder (1. Lieferung). Herausgeg. vom k. k. Handelsministerium. 
Wien, Manz, 1903. Lex.-8. 250 SS. (Inhalt: Roheisenproduktion-, Verarbeitung und 
-Konsum etc. I. Oesterreichisch-ungarische Monarchie: A. Gesamtes Zollgebiet; B. Im 
Reichsrate vertretene Kónigreiche und Länder; C. Länder der ungarischen Krone; 


D. Bosnien und die Herzegowina. — II. Deutschland. — III. Großbritannien. — IV. 
Vereinigte Staaten von Amerika.) [Beilage zum „Oesterreichischen wirtschaftlichen 
Archiv‘“.] 


Rubow, W., Die hinterpommersche Landgemeinde Schwessin, die Lage ihrer Land- 
wirte und ihr Interesse an den Getreidezöllen. Berlin, L. Simion, 1903. gr. 8. 68 SS. 
M. 2.—. (Volkswirtschaftliche Zeitfragen, hrsg. von der volkswirtsch. Gesellschaft in 
Berlin, Heft 195 u. 196.) 

Veróffentlichungen aus den Jahres- Veterinürberichten der beamteten Tier- 
ärzte Preußens für das Jahr 1901. Jahrg. II. Zusammengestellt im Auftrage des Vor- 
sitzenden der technischen Deputation für das Veterinärwesen von (Departementstierarzt) 
Bermbach. 2 Teile. Berlin, P. Parey, 1903. Lex.8. VI—148 u. V—99 SS. Mit 
17 Taf. M. 7,50. 

v. Wolfstrigl-Wolfskron, Max (Reichsritter), Die Tyroler Erzbergbaue 1301— 
1665. Mit Unterstützung der kaiserl. Akademie der Wissenschaften in Wien. Innsbruck, 
Wagnersche UniversBuchhdl., 1903. gr. 8. XVI—473 SS. M. 10.—. 


Concours général agricole à Paris, à la galerie des machines, du 5 au 17 mars 
1903. "Vins, cidres, poirés et eaux-de vie de France, d'Algérie et de Tunisie. Paris, 
impr. nationale, 1903. 8. 335 pag. (Publication du Ministere de l'agriculture.) 


696 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Dulac, Albert, Agriculture et libre-échange dans le Royaume-Uni. Paris, 
Guillaumin & C", 1903. 8. fr. 4,50. (Sommaire: Conditions sociales et économiques. — 
Conditions techniques et industrielles de la production. — Conditions commerciales de 
la vente. — Economie spéciale de l’entreprise agricole.) 

Huet, Ed. (officier d'administration du service des subsistances militaires), Le 
grain de blé; d'ou vient'il? ou va-t-il? Paris, Guillaumin & Or, 1903. 8. 415 pag. 
fr. 3,50. 

Règlement général pour la culture du tabac en 1903 dans le département du 
Nord. Lille, impr. Danel, 1903. 8. 62 pag. 

Résultats généraux de la récolte en Russie en 1902. St. Pétersbourg 1903. 4. 
53 pag. et 10 cartes. (tiré du vol. LIV de la „Statistique de l'Empire de Russie.) 

Zolla, D. (prof. à l'Ecole de Grignon et à l'Ecole libre des sciences politiques), 
La crise agricole dans ses rapports avec la baisse des prix et la question monétaire. 
Paris, C. Naud, 1903. 8. 246 pag. av. figur. fr. 5.—. (Ouvrage couronné par l’Aca- 
démie des sciences morales et politiques, prix Rossi.) [Table des matières: I. La baisse 
de prix des principaux produits agricoles depuis vingt ans: 1. Les produits végétaux; 
2. Les produits d'origine animale; 3. La baisse des prix et l’augmentation de la pro- 
duetion en France; 4. La production intérieure et les prix; 5. La baisse du prix des 
matières premières de l'industrie agricole; 6. Erreur relative à l'influence qu'a exercée 
la baisse des prix sur les recettes brutes des cultivateurs; 7. La baisse des prix des denrées 
agricoles. Les recettes brutes et les profits. — II. Les causes de la baisse des prix: 
1. Les importations de produits agricoles et la baisse des prix; 2. La crise monétaire et 
la baisse des prix (a, La baisse de largent et l'appréciation de l'or; b, La rareté relative 
de l'or; e, La concurrence des pays A étalon d'argent); 3. L'agriculture et l'impôt; 
4. Le développement de la production agricole dans le monde et la transformation des 


moyens de transport. — III. Les remèdes: 1. La législation douanière et la crise; 
2. La protection des intérêts agricoles; 3. Les solutions définitives. — IV. La portée 


sociale de la crise agricole.] 

Average prices of certain classes of Irish agrieultural produets and live stock for 
1902. Dublin 1903, with diagrams. 1/.6. (Parliam. pap., issued in April, 1903.) 

Buxton, Sydney, Fishing and shooting. New York, Dutton. 286 pp. illustr., 
cloth. $ 3,50. 

Moore, 8. A., and H. S., The history and law of fisheries. London, Stevens A 
Haynes, 1903. Roy.-8. XIV—446 pp. 21/.—. 

Myrick, Herbert, A. D. Shamel, H. J. Waters, and others, The book of 
corn: a treatise upon the eulture, marketing and uses of maize in America and elsewhere. 
New York, Orange Judd C°, 1903. 12. 384 pp. cloth. $ 1,50. (Contents: A brief 


history of the corn plant. — Silos. Location. Construction and filling. — Corn pests 
and diseases. — Specialities in corn culture. — Maize in other countries. — Tables 
showing erop and movement. — Exports from the United States. — Prices for a series 
of years. — etc. 


Almanacco agrario italiano pel 1903: Anno I. Piacenza, tip. V. Porta, 1903. 12. 
278 pp. c. fig. 

Cusumano, Vito (prof), Il catasto e la perequazione fondiaria; lezioni: com- 
mento alla legge 1° marzo 1886 per uso degli ingegneri e dei periti agronomi. 4* ediz. 
Palermo, A. Reber, 1902. 8. 59 pp. l. 1.—. 

Petrilli, Nest., Considerazioni agrarie sul piano di Capitanata: studio. Napoli, 
tip. E. Paperi, 1902. 8. 87 pp. l. 2,25. 

Krzywieki, L., Kwestya rolna. (Die Agrarfrage. Warschau, Wissenschaftlicher 
Verlag, 1903. 8. 407 SS. (in polnischer Sprache). 

5. Gewerbe und Industrie. 


Untersuchungen über die Heimarbeit der Frauen in 
Dresden. Heft 1 der Schriften der Dresdner Gesellschaft für soziale 
Reform, 1902. 

Die vorliegende kleine, nur 40 Seiten umfassende Schrift berichtet 
über die Ergebnisse einer Enquete, welche in Dresden von einer Anzahl, 
verschiedenen Berufen und Organisationen angehórenden Privatpersonen 
vorgenommen wurde. Obwohl dieselbe nur Untersuchungen über die 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 697 


Heimarbeit anzustellen beabsichtigte und obwohl der 1. Teil die Ueber- 
schrift trägt: „Untersuchung über die gewerbliche Nacht- und Sonntags- 
arbeit der Frauen in Dresden“, sind in der Schrift keineswegs nur in 
diesem Rahmen sich bewegende Fragen beantwortet, sondern willkürlich 
andere, allerdings interessante, Angaben hier mit hineingezogen, dort 
der Ueberschrift gemäß fortgelassen, so daß die Gesamtdarstellung kein 
ganz einheitliches, klares Bild gibt. 

500 Fragebogen kamen zur Verteilung, von denen nur etwas über 
ein Drittel in brauchbarer Weise ausgefüllt wurden. Herr Paul Scheven 
berichtet im 1. Teil der Schrift über die Angaben von 41 Heimarbeiterinnen, 
welche sich auf 7 verschiedene Gewerbszweige verteilen und von 60 Be- 
triebswerkstätten- bezw. Fabrikarbeiterinnen verschiedener Branchen, 
welche nebenbei Heimarbeit verrichten. Die Zahl der Befragten, welche 
auf die einzelnen Branchen kommen, ist hiernach außerordentlich klein 
und es scheint uns die Bedeutung dieser Enquete dadurch etwas zweifel- 
haft zu werden. 

Es wird konstatiert, daß die Konfektionsarbeiterinnen, welche in 
Betriebswerkstätten beschäftigt sind, wohl zeitweise Arbeit mit nach 
Hause nehmen, aber trotzdem eine Nachtruhe von 7—9 Stunden zu 
haben pflegen. Der Wochenlohn der eingearbeiteten Frauen und Mädchen 
beträgt 8—13 M., der der jüngeren 3—8 M. Die überwiegende Zahl, 
das sind 14, war mit ihrem Gesundheitszustand zufrieden. 

Nur 17 Heimarbeiterinnen der Konfektionsbranche gaben brauch- 
bare Auskunft. 11 dieser 17 waren verheiratet und hatten die Heim- 
arbeit übernommen entweder, weil der Mann krank oder arbeitslos war, 
oder weil er zu wenig verdiente. Sehr viele Frauen von Saisonarbeitern 
nehmen in der flauen Zeit Heimarbeit an, doch kommt es merkwürdiger- 
weise fast nie vor, daß ihre Männer sie dabei unterstützen, wie das 
z. B. in der Cigarettenfabrikation sehr leicht möglich wäre, eher über- 
nehmen sie dann an Stelle der Frau die Hausarbeit. Zum alleinigen 
Unterhalt einer, wenn auch kleinen Familie reicht der Ertrag der 
Konfektionsheimarbeit fast nie aus. 8—10 M. wöchentlicher Verdienst 
ist das Durchschnittliche, auf 15 M. kommen sie selten und dann pflegt 
für Arbeitsgerät und dergleichen mancherlei abzufallen. Ueber den 
Gesundheitszustand klagten wenige. 

Einige Tabellen geben Aufschluß über die Detailverhältnisse in 
den verschiedenen Gewerbszweigen, was besonders wichtig ist, da 
z. B. die Konfektionsindustrie eine entschiedene Saisonindustrie ist, so 
daß der Jahresdurchschnitt in Bezug auf Lohn, Arbeitszeit etc. gar 
kein richtiges Bild gibt. 

In der Blumenfabrikation wurden nur 6 Betriebswerkstättenarbeite- 
rinnen und 4 Heimarbeiterinnen befragt, also eine kaum erwähnenswerte 
Zahl. In der Saison verdienen dieselben 9—10 M., außerhalb derselben 
4—7 M. wöchentlich; für ca. 20 Ueberstunden wurden 3 M. gezahlt; 
einige arbeiten am Sonntag 3—5 Stunden, des Abends 1—3 Stunden 
daheim. 

Die 4 befragten Arbeiterinnen der Nahrungsmittelbranche berichten 
über sehr lange Arbeitszeit bei sehr kärglichem Lohn. 


698 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes, 


Der Verfasser des 1. Teils der Schrift gibt selbst zu, daß die 
Zahl der ausgefüllten Fragebogen zu gering ist, um einen wertvollen 
Einblick in die Verhältnisse zu gewähren oder gar Schlüsse zu ge- 
statten. Folgendes glaubt er aber doch den Erhebungen entnehmen 
zu dürfen: Die Notwendigkeit, die zwangsweise Krankenversicherung 
auch auf die Heimarbeiter auszudehnen und ferner eine Wohnungs- 
inspektion einzuführen. Auch die Einführung des obligatorischen Fort- 
bildungsunterrichtes für weibliche Arbeiterinnen ist von einer Seite 
der Erhebenden vorgeschlagen worden. 

Der 2. Teil der kleinen Arbeit beschäftigt sich mit der Cigaretten- 
industrie und ist von Herrn Wuttke verfaßt. 73 brauchbar ausgefüllte 
Fragebogen sind ihm von Heimarbeiterinnen eingegangen, von denen 
67 verheiratet waren. Hier gelten vor allem unsere vorherigen Aus- 
führungen über die Gründe der Heimarbeit. Entschieden interessant 
ist es, daß in den Tabellen stets das Verdienst des Mannes neben das 
der Frau gestellt wurde, woraus ersichtlich, ob die Heimarbeit der 
Frau eine Notwendigkeit war oder nicht. Auch die Zahl der un- 
erwachsenen Kinder wurde diesen Angaben beigefügt. Viele Frauen 
arbeiten des Sonntags und am grauen Morgen oder relativ späten 
Abend, aber häufig allein zu dieser Zeit, da sie den Tag über 
durch Haushalt und Familie, vereinzelt auch durch Nebenverdienst be- 
schäftigt sind. 

Der durch jene Cigarettenheimarbeit erzielte Verdienst ist sehr ge- 
ring. Für die Herstellung von 1000 Stück Cigaretten mit Hülse werden 
0,90—2 M. bezahlt, durchschnittlich bringt aber eine geübte Arbeiterin 
nur 100 in einer Stunde fertig, somit werden für 10 Stunden Arbeit 
etwa 1,50 M. gezahlt. 

74 der Fragebogen gaben über die Heimarbeit von Fabrikarbeite- 
rinnen in der Cigarettenindustrie Auskunft, 49 der Arbeiterinnen waren 
ledig. Die Arbeit in der Fabrik währte meist 8—9 Stunden, danach 
arbeiteten sie noch 2—3 Stunden zu Hause und erzielten so 12—14 M. 
wöchentlichen Durchschnittslohn. Doch nahmen nur wenige, 7, regel- 
mäßig Arbeit mit nach Hause, manche arbeiteten auch 11 Stunden in 
der Fabrik. 2 Stunden Sonntagsarbeit wurden nicht oft überschritten. 

Merkwürdig ist, daß gerade die Frauen, welche am wenigsten ver- 
dienen und sich in der gedrücktesten Lage befinden, in ihren Aus- 
sagen sehr zurückhaltend oder ganz ablehnend sind; so daß das Bild 
noch etwas düsterer entworfen werden müßte, um ganz der Wirklichkeit 
zu entsprechen. E. C. 


Jahrbuch der Hamburger Arbeiterkolonie und der Heimatkolonie Schäferhof für 
1903. Hamburg, Druck von H. Dobbertin, 1903. gr. 8. 42 SS. 

Kirchner, E. (Prof.), Das Papier. Historisch-technologische Skizzen. Chemnitz, 
Druck von Pickenhahn & Sohn, 1903. 4. (Beigabe zum Jahresbericht der technischen 
Staatslehranstalten in Chemnitz, Ostern 1902—1903.) 

Sigel, Walt., Der gewerbliche Arbeitsvertrag nach dem bürgerlichen Gesetzbuch. 
Stuttgart, J. B. Metzler, 1903. gr. 8. VIII—192 SS. M. 4.—. 


Bru, E., Essai sur la règlement du travail à domicile. Paris, Larose, 1903. 8. 
338 pag. (thèse.) 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 699 


Fagnot, F., Le syndicalisme anglais. R&sum& historique (1799—1902). Paris, 
Société nouvelle de librairie et d’édition. 

Liger, Léon, La protection des enfants employés dans les professions ambulantes 
et théâtrales. Paris, A. Rousseau, 1902. 8. 132 pag. 

Paseaud, H. (conseiller à la cour d'appel de Chambéry), Le contrat de travail 
au point de vue économique et juridique, et l'utilité de sa réglementation législative. 
2* éd. Paris, Fontemoing, 1903. 8. 213 pag. fr. 3,50. 

Rapports présentés au congrès des études économiques pour les emplois indu- 
striels de l'aleool (Paris 1903). Paris, imprim. nationale, 1903. 8. 138 pag. (Publication 
du Ministere de l'agriculture.) 

Série de prix de travaux de la chambre syndicale des entrepreneurs de travaux 
de bâtiment de la ville de Lyon. 6° éd. Lyon, Mercier, 1902. in-4. 380—XII pag. 
fr. 14.—. 

Cust, A. M., The ivory workers of the middle ages. London, G. Bell, 1902. 12. 
170 pp. with fig. 

Labour Commissioners of New South Wales. Report for the year ended 30'^ June, 
1902. Sydney, W. A. Gullick printed, 1902. Folio. 58 pp. with 7 photogravs. 

Annali dell industria e del commercio 1902: Atti del Consiglio dell’ industria e 
del commercio, sessione ordinaria dell'anno 1902. Roma, tip. nacion. di G. Bertero & C., 
1903. gr. 8. 123 pp. 

Cavagnari, Camillo, Studi sul contratto di lavoro, col testo del progetto di 
legge sul contratto di lavoro presentato alla Camera dei Deputati. Roma, società editr. 
Dante Alighieri, 1902. 8. 80 pp. 

Tombesi, Ugo, L'industria del ferro in Italia. Pesaro, G. Federici, 1903. 8. 
106 pp. 1. 2.—. 5 

6. Handel und Verkehr. 

Huber, F. C., Die Kartelle. Ihre Bedeutung für die Sozial-, Zoll- 
und Wirtschaftspolitik. Stuttgart und Leipzig (Deutsche Verlagsanstalt) 
1903. 163 SS. 

Das Kartellproblem hat in den 2 Jahrzehnten, in denen sich die 
Wissenschaft mit ihm beschäftigt, eine solche Ausdehnung gewonnen, 
daß es kaum mehr möglich erscheint, in einer Schrift alle Seiten des- 
selben eingehend zu behandeln. Was wir jetzt brauchen, sind daher 
einerseits Monographien über einzelne Kartelle, die aber schwierig sind, 
weil sie sich zumeist zu einer Geschichte der ganzen in Betracht 
kommenden Industrie auswachsen werden, und andererseits Spezial- 
untersuchungen über gewisse Einzelfragen des großen Kartell- oder 
Monopolproblems. Dennoch werden gerade diese beiden Aufgaben heute 
vernachlässigt, dagegen erhalten wir eine Schrift nach der anderen, die 
die Kartellfrage im allgemeinen behandelt. Manche derselben sind von 
Vertretern und Leitern wirtschaftlicher Interessenvereinigungen verfaßt, 
die ihre amtliche Tätigkeit mit der Kartellfrage in Berührung brachte, 
und dann zumeist aus Vorträgen entstanden, welche die Verfasser auf 
Veranlassung der von ihnen geleiteten Vereinigungen gehalten haben. 
Dies ist auch die Entstehung obengenannter Schrift Prof. Hubers ge- 
wesen, der sie als die „erweiterte Ausgabe eines dem II, württem- 
bergischen Handelskammertag erstatteten Referates“ bezeichnet. Mit 
der Art ihrer Entstehung erklären sich die Vorzüge wie die Mängel 
des Buches. Letztere bestehen in dem unsystematischen Charakter des 
Werkes, welches nach dem in 4 Kapitel geteilten Hauptabschnitt drei 
fast ebensolange Anhänge umfaßt, die das im 1. Teil Gesagte ergänzen 
sollen. Der Hauptmangel der Schrift vom Standpunkte wissenschaftlicher 
Beurteilung aus dürfte aber wohl in dem Fehlen begrifflicher und 


700 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes 


theoretischer Grundlagen, klarer Abgrenzungen und Terminologien zu 
finden sein. Zahlreiche irrtümliche und falsche Urteile hängen damit 
zusammen, so wenn oft von den Kartellen behauptet wird, was nur 
von den Trusts gilt, oder Urteile über die Kartelle im allgemeinen 
abgegeben werden, die nur für bestimmte Formen gelten, oder wenn 
Investment Trusts und Allianceverbände mit den Kartellen zusammen- 
geworfen werden. Es würde hier zu weit führen, das im einzelnen 
nachzuweisen. 

Der Vorzug des Buches besteht dagegen in der eingehenden Wieder- 
gabe und Besprechung des Materials, das dem Verfasser zur Verfügung 
stand. Hierin liegt wenigstens das Neue, das Kenner der bisherigen 
Literatur in Hubers Buch finden können, und darin besteht also auch 
sein wissenschaftlicher Wert. Jedoch scheint mir, daß sich der Verf. 
gar zu ausschließlich auf das ihm amtlich zugegangene Material bei 
seinen Urteilen beschränkt hat und daß er die bisherige Literatur nicht 
genügend berücksichtigt. Offenbar beabsichtigt er aber auch weniger, 
wissenschaftlich Neues zu bringen, als weitere Kreise mit dem Kartell- 
problem vertrauter zu machen, und dazu ist die Schrift auch trotz des 
unsystematischen Charakters wegen ihrer leichten Lesbarkeit und einer 
gewissen Breite der Darstellung zweifellos geeignet. Darum sind auch 
wohl, wie schon aus dem Titel hervorgeht, die wirtschaftspolitischen 
Fragen, die mit den Kartellen in Zusammenhang stehen — „Sozial-, 
Zoll- und Wirtschafts(?)politik* — die das Publikum besonders interessieren, 
am eingehendsten behandelt, und diese Partien sind auch meines Er- 
achtens die besten des Buches. Robert Liefmann. 


Auf dem Wege zur Eisenbahngemeinschaft? Ein Beitrag zur süchsischen Eisenbahn- 
frage von einem Fachmann. Dresden, v. Zahn & Jaensch, 1903. gr. 8. M. 0,75. 

Bericht der Direktion der pfälzischen Eisenbahnen über die Verwaltung der unter 
ihrer Leitung stehenden Bahnen in dem Jahre 1902. Ludwigshafen a/Rh., Baursche 
Buchdruckerei, 1903. gr. 4. IV—158; 6; 41 u. 29 SS. 

Bericht der Handelskammer Dresden über das Jahr 1902. I. Teil. (Tütigkeit der 
Kammer.) Dresden, Druck von C. Heinrich, 1903. gr. 8. VI—103 SS. 

Grothe, L. H., Tripolitanien und der Karawanenhandel nach dem Sudan. Leip- 
zig, Seele & C^, 1903. gr. 8. 28 SS. M. 0,30. (Hochschulvortrüge für Jedermann, 
Heft 31.) 

Hamburgs Handel im Jahre 1902. Sachverständigenberichte herausgeg. auf Ver- 
anlassung der Handelskammer. Hamburg, Ackermann & Wulff Nachf., o. J. (1905). 
gr. 8. 128 SS. 

Handelskammer zu Frankfurt a. Main. Jahresbericht für 1902. I. Teil mit 
Ergänzungen bis 1. 4. 1903. Frankfurt a. M., Selbstverlag der Frankfurter Handels- 
kammer, 1903. gr. 8. VI-—162 SS. | 

Hesse, Herm., Die ostafrikanische Bahnfrage. Berlin, W. Süsseroth, 1903. gr. 8. 
41 SS. Mit Abbildgn. u. 1 Kartenskizze. M. 1,50. 

Hintze, H., Winke für den Export nach überseeischen Gebieten. Afrika. Berlin, 
Bruhn & v. Wolffrad, 1903. gr. 8. 45 SS. M. 1.—. 

Jahresbericht der Handelskammer für Barmen pro 1902. Barmen, Söhn & 
Ackermann, 1903. gr. Folio. 64 SS. 

Jahresbericht der Handelskammer zu Chemnitz 1902. I. Teil. Chemnitz, Ed. 
Focke, 1903. gr. 8. XVII—196 SS. 

Jahresbericht, vorläufiger, der Handelskammer zu Cöln für 1902.  Cóln, 
Druck von M. Du Mont Schauberg, 1903. gr. 8. XV—108 SS. 

Jahresbericht der Handelskammer für den Amtsbezirk Pforzheim über das Jahr 
1902. Pforzheim, H. Rufsehe Buchdruckerei, 1903. 8. 144 SS. 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 701 


Jahresbericht der Schwarzwälder Handelskammer für den Kreis Villingen und 
den Amtsbezirk Neustadt in Villingen für das Jahr 1902. Villingen, März 1903. 8. 
156 SS. 

Jahresbericht der Handelskammer zu Wiesbaden für 1902. Wiesbaden, Druck 
von Rud. Bechtold & C°, 1903. gr. 8. 154 SS. 

Vollversammlung, XXIX., des Deutschen Handelstags in Berlin am 18. und 
19. März 1903. (Stenographischer Bericht.) Berlin, Liebheit & Thiesen, 1903. 4. XV— 
102 SS. 

Wiedenfeld, Kurt (Privdoz, Berlin), Die nordwesteuropäischen Welthüfen 
London, Liverpool, Hamburg, Bremen, Amsterdam, Rotterdam, Antwerpen, Havre in 
ihrer Verkehrs- und Handelsbedeutung. Berlin, E. S. Mittler & Sohn, 1903. gr. 8. 
XI—376 SS. mit 6 Taf. M. 12.—. (A. u. d. T.: Verôffentlichungen des Instituts für 
Meereskunde etc. an der Univers. Berlin, Heft 3.) 


Annuaire de l’alliance syndicale du commerce et de l’industrie pour 1903. Paris, 
impr. Duruy, 1903. 8. 108 pag. 

Annuaire du commerce des soies et soieries de France et de l'étranger pour 
1903 (31° année). Lyon, impr. Waltener & C^, 1903. 8. 312 pag. 

Annuaire commercial de la ville d'Amiens et de ses sections rurales pour 1903. 
61* année. Amiens, impr. picarde, 1903. 8. 552—CCXL pag. et plan. 

Annuaire du Ministère des postes et des télégraphes pour 1903. 73* année. Paris, 
Paul Dupont, 1903. 8. fr. 3,50. (Contenant renseignements sur le service des postes 
et des télégraphes pour la France, les colonies et l'étranger; sur le service des paque- 
bots-poste francais et étrangers; sur la caisse d'épargne postale, eto.) 

Chéradame, A., La question d'Orient. La Macédoine. Le chemin de fer de 
Bagdad. Paris, Plon, Nourrit & C'*, 1903. 8. Avee 6 cartes. fr. 4.—. 

Commerce extérieur, le, de l'Egypte pendant l'année 1902. Alexandrie, imprim. 
A. Mourès & C', 1903. Lex. in-8. LI—149 pag. 

Martineau, Alfr. (gouverneur de Mayotte et dépendances), Les eommerce francais 
dans le Levant. Lyon, A. Rey & C", 1903. 8. 560 pag. et une carte en couleurs. 
fr. 12,.—. 

Ricard, J., Le rachat des chemins de fer francais. Paris, impr. des arts et manu- 
Íactures, 1903. 8. 24 pag. 

Royaume de Belgique. Chemins de fer, postes, télégraphes, téléphones et marine. 
Compte rendu des opérations pendant l'année 1901. Rapport présenté aux chambres 
législatives par M. le Ministre des chemins de fer, postes et télégraphes. Bruxelles, impr. 
J. Goemaere, 1902. Folio. 183; 24; 26; 11; X pag. 

Sonderegger, C., L'achevement du canal de Panama, Zürich, A. Raustein, 1902. 
in-4. IX—200 pag. av. fig. et plans. 

Foreign commerce, the, and navigation of the United States for the year ending 
June 30, 1902. (2 vols.) Vol. I. Prepared in the Bureau of Statistics (O. P. Austin, 
Chief of Bureau). Washington, Government Printing Office, 1902. 4. 932 pp. Con- 
tents: Review of the foreign commerce of the United States, 1902, — Summary tables. 
— Wholesale prices. — General tables of commerce. — Miscellaneous tables of com- 
merce. — General tables of tonnage movement, — Commerce of Porto Rico and of the 
United States with Porto Rieo. — Commerce of Hawaii, — Commerce of Guam.) 

Free trade and proteetion. London, Sell, 1903. 8. 99 pp. 2/.6. (Commercial in- 
telligence handbooks, n° 2.) 

Railway year book for 1903, the. London, Railway Magazine, 1903. 8. 2/.6. 

Spalding, Hugh M., Encyclopædia of business law and forms, for business 
men, ete. Philadelphia, P. W. Ziegler & C 1903. 8. 702 pp. $ 3,75. 

Stubbs’, Commercial year-book and gazette. Index for 1903. London, Stubbs, 
1903. 8. 385 pp. 

Tables of the trade of India with British possessions and foreign countries, 1897—98 
to 1901—02. London, 1903. Folio. 1/.—. (Parl. paper.) 

Annuario ufficiale della r. marina, 1903 (anno XLII). Roma, tip. L. Cecchini, 
1903. 8. LVIII—714 pp. e ritr. 

Meneghelli, V. (prof), Notizie sulle condizioni economiche e sul movimento 
commerciale dei vilayet di Scutari e di Gianina (Albania): relazione in seguito alla 


702 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


escursione a scopo di studio commerciale fatta in Albania nell’ autunno 1902 per incarico 
della camera di commercio di Vicenza. Vicenza, tip. L. Fabris & C., 1903. 8. 74 pp. 

Rava, L., V. Capello e De Benedetti, Il congresso di Londra del 1902 sulle 
tranvie e ferrovie economiche ed il problema delle ferrovie secondarie in Italia. Torino, 
tip. Camilla & Bertolero, 1003. 4. 118 pp. 

Righi, Aug. (prof) e Bern. Dessau, La telegrafia senza filo. Bologna, Za- 
nichelli, 1903. 8. VI—518 pp. l. 12.—. 

Ferro y Zea, Ernesto, Sobre el ferrocarril de Antioquia (capítulos del libro 
inédito): Vías de comunicación con la costa Atlántica. Medellin, tip. central, 1902. 
12. X—80 pp. 


7. Finanzwesen. 

Beer, Adolf (Wirkl. Mitgl. d. kais. Akad. d. Wissensch.) Finanzgeschichtliche 
Studien. Wien 1903. gr. 8. 72 SS. M. 1,70. (Sitzungsberichte der kais. Akad. d. 
Wissensch., Philos.-histor. Klasse, Bd. 154.) 

Ernst, H., Die direkten Staatssteuern des Kantons Zürich im 19. Jahrhundert. 
Winterthur, Geschwister Ziegler, 1903. gr. 8. V—279 SS. M. 3,50. 

v. Farenheid-Beynuhnen, H., Ein Mahnwort zur Reform des Einkommen- 
steuergesetzes vom 24. VI. 1891 unter Berücksichtigung der $$ 44 u. 54 der Schul- 
ordnung für die östlichen Provinzen vom 11. XII. 1845. Berlin, Puttkammer & Mühl- 
brecht, 1903. gr. 8. 32 SS. M. 0,60. 

Schwarz, O. und G. Strutz (GOFinzRäte, vortrag. Räte), Der Staatshaushalt und 
die Finanzen Preußens. Bd. II, Liefer. 3. Berlin, J. Guttentag, 1903. gr. 8. XIII— 
S. 995—1273 u. 8. 219—269. M. 10.—. (Inhalt: Die Zuschußverwaltungen. Liefer. 3, 
IV. Buch: Handels- und Gewerbeverwaltung; Liefer. 3, V. Buch: Bauverwaltung. 

v. Westhoven, H., Die deutschen Staatslotterien. I. Vergleichung der Lotterien 
bezüglich ihrer größeren oder geringeren Günstigkeit. Hannover, Ad. Sponholtz, o. J. 
(1903). 8. 15 SS. M. 0,20. 


Annuaire financier et économique du Japon, publié par le ministère des finances. 
Année IL Tokio, imprim. Shneisha, 1902. gr. in-8. 

Berriat-Saint-Prix, J., L'impót sur le revenu. Clermont-Ferrand, impr. 
Dumont, 1903. 8. 39 pag. 

Compte rendu des opérations de la commission financiere internationale pour 
l'année 1902. Athènes, impr. P. D. Sakellarios, 1903. in-4. 73 pag. 

Doucet, R., Les conversions de fonds d'Etat en France au XIX” siècle. Avec 
préface de M. André Liesse. Paris, Guillaumin & Ci, 1903. 8. fr. 6.—. 

Guyot, Yves, Le repêchage des 500 millions à l’eau. Le programme Baudin 
au Sénat. Paris, Guillaumin & C^, 1903. 8. 88 pag. fr. 1.—. 

Bastable, C. F., Public finance, 3" edition,” revised and enlarged. London, Mac- 
millan, 1903. 8. 804 pp. 12/.6. 

Report on finances, administration, and condition of Egypt and the Soudan for 
1902. London, 1903. Folio. 1/.—. (Parliam. pap. issued in April, 1903.) 

Robinson, M. H., A history of taxation in New Hampshire. New York, Mac- 
millan C^, 1903. 8. 224 pp. 


8. Geld-, Bank-, Kredit- und Versicherungswesen. 


Jörgens, Max, Finanzielle Trustgesellschaften. Münchener 
volkswirtschaftliche Studien, hrsg. von Lujo Brentano und Walther Lotz. 
54. Stück. 160 SS. 

Der Verfasser glaubt sich in seinem Vorworte rechtfertigen zu 
müssen, weil er seine Arbeit noch veröffentlicht, nachdem mein Buch 
„Depositenbanken und Spekulationsbanken“, in dem allerdings auch die 
„finanziellen Trustgesellschaften“ — wohl zum ersten Male in der wissen- 
schaftlichen Literatur — eine eingehendere Erörterung gefunden haben, 
bereits erschienen sei. Das war nicht nötig. Es handelte sich für 
mich nur um ein Grenzgebiet, und so kommt es, daß der Leser in 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 703 


meiner Schrift, die übrigens erst veröffentlicht wurde, nachdem 
Dr. Jörgens seine Untersuchungen bereits dem Abschlusse nahe ge- 
bracht hatte, vieles nur gestreift werden konnte, dessen nähere Aus- 
führung Aufgabe einer selbständigen Monographie sein mußte.  Da- 
durch, daß Jörgens mit einer solchen unsere Fachliteratur bereicherte, 
hat er sich unzweifelhaft sehr verdient gemacht. Mit Bienenfleiß hat 
er das spärliche Material zusammengetragen und in verständnisvoller 
Weise verarbeitet. Nur einige englische einschlägige Arbeiten, die aber 
für den wissenschaftlichen Forscher fast bedeutungslos sind, scheinen 
ihm entgangen zu sein, so z. B. das in erster Linie für praktische Zwecke 
geschriebene Buch von Scratchley: On average investment trusts, London 
1875, hier und da würde es dem Verfasser vielleicht nicht unwillkommen 
gewesen sein. Zu bedauern ist, daß die amerikanischen finanziellen Trust- 
gesellschaften nicht etwas eingehender behandelt werden konnten, schon 
eine Verarbeitung des Materials, welches J. J. Knox in seinem umfang- 
reichen Werke: A History of Banking in the United States (New York 
1900) bietet, wäre dankenswert gewesen. 

Das, was mir bei der Schrift am wenigsten gefällt, ist — der Titel. 
Meiner Ansicht nach kommt der Name „finanzielle Trustgesellschaft“ 
nur solchen Gesellschaften zu, die durch Ankauf möglichst vieler ver- 
schiedener Arten von Effekten eine höhere Rente, als erstklassige, und 
— infolge größerer Verteilung des Risikos — eine gleichmäligere Rente 
als nicht-erstklassige Papiere abzuwerfen pflegen, anstreben. (Vergl. 
Depositenb. u. Spekulationsb. S. 45.) Für die Richtigkeit meiner Auf- 
fassung bürgt die eigentliche Bedeutung des Wortes „Trust“, die 
Entstehungsgeschichte der englischen und amerikanischen finanziellen 
Trustgesellschaften, sowie endlich der herrschende Sprachgebrauch in 
der englisch-amerikanischen Theorie und Praxis. Jörgens nennt hin- 
gegen „finanzielle Trustgesellschaften“ auch solche Gesellschaften, „bei 
denen im Vordergrund steht das Finanzierungsgeschäft, die Kapital- 
verschaffung für Aktienunternehmungen“, ja mit diesen beschäftigt sich 
sogar die Abhandlung vorwiegend. Es läßt sich nicht leugnen, daß der 
Verfasser bei seiner Terminologie lediglich dem Sprachgebrauche der 
deutschen Praxis folgt. Dieser mag sich daraus erklären, daß Ende der 
80er und Anfang der 90er Jahre — also zu einer Zeit, wo die ersten 
Gründungen unserer sogenannten „Trustgesellschaften“ vorbereitet wurden 
— in England viele „Financial Companies“, um dem Publikum Sand in 
die Augen zu streuen, den Namen „Trust“ annahmen und andererseits 
viele ursprüngliche Trustgesellschaften ihrem Programme untreu wurden 
und in der damaligen Hausseperiode vorübergehend sich mit Gründer- 
geschäften abgaben. Während man dann in England in den folgenden 
Jahren mit Erfolg Front machte gegen den Mißbrauch des Wortes, hat 
man in Deutschland unangefochten das Wort „Trust“ vielfach zur Be- 
zeichnung von Gesellschaften gebraucht, die böse Zungen wohl „Kuddel- 
Muddel-Gesellschaften“ genannt haben. Tatsächlich ist der Unterschied 
zwischen der einer Sparkasse oder, wenn man will, einer Versicherungs- 
gesellschaft ähnlichen echten „finanziellen Trustgesellschaft“ und einer 
„Finanzgesellschaft“ etwa nach dem Muster der „Aktiengesellschaft für 


704 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Montanindustrie", die der Verfasser für eine gewisse Art von Trust- 
gesellschaften als typisch ansieht, so groß, daß sie in einer wissenschaft- 
lichen Arbeit nicht unter denselben Begriff gebracht werden sollten. 
Im übrigen unterrichtet die Arbeit aber über Wesen, Entstehung, Or- 
ganisation und Entwickelung der englischen und deutschen Trust- und 
Finanzgesellschaften in so vorzüglicher Weise, daß sie nur bestens 
empfohlen werden kann. 


Bonn. Adolf Weber. 


Bauer, Ph., (Assistent am großherz. statistischen Landesamt in Karlsruhe), Die 
Aktienunternehmungen in Baden. Ein Beitrag zur Kenntnis der großindustriellen- und 
Verkehrsentwickelung des Landes. Karlsruhe, Macklot, 1903. Lex.-8. VIII—372 S5. 
M. 10.—. 

Beiträge zu einer Individualstatistik der Sparer. Auf Grund des Materials des 
Sparkassenamtes bearbeitet im statistischen Amte der Stadt Frankfurt a./M. Frank- 
furt a./M., Druck von R. Mahlau, 1903. gr. 4. 19 SS. 

Bericht über die am 12. XII. 1902 abgehaltene wissenschaftliche Mitglieder- 
versammlung des Deutschen Vereins für Versicherungswissenschaft. Berlin, E. S. Mittler 
& Sohn, 1903. gr. 8. 118 SS. mit 4 Taf. graphischer Darstellungen. (Veröffentlichungen 
des Deutschen Vereins für Versicherungswissenschaft. Herausgeg. von Alfr. Manes, 
(Generalsekr. d. Vereins.) 

Berufsgenossenschaft, land- und forstwirtschaftliche, des Fürstentums Reuß j, L. 
Geschäftsbericht für das Jahr 1902. o. O. u. J. (Gera 1903. 4. 33 SS. 

Gumpel, S., Die Spekulation in Goldminenwerten. Praktische Ratschläge und 
Belehrungen. Freiburg i. B., Fr. Ernst Fehsenfeld, 1903. 8. VIII—247 SS. Mit 


Karten und Plänen, geb. M. 5.—. (Inhalt: Von der Theorie der Spekulation. — Von 
der Praxis der Spekulation. — Londoner Börsenschwindel. — Allgemeine Warnungen. 
— Anhang.) 


Hucke, Jul., Das Geldproblem und die soziale Frage. Eine gemeinverstándliche 
Darlegung der im heutigen Geldgebrauche steckenden Ursachen des sozialen Uebels. 
5. Aufl. Berlin, Mitscher & Röstell, 1903. gr. 8. XV—456 SS. M. 6.—. 

Meyer, Hugo (Mathematiker beim Reichsversicherungsamt), Beiträge zur Pensions- 
versicherung. Jena, G. Fischer, 1903. gr. 8. VIII—172 SS. M. 6.—. 

Müller, Neander, Juristische Lehrmeinungen über Börsengeschäfte. Aus den 
Gesichtspunkten der Praxis beleuchtet. Im Auftrag des Zentralverbandes des deutschen 
Bank- und Bankiergewerbes veröffentlicht. Berlin, J. Guttentag, 1903. gr. 8. 4188. 
mit 1 Tab. M. 1.—. 

Riehn, Rhold. u. (Arbeitersekr.) J. Giesberts, Arbeiterkonsumvereine. Referate. 
Jena, G. Fischer, 1903. gr. 8. 55 SS. M. 0,40. (Schriften der Gesellschaft für soziale 
teform. Heft 9.) 

Stefan, Emil, !/, Jahrhundert Versicherungswesen in Oesterreich-Ungarn. Wien. 
Freytag & Berndt, o. J. (1903). gr. 8. 12 SS. Text und 30 SS. Diagramme. M. 3,50. 

Coulouma, C., Le jeu dela bourse. Etude générale sur ses caractères, ses formes, 
sa réglementation. Toulouse, impr. Saint-Cyprien, 1903, 8. XII— 204 pag. 

Extrait du rapport au Roi sur la situation de la gestion de la caisse d'épargne 
postale de Suède pendant l'année 1901. Rapport présenté par la direction de la caisse. 
Stockholm, imprim. Beckman, 1903. 4. 23 pag. 

Société anonyme des mines et fonderies de zine de la Vieille-Montagne. Caisse 
des ouvriers. Rapport au Conseil d'administration sur les opérations de l'exercice 1902. 
Liege, impr. du Journal „La Meuse“, 1903. gr. in-8. 12 pag. 

Vigne, Marcel (avocat à la Cour d'appel de Lyon), La banque à Lyon du 
XV* au XVIII” siècle, Lyon, A. Rey & Ci, 1903. 8. 250 pag. fr. 6.—. 

Cox, Charl, How and where to insure. Stating the companies (by name) which 
provide best terms all kinds of policies. London, Stone & Cox, 1903. 8. 128 pp. Je: 

Hill, G. F., Coins of ancient Sicily. London, Constable, 1903. Roy.-8. 21/— 

Lubbock, A. (Sir), A short history of eoins and currency. New York, Dutton, 
1903. 12. 145 pp. $ 0,60. 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 705 


d’Angelo, P., La contabilità dei corrispondenti nelle maggiori banche: norme 
teorico-pratiche. Chieti, tip. C. Marchionne, 1902. 4. 70 pp. 

Lorenzoni, Giovanni, La cooperazione agraria nella Germania moderna: saggio 
descrittivo e teorico. Trento, soc. tip. editr. Trentina, 1901—02. 8. 2 voll. VII—265; 
XII—308 pp. 1. 12.—. 


9. Soziale Frage. 

de Beer, S. (Frau) Das Verschleierungssystem und die Prostitution. Leipzig, 
Verlag der „Frauenrundschau“, 1903. 8. 35 SS. M. 0,50. 

Elend, großstädtisches. Skizzen aus der Mappe eines Pflegers. Herausgeg. vom 
Vorstande des Vereins gegen Verarmung und Bettelei in Wien, I. Tiefer Graben N° 36, 
Wien, Verlag des Vereins, 1903. 8. 52 SS. K. 1.—. 

v. Erdberg, Rob. (Berlin, Die Wohlfahrtspflege. Eine sozialwissenschaftliche 
Studie. Jena, G. Fischer, 1903. gr. 8. 72 SS. M. 1,50. 

Ergebnisse, die, der Sommerpflege in Deutschland (Ferienkolonien, Kinderheil- 
stätten u. s. w.) im Jahre 1901. Bericht der Zentralstelle der Vereinigungen für Sommer- 
pflege in Deutschland. Berlin, Puttkammer & Mühlbrecht, 1903. gr. 8. 51 SS. M. 1,50. 

Holzapfel, P. Heribert, Die Anfänge der montes pietatis (1462—1815). 
München, J. Lentnersche Bhdlg., 1903. 8. 140 SS. 

Laurent-Montanus, Prostitution und Entartung. Ein Beitrag zur Lehre von 
der geborenen Prostituierten. Freiburg i./B., Lorenz, 1903. gr. 8. 50 SS. M. 1,20. 

Mesnil, Jaques, Die freie Ehe. Uebersetzt von K. Federn. Schmargendorf- 
Berlin, Verlag „Renaissance“, 1903. 8. M. 0,60. 

Schäfer, Th. (Pastor, Direktor d. Diakonissenanstalt zu Altona), Leitfaden der 
inneren Mission zunächst für den Berufsunterricht in Diakonen- und Diakonissenanstalten. 
4. Aufl. Hamburg, Agentur des Rauhen Hauses, 1903. gr. 8. XI—473 SS. geb. M. 7.—. 

Wilhelm, E., Sind Frauen Staatsbürgerinnen? Der studierenden Jugend ge- 
widmet. Berlin, Rosenbaum & Hart, 1902. gr. 8. 102 SS. 

Wohlfahrtseinrichtungen der Arbeitgeber zu Gunsten ihrer Angestellten und 
Arbeiter in Oesterreich. I. Teil Wohlfahrtseinrichtungen der Eisenbahnen. Heft 2: 
Die bei den k. k. ósterreichischen Staatsbahnen bestehenden Wohlfahrtseinrichtungen. 
Wien, Alfr. Holder, 1903. Lex.8. VI—118 SS. (Herausgeg. vom k. k. arbeits- 
statistischen Amte im Handelsministerium.) 


Chambon, O. (rédacteur en chef de la Bourgogne), Le devoir social de la femme 
francaise. Auxerre, impr. Chambon, 1903. 16. 32 pag. 

McKenzie, F. A., Famishing London. Á study of the unemployed and unem« 
ployable. London, Hodder & Stoughton, 1903. 8. 88 pp. 1/.—. 

Sherwell, Arthur, The drink peril in Scotland. London, Oliphant, Anderson 
& Ferrier, 1903. 8. 62 pp. 1/.—. ` 

Trevelyan, Will. Pitt, Some results of boarding out poor law children. With 
a preface by the (Rev.) G. P. Trevelyan. London, P. S. King, 1903. 8. XV—91 pp. 
2/.—. 

Billa, Lorenzo M., Difendiamo la famiglia. Saggio contro il divorzio e spe- 
cialmente contro la proposta di introdurlo in Italia. II“ edizione, rifatte ed accresciuta 
con 2 appendici. Torino, Ufficio del Nuovo Risorgimento, 1902. gr. 8. 275 pp. 

10. Gesetzgebung. 

Bornhak, Die deutsche Sozialgesetzgebung. 4. Auflage. Tübingen 
und Leipzig, J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1900. 

Die Schrift, die zuerst als Separatabdruck aus dem dritten Bande 
von des Verfassers Preußischem Staatsrecht erschien, zeigt in ihrer neuen 
Auflage eine vollständige Umarbeitung mit Rücksicht auf die Revision 
der Sozialgesetzgebung. Sie beginnt mit einem geschichtlichen Ueber- 
blick, geht aus von einer Betrachtung der industriellen Wirtschafts- 
ordnung des 18. und 19. Jahrhunderts in ihrer Bedeutung für die 
arbeitenden Klassen und schildert die vereinzelten Ansätze zu einer 
sozialen Reform. Die Abschnitte III— VIII geben dann eine Uebersicht 


Dritte Folge Bd, XXV (LXXX). 45 


706 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


über den Stand unserer sozialen Gesetzgebung: ausgehend von den 
leitenden Grundsätzen der deutschen Sozialreform stellen sie dar die 
Wiederbelebung des Innungswesens, die Krankenversicherung, die Un- 
fallversicherung, die Invalidenversicherung und die Arbeiterschutzge- 
setzgebung. Die Schrift ist zur Einführung in das Studium unseres 
sozialen Rechts recht brauchbar. Sachlich bin ich mit dem Verf. an 
verschiedenen Punkten nicht einverstanden. Doch scheint mir die Be- 
sprechung einer kurzen Schrift nicht der geeignete Ort zu längeren 
diesbezüglichen Auseinandersetzungen zu sein. 


Halle a. S. A. Hesse. 


Entwurf, vorläufiger, eines Gesetzes über Familienfideikommisse. Berlin, 1903. 
gr. 8. 55 SS. M. 0,80. (Sammlung amtlicher Veröffentlichungen aus dem Reichs- 
und Staatsanzeiger. N° 35. 

Jahrbuch des deutschen Rechtes. Unter Mitwirkung zahlreicher und namhafter 
Juristen herausgeg. von (Rechtsanw.) Hugo Neumann. Jahrg. I (die Zeit bis Ende 1902 
umfassend.) Lieferung 1. Berlin, F. Vahlen, 1903. gr. 8. S. 1—80. M. 1,25. 


Rousse, Edm. (ancien bátonnier de l'ordre des avocats), Avocats et magistrats. 
Paris, Hachette & Or, 1903. 8. 333 pag. fr. 7,50. 

Watrin, H., Code rural (texte et commentaire) et droit usuel. 2° édition. Paris, 
Fontemoing, 1903. 8. 1403 pag. fr. 12.—. 

Treatment, penal and reformatory, of habitual inebriates. A collection of British, 
colonial and foreign statutes. London 1903. 8. 1/5. (Parl. pap.) 

Will, John Shires, The law relating to electric lighting, traction and power. 
3" edition. London, Butterworth & C^, 1903. 8. 25/.—. 

Bertoni, Brenno (avvoc.) e Olivetti, Angelo O. (avvoe.), Le istituzioni 
svizzere nel diritto pubblico e privato della confederazione e dei cantoni. 2 vols. Torino, 
Unione tip. editr., 1903. 12. 1. 10.—. (Vol. I. Diritto pubblico: saggio storico-critico, 
475 pp.; Vol. II. Diritto privato e procedura, 599 pp.) 

Firpo, Ern. (avv.) e Garneri, Filippo (avv.), Commento alla legislazione 
italiana sul credito agrario, preceduto da cenni storici e teorici. Roma, tip. di Bertero 
& C. 1902. 8. 194 pp. 1. 2.—. (Annali del credito e della providenza, N° 48.) 

: 11. Staats- und Verwaltungsrecht. 

Soziale Verwaltung in Oesterreich am Ende des 
19. Jahrhunderts. Aus Aulaß der Weltausstellung Paris 1900 mit 
Unterstützung durch die hohen k. k. Ministerien des Innern, des Handels 
und des Ackerbaues, sowie durch das k. k. Generalkommissariat für 
die Weltausstellung Paris 1900 herausgegeben vom Spezialkomitee für 
Sozialókonomie, Hygiene und óffentliches Hilfswesen. 2 Bde. Wien und 
Leipzig (Franz Deuticke) 1900. 

Es ist ein sehr verdienstvolles Werk dieser Rechenschaftsbericht 
über staatliche und private Tätigkeit auf sozialem Gebiet, ein ganz aus- 
gezeichnetes Buch. Es orientiert in gedrüugter Kürze über die ver- 
schiedenen Gebiete sozialer Arbeit in Oesterreich. 

Im ersten Heft des ersten Bandes berichten Dr. Julius Kaan über 
die Arbeiter-Unfallversicherung in Oesterreich und Josef Mayer, Inspektor 
im Departement für Arbeiterversicherung, über die obligatorische Kranken- 
versicherung und die Bergwerksbruderladen. Das zweite Heít bringt 
Aufsätze von Ministerialsekretär Dr. Franz Müller über den gewerb- 
lichen Arbeiterschutz und Arbeitsvertrag in Oesterreich, Ministerialrat 
Dr. Mataja über das Arbeitsstatistische Amt und von Ministerialrat 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 707 


Zechner über den Bergarbeiterschutz in Oesterreich. Im dritten Heft 
stellt Dr. Breycha, Sektionsrat des Handelsministeriums, die Gewerbe- 
förderungsaktion des K. K. Handelsministeriums dar, Wrabetz, Anwalt 
des allgemeinen Verbandes der deutschen Erwerbs- und Wirtschafts- 
genossenschaften in Oesterreich, schildert die österreichischen Erwerbs- 
und Wirtschaftsgenossenschaften und Friedrich Knarek die Entwickelung 
der Konsumvereine in Oesterreich. Im vierten Heft behandelt Dr. Robert 
Mayer die Arbeitsverhältnisse und Arbeiterfürsorge in den öffentlichen 
Betrieben Oesterreichs. Das fünfte Heft enthält Abhandlungen von 
Professor Dr. v. Schullern-Schrattenhofen über die österreichische Land- 
wirtschaft in ihren sozialen Beziehungen, von G. v. Hattingberg, Direktor 
der niederösterreichischen Landeshypothekenanstalt, über die landwirt- 
schaftlichen Kredite Oesterreichs in ihrer gemeinnützigen Ausgestaltung, 
von Wilhelm Becker, Regierungsrat im Ackerbauministerium, über die 
agrarischen Operationen und von Stefan Richter über die Organisation 
des gemeinsamen Bezuges und Absatzes in Oesterreich. Im sechsten 
Heft schildert F. v. Wacek, Direktor des Postsparkassenamtes, das Spar- 
kassenwesen Oesterreichs und die österreichische Postsparkasse, Dr. 
v. Nava, Generalsekretär der I. österreichischen Sparkasse in Wien, die 
österreichischen Privatsparkassen und G. v. Hattingberg die Hypotheken- 
darlehen der Sparkassen. Im siebenten Heft referiert Prof. Dr. v. Philip- 
povich über die Wohnungsverhältnisse in österreichischen Städten, ins- 
besondere in Wien, und Dr. Paul Schwarz über die Grundwerte der 
einzelnen Bezirke Wiens in den Jahren 1860 bis 1899. 

Die Zahl der Arbeiten, welche der zweite Band bringt, ist noch 
größer, doch sind diese weniger umfangreich. Sie behandeln vorwiegend 
Gesundheitspflege und Armenwesen. 

Wir erbalten so in seltener Vollständigkeit einen Ueberblick über 
die verschiedenen Gebiete sozialer Tätigkeit. Und es wird der Leser 
nicht zunächst mit dem Komitee es bedauern, daß wegen äußerer Um- 
stände es nicht möglich war, das Programm vollständig durchzuführen, 
daß einzelne Zweige z. B. die freiwilligen Organisationen der Arbeiter 
und die von den Arbeitgebern geschaffenen Wohlfahrtseinrichtungen nicht 
behandelt sind, sondern in erster Linie sich «dankbar freuen, so viel 
Material über diese wichtigen Probleme zu erhalten. 

Halle a. S. A. Hesse. 


Bericht über die Tätigkeit und Verwaltung der Feuerwehr der Stadt Wien im 
Jahre 1901. Wien, Verlag des Gemeinderatspräsidiums, 1902. gr. 8 123 SS. Mit 
8 Blatt figürlicher Darstellungen. 

Braunschweig. — Haushaltsplan der Stadt Braunschweig für das Jahr 1903/1904 
(nebst 1 Anhange) Braunschweig, Waisenhausdruckerei, 1903. gr. 4. o O. (Braun- 
schweig). gr. 4 265 u. 21 SS. 

Karlsruhe. — Voranschläge für das Rechnungsjahr 1903 der Haupt- und Residenz- 
stadt Karlsruhe. Karlsruhe, Buchdruckerei von Malsch & Vogel, 1903. kl. 4. 227; 35; 
47; 63; 39 SS. 

Daniel, Alfr., Die Kuralienformel „Von Gottes Gnaden“. Ein Beitrag zur Lehre 
vom göttlichen Recht der Krone. Berlin, Frz. Schulze, 1902. gr. 8. 80 SS. M.3.—. 

Frankfurt a/M. — Haushaltsplan der Stadt Frankfurt a/M. für die Zeit vom 
1. IV. 1903 bis 31. III. 1904. Frankfurt a/M., 1903. VI—661 SS. Nebst Anlage dazu: 
Personaletat. Ebd. gr. 4. 172 SS. 


45* 


708 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Halle a. S. — Haushaltspläne der Stadt Halle a. S. für das Rechnungsjahr 1903. 
Halle a. S., Gebauer-Schwetschkesche Druckerei, 1903. gr. 4. 360 SS. 

Hof- und Staatshandbuch der österreichisch-ungarischen Monarchie für das Jahr 
1903. XXIX. Jahrg. nach amtlichen Quellen zusammengestellt. Wien, Verlag der k. k. 
Hof- u. Staatsdruckerei, 1903. Lex.-8. geb. M. 11,60. 

Kassel. Haushaltsetat für das Etatsjahr 1903 (1. IV. 1903 bis Ende März 1904). 
Kassel, Druck von Weber & Weidemeyer, 1903. gr. 4. 228 SS. 

Kiel. — Uebersicht der Eiunahmen und Ausgaben der Stadthauptkasse zu Kiel 
für die Zeit vom 1. IV. 1896 bis ult. März 1901. Kiel, L. Handorff, 1902. gr. 8. 
265 SS. — Voranschlag der Einnahmen und Ausgaben der Stadtgemeinde Kiel für die 
Zeit vom 1. IV. 1903 bis 31. III. 1904. (Rechnungsjahr 1903.) Ebd., Druck von 
Schmidt & Klaunig, 1903. gr. 8. 449 SS. 

Kónigsberg i. Pr. — Stadthaushaltsetat für das Rechnungsjahr 1. IV. 1903/1904. 
3 Hefte. Königsberg i/Pr. 151; 197; 232 SS. 

Kolmer, Gust., Parlament und Verfassung in Oesterreich. Bd. IL: 1869--1879. 
Wien, C. Fromme, 1903. gr. 8. XI—562 SS. M. 9.-. 

Magdeburg. — Haushaltspline der Stadt Magdeburg für das Etatsjahr 1903. 
Magdeburg, Buchdruckerei von R. Zacharias, o. J. (1903). Folio. XIV—612 SS. 

Müller, Leonh., Badische Landtagsgeschichte. Teil IV: 1833— 1840. Berlin, 
Rosenbaum & Hart, 1902. gr. 8. VIII—169 SS. mit 3 Bildnissen. M. 4,50. 

Ostwald, Hans, Die Bekümpfung der Landstreicherei. Darstellung und Kritik 
der Wege, die zur Beseitigung der Wanderbettelei führen. Stuttgart, R. Lutz, 1903. 
gr. 8. 278 SS. M. 5.—. 

Sehliz, Alfr. (JustRefer.), Die Entstehung der Stadtgemeinde Heilbronn, ihre 
Entwickelung bis zum 14. Jahrh. und das erste Heilbronner Stadtrecht. Leipzig, G. 
Fock, 1903. gr. 8. 94 SS. mit 1 Plan. M. 1,20. (Tübinger Promotionsschrift.) 

Schöneberg. — Haushaltspläne der Stadt Schöneberg für 1903. Berlin, Druck 
von Reinhold Kühn, 1903. gr. Folio. 335 SS. 

SouSek, Jak. (MinisterSekr.), Das Ausweisungsrecht der Gemeinde. Mit Berück- 
sichtigung der Judikatur der Verwaltungsbehörden sowie des Verwaltungsgerichtshofes 
und des Reichsgerichtes. Wien, Manz, 1903. gr. 8. 139 SS. geb. M. 250. 

Verhandlungen des Provinziallandtages für die Provinz Hessen-Nassau. Vom 
16. bis einschl. 19. II. 1903. (1X. Provinziallandtag.) Kassel, Gebr. Gotthelft, 1903. 
Imp.-4. (Enthaltend die Protokolle N° 1—3 und die Anlagen N’ 1—6.) 


France ecclésiastique, la. Almanach-annuaire du clergé pour l'an de grace 1903. 
LIII* année. Paris 1903. 16. 992 pag. av. carte. fr. 4.—. 

Severindela Chapelle, Réforme électorale et parlementaire. Nouvelle méthode 
politique francaise. Paris, F. Pichon, 1903. 8. 41 pag. 

Annual report, X", of the Medical Officer of health of the administrative County 
of London, 1901. London, P. S. King & Son, 1903. Folio. 83; 27; 4; 14; 16 pp. 
With chart and 17 diagrams. 

Lecky, W. E. H., Leaders of publie opinion in Ireland. 2 vols. New edition. 
London, Longmans, Green & C°, 1903. 8. 25/.—. (A political history of Ireland from 
1759 to 1845: Henry Flood; Henry Grattan; and Daniel O'Connell. — etc.) 

Local tuxation, Scotland. Annual returns for 1900—1901. Edinburgh 1903. Folio. 
3./—. (Parliam. pap. issued in April, 1903. Contents: Parishes. — School boards. — 
County councils. — Burghs, ete.) 

Moran, Th. Francis (Prof. of history and economies in Pardue University), 
Theory and practice of the English government. London, Longmans. Green EC, 1903. 
8. 5/.—. (Contents: The general nature of the English government. — The succession 
to the throne and the coronation. — The Royal prerogative. — The cabinet. — The 
origin, composition, and functions of the House of Lords and the House of Commons. — 
The sovereignty, privileges, and procedure of Parliament. — etc.) 

Willson, Beckles, The new America: a study of the imperial republic, New 
York, Dutton, 1903. 8. cloth. $ 2,50. 

Bonomi, Ivanoe, La finanza locale et i suoi problemi. Milano-Palermo, R- 
Sandron, 1903. 8. 352 pp. 1. 3.—. (Biblioteca di scienze sociali e politiche, n° 4.) 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 709 


12. Statistik. 
Allgemeines. 


Coboleff, M. N., Opraumaauisz y MeroAbr crarHcTHku Tpyaa. Tomeks 1903. Lex. 
in-8. 310 pp. (Organisation und Methode der statistischen Arbeiten.) 

Blocher, H. und J. Landmann, Die Belastung des Arbeiterbudgets durch den 
AlkoholgenuB. Eine sozialstatistische Studie auf dem Gebiete der Alkoholfrage. Basel, 
F. Reinhardt, 1903. gr. 8. 54 SS. M. 1.—. 

Sehnapper-Arndt, Gottlieb (Dozent an der Akad. f. Sozial- u. Handels- 
wissenschaften, Frankfurt a. M.), Zur Theorie und Geschichte der Privatwirtschaftsstatistik. 
Leipzig, Duncker & Humblot, 1903. Lex.-8. 45 SS. M. 1,60. 

Statistique générale du service postal publiée par le Bureau international. 
Année 1901. Berne, impr. Suter & Lierow, 1903. Impér. in-folio. 33 pag. (Publication 
de l'Union postale universelle.) 

World's sugar production, the, and consumption, showing the statistical position 
of sugar at the close of the XIX" century. Washington 1903. 8. 5/.—. (Issued from 
the United States Treasury Department, Bureau of Statisties. Contents: Growth of the 
beet sugar industry. — History of the European bounty legislation. — International 
sugar conferences and anti-bounty legislation. — Sugar production and sugar trade in 
the various European and tropical countries. — Sugar industry in the United States, etc.) 


Deutsches Reich. 


Beitrüge zur Statistik der Stadt Frankfurt a/M. N. Folge. Heft 5: Die Schüler- 
zühlung vom 30. XI. 1900. Frankfurt a/M., J. D. Sauerländers Verlag, 1903. Lex.-8. 
37—CXI SS. mit 1 graph. Taf. (Herausgeg. dureh das statistische Amt.) 

Beiträge zur Statistik des GroDherzogtums Hessen. Bd. 48, Bd. 49, Heft 1 und 
Bd. 50, Heft 2. Darmstadt, Jonghaussche Hofbuchhdl., 1903. gr. 4. (Inhalt. Bd. 48: 
Ergebnisse der Berufs. und Gewerbezühlung im Großherzogtum am 14. VI. 1895, ent- 
haltend den Schluß der Darstellung der beruflichen Verhältnisse, einschließlich der 
Hausiergewerbetreibenden, der beschäftigungslosen Arbeitnehmer, der Hausindustriellen, 
von (RegR.) L. Knópfel. XV—381 SS. M. 7.—. Bd. 49, Heft 1. Die landwirtschaft- 
lichen Betriebe des Großherzogtums nach der Zählung vom 14. VI. 1895, von (RegR.) 
L. Knópfel. IX—58 SS. — Bd. 50, Heft 2: Statistik der Straf- und Gefangenanstalten 
im Großherzogtum für das Jahr vom 1. IV. 1900 bis 31. III. 1901. 32 SS.) 

Bericht des Medizinalrates über die medizinische Statistik des Hamburgischen 
Staates für das Jahr 1901. Hamburg, L. Voss, 1903. gr. 4. V—108 SS. mit 5 Ab- 
bildgn. u. 9 Taf. M. 7.—. 

Dullo, A. (Direktor des statist. Amtes der Stadt Königsberg), Das Wachstum der 
Bevölkerung Kónigsbergs und die dadurch bedingte Notwendigkeit der Stadterweiterung. 
Königsberg i. Pr., Hartungsche Buchdruckerei, 1903. gr. 8. 34 SS. mit 1 farbigen 
Plan der Stadt Königsberg. (A. u. d. T.: Königsberger Statistik, N" 2.) 

Ergebnisse, die, der Viehzählung vom 1. XII. 1900 im Deutschen Reich. Be- 
arbeitet im kais. statistischen Amt. Berlin, Puttkammer & Mühlbrecht, 1903. Imp.-4. 
121 SS. mit 8 schematischen Karten in Zweifarbendruck auf 4 Taf. M. 1,50. (A. u. 
d. T.: Vierteljahrshefte zur Statistik des Deutschen Reichs, Ergänzungsheft zu 1903, I.) 

Erhebung über die Arbeitszeit der Gehülfen und Lehrlinge im Fleischergewerbe. 
Veranstaltet im Sommer 1902. Berlin, C. Heymanns Verlag, 1903. gr. 4. LXXIV— 
219 SS. (A. u. d. T.: Drucksachen des kaiserl. statistischen Amtes, Abteilung für Ar- 
beiterstatistik, Erhebungen N° 1.) 

Handbuch, statistisches, für den preußischen Staat. Bd. IV. Berlin, Verlag des 
kgl. statistischen Bureaus. 1903. gr. 8. XXI—655 SS. M. 5.—. 

Jahrbuch, statistisches, der höheren Schulen und heilpädagogischen Anstalten 
Deutschlands, Luxemburgs und der Schweiz. Jahrg. XXIII, 1902/1903. 2 Abteilungen. 
Leipzig, B. G. Teubner, 1902. 12. 262 und 407 SS., geb. M. 4,40. 

Mitteilungen des statistischen Amtes der Stadt Dresden, Heft 11: Die Woh- 
nungen mit Teilvermietung und die Dresdner Wohnungsordnung vom 25. I. 1898 auf 
Grund einer statistischen Untersuchung vom Jahre 1901. Dresden, Buchdruckerei der 
Dr Güntzschen Stiftung, 1603. Lex.-8. 

Nachweisungen, statistische, der Forstverwaltung des Großherzogtums Baden 
für das Jahr 1901. XXIV. Jahrg. Karlsruhe, Chr. Fr. Müllersche Hofbuchdruckerei, 
1903. gr. 4. 132 SS. 


710 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Protokoll über die am 2., 3. u. 4. X. 1902 im Rathause zu Altona abgehaltene 
XVI. Konferenz der Vorstände der statistischen Aemter deutscher Städte. Altona, Druck 
von H. W. Köbner & C°, 1903. gr. Folio. 55 SS. (Als Manuskr. gedruckt.) 

Satistik des Deutschen Reichs, Bd. 150 und 151: Die Volkszählung am 1. XI. 
1900 im Deutschen Reich. 2 Teile. Berlin, Puttkammer & Mühlbrecht, 1903. Imp.-4. 
Teil I: VIII—204; 372 SS. mit 16 Diagrammen und Kartogrammen. M. 8.—. Teil II: 
789 SS. M. 4.—. (Herausgeg. vom kaiserl. statistischen Amt. Inhalt: Einleitung. — 
Größe der Bevölkerung. — Die Bevölkerung nach dem Geschlecht. — Dichtigkeit der 
Bevölkerung. — Bevölkerung in Stadt und Land. — Die Bevölkerung nach Haushal- 
tungen. — Alter und Familienstand der Bevölkerung. — Religion der Bevölkerung. — 
Die Bevölkerung nach der Muttersprache. — Reichsangehörige und Reichsausländer. — 
Gebürtigkeit der Bevölkerung (Binnenwanderungen). — Wohngebäude im Reich. — Die 
Bevölkerung nach Gerichts-, Wahl- und kirchlichen Bezirken. — Die Bevölkerung auf 
den deutschen Schiffen im Auslande. — Die Bevölkerung des Reichs und des Auslands 
im XIX. Jahrhundert. — Die Bevölkerung am 1. XII. 1900 nach dem Geburtsort. — 
Muttersprache der Bevölkerung am 1. XII. 1900. — Gemeinden und Wohnplätze von 
mindestens 2000 Einwohnern am 1. XII. 1900, systematisches und alphubetisches Ver- 
zeichnis.) 


Frankreich. 


Annuaire officiel, administratif et statistique du département de l'Aisne. 93° 
année. Laon, impr. du Courrier de l'Aisne, 1903. 12. 505 pag. fr. 3.—. 


Schottland. 


Annual report, XLVIII®, of the Registrar-General on the births, deaths, and 
marriages registered in Scotland during the year 1902; and XXXVIII* annual report 
on vaccination. Glasgow, printed by Jam. Hedderwick & Sons, 1903. gr. 8. XVI—63 pp. 


Oesterreich. 

Oesterreichisches Städtebuch. Statistische Berichte von 
größeren österreichischen Städten herausgegeben durch die k. k. stati- 
stische Zentralkommission. Jahrgang 9. Redigiert unter der Leitung 
des Präsidenten der k. k. statistischen Zentralkommission Karl Theodor 
von Inama-Sternegg von Robert Fuhrmann. Wien 1902. 

Der vorliegende Band ist bereits der neunte Jahrgang dieses auler- 
ordentlich umfangreichen und inhaltsvollen Werkes, das uns über die 
Verhältnisse der hauptsächlichsten österreichischen Städte informiert, 
so weit dieses in Zahlen möglich ist. Gleich im Eingange sind die An- 
gaben über die Finanzen von 49 Städten für die Zeit von 1889—98 
zusammengestellt. Es folgt die Uebersicht über die Bevölkerungsver- 
hältnisse, dann über das Volksschulwesen, ebenso vergleichsweise zu- 
sammengestellt. Den Hauptteil nehmen die detaillierten Berichte der 
einzelnen Städte ein, wobei 19 vertreten sind, indem Floritzdorf und 
Jägerndorf neu hinzugezogen wurden. Eine Erweiterung der Vergleichung 
würde gewiß von allen Seiten dankbarst begrüßt werden. J. 


Beiträge zur Statistik der Personaleinkommensteuer in den Jahres 1898 bis 1902. 
Insbesondere Quellen und Höhe des Einkommens nach Geschlecht und Beruf der Zen- 
siten, und zwar der Zensiten überhaupt nach dem Stande der Einschätzung am Schlusse 
des Jahres 1898, der im Auslande lebenden Zensiten nach dem Stande der Einschätzung 
in der Hauptsession der Schätzungskommissionen des Jahres 1902. Im Auftrage des 
k. k. Finanzministeriums bearbeitet vom Rechnungsdepartement I, e dieses Ministe- 
riums. Wien, k. k. Hof- und Staatsdruckerei, 1903. Imp.-Folio. CLX X XI—467 SS. 

Bericht über die Tütigkeit des k. k. arbeitsstatistischen Amtes im Handelsmini- 
ernim während des Jahres 1902. Wien, k. k. Hof- und Staatsdruckerei, 1903. Lex.-8. 
27 SS. 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 711 


Handbuch, statistisches, für die Selbstverwaltung in Schlesien. Herausgeg. vom 
landesstatistischen Amte des schles. Landesausschusses. Jahrg. IV, 1902. Troppau, 
Selbstverlag des schlesischen Landesausschusses, 1903. Lex.-8. VI—401 SS. 

Mitteilungen, statistische, über Steiermark. Herausgegeben vom statistischen 
Landesamt des Herzogtums Steiermark. XI. Heft. Graz, Leuschner & Lubensky, 1903. 
Lex.-8. 34 SS. (Inhalt: Beiträge zur Statistik des Gemeindehaushaltes. 1. Die Bauten 
von Volks- und Bürgerschulgebäuden in Steiermark seit der Erlassung des Reichsvolks- 
schulgesetzes bis Ende 1900.) 

Oesterreichische Statistik: LIX. Band, 2. Heft, 2. Abteilung: Statistik des 
Verkehrs in den im Reichsrate vertretenen Königreichen und Ländern für die Jahre 
1898 und 1899. Abteilung 2. Seeschiffahrt und Seehandel, Eisenbahnen, Posten, Tele- 
graphen und Telephone, Außenhandel und Handel zwischen Oesterreich und Ungarn. 
Wien, C. Gerolds Sohn, 1903. Imp.-4. LXII—63 SS. K. 3,20.—. Oesterreichische 
Statistik. LXVII. Band, Heft 2: Statistik der Sparkassen in den im Reichsrate vertre- 
tenen Königreichen und Ländern für das Jahr 1900. Wien, C. Gerolds Sohn, 1903 
Imp.-4. LVI—69 SS. K. 3,40. 


Rußland. 


Crarucrura Pocciitckoit umuepis. LIV. Upoxaï 1902 roga. I. Oauwpie x.rbóauchuo. 
II. Apossıe xub6a m Kaproven ete. C.-Ilerepóyprs 1903. 4. XXIX—116 pp. u. 
XXXVII—225; 176 pp. (Statistik des russischen Kaiserreichs. Bd. LIV: Die Ernte 
im Jahre 1902. 2 Teile. Teil I: Wintergetreide und Heu; Teil II: Sommergetreide 
und Kartoffeln.) [Veröffentlichung der kais. russischen statistischen Zentralkommission 
im Ministerium des Innern.) 

— (Finland). 

Bidrag till Finlands officiella Statistik. VI. Befolknings-statistik 34. Oefversikt 
af folkmängdsförändringarna i Finland àr 1900. (Uebersicht der Bevölkerungsbewegung 
in Finland im Jahr 1900, mit statistischem Rückblick auf die Bevölkerungsbewegung 
in Finland in den Jahren 1816—1900.) VI—74 & 95 pp. — X. Statistik ófver folk- 
undervisningen i Finland N° 30: Foikskoleväsendet, läseäret 1900—1901. XXIII— 
69 pp. — XVIII. Industri-Statistik. N°18, är. 1901. I. delen. (Montanindustrie, Münz- 
wesen ete.) IX — 56 pp. — XXI. Fattigvürds-Statistik. (Oeffentliche Gemeindearmenpflege- 
statistik für 1899. XXXIII—111 pp. — XXII. Fórsükringsvüsendet. (Berieht über das 
Versieherungswesen in Finland für das Jahr 1901.) 56 — XIII pp., 28 statistische Ta- 
bellen u. IV Taf. graphischer Darstellungen. — XXIII. Rättsväsendet. N° 11. (Zivil- 
und Kriminalstatistik für 1901. 72; 209 pp. XXIV. Abnormskolorna (Unterrichts- 
anstalten für Gebrechliche). Berättelse öfver läseäret 1900—1901. 22 pp. Zusammen 
7 Hefte. Helsingsfors 1902—1903. Lex.-8. 


Italien. 

Atti della Commissione per la statistiea giudiziaria e notarile. Sessione del Feb- 
braio 1902. (Annali di statistiea, serie IV, n° 102.) Roma tipogr. di Bertero & C., 
1903. gr. 8. XXXII—484 pp. 1. 4.—. (Pubblicazione della Direzione generale della 
statistica.) 


Dünemark. 


Danmarks Statistik. Statistiske Meddelelser. IV. Række, 12. Bind. Kobenhavn, 
Gyldendal, 1903. 8. (Inhalt: Ein- u. Ausfuhr-, Produktions-, Preisbewegungs- etc. 
-Statistik in 7 Abteilungen: 1. Ein- und Ausfuhr Dünemarks im II. Quartal 1902; 
2. Beschaffenheit der Ernte Dünemarks im Jahre 1902; 3. Ein- und Ausfuhr Dünemarks 
im III. Quartal 1902; 4. Amtliche Preise der 1902 geernteten Feldfrüchte; 5. Bevölke- 
rung der dänischen Antillen und Ein- und Ausfuhr der Antillen 1896/97—1901/02 ; 
6. Gesamtein- und Ausfuhr Dänemarks 1902; Branntwein-, Bier-, Rübenzucker- und 
Margarineproduktion 1902; 7. Benutzung des tragbaren Bodens Dänemarks nach dem 
Stande vom 15. VII. 1901.) 


Holland. 


Bijdragen tot de statistiek van Nederland. Nieuwe volgreeks. XXV. Statistiek 
der gemeentelijke en provinciale financiën in 1900. "e Gravenhage, Gebr. Belinfante, 
1903. Lex. in-8. XXVII—150 pp. 


712 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Norwegen. 


Aarbog, statistisk, for Kongeriget Norge. XXII. aargang, 1902. Kristiania 
Aschehoug & C°, 1902. gr. 8. 176 pp. et 5 tableaux graphiques. 


Schweiz. 

Mitteilungen, statistische, des Kantons Basel-Stadt. Bericht über den Zivil- 
stand, die Todesursachen und die ansteckenden Krankheiten im Jahre 1900. Basel, 
Buchdruckerei J. Frehner, 1902. Lex.-8. 65 SS. mit 1 graph. Taf. 

Mitteilungen des Bernischen statistischen Bureaus. Jahrg. 1902, Lieferung 2: 
Ergebnisse der Alpstatistik im Kanton Bern pro 1891—1902. Bern, Buchdruckerei 
Steiger, 1902. gr. 8. SS. 91—420. 


Rumänien, 


Coleseu, L., Statistica animalelor domestice din Romania, precedatä de o intro- 
ductiune cu expliafiuni si date retrospective. Bucuresci, institutul de arte grafiche Car. 
Göbl, 1903. gr. in-4. 10—LXXXII—145 pp. cu 4 cartograme si 3 diagrame colorate. 
(Statistik des Viehstandes des KReichs Rumiünien auf Grund der im Dezember 1900 
stattgefundenen Viehzählung, mit einer Einleitung von L. Coleseu (Direktor der rumi- 
nischen Landesstatistik.) 

Situatiunea financiara a județelor in exercițiile 1896/97—1900/1901. Anteia 
publieatiune.  Bueuresci, imprimeria statuluí, 1903. maximo-imper. in-Folio. XLI- 
166 pp. avee 17 planches graphiques. (Situation financière des districts pendant les 
exercices 1896/97 —1900/1901.) [Publication du Bureau de la statistique au Ministère 
de l'Intérieur de Roumanie.] 


Amerika (Ver. Staaten). 


Abstract, statistical, of the United States, 1902. XXV'^ number. Washington, 
Government Printing Office, 1903. gr. 8. 580 pp. (Prepared by the Bureau of Stati- 
sties, under the direction of the Secretary of the Treasury. Contents: Population. — 


Finance. — Commerce. — Agricultural and other leading products. — Mining. — 
Railroads and telegraphs. — Immigration. — Education. — Public lands. — Pensions. 
— Postal service, — Prices. — Tonnage, ete.) 

— (Mexico). 


Ceuso y división territorial del estado de Querétaro verificados en 1900. México, 
tip. de la secretaría de fomento, 1902. in-4. 81 y 19 pp. 

Censo y división territorial del estado de Tlaxcala verificados en 1900. México, 
tip. de la secretaría de fomento, 1902. in-4. 124 y 15 pp. 


Asien (Japan). 
Résumé statistique de l'Empire du Japon. XVII* année. Tokio, 36° année 


de Meiji, 1903. Lex. in-8. XIII—161 pp., carte et tableau graphique. (Publication 
du Cabinet imperial, Bureau de la statistique générale.) 


Australien (Kolonie Tasmania). 


Statistics of the State of Tasmania for the year 1901. 9 parts. s. l. (Hobart) 
John Vail printed, 1902. VIII—492 & 30 pp. gr. Folio. (Contents. Part I. Blue 


book. — Part II. Population. — Part III. Vital and meteorological. — Part IV. 
Interchange. — Part V. Production. — Part VI. Finance. — Part VII. Accumulation. — 
Part VIII. Law, crime, and protection, — Part IX. Intellectual, moral, and social 


provision.) 
18. Verschiedenes. 

Katalog der Bibliothek der Gehestiftung zu Dres- 
den. Erster Band, 2. Auflage. Unterabteilung II. Land- und Forst- 
wirtschaft, Bergbau und Industrie. Dresden 1902. 

Vor 14 Jahren erschien die erste Auflage des ersten Bandes dieses 
Kataloges, während im Jahre 1900 die zweite Auflage der ersten Ab- 


Die periodische Presse des Auslandes. 713 


teilung ausgegeben wurde, welche die Nationalökonomie und Finanz- 
wissenschaft umfaßte. Der vorliegende zweite Teil betrifft Landwirt- 
schaft und Forstwirtschaft, Bergbau und Industrie. Während die erste 
Autlage 93 Seiten umfaßte, zeigt der vorliegende Band 310 Seiten, wor- 
aus die bedeutende Vermehrung in dieser Zeit zu Tage tritt. Bei der 
großen Liberalität, mit der die Bibliothek dem Publikum, namentlich 
auch dem auswärtigen, zugänglich gemacht wird, kann diese Vermeh- 
rung nur allseitig mit Freude begrüßt werden, um so mehr, da sie in 
trefflich systematischer Weise geschehen ist. J. C. 


Assanierung, die, von Wien. Bearbeitet für den technischen Teil von Paul Kortz ete., 
für den medizinal-statistischen Teil von (D' med.) Alois Grünberg etc. Herausgeg. von 
Th. Weyl. Leipzig, W. Engelmann, 1902. 4. IX—194 SS. mit Fig. u. 14 Taf. 

Chronik der königl. Akademie der Künste zu Berlin vom 1. X. 1901 bis 1. X. 
1902. Berlin, Okt. 1902. Lex.-8. 110 SS. 

Dvoräk, Rud. (Prof. d. orient. Philos. an der k. k. böhmischen Univ., Prag), 
Chinas Religionen. Teil II: Lao-tsi und seine Lehre. Münster i W., Aschendorff, 1903. 
gr. 8. VIII—216 SS. M. 3,50. 

Laurent-Montanus, Die Prostitution in Indien. Eine kulturhistorische Studie. 
Freiburg i. B., F. P. Lorenz, 1903. 8. 19 SS. M. 0,60. 

Niedner, Otto (Stabsarzt an d. Kaiser-Wilhelms-Akad.) Die Kriegsepidemien 
des 19. Jahrhunderts und ihre Bekämpfung. Berlin, Aug. Hirschwald, 1903. 8. VIII— 
227 SS. geb. M. 5.—. (A.u. d. T.: Bibliothek v. Coler, herausgeg. von O. Schjerning, 
Bd. 17.) 

Schulthess’ Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge XVIII. Jahrg.: 1902. 
München, Osk. Beck, 1903. gr. 8. VIII—392 SS. M. 8.—. 


Bonmariage A., La Russie d'Europe. Essai d’hygiöne générale. Paris, Le 
Soudier, 1903. 8. 551 pag. Av. planches et fig. fr. 25.—. 

Bruneau, Marcel (inspecteur d'Académie), Les débuts de la Révolution dans 
les départements du Cher et de l'Indre (1789—1791). Paris, Hachette & C^, 1903. 8. 
fr. 7,50. 

Brown, Edner Ellsworth (Prof. of the theory and practice of education 
in the University of California), The making of our middle schools: an account 
of the developinent of secondary education in the United States. London, Longmans, 
Green & Co., 1903, 8. 10./6. (Contents: The grammar schools of old England. — Early 


colonial grammar schools. — Colonial school systems. — The English Academies. — 
Early Ameriean Academies. — Early State systems of secondary education, — Teachers 


and teaching. — The movement towards publie control. — The first high schools. — ete.). 
Report of the Commissioner of Education for the year 1900—1901. Vol. II. 
Washington, Government Printing Office, 1902, gr. 8. VII and pp. 1219—2512. (Con- 


tents: Coedueation of the sexes in the United States. — Present eduentional movement 
in the Philippine islands. — Report on education in Alaska. — City school systems. — 
Universities, colleges, and technological schools. — Professional and allied schools. 
Statistics of normal schools — Statistics of secondary schools. — Agricultural and 
mechanical colleges. — Manual and industrial training. — Commercial and business 
schools. — Current topics. — Statistics of reform schools. — Schools for the defective 
classes. — Education of the colored race. — etc.). 


Die periodische Presse des Auslandes. 
A. Frankreich. 
Bulletin de statistique et de législation comparée. XXVII* année. Mars 1903: 
A. France et colonies: Produits des contributions indirectes pendant l’année 1902. — 


Les caisses d'épargne ordinaires en 1901. — L'ensemble des opérations des caisses 
d'épargne ordinaires et de la caisse nationale d'épargne pendant l’anné 1901. — Ville 


de Paris: La valeur en capital de la propriété immobiliere. — Les taxes municipales 


714 Die periodische Presse des Auslandes. 


de remplacement des droits d'octroi en 1902. — Les revenus de l'Etat. — Le commerce 
extérieur. — Les recettes des théâtres et spectacles de la ville de Paris en 1902. — 
B. Pays étrangers: Autriche-Hongrie: Les bourses de produits agricoles (loi du 4 janvier 
1903). Le commeree extérieur de la Hongrie en 1902. — Espagne: Le commerce 
extérieur en 1902. — Norvège: Le commerce extérieur de 1885 à 1901. — Russie: Le 
commerce extérieur au XIX* siecle. Le chemin de fer transsibérien. Les caisses de 
secours mutuels pour la noblesse. — Suisse: Le monnayage. — Etats Unis: Prévisions 
budgétaires pour 1903 et 1904. — République argentine: Le budget pour 1903. — ete. 

Journal des Economistes. Revue mensuelle. LXII* année, 1903, Avril: Etalon 
d'or et étalon d'argent, par G. de Molinari. — Les pourparlers monétaires entre les 
Etats Unis, le Mexique et la Chine. — Le mouvement financier et commercial, par 
Maur. Zablet. — Revue des principales publications économiques de l'étranger, par Emile 
Macquart. — La démocratie Américaine, le trafic des votes, par Laborer. — Lettre des 
Etats-Unis, par George Nestler Tricoche. — Brest, par (le contre-amiral) Réveillère. — Le 
vrai grand homme, par Fréd. Passy. — Société d'économie politique (réunion du 4 avril 
1903). Discussion: Qu'est-ce-qu'un capitaliste? ete. — Réclamations: Lettres de MM. 
Bouvier et E. Cauderlier. — Chronique. — ete. r 

Journal de la Société de Statistique de Paris. XLIV* année, n° 3, Mars 1903: 
Procès-verbal de la séance du 18 février 1903. — L’apprentissage industriel, par Lucien 


March. — Les émissions et remboursements d’obligations des six grandes compagnies de 
chemins de fer en 1902, per Alfr. Neymarck. — La population de l'Angleterre en 1901, 


par Paul Meuriot (suite et fin). — Chronique de statistique judiciaire, par Maur. Y vern?s. 
— Chronique des questions ouvrières et des assurances sur la vie, par Maurice Bellom. 
— Variétés: Les illettrés A Paris; Le sol improductif; Progrès des importations du 


Canada dans le Royaume-Uni. — ete. 
Journal de la Société de Statistique de Paris. XLIV®® année, 1903, n° 4, 
Avril: Procès-verbal de la séance du 18 mars 1903. — Annexe au procès-verbal: Situ- 


ation financière de la Société de statistique de Paris, par A. Fontaine et Matrat. — 
Statistique nouvelle sur le morcellement des valeurs mobilieres, par Alfr. Neymarck. — 
Le coût de la vie à Paris 1 diverses époques, par Gust. Bienaymé (suite et fin). — 
Variétés: 1. Les foréts du monde; 2. Les gréves au Canada en 1901 et 1902. — 
Chronique des transports, par Hertel. — etc. 

Revue d'économie politique. XVII* année, n° 3, Mars 1903: Essai d'une étude 
analytique et synthétique de l'entreprise, par Maur. Ansiaux. — Le mercantilisme des 
pays neufs et la crise des industries russes, par Laur. Dechesne. — Les coopératives 
hollandaises, par Henry Hayem. — La réglementation du contrat de travail en Belgique, 
par Ed. Cailleux. — Chronique législative, par Edm. Villey. — ete. 

Revue internationale de sociologie. XI* Année, n? 3, Mars 1903: Discours pro- 
noncé aux funérailles de M. Pierre Laffitte, par E. Levasseur. — Le problème de la 
vie en rapport avee les origines de la sociologie, par N. Kostyleff. — De la criminologie 
des collectivités, par Raoul de la Grasserie, suite et fin: le erime international (pag. 196 
à 242). — Société de sociologie de Paris, séance du 11 février 1903: Les classes sociales. 
Communication de E. Delbert, discussion par Arthur Bauer, M. Coicou, Léon Philippe, 
H. Monin, André Levy-Oulmann. — ete. 


B. England. 


Economie Review. Published quarterly for the Oxford University branch of 
the Christian Social Union. Vol, XIII, N° 2, April, 1903: Rural England, by (Rev.) 
L. R. Phelps. — The later economies of Em. Zola (by Herb. W. Blunt. — The moral 


principles of compensation in temperance reform, by F. J. Western. — Co-operation 
and commercial morality, by (Rev.) E. F. Forrest. — The present position of the new 
trades combination movement, by E. J. Smith. — An arbitration treaty with France, by 
Henry W. Wolff. — The fiscal poliey of the future, by Walter F. Ford. — Legislation, 
parliamentary inquiries, and official returns, by Edwin Cannan. — ete. 

Edinburgh Review, the. April 1903: Expansion and expenditure. — An Eliza- 
bethan traveller: Fynes Moryson. — The supernatural in XIX" century fiction. — 


Buckinghamshire, — Art history in the Netherlands. — English agriculture. — The 
late Lord Acton, — National security. 

Nineteenth Century, and after. N° 314, April 1903: The erisis in the church, 
by (Viscount) Halifax. — Europe and South Amerika, by Somers Somerset. — South 


Die periodische Presse des Auslandes. 715 


American Republics und the Monroe doctrine, by John Macdonell. — The horrible 
jumble of the Irish land laws, by (Sir) Alexander Miller. — From this world to the 
next, by Freder. Harrison. — A social experiment, by (the Countess) of Warwick. — 
Corn-growing in British countries, by E. Jerome Dyer. — The independent labour party, 
by J. Keir Hardie. — The present position of the licensing question, by (Sir) Rob. 
Hunter. — N’ 315, May 1902: The Irish Land Bill: 1. A scheme of pernicious agrarian 
quackery, by (Judge) O'Connor Morris; 2. The latest: is it the last, by (the Lord) 
Monteagle. — The crisis in the church, a reply to (Lord) Halifax, by J. Lawson Walton. 
— The social democratie party in Germany, by O. Eltzbacher. — The deterioration in 
the national pysique, by George F. Shee. — What is the avantage of foreign trade, by 
Leonard Courtney. — Some more letters of (Mrs.) Carlyle, by Augustine Birrell. — 
London congestion and eross-traffie, by (Captain) George S. C. Swinton. — The New 
Zealand elections, by O. T. J. Alpers. — A future for Irish bogs, by (Sir) Rich. Sankey. 
— etc. : 

Proceedings of the Royal Philosophical Society of Glasgow. Vol. XXXIII, 
1901—1902: The training of teachers in Scotland, by J. Knight. — The relation of 
economies to numismaties, by W. W. Carlile. — The criminal: some social and economie 
aspects, by W. M. Douglas. — Rents and ground rents: facts and figures bearing upon 
the ,.housing problem", by W. Fraser. — Discussion on „housing problems“, opened by 
W. Smart. — Plague in some of its historical and present day aspects, by R. M. 
Buchanan. — Notes on rural and suburban life in Scotland in the „thirties“, by D. 
Lamb. — etc. 

Quarterly Review, the. N^ 294, April 1903: Montesquieu in England, by J. 
Churton Collins. — Imperial telegraphs (with map). — Leprosy, by George Pernet. — 


The Macedonian maze. — Hellenism in the East. — The provincial mind, by George 
Street. — The need of rural England. — The Irish University question. — The consular 
service and its wrongs. — London education and the Act of 1902. — ete. 


Westminster Review, the. May 1903: The , woden" pedigree of the Royale 
family of England, by Karl Blind. — Freedom and servitude in the Balkans, by Noel 
Buxton. — Natal, by R. Russell. — Irish land conference, by Walter Sweetman. — 
Woman's lost citizenship, by Ignota. — The housing of the people, by Evelyn Ansell. — 
The secularist position with regard to education, by T. Gardiner. — Is science teaching 
passing away? by G. E. Boxall. — Tercentenary of queen Elizabeth, by H. Reade. 
— ete. 


C. Oesterreich-Ungarn. 


Handelsmuseum, das. Herausgeg. vom k. k. österreichischen Handelsmuseum. 
Bd. XVIII, N° 15—19, Wien, 9. IV.—7. V: Der Kongreß der englischen Handels- 
kammern, von D. — Kommerzielles Hochschulwesen. — Der bulgarische Zolltarif- 
entwurf. — Levantinische Handelskartelle. — Das deutsche Fleischbeschaugesetz, von 
M. — Kaufmannsgerichte, von Rud. Pollak (ao. Prof. der Exportakademie). — Die 
Frage eines Petroleumhandelsmonopols in Frankreich. — Deutsch-kanadischer Zollkrieg. 
— Der Handel von Trapezunt. — Der Handel Samsuns im Jahre 1902. — Seiden- 
produktion und -Verbrauch der Welt. — Der künftige Deutsche Reichstag. — Baumwoll- 
kultur und Manufakturwarenhandel in Zentralasien. — Die Automobilindustrie auf dem 
Weltmarkte, — ete. 

Monatssehrift, statistische. Herausgeg. von der k. k. statistischen Zentral- 
kommission. N. Folge, Jahrg. VIII, Heft 3 u. 4, März u. April 1903: Die Wander- 
bewegung auf Grund der Gebürtigkeitsdaten der Volkszählung vom 31. XII. 1900, von 
Franz v. Meinzingen. — Das Versicherungswesen 1896—1900. Eine statistische „Studie, 
von Emil Stefan. — Mitteilungen und Miszellen: Konferenz für Städtestatistik; Die 
Sterblichkeit in den größeren Städten und Gemeinden Oesterreichs im Jahre 1902, von 
Bratassevié, — Zur Statistik der Bienenzucht in Oesterreich. — ete. 

Soziale Rundschau. Herausgeg. vom k. k. arbeitsstatistischen Amte im Handels- 
ministerium. Jahrg. IV, 1903, Februarheft: Arbeiterschutz. — Soziale Versicherung: 
Die österreichischen Arbeiterunfallversicherungsanstalten im Jahre 1900; Registrierte 
Hilfskassen in Oesterreich im Jahre 1900; Verband der Arbeiter-, Kranken- und Unter- 
stützungskassen Oesterreichs im Jahre 1901; Die deutsche Invalidenversicherung und 
die Tuberkulose; Unfallversicherung im Deutschen Reich im Jahre 1901. — Arbeits- 
einstellungen und Aussperrungen: Arbeitskonflikte in Oesterreich; Ausstand der Trans- 


716 Die periodische Presse des Auslandes. 


portarbeiter in Amsterdam. — Arbeitsvermittlung: Ergebnisse der Arbeitsvermittlung 
in Oesterreich im Monate Januar 1903; Ausgestaltung des Wiener städtischen Arbeits- 
vermittlungsamtes durch die Einbeziehung der Dienstvermittlung; Verein für unentgelt- 
lichen Arbeitsnachweis in Wien. — Arbeitsmarkt: Berichte der Handels- und Gewerbe- 
kammer in Reiehenberg; Bericht der Handels- und Gewerbekammer Bozen für das 
IV. Quartal 1902; Internationaler Arbeitsmarkt (Belgien, Deutsches Reich, England, 
Frankreich}, — Einwanderungsgesetz in der Kapkolonie. — Arbeitsverhältnisse: Durch- 
führungsverordnung zum Gesetze vom 28. VII. 1902, betreffend die Regelung des 
Arbeitsverhältnisses der bei Regiebauten von Eisenbahnen und in den Hilfsanstalten 
derselben verwendeten Arbeiter; Die Arbeiterverhältnisse in. der Berg- und Hütten- 
industrie Ungarns im Jahre 1901. — Wohnungswesen: Der städtische Wohnungsnach- 
weis in Reichenberg im Jahre 1902; Die Förderung des Arbeiterwohnungswesens in 
Rheinland und in Westfalen; Russischer Verein zur Einrichtung und Verbesserung von 
Arbeiterwohnungen. — Soziale Fürsorge. — Soziale Hygiene: Sanitüre Vorschriften für 
Bückereien in Tirol; Sanitüre und soziale Fürsorge in Mähren 1901. — Verschiedenes: 
Sozialstatistisches aus Frankfurt a./M. im Jahre 1901/02; Sozialstatistisches aus Däne- 
mark, — ete. 

Soziale Rundschau. Jahrg. IV, 1903, Märzheft: Vorläufige Uebersicht der Ver- 
änderungen in den Löhnen und in der Arbeitszeit in England im Jahre 1902, — Bundes- 
gesetzliche Regelung der Arbeitszeit beim Betriebe der Eisenbahnen und anderer Ver- 
kehrsanstalten der Schweiz. — Die Tätigkeit der österreichischen Bergbaugenossenschaften 
in den Jahren 1900 und 1901. — Soziale Versicherung: Ergebnisse der Krankheits- 
statistik und der Gebarung der österreichischen Krankenkassen im Jahre 1900; Städtische 
Dienstbotenkrankenversicherungskasse in Innsbruck; Teilweise Verwendung des Zoll- 
mehrerträgnisses für die künftige Witwen- und Waisenversorgung im Deutschen Reiche. 
— Arbeitseinstellungen und Aussperrungen: Arbeitskonflikte in Oesterreich; Streik- 
bewegung im Auslande (Belgien, England, Frankreich); Vorläufige Uebersicht der Arbeits- 
konflikte in England im Jahre 1902. — Arbeitsvermittlung: Ergebnisse der Arbeits- 
vermittlung in Oesterreich im Monate Februar 1903; Zentralanstalt für unentgeltlichen 
Arbeitsnachweis in Mannheim im Jahre 1902. — Arbeitsmarkt: Wirtschaftliche Ver- 
hältnisse in einzelnen Handels- und Gewerbekammerbezirken im Jahre 1902: A. Brünn. 
B. Linz; Internationaler Arbeitsmarkt (Belgien, Deutsches Reich, England, Frankreich). 
— Das neue ungarische Auswanderungsgesetz. — Arbeitsstatistische Aemter: Durch- 
führungsverordnung zum Gesetze, betreffend die Errichtung eines Arbeitsamtes in Mailand. 
— Arbeiterverhältnisse und Wohlfahrtseinrichtungen bei den österreichischen Staats- 
bahnen. — Sozialpolitik: Staatliche Prämien für langjährig beschäftigte Arbeiter in 
Ungarn; Stellungnahme der französischen Justizverwaltung gegenüber durch Arbeits- 
konflikte hervorgerufener Unruhen. — Wohnungswesen. — Aus dem Verwaltungs- 
berichte der Landeshauptstadt Brünn für das Jahr 1901. — Vereinswesen. — Recht- 
sprechung. — Verschiedenes: Die wirtschaftliche Entwiekelung Oesterreichs; Zur Rege- 
lung des Submissionswesens in Mähren. — ete. 


E. Italien. 
Giornale degli Economisti. Aprile 1903: La situazione del mercato monetario. 


— Il valore pratico delle dottrine economiche, per G. Valenti. — Un nuovo trattato 
d'economia matematica, per P. Boninsegni. — Sul calcolo delle annualità dei mutui, per 
G. Fraseara. — Alcune asservazioni sui sindaeati e sulle leghe (a proposito di una 


memoria del prof. Menzel), per M. Pantaleoni. — Cronaca (Venezia-Indie), per F. Papafava. 
— Icilio Vanni, per v. G. 

Rivista della beneficenza pubblica. Anno XXXI. 1903, N° 3, Marzo: Dell’ 
assistenza ai bambini lattanti illegitimi, per Romano Romani. — Per gli educatori corre- 
zionali, per Giulio Benelli. — Le condizioni della pubblica beneficenza, per Enrico Stiatti. 
— Sulla legalità della riforma del servizio degli esposti nella provineia di Rovigo, per 
Silvio de Kunert. — Cronaea: Cinque milioni per gli ospedali lombardi; Alla casa di 
Turate; D’ influenza dell alcoolismo sul delitto in Svizzera e i mezzi ehe possono essere 
usati per combatterlo; Per la tutela delle ragazze. — etc. 


G. Holland. 


de Economist, opgericht door J. L. de Bruyn Kops. Län jaarg., 1903, April: 
Eenige opmerkingen betreffende het wetsontwerp tot instelling van landbouwraden, door 


—— 


Die periodische Presse des Auslandes. 717 


C. J. Siekesz. — Bezwaren tegen den verbruikersbond, door Anna Polak. — Mijn- 
wetgeving in Nederland, door Reinier D. Verbeek (art. II.. — De internationale geld- 
markt, door O. Rozenraad. —  Economische kroniek: Der Streik der Eisenbahner und 
andere Streikbewegungen in Holland; Der Entwurf des hollündisehen Bankgesetzes; Der 
große amerikanische Stahltrust. — Handelskroniek: Ueber das geplante holländische 
Telegraphen- und Telephongesetz; Hollündischer Schiffahrtsverkehr über die deutsch- 
holländischen Grenzen nach und von holländischen Häfen; Status der holländischen 
Kauffahrteiflotte vom 31. XII. 1902: Statistik der 1902 aus holländischen Reedereien 
hervorgegangenen neuen Schiffe. — ete. 


H. Schweiz. 

Monatsschrift für christliche Sozialreform. Jahrg. XXV, 1903, N" 4: Arbeits- 
markt, Arbeitgeberverbände und Arbeitgeberpresse, von N. L. Kroidl. — Wirtschaftliche 
Tagesfragen, von Sempronius: Entwickelung und Stand der Raiffeisenkassen in Nieder- 
Oesterreich ; Die Abfälle der Großstädte; Dörrobst und sonstige Konserven in ihrer Be- 


deutung für den Landwirt; Lagerhausgenossenschaften. — Zeitschriftenschau, von C. 
Decurtius. — Soziale Chronik. — Für die sozialen Vereine, von J. Beck: Skizze XII: 
Die Arbeitslosigkeit; Skizze M: Der Arbeitsnachweis. — ete. 


Schweizerische Blätter für Wirtsehafts- und Sozialpolitik. Jahrg. XI, 1903, 
Heft 6, 7 u. 8: Die Organisation der unentgeltlichen ärztlichen Fürsorge in der Schweiz, 
von (Prof.) F. Erismann (Schluß). — Mittel und Einrichtungen zur Förderung und 
Durchführung des Realkredits, von (Prof.) W. Mareusen (Schluß). — Soziale Chronik. 
— Statistische Mitteilungen: Die Vogtländer und die schweizerische Stickereiindustrie. — 
Handelsstand und Handelsschulen, von W. Flury (Prof, Solothurn). — Europäische 
Handelsbilanzen im Jahre 1902. — Zur „agrarischen“ Beweisführung, von (Privdoz.) 
E. Ballod (Berlin). — Soziale Chronik. — Statistische Notizen. 


M. Amerika. 


Annals, the, of the American Academy of Political and Social Science, Vol. XXI, 
N° 2, March 1903: The military government of Cuba, by Leon Wood. — The new 
Australian commonwealth, by W. Harrison Moore. — Constitutional government in Japan, 
by Ernest W. Clement. — The results of reform, by Henry Jones Ford. — The basis 
of present reform movements, by James T. Young. — The nazionalization of municipal 
movements, by Clinton Rogers Woodruff. — Political and munieipal legislation in 1902, 
by Robert H. Whitten. — Our present financial outlook, by Fred. Cl. Cleveland. — ete. 

Bulletin of the Department of Labor. (Washington) N° 44 and N° 45, January 
and March 1903: Factory sanitation iu labor protection, by C. F. W. Dochring. — 
Agreements between employers and employees. — Digest of recent reports of State 
bureaus of labor statistics: Kansas; Michigan; Massachusetts; New Hampshire; Penn- 
sylvania; Rhode Island; West Virginia. — Course of wholesale prices, 1890—1902. — 
Digest of recent foreign statistieal publications. — Deeisions of courts affecting labor. — 
Laws of various States relating to labor enacted since January 1, 1896. 

Journal, the, of Political Economy. (Chicago, University of Chicago press). Vol. 
XI, N°2, March 1903: Population in the XII" Census, by John Cummings. — Colonial 
poliey and the tariff, by Robert F. Hoxie. — German-American „most favored nation“, 
Relations, by George M. Fisk. Effects of the Granger Acts, by Ch. R. Detrick. — 
New England gas and coke, by Alton D. Adams. — ete. 

Political Science Quarterly. Edited by the faculty of political science of Columbia 
University (Boston). Vol. XVIII, N° 1, March 1903: Federal control of trusts, by Alton 
D. Adams. — Elections in New York in 1774, by Carl Becker, — An American muni- 
eipal program, by C. R. Woodruff. — Local government in Scotland, by Mabel Atkinson. 
— Value in taxation, by Vietor Rosewater. — 'The growth of federal expenditures, by 
C. J. Bullock. — State arbitration in Australasia, by Henry W. Macrosty. — ete. 

Quarterly Journal of Economies. Published for Harvard University, Boston. 
Vol. XVII, N°2, February 1903: A study in the science of welfare, by Frederick Kellogg 
Blue. — Branch banking in the United States, by O. M. W. Sprague. — The residual 
claimant theory of distribution, by Jae. H. Hollander. — Oceupations in their relation 
to the tariff, by Edw. Atkinson. — The later history of the standard oil company, by 
Gilbert Holland Montague. — Notes and memoranda, — etc. 


718 Die periodische Presse Deutschlands. 


Die periodische Presse Deutschlands. 


Alkoholismus, der. Eine Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Erörterung 
der Alkoholfrage. Jahrg. IV, 1903, Heft 1: Rückblick und Ausblick, von (D' med.) 
Waldschmidt. — Ueber Wert und Einrichtung besonderer Heilstätten für Alkoholkranke, 
von Konrad Alt. — Zur Frage der Unterbringung von Alkoholkranken in Frankreich, 
von Lucien Mayet. — Alkohol und Unfall, von (Prof.) C. Fraenkel. — etc. 

Annalen des Deutschen Reichs ete. Jahrg. XXX VI, 1903, N" 4: Die Notenbanken 
in Württemberg, 1876—1900, von Berth. Breslauer (Berlin) [I. Art.]. — Anlage zum 
Zolltarifgesetz vom 25. XII. 1902 (Schluß). — Skizzen und Notizen: Räumlichkeiten 
als Orte des Verlierens und Findens; Vorschläge zur Erzielung einer Einheit der Straf- 
rechtsprechung; Zur Frage der Prozeßverschleppungen, ete. — 

Archiv für Post und Telegraphie. Jahrg. 1903, N’ 6, 7 u. 8, März u. April 1903: 
Telephonie auf weite Entfernungen. — Die Gründung der ersten deutsch-amerikanischen 
Postdampfschiffslinie (Schluß). — Weitere Entwickelung des Postverkehrs mit den 
deutschen Kriegsschiffen im Auslande. — Die zweite Beratung des Etats der Reichs-, 
Post- und Telegraphenverwaltung für das Rechnungsjahr 1903 im Reichstage. — Die 


höhere Verwaltungsprüfung für Post und Telegraphie im Jahre 1902. — Die Ver- 
staatlichung der schweizerischen Eisenbahnen. — Das Postwesen in den Niederlanden 
bis zu seiner Verstaatlichung. — Der Photophonograph. — ete. 


Archiv für Bürgerliches Recht. Bd. XXII, Heft 1, April 1903: Zwölf Studien 
zum bürgerlichen Gesetzbuch, von J. Kohler. Studie VI: Das Vermögen als sachen- 
rechtliche Einheit. — Gefahr und Gefährdung im BGB., von (LandesgerDir.) Rotering 
(Magdeburg). — Der abstrakte Vertrag, von (PrivDoz.) Friedr. K. Neubecker (Berlin). 
— Die prozessuale Aufrechnung gegenüber dem vertragsmäßigen Exmissionsrechte des 
Vermieters, von (Referend.) Max Alsberg (Bonn). — Zur Lehre vom Besitz des Mannes 
am eingebrachten Vermögen beim Güterstande der Verwaltung und Nutznießung, von 
(Rechtsanw.) Ullmann (Magdeburg). — Die Einlage von Sachgesamtheiten bei Aktien- 
gesellschaft und Gesellschaft mit beschränkter Haftpflicht, von (Prof.) H. Rehm (Erlangen). 
— Die alte und die neue Vormerkung, von (Rechtsanw.) Osk. Priester (Eberswalde). — 
Bibliographie des bürgerlichen Rechts, 1902, von Georg Maas (Bibliothekar im Reichs- 
militärgericht). 

Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, 
Herausgeg. von Gustav Schmoller. Jahrg. XXVII, 1903, Heft 2: Zur Charakteristik 
der englischen Industrie, von W. Hasbach (Art. 3). — Die Hebung der Produktivität 
der Landwirtschaft, von Carl Ballod. — Zur Entwiekelung der Geschichtschreibung 
Rankes. Ein Versuch ihrer theoretischen Würdigung, von B. Schmeidler. — Wesen 
und Wert der Zentralproduktenbörse. Akademische Antrittsrede, von Kurt Wiedenfeld. 
— Der Anteil der Arbeiter, der Angestellten und der Selbständigen am deutschen Volks- 
einkommen des Jahres 1900, die Zahl der in jeder dieser Gruppen Erwerbstätigen und 
der von ihnen Ernährten, und das Verhältnis zwischen Einkommen und Familienentfaltung, 
von R. E. May. — Das Eisenbahnwesen in Algerien, von Paul Mohr. — Depositen- 
banken und Scheckverkehr in England, von Rud. Eberstadt. — Bericht über die 
XXII. Jahresversammlung des Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit, 
von Emil Münsterberg. — Der amerikanische Schifffahrtstrust, von Reinh. Melchior. — 
Die Krisentheorien von M. v. Tugan-Baranowsky und L. Pohle, von Arthur Spiethoff. 
— etc. 

Neue Zeit, die. Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie, Jahrg. XXI, 
Bd. I, 1903, N’ 26—21 vom 29. III.—2. V.: Sozialismus und Landwirtschaft, von 
K. Kautsky: Art. 9: Entwickelungsgesetz der Landwirtschaft; Art. 10: Schluß. — 
Wirtschaftliche Umschau, von Heinr. Cunow. — Gewissensfragen, von Fr. Stampfer, — 
Die makedonische Frage, von Janko Sakosow (Sofia). — Wie der Moloch wächst, von 
tud. Krafft. — Der werdende Verbrecher. Eine kriminalistische Untersuchung von 
S. Weinberg. — Beiträge zu einer Geschichte der Internationale, von Max Bach (Art. 3 
u. 4, Schluß). — Der Kongreß zu Bordeaux und die französischen Sozialisten, von Jean 
Longuet. — Das Weib und der Intellektualismus, von Klara Zetkin. — Die politische 
Lage in Italien, von Romeo Soldi. — Landerziehungsheime, von Heinrich Schulz. — 


Die periodische Presse Deutschlands. 719 


Die sozialistische Presse in den Vereinigten Staaten, von A. M. Simons. — Eine Arbeiter- 
fabrik in Belgien, von Emilio (Redakteur am „Peuple“ in Brüssel) — Der Kampf und 
die Niederlage der Arbeiter in Holland, von Henriette Roland-Holst ('s Gravenhage). — 
Die Qualifikation der Fabrikarbeit, von J. German. — Die Gewerkschaftsbewegung in 
Belgien, von Fritz Kummer (Brüssel). — Leo Tolstoi an die Arbeiter, von Friedr. 
Stampfer. — Der Liberalismus im Wahlkampf. — Die irische Landbill, von M. Beer. 
— Die Bedeutung von Farbe und Form des Tierkleides, von Kurt Grottewitz. — 
Notizen: Die Photographie im Dienste des Arbeiterschutzes, von P. M. Grempe; Berufs- 
genossenschaften und Krisis von E. G. — etc. 

Politisch-anthropologische Revue. Jahrg. II, N° 2, Mai 1903: Die allgemeinen 
Gesetze der Vererbung, von Paul Hartel. — Die biologischen Wurzeln der mensch- 
lichen Gemeinschaft. — Die anthropologische Geschichts- und Gesellschaftstheorie, von 
Ludwig Woltmann. — Die Urgeschichte der Künste, von J. Lanz-Liebenfels. — Al- 
koholismus und Rechtsprechung, von Edm. Blind. — Niedergang und Erwachen der 
lateinischen Rassen, von Curt Bühring. — Zur Diskussion über „Zuchtwahl und Mono- 
gamie", von L. Kuhlenbeck (Erwiderung). — Die Monogamie der Germanen, von 
L. Wilser (Erwiderung). — ete. 

Preußische Jahrbücher. Herausgeg. von Hans Delbrück. Bd. 112, Heft 2, 
Mai 1903: Der Schulmeister, von Outis, — Nationale Jugend, von Walther Eug. Schmidt 
(Prag). — Zur vormärzlichen Polenpolitik Oesterreichs, von J. Loserth (Prof. d. Ge- 
schichte, Univ. Graz). — Frau Gottsched und die preußische Gesetzgebung, von Ernst 
Consentius (Berlin). — Die Kruppsche Bücherhalle, ihre Einrichtung und ihre Erfolge. 
von Tony Kellen (Essen a. d. R.). — Politische Korrespondenz; Eine Wahlparole, von 
H. Delbrück; Bagdadbahn, von Paul Rohrbach. — etc. 

Reichsarbeitsblatt. Herausgeg. vom kais. statistischen Amt, Abteilung für 
Arbeiterstatistik. Jahrg. I, Nr. 1, Berlin, 21. IV. 1903:. Die Abteilung für Arbeiter- 
statistik. — Arbeitsmarkt: Die Berichterstattung des Reichsarbeitsblatts; Der Be- 
schäftigungsgrad im März 1903 nach den Nachweisungen der Krankenkassen; Die Ver- 
mittlungstätigkeit der Arbeitsnachweise im Monat März 1903. — Arbeitsvermittelung 
und Arbeitslosigkeit: Notstandsarbeiten in deutschen Städten während des Winters 
1902,03; Arbeitslosenzählungen der Stadt Stuttgart; Arbeitslosenzählung auf Grund der 
Einkommensteuerlisten in Dresden ; Vorschriften über den Umfang der Befugnisse und 
Verpflichtungen sowie über den Geschäftsbetrieb der Stellenvermittler für Schiffsleute. 
— Arbeitsbedingungen : Erhebungen über die Dauer der im Fleischergewerbe üblichen 
täglichen Arbeitszeit; Nachweisung der in den Hauptbergbaubezirken Preußens im J. 
1902 verdienten Bergarbeiterlöhne. — Arbeiterschutz: die Jahresberichte der bayerischen 
Fabriken- und Gewerbeinspektoren für 1902; Jahresbericht der großherz. badischen 
Fabrikinspektion für das Jahr 1902. — Arbeitsstreitigkeiten: Die Ausstandsbewegung 
des Jahres 1902 im Deutschen Reiche. — Wohnungswesen: Sachsen. Erlaß des kgl. 
sächsischen Ministeriums des Innern. — Gesetzgebung. -— Die Tätigkeit des Gewerbe- 
gerichts Berlin als Einigungsamt im vergangenen Vierteljahre. — Tabellen zur Arbeits- 
marktstatistik. — etc. 

Soziale Revue. Jahrg. III, 1903. 2. Quartalheft: Arbeitsvertrag und deutsches 
Privatrecht, von (Privdoz.) Frz. Walter-München (Schluß). — Ein neues System der 
Nationalökonomie, von (Privdoz.) Frz. Walter. — Die Ursachen der Arbeitslosigkeit, 
von Adolf Weber (Bonn). — Aus fernen Landen, von v. Hesse-Wartegg. — Die Stellung 
des Urchristentums zum Wirtschaftsleben, von (Dr. theol.) Frz. Meffert (Gladbach). — 
Glaube und Kultur, von Viktor Cathrein (Soc. J.). — Aus der sozialen Welt: Aus der 
Arbeiterbewegung der Gegenwart, von Fleischer; die Bewährung der Gewerbegerichte, 
von Eyck; Alkoholfrage und Gemeindepolitik, von Mombert; Die gewerbliche Nachtarbeit 
der Frauen in Oesterreich; Zur Selbstmordstatistik Württembergs, von Rost; Die katho- 
lische Kirche in den Ver. Staaten. — etc. 

Vierteljahrshefte zur Statistik des Deutschen Reichs. Herausgeg. vom kais. 
statistischen Amt. Jahrg. XII, 1903, Heft 1: Anordnungen für die Reichsstatistik aus 
dem Jahre 1902. — Zur Statistik der Preise: A. Großhandelspreise wichtiger Waren an 
deutschen Plätzen 1902 und in den 20 Jahren 1883/1902. Nebst einer ergänzenden 
Uebersicht für 1871/82 und einem Anhange (Tab. 4-—10) betreffend Preise von Vieh 
und Getreide an fremden und deutschen Plätzen; B. Roggen- und Weizenpreise an 
deutschen und fremden Börsenplätzen im IV. Vierteljahr 1902; C. Viehpreise in 10 


720 Die periodische Presse Deutschlands. 


deutschen Städten im IV. Vierteljahr 1902. — Der Verkehr auf den deutschen Wasser- 
straßen 1872—1901. — Erntestatistik für das Jahr 1902. — Beiträge zur Statistik der 
Fruchtmarktpreise (1898 — Januar 1903). Die überseeische Auswanderung 1902. — Die 
Eheschließungen, Geburten und Sterbefälle 1901. — Die Selbstmorde 1899—1901. — 


Bei den deutschen Börsen zugelassene Wertpapiere 1902. — Branntweinbrennerei- und 
Besteuerung 1901/1902. —  Weinmosternte 1902. Konkurse im IV. Vierteljahr 1902. 
Vorläufige Mitteilung. — Zur Statistik der Streiks und Aussperrungen im IV. Viertel- 


jahr 1902. 

Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Unter ständiger 
Mitwirkung genannter Autoren herausgeg. von (Proff.) St. Bauer (Basel) und G. v. 
Below (Tübingen), ferner von L. M. Hartmann (Wien) u. (RedaktSekr.) Kurt Kaser ( Wien). 
Bd. I, Heft 1 (Leipzig, C. L. Hirschfeld, 1903). Inhalt: Les dénombrements de la 
population d’Ypres au AN" siècle (1412—1506). Contribution à la statistique sociale 
du moyen âge, von Henri Pirenne. — Lohn- und Preisverhältnisse in Hann.-Münden 
zu Anfang des 15. Jabrhunderts, von Gustav Schönfeldt. — La colonizzazioni in Sicilia 
nei secoli XVI e XVII (Contributo alla storia della proprietà), per G. Salvioli. — Die 
geschichtlichen Motive des internationalen Arbeiterschutzes, von Stephan Bauer. — 


Gegner der Bauernbefreiung in Oesterreich, von Heinr. Friedjung. — Miszellen: All- 
mende und Markgenossenschaft, von G. v. Below. — Fiuvaida von L. M. Hartmann. 
— etc. 


Zeitschrift des kgl. bayerischen statistischen Bureaus. Jahrg. XXXIV, 1902, 
N’ 4: die Armenpflege im Königreich Bayern in den Jahren 1899 und 1900. — Nach- 
trag zur Zusammenstellung der von den zuständigen Behörden getroffenen Festsetzungen 
des durchschnittlichen Jahresarbeitsverdienstes der in der Land- und Forstwirtschaft be- 
schäftigten Personen, dann des ortsüblichen Tagelohnes gewöhnlicher Tagearbeiter. — 
Nachtrag zu «lem Ergebnisse der Reichstagswahlen vom Juni 1898. — ete. 

Zeitschrift für Sozialwissenschaft. Herausgeg. von (Prof. Julius Wolf. Jahrg. 
VI, 1903, Heft 4: Aberglaube und Verbrechen, von Aug. Lówenstimm (OLandesGerR., 
Charkow). (I. Art.) — Ein mitteleuropüischer Wirtschaftsverein, von Julius Wolf. — 
Die Schaffung neuer Bodenwerte durch die Tätigkeit von Bakterien, von (Prof.) A. 
Stutzer. — Lohn und Aufrechnung, von (OLandesGerR.) Ernst Neukamp (Köln). — 
Sozialpolitik: Das österreichische Terminhandelsverbot, von (kais. Rat) Weiss v. Wellen- 
stein (Wien). — ete. 

Zeitschrift des historischen Vereins für Niedersachsen, Jahrg. 1903, Heft 1: 
Ueber den Ursprung der Stadt Hannover. von (Prof.) C. Schuchhardt. — Die slavischen 
Orts- und Flurnamen im Lüneburgischen, von (OLehrer) P. Kühnel (Teil II). — ete. 

Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft Bd. III, 1903, Heft 2: 
Die Verallgemeinerung der Versicherungshilfe, von Gottfr. Leuckfeld (Halensee-Berlin). 
— Die Harndiagnostik in der Lebensversicherung, von Wilh. Sternberg (Dr. med., Berlin). 
— Die Krankenversicherung der Hausindustriellen, von Ludw. Fuld (Mainz). — Ver 
sicherungswesen und Statistik, von (Prof.) Heinrich Bleicher (Frankfurt a. M.). — Der 
Schutz der Hypothekengläubiger im Versicherungsrecht, von (Referend.) Fr. Hülse 
(Magdeburg). — Die Mathematik und Technik der Arbeitslosigkeitsversicherung, von 
(Versicherungstechniker) Heinr. Unger (Groß-Lichterfelde). — ete. 


Frommannsehe liuchdruckerei (Hermann Pohle) in Jena. 


Otto Heyn, Erörterung des Projekts der Beseitigung des Goldagios in Spanien. 721 


Nachdruck verboten. 


XI. 


Kritische Erörterung des Projekts 
der Beseitigung des Goldagios in Spanien. 
Dr. FR Heyn. 


Inhalt. I. Einleitung (Spanische Währungsverhältnisse, Geschichte des Agios ete.). 
— II. Die Verminderung der Papiergeldmenge als Mittel zur Wiederherstellung des 


Parikurses im allgemeinen. — III. Ist es móglich und liegt es im Interesse Spaniens, 
das Goldagio zu beseitigen? — IV. Die richtige Politik (Stabilisierung des Wechsel- 
kurses in der jetzigen Höhe). — V. Schluß. 


I. Einleitung. 


In Spanien herrschen bekanntlich schon seit langer Zeit hóchst 
unerquickliche Währungsverhältnisse. Die Peseta gilt schon lange 
nicht mehr, wie es nach ihrem gesetzlichen Pariwerte der Fall sein 
sollte, gleich hoch mit dem franzósischen Franc. Es hat sich viel- 
mehr ein Goldagio gebildet, das jetzt nicht weniger als 35 Proz. be- 
trägt, so daß der Franc mit 1,35 Pesetas bezahlt werden muß. Durch 
das Bestehen dieses Agios sind die Staatslasten, soweit sie die Zins- 
zahlung für die auswürtige Schuld und andere Auslandszahlungen 
betreffen, stark erhóht worden und unter seinen Schwankungen leiden 
infolge der dadurch geschaffenen Unsicherheit Handel und Verkehr. 
Diesem Zustande will man jetzt ein Ende machen. Das Goldagio 
soll beseitigt, die spanische Valuta auf ihren früheren Pariwert ge- 
hoben werden. Einige vorbereitende Gesetze sind bereits erlassen 
und die Ausführung derselben hat begonnen. Dieses Projekt ist so- 
wohl wissenschaftlich als auch praktisch von so großer Bedeutung, 
daß es wohl der Mühe weri erscheint, es in seinem Zusammenhang 
mit der Theorie des Agios näher zu prüfen. 


1. Die Entwickelung des Goldagios. 

Die spanische Währung ist gesetzlich Doppelwährung oder viel- 
mehr sogenannte hinkende Goldwährung. Die Prägung von Gold 
ist freigegeben, die Prägung von Silber (in dem Verhältnis von 
1:15!/,;) Monopol der Regierung, aber seit November 1901 für die 
Kurantmünzen (5-Pesetastücke) eingestellt. Gold- und Silbermünzen 
haben gesetzliche Zahlkraft. Währungseinheit ist die Peseta. Dieses 
System, damals jedoch mit Prägungsfreiheit für Silber, wurde durch 
Gesetz vom 12. Oktober 1868 eingeführt, trat aber erst in den Jahren 

Dritte Folge Bd. XXV (LXXX). 46 


122 Otto Heyn, 


1876 und 1877 voll in Kraft. Die Prägungsfreiheit für Silber auf 
Privatrechnung wurde am 25. März 1878 aufgehoben. 

Zur Zeit der Einführung dieses Systems bildeten Gold- und voll- 
wertige Silbermünzen in reichlicher Menge den Geldumlauf. Das 
hat lange aufgehórt. Die Goldmünzen sind bis auf etwa 410 Mill. 
Pesetas, von denen sich 350 Mill. in den Kellern der Bank von 
Spanien befinden, exportiert worden und neue Goldmünzen werden nur 
noch in geringer Menge geprägt. Das Silbergeld ist mit dem Sinken des 
Silberpreises innerlich um etwa 60 Proz. unterwertig geworden und 
infolge der bedeutenden Prügungen der Regierung in verhältnismäßig 
großer Menge (circa 900 Mill. Pesetas, wovon 488 im Besitze der 
Bank) vorhanden. Der Umlauf besteht in der Hauptsache, nämlich 
zu circa 1620 Mill. Pesetas, in Papier. Es ist jedoch kein eigent- 
liches Papier geld vorhanden und es herrscht, abweichend von allen 
übrigen Ländern, in denen ein Agio besteht, (für Papier) kein 
Zwangskurs. Die Noten der Bank von Spanien, welche an Stelle 
eines Papiergeldes den Gelddienst versehen, sind Banknoten ge- 
blieben. Sie sind in Währungsgeld, Silber oder Gold nach der 
Wahl des Schuldners, also der Bank, einlósbar und werden tat- 
sächlich auf Verlangen von der Bank in Silber eingelöst. Sie werden 
von jedermann freiwillig genommen — lieber als das schwere Silber- 
geld — und nur selten zur Einlósung gebracht, obwohl ihre Deckung, 
die nur zu einem geringen Teile in Gold besteht, ziemlich schwach ist. 
In Wirklichkeit sind sie nichts anderes als Reprüsentanten des 
Silbergeldes. In dem Agio des Goldes gegenüber den Noten 
kommt einfach das Goldagio gegenüber dem Silbergelde zum Aus- 
drucke. Das letztere aber behauptet sich infolge der Aufhebung 
der Prügungsfreiheit weit über seinem Metallwert und steht insofern 
und in wührungspolitischer Hinsicht überhaupt in allen wesentlichen 
Beziehungen einem Papiergelde vóllig gleich. Bei dieser Sachlage 
kónnen wir für die Zwecke unserer Untersuchung von der erwühnten 
Besonderheit absehen und annehmen, daß in Spanien eine wirkliche 
Papierwährung herrsche. So verliert das spanische Währungs- 
problem seinen speziellen Charakter und ist es leichter möglich, die 
einschlägigen Fragen allgemein zu behandeln. 

Ein Agio für Gold zeigte sich in Spanien zuerst im Jahre 1879. 
Damals betrug es jedoch nicht mehr als 0,25 Proz. im Jahresdurch- 
schnitt. In den folgenden Jahren verschwand es wieder und es trat 

sogar ein kleines Disagio des Goldes an seine Stelle. Im Jahre 
1882 zeigte es sich von neuem, und von nun an bildete es eine 
ständige Erscheinung. Der Betrag war zunächst noch gering. Von 
1882—1888 schwankte es zwischen 0,82 und 2,50 Proz. im Jahres- 
durchschnitt. Dann trat aber eine Zunahme ein; 1392 sprang es auf 
15,42 Proz. und stieg dann fast ununterbrochen weiter, bis es in dem 
Kriegsjahr 1898 seinen Höhepunkt (vorübergehend sogar 115 Proz.) 
erreichte. Das Genauere zeigt die unten folgende Tabelle. 

In der ganzen Zeit seit dem ersten Auftreten des Agios hatte 
Spanien mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen. Die Einnahmen 


Kritische Erörterung des Projekts der Beseitigung des Goldagios in Spanien. 723 


des Staates reichten niemals aus, um die Ausgaben zu decken. Ein 
Defizit von 50—140 Mill. Pesetas im Jahre war die regelmäßige Er- 
scheinung. In dieser Finanznot war der Staat gezwungen, bei der 
Bank von Spanien Hilfe zu suchen. Diese Hilfe konnte nur in der 
Weise gewährt werden, daß immer mehr Noten ausgegeben wurden. 
So stieg der Notenumlauf allmählich von 178 Mill. Pesetas im Jahre 
1879 auf 1500 Mill. im Jahre 1899 und seitdem auf 1620 Mill. Um 
diese Vergrößerung zu ermöglichen, mußte das Bankstatut 2mal, und 
zwar in den Jahren 1891 und 1898, geändert werden, indem einer- 
seits die Notengrenze von 900 auf 1500 bezw. 2500 Mill. Pesetas 
erweitert, andererseits die Deckungsvorschriften gemildert wurden. 
Die letzte Aenderung (1898) setzte die Metalldeckung bei einer Noten- 
ausgabe bis zu 1500 Mill. Pesetas auf ein Drittel, für den Ueber- 
schuß bis zu 2000 Mill. auf die Hälfte, von 2000 bis zu 2500 Mill. 
auf zwei Drittel fest, ließ aber die Wahl zwischen Gold und spanischem 
Silbergelde. Im übrigen bestand die Deckung zum größten Teil in 
Staatsobligationen, und zwar einerseits in Stücken der fundierten An- 
leihen, andererseits in kurzfristigen Schatzanweisungen (Pagares) neben 
einer unverzinslichen Staatsschuld von 150 Mill. Pesetas. Der Be- 
stand an Schatzanweisungen (die alle 6 Monate erneuert werden 
müssen) betrug noch im Jahre 1901 nicht weniger als 900 Mill. 
Pesetas (Kolonialschuld). 

Seit 1887 hat die spanische Regierung auch durch starke Silber- 
prägungen den Staatsfinanzen aufzuhelfen versucht. Nach dem be- 
deutenden Rückgange des Silberpreises, besonders seit 1893, konnte 
ja auf diese Weise ein großer Gewinn erzielt werden, und diese Ge- 
legenheit ließ sich die spanische Regierung nicht entgehen. So sind 
denn in den 10 Jahren von 1890—1899 hauptsächlich aus finanziellen 
Rücksichten nicht weniger als 503 Mill. Pesetas in silbernen Wäh- 
rungsmünzen (5-Pes.-Stücke) geprägt worden (was der Staatskasse 
fast 100 Mill. Pesetas einbrachte). Allein im Jahre 1898 wurden 
199,9 Mill. Pesetas ausgemünzt. Auch diese Silberprägung trug 
natürlich dazu bei, den Umlauf unterwertigen Geldes in Spanien zu 
vermehren. Allerdings ist von den geprägten Stücken eine bedeutende 
Menge nach den Kolonien exportiert worden, aber ein großer Teil 
kam zurück und im Resultate hat sich eine beträchtliche Vermehrung 
des Bestandes in Spanien selbst ergeben. Die Gesamtprägungen 
nach dem Pesetafuß von 1868 betrugen bis Ende 1901 1286 Mill. 
Pesetas, darunter 1047 Mill. in 5-Peseta-Stücken. In den Jahren 
1900 und 1901 wurden nur silberne Scheidemünzen geprägt, wozu 
nach dem Gesetz vom 28. November 1901 nur noch eingeschmolzene 
alte Münzen und 5-Peseta-Stücke verwendet werden durften. 

Die unglücklichen Ereignisse des Jahres 1898, welche Spanien, 
abgesehen von dem Verluste seiner Kolonieen, mit einer neuen Schuld 
von fast 3 Milliarden Pesetas belasteten, führten zu einer umfassenden 
Steuerreform, welche das chronische Defizit beseitigte und weitere 
Vorschüsse seitens der Bank von Spanien unnötig machte. Jetzt ist 
das Gleichgewicht im Staatshaushalt wiederhergestellt. Im Budget 

46* 


724 Otto Heyn, 


für 1902 wurden die (ordentlichen) Einnahmen auf 974,4, die Aus- 
gaben auf 971,2 Mill. Pesetas veranschlagt. 

Die Schuldenlast des Landes ist sehr groß. Die gesamte Schuld 
beträgt nicht weniger als 9,73 Milliarden, die äußere Schuld (deren 
Last durch das Agio beeinflußt wird) 1249 Mill. Pesetas!). Die Ver- 
zinsung und teilweise Amortisation dieser Schuld beanspruchen bei- 
nahe die Hälfte der gesamten Jahreseinnahme (1902 413,8 Mill. 
Pesetas), während die Verzinsung und Amortisation der äußeren 
Schuld allein ca. 50 Mill. Pesetas Gold (= Francs) kostet ?). 

Eine Uebersicht über die Entwickelung des Agios, das An- 
wachsen der Notenmenge und die Prägungen gibt die folgende 
Tabelle): 


Notenumlauf, Agio und Prägungen von Silberkurant- 


münzen. 
3 Prägungen von Agio 
KEE Mill Pesetas 5-Peseta-Stücken (Tahresdurchschnits) 
ahres Mi 

ill. Pesetas Proz. 

1875 III 58,2 — I 
77 156 34,9 — 
79 178 8,2 0,25 
1880 227 3,5 — 0,4 

81 294 — — I 
82 359 8,3 1,80 
83 349 27,5 1,60 
84 305 29,2 1,20 
1885 424 15,7 2,50 
86 493 9,8 2,20 
87 582 59,9 0,82 
88 657 53,2 1,68 
89 724 23,4 3,25 
1890 736 36,4 4,33 
91 770 66,6 6,56 
92 854 41,5 15,42 
93 902 15,1 18,85 
94 942 19,4 20,15 
1895 994 19,4 14,85 
96 1031 21,4 20.05 
97 1202 33,7 29,60 
98 1445 199,9 53,85 
99 1519 69,6 24,80 
1900 1586 — 29,55 
1901 1633 — 38,15 


Die Größe der Schwankungen des Agios ergibt sich aus der 
folgenden Zusammenstellung, in der jedoch nur die Monatsdurch- 
schnitte verzeichnet sind. 


1) Raffalovich. Le marché financier, 1901, S. 638, Anm. 

2) Nach der Vereinbarung vom Juli 1901, welcher ca. 80 Proz. der ausländischen 
Gläubiger beigetreten sind, werden von den 4 Proz. Zinsen der äußeren Schuld nur 
3'/, Proz. ausgezahlt, während das restliche !/, Proz. zur Amortisation verwendet wird. 

3) Die Zahlen der Spalten 2 und 4 dieser Tabelle sind dem Economiste Européen 
vom 17. Januar und 14. März 1902 entnommen. In den Berichten von Raffalovich (Le 
marché financier von 1894/95 und 1896/97) finden sich für einige Jahre abweichende An- 
gaben, so namentlich als Durchschnittsagio für 1894 und 1896 23 bezw. 25 Proz. 


Kritische Erörterung des Projekts der Beseitigung des Goldagios in Spanien. 725 


Minimum Maximum 
(Monatsdurchschnitte) 

1891!) 2,90 12,75 
1894 ?) 11,36 23 
1895 !) 8,40 22,25 
1896 ?) 17,34 27,6 
1897 ?) 24 33,33 
1898 !) 33,05 86,71 *) 
1899!) 19,70 30 
1900 !) 26,30 33,90 
1901 ?) 33.25 42,35 


Was die zur Zeit in Spanien vorhandene Geldmenge betrifft, so 
soll nach dem neuesten Berichte des amerikanischen Münzdirektors 
zu Ende des Jahres 1900 an Metallgeld vorhanden gewesen sein: 


Gold Millionen Pesetas 
im Besitze der Bank von Spanien * 350 
im Privatbesitz (geschätzt) 60 
410 
Silber 
im Besitze der Bank von Spanien 412 
im Umlauf (geschätzt) 488 
900 
Zusammen: 1310 
Hierzu kamen an ungedeckten Noten: 
bei einer im ganzen ausgegebenen Menge von 1586 
und einer Deckung von 350 + 412 = 762 
814 
| 2124 


Im ganzen waren also Ende 1900 2134 Mill. Pesetas vorhanden, 
während sich der Umlauf zusammensetzte aus: 


Gold (im Privatbesitz) 60 Mill. Pesetas 
Silber 488 yn » 
Noten 1586 5 , 


2134 Mill. Pesetas 
Seitdem ist der Notenumlauf noch etwas vermehrt, der Silber- 
umlauf wahrscheinlich etwas verringert worden. Am 27. September 
1902 betrugen der Metallschatz der Bank von Spanien und die Menge 
der umlaufenden Noten: 


Gold 356,77 Mill. Pesetas > 
Silber 468,7 D T 
Noten 1621,77  , D 


Ueber den Status der Bank von Spanien orientieren die folgen- 
den (dem Economiste Européen entnommenen) Daten, welche für 
verschiedene Zeitpunkte den Bestand an Gold und Silber, den Umfang 
des Portefeuilles (einschließlich der diskontierten Schatzanweisungen), 
den Betrag der Lombarddarlehen, die Größe der Depots und der 


1) Nach Raffalovich. 

2) Nach de Foville im Bericht des amerikanischen Münzdirektors 1899, S. 389/90 
berechnet. 

3) Nach dem Economiste Européen vom 17. Januar 1902. 

4) Der höchste Stand war 115 Proz., der größte Wochendurchschnitt 111 Proz. 


726 Otto Heyn, 


Kontokorrentschuld und den Betrag der umlaufenden Noten (sowie 
den Bankdiskont) angeben. 
Mill. Pesetas 
Ende 1899 Ende 1900 Ende 1901 28. Juni 1902 27. Sept. 1902 
Gold 340 350 350 354 357 


Silber 363 408 432 492 489 
Wechsel ete. 1045 1126 1114 1116 907 
Lombard 133 246 259 213 122 
Depots u. Konto- 

korrent 771 728 682 518 580 
Noten 1518 1586 1633 1598 1622 
Bankdiskont 4 ENÄ A A A 


Der Betrag der diskontierten Handelswechsel belief sich (nach 
Conrads Volkswirtschaftlicher Chronik, 1901, S. 156) am 20. April 1901 
auf nicht mehr als etwa-200 Mill. Pesetas. 

Das Grundkapital der Bank beträgt 150 Mill. Pesetas. Dasselbe 
ist durch eine gleich hohe (unverzinsliche) Forderung an den Staat 
besonders gedeckt. 


2. Das Gesetz vom 13. Mai 1902. 


Seit einigen Jahren ist man ernstlich bestrebt, das Goldagio zu 
beseitigen. Es soll der Versuch gemacht werden, den Kurs wieder 
auf Pari zu heben. Der erste Schritt zu einer Besserung der Ver- 
hältnisse war der Erlaß des Gesetzes über die Einstellung der 
Prägung von 5-Pesetastücken in Silber (vom 28. November 1901), 
wodurch verhütet werden sollte, daß in Zukunft wieder wie früher 
eine Ausprägung unterwertigen Währungsgeldes lediglich aus finan- 
ziellen Rücksichten erfolge. Diesem ersten Schritt ist nach langen 
Verhandlungen mit dem Zustandekommen des Gesetzes vom 13. Mai 
1902!) jetzt endlich der zweite gefolgt. 

Das Gesetz bestimmt zunächst über die Rückzahlung der 
schwebenden „Kolonialschuld“ des Staates an die Bank, die 900 Mill. 
Pesetas beträgt. Diese Rückzahlung soll bis zum 31. Dezember 1911 
erfolgen. Das soll teils unter Verwendung der schon durch das 
Gesetz vom 2. August 1899 eröffneten, aber noch nicht in ganzem 
JUmfange benutzten Kredite (d. h. durch Aufnahme einer inneren 
Anleihe), teils unter Verwendung etwaiger Ueberschüsse des Staats- 
haushaltes geschehen, während die Beschaffung der sonst noch er- 
forderlichen Mittel einem neuen Gesetze vorbehalten bleibt (Artikel 1). 
Zugleich wird (in Artikel 2) angeordnet, daft es zu neuen Vorschüssen 
der Bank an das Schatzamt eines Spezialgesetzes bedürfe. 

Sodann wird.die Bankverfassung geändert (Artikel 3, 9, 8, 7). 
Vor allem wird der Hóchstbetrag der auszugebenden Noten (von 
2500) auf 2000 Mill. Pesetas reduziert. Ueberdies werden die 


1) Der wesentliche Inhalt ist abgedruckt in der Chronik der Jahrbücher, S. 184, 
S. auch Economiste Européen vom 30. Mai 1902. 


Kritische Erörterung des Projekts der Beseitigung des Goldagios in Spanien. 727 


Deckungsvorschriften verschärft. Die metallische Deckung soll 
(in Prozenten) betragen !): 


bei einer Notenausgabe von Gesamte Deckung Gold Silber 

1—1200 Mill. Pes. EEN 167, 167], 
1200—1500 „  , 60 40 20 
1500—2000 ,  ,, 70 50 20 


Das Gold kann in Barren oder in Münzen spanischen oder 
fremden Gepräges, das Silber muß in spanischem Gelde bestehen. 
Die gesamte Deckung (in Metall und sonst) muß unter allen Um- 
ständen die Summe des Betrages der Noten, der Depots und des 
Debets der Kontokorrente erreichen. Für die nichtmetallische 
Deckung, welche zur Zeit noch zum groften Teil aus Staatsschuld- 
verschreibungen, Aktien der Tabakkompagnie etc. besteht, werden 
nach dem Vorbilde der großen europäischen Zentralbanken Vor- 
schriften gegeben, welche die Liquidität verbessern. Diese Deckung 
soll nämlich nach und nach so gestaltet werden, daß sie sich fast 
ausschließlich, ebenso wie z. B. bei der deutschen Reichsbank, aus 
Wechseln und Lombardforderungen mit höchstens dreimonatiger 
Fälligkeitszeit zusammensetzt. 

Ferner wird der Geschäftskreis der Bank anderweitig geordnet. 
Der Handel mit Effekten wird verboten (Artikel 8). Als Hauptauf- 
gabe wird die gleichmäßige Unterstützung von Handel, Industrie und 
Landwirtschaft hingestellt (Artikel 6). Um speziell den industriellen 
und den landwirtschaftlichen Kredit zu heben, soll darauf Bedacht 
genommen werden, die Tratten und Schuldverschreibungen der in- 
dustriellen und landwirtschaftlichen Syndikate sowie der landwirt- 
schaftlichen Kreditvereine von anerkannter Solvenz ebenso zu eskomp- 
tieren wie die Tratten des Handels. 

Weitere Bestimmungen betreffen die Einrichtung von Konto- 
korrenten in Gold zur Erleichterung der Bezahlung der jetzt in 
Gold zu entrichtenden Zölle, die Vermehrung der Zweiganstalten etc. 

Die Vorschriften über die metallische Deckung treten nicht so- 
fort, sondern nach näherer Vereinbarung zwischen der Regierung 
und der Bank erst dann in Kraft, wenn die Rückzahlung der Staats- 
schuld an die Bank diese Aenderung ermöglicht (Artikel 6, No. 2). 


1) Bei einem Notenumlauf von 1622 Mill. Pesetas, wie am 27. September 1902, 
würde die Deckung hiernach bestehen müssen (in Mill. Pesetas): 


für Noten in Gold in Silber 
1—1200 200 200 
1200—1500 120 60 
1500—1622 . 61 24,4 
381 284,4 


Da sie in Wirklichkeit zu 356,77 Mill. Pesetas in effektivem Golde, neben 12 Mill. 
Goldguthaben im Auslande, und aus 488,7 Mill. Pesetas Silber bestand, so war hiernach 
den Vorschriften des Gesetzes schon annähernd genügt. Es fehlten nur 12,23 Mill. 
Pesetas Gold, während in Silber eine Ueberdeckung von 204,3 Mill. Pesetas vor- 
handen war. 

Bei einer Notenausgabe von 1622 Mill. Pesetas beträgt hiernach die Deckung in 
Gold, die eigentlich allein in Betracht kommen sollte, auch nach den neuen Vorschriften 
nicht einmal 25 Proz. Das ist immer noch sehr wenig, zumal da ja auch die Depots 
hierdurch gedeckt werden. 


728 Otto Heyn, 


Ueber das Wesen und den Inhalt des Reformprojektes ist aus 
diesem Gesetze nicht viel zu ersehen. Das Gesetz bestimmt nicht, 
daß das bestehende Goldagio beseitigt, daß der frühere Pariwert 
der Valuta wiederhergestellt und daß zu diesem Zwecke die N oten- 
menge vermindert werden solle. Die Absicht geht aber dahin. Das 
ergibt sich aus der Vorgeschichte, aus den Motiven des Regierungs- 
entwurfes, aus den Verhandlungen der Kammern, aus Aeußerungen 
der Minister und endlich aus den Bestimmungen des Gesetzes selbst, 
insoweit dieses die Rückzahlung der Kolonialschuld unter Aufnahme 
einer inneren Anleihe anordnet, den Notenumlauf in seinem Maxi- 
mum einschränkt und für die Deckung der Noten strengere Vor- 
schriften aufstell. In den Motiven des Gesetzentwurfes vom No- 
vember 1900 ist direkt gesagt: „Der Notenumlauf wird vermindert 
werden.“ 

Die Ausführung des Gesetzes legt dem Staate erhebliche finan- 
zielle Opfer auf. Die Mittel zur Rückzahlung der Kolonialschuld 
können bei dem jetzigen Kurse der spanischen Anleihen (ca. 72 Proz. 
für die mit netto 3,20 Proz. verzinsliche innere Anleihe!) jedenfalls 
nicht unter 4!/, Proz. beschafft werden. Da nun die Forderung der 
Bank 900 Mill. Pesetas beträgt und da diese Summe bisher nur mit 
21/, Proz. zu verzinsen war, so ist das Mehrerfordernis auf ca. 2 Proz. 
— 18 Mill. Pesetas pro Jahr zu schätzen?). Dieser Mehrbelastung 
stehen allerdings, wenn die Beseitigung des Agios gelingt, erhebliche 
Ersparnisse gegenüber. Es würden nämlich allein an den Zinsen 
für die Auslandsschuld, die sich auf ca. 50 Mill. fres. belaufen, etwa 
17,5 Mill. Pesetas pro Jahre gespart werden, da bei einem Goldagio 
von etwa 35 Proz. zur Bezahlung dieser Summe statt 50 jetzt 
67,5 Mill. Pesetas aufgewendet werden müssen. Außerdem würde 
eine Ersparnis an anderen Ausgaben eintreten, da sich die in Gold 
zu bestreitenden Kosten für den diplomatischen Dienst, für Marine- 
bedürfnisse, für Waffenanschaffungen im Auslande etc. entsprechend 
mindern. Endlich würde die Konversion von Anleihen möglich 
werden. Alle diese Ersparnisse treten aber nur dann ein, wenn die 
Beseitigung des Agios gelingt. Im Falle des Mißlingens wird in 
dieser Beziehung nichts erreicht und der Mehrbelastung des Staates 
mit 18 Mill. Pesetas Zinsen treten Kompensationen nicht gegen- 
über. Allerdings wird der Staat auch in diesem Falle von seiner 
Schuld an die Bank befreit. Darin liegt insofern ein Vorteil, als das 
Bestehen dieser Schuld, da dieselbe nicht fundiert ist, immerhin ge- 
wisse Unbequemlichkeiten und Gefahren mit sich bringt. Abgesehen 
hiervon, wird aber nur der Gläubiger gewechselt. 

Berücksichtigen wir, daß es nicht gewiß ist, ob der Versuch der 


1) Der Zinsfuß ist 4 Proz., aber der Coupon unterliegt seit 1899 einer Steuer 
von 20 Proz. 

2) Dieser Berechnung ist der Kurs zur Zeit der Abfassung dieser Arbeit — Oktober 
1902 — zu Grunde gelegt. Da der Kurs der inneren Anleihe inzwischen auf 77,05 Proz. 
(am 15. Juni 1903) gestiegen ist, stimmt die Rechnung nicht ganz mehr. Nach dem 
jetzigen Kurse würde das Mehrerfordernis etwas geringer sein. 


Kritische Erörterung des Projekts der Beseitigung des Goldagios in Spanien. 729 


Beseitigung des Agios gelingt und daß es Spanien möglicherweise 
ebenso ergehen kann wie Italien, welches bei dem im Jahre 1881 
unternommenen, aber fehlgeschlagenen Versuche, die Barzahlungen 
wieder aufzunehmen, noch größere Zinsopfer vergeblich gebracht 
hat, so ergibt sich, daß Spanien ein beträchtliches finanzielles Risiko 
auf sich nimmt und einen bedeutenden Einsatz auf das Spiel setzt. 
Schon deshalb ist es von Interesse, zu untersuchen, wie groß die 
Chancen des Gelingens sind und ob der eventuelle Gewinn überhaupt 
den Einsatz rechtfertigt. Es kommt aber hinzu: einerseits, daß noch 
andere Staaten sich in ähnlicher Lage befinden, andererseits, daß die 
Ansichten über die Erfordernisse der Beseitigung eines bestehenden 
Agios und über die Zweckmäßigkeit eines solchen Vorgehens über- 
haupt noch wenig geklärt sind. Aus diesem Grunde hat die Unter- 
suchung eine weit über Spaniens Interessen hinausgehende Bedeu- 
tung. Mit Rücksicht hierauf werden die allgemeinen Gesichts- 
punkte mehr, als es an sich erforderlich sein würde, betont werden, 

Zunächst ist zu prüfen, ob die Verminderung der Noten- bezw. 
der Papiergeldmenge überhaupt im stande ist, die Beseitigung eines 
bestehenden Agios herbeizuführen. 


IL Die Verminderung der Papiergeldmenge als Mittel zur 
Wiederherstellung des Parikurses. 


Die Verminderung der Papiergeldmenge gilt allgemein, wenig- 
stens in der Praxis, als das richtige, vielfach sogar als das einzige 
Mittel, um ein bestehendes Agio durch Wiederherstellung des Pari- 
kurses zu beseitigen. Wenn auch über die Entstehung und die Be- 
stimmungsgründe des Agios die Meinungen weit auseinandergehen — 
hierüber herrscht völlige Uebereinstimmung. Man geht dabei, der 
Quantitätstheorie folgend, von der Ansicht aus, daß durch die Ver- 
minderung der Menge direkt der Wert des Papiergeldes ge- 
hoben werde, so daß infolgedessen — bei genügender Verminde- 
rung — das Agio ohne weiteres verschwinde, ebenso wie 
infolge der vorausgegangenen Vermehrung der Menge des Papier- 
geldes der Wert desselben herabgedrückt und das Agio ent- 
standen sei. Diese Ansicht scheinen auch die Tatsachen zu recht- 
fertigen. Wenigstens ist noch immer bei einer Vermehrung der 
Menge des Papiergeldes das Agio gewachsen und hat sich ge- 
wöhnlich bei einer Verminderung der Menge ein Zurück- 
gehen des Agios gezeigt. Auch in Spanien hat ja das Goldagio, 
wie unsere Tabelle auf S. 724 beweist, bei wachsender Notenmenge 
zugenommen und nach Bela Foeldes, der alle wichtigeren Länder 
der Welt in Betracht zieht, ist das Agio im Durchschnitt bei 
größerem Papiergeldumlauf immer höher, bei geringerem Umlauf 
ımmer niedriger gewesen!) 

Trotzdem wird von den bedeutendsten Vertretern der Wissen- 


1) Jahrbücher, N. F. IV, S. 151. 


730 Otto Heyn, 


schaft, wenigstens in Deutschland, die Quantitätstheorie verurteilt 
und ein anderer Standpunkt eingenommen. In Betreff der Frage 
der Entstehung des Agios kann das hier nicht näher erörtert werden !). 
Was aber die Beseitigung des Agios anlangt, so ist die Wissenschaft 
durchaus nicht der Ansicht, daß schon durch die Verminderung der 
Papiergeldmenge der Parikurs wiederhergestellt werden könne. Sie 
hält vielmehr für erforderlich, daß das Papiergeld fundiert und al 
pari in Gold einlösbar gemacht werde, und erwartet lediglich als 
Folge dieser Maßregel das Verschwinden des Agios. Allerdings wird 
in der Regel gleichzeitig eine Verminderung der Papiergeldmenge 
empfohlen. Das geschieht aber nur deshalb, weil es sonst gewóhn- 
lich aus praktischen Gründen (der Kosten wegen!) unmöglich sein 
würde, die Fundierung durchzuführen, und weil es überdies nach 
der Wiederherstellung des Parikurses nur noch einer geringeren 
Geldmenge zur Effektuierung der Umsätze bedarf ?). 

Die Ansicht der Wissenschaft ist aber bisher noch nicht durch- 
gedrungen. In der Praxis herrscht noch immer die Quantitätstheorie. 
Die letztere ist z. B. bei der indischen Währungsreform von maß- 
gebendem Einfluß gewesen, bei welcher man eine Verminderung der 
Menge der Rupien eintreten ließ, um den Kurs auf 16 d. zu heben; 
sie hat ferner bei der brasilianischen Reform bestimmend ein- 
gewirkt und sie bildet jetzt wieder den Ausgangspunkt bei dem Ver- 
suche der spanischen Regierung, den Parikurs wiederherzustellen. 
Nach Sachlage ist das auch nicht auffällig; denn die Quantitätstheorie 
ist auf den ersten Blick sehr bestechend und die Wissenschaft hat 
bisher weder ihre eigene Ansicht hinreichend klar begründet noch 
auch die Ansicht der Praxis hinreichend widerlegt. Um so mehr 
wird es von Interesse sein, wenn wir hier bei der Prüfung des Pro- 
jekts der Beseitigung des spanischen Goldagios einmal eingehend 
untersuchen, ob durch die Verminderung der Menge des Papiergeldes 
wirklich, wie die Praxis annimmt, ein bestehendes Agio ar und 
.der Parikurs wiederhergestellt werden kann. 


1. Bedingungen für die Beseitigung eines bestehenden 
Agios im allgemeinen. 


Man mag über die Entstehung und die Bestimmungsgründe des 
Agios Ansichten haben, welche man will — unter allen Umständen 
wird zugegeben werden müssen, daß das Agio in enger Verbindung 
steht mit dem Kurse der ausländischen Wechsel, und zwar 
das Goldagio mit dem Kurse der Wechsel auf Goldwährungsländer. 
Mit dem Kurse dieser Wechsel ist das Agio unmittelbar gegeben. 


1) Vergl. darüber die Citate bei Bela Foeldes a. a. O., ferner Helferich in der 
Tübinger Zeitschr., Bd. 11 (1855) und Bd. 12, S. 139ff.; Wagner, Russische Papier- 
wührung (1868), S. 179/80; Kramar, Das österseichische Papiergeld seit 1848 (1880) 
S. 68 ff.; Kalkmann in den Wiener Staatswiss. Studien I, Heft 3 (1899); Lexis, Artikel 
Papiergeld im Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 2. Aufl. 

2) Vergl. Lexis, Artikel Papiergeld a. a. O. Schlußkapitel; Wagner, Russische 
Papierwührung, S. 184 ff. : 


Kritische Erörterung des Projekts der Beseitigung des Goldagios in Spanien. 731 


Mag es Ursache, mag es Folge sein — jedenfalls kann auf der 
einen Seite das Agio nur dann verschwinden und muß es auf der 
anderen Seite immer dann verschwinden, wenn der Kurs der aus- 
ländischen Wechsel auf pari zurückgeht bezw. wenn der Kurs der 
inländischen Wechsel auf pari steigt. Die Entscheidung der Frage, 
ob die Verminderung der Papiergeldmenge das Verschwinden des 
Agios herbeizuführen vermag, muß daher davon abhängen, ob sie im 
stande ist, direkt oder indirekt zu bewirken, daß der Wechsel- 
kurs wieder den Paristand erreicht. Bei der Untersuchung 
dieser Frage ist davon auszugehen, daß in dem Augenblicke, wenn 
die Beseitigung des Agios stattfinden soll, die sog. kritische Zeit, 
d. h. die Zeit, in welcher die Notlage des Staates zu der statt- 
gehabten starken Papiergeldausgabe führte und in welcher ein 
starkes Mißtrauen im Inlande vielleicht zu allerlei abnormen Vor- 
gängen Veranlassung gab, vorüber ist; daß der inländische Verkehr 
sich bereits an das Papiergeld gewöhnt hat und daß das Papiergeld 
nicht anders betrachtet wird als Metallgeld von gleichem Werte, so 
daß sogar weite Kreise der Bevölkerung die Abschaffung desselben 
mißbilligen, wie z. B. die Erfahrungen in Oesterreich und in Ruß- 
land gezeigt haben. Kurz, es ist davon auszugehen, daß ruhige, nor- 
male Verhältnisse (wie sie auch Wagner und Lexis zum Ausgangs- 
punkt ihrer Betrachtungen nehmen) zurückgekehrt sind. 

Wird nun unter solchen normalen Verhältnissen eine Vermin- 
derung der Papiergeldmenge bewirken, daß der Wechselkurs den 
früheren Paristand wieder erreicht; daß der Kurs der ausländischen 
Wechsel entsprechend zurückgeht, der Kurs der inländischen Wechsel 
entsprechend steigt? 

Ein Steigen oder Sinken des Wechselkurses ist nur dann mög- 
lich, wenn Angebot und Nachfrage nach den Wechseln sich ent- 
sprechend ändern. Diese Aenderung kann eine quantitative oder 
aber lediglich eine qualitative (oder eine Kombination von beiden) 
sein, d. h. es kann ein Steigen oder Sinken des Kurses hervor- 
gerufen werden: entweder durch die Zunahme bezw. Abnahme von 
Angebot oder Nachfrage nach den Wechseln auf der Basis des bis- 
herigen Kurses oder ohne eine derartige quantitative Veränderung 
lediglich durch die Aenderung der Bedingungen des Angebots 
und der Nachfrage, d. h. durch Angebot und Nachfrage direkt zu 
einem höheren oder niedrigeren Kurse. Eine quantitative Aende- 
rung von Angebot und Nachfrage ist nur möglich: 1) bei Aenderungen 
der Zahlungsbilanz, genauer: bei Aenderungen der Gesamtheit 
des internationalen Verkehrs, aus welchem Zahlungsverpflichtungen 
zu Gunsten oder Lasten des Landes erwachsen; 2) als Folge der 
regelmäßig stattfindenden, nicht auf der Basis des realen Verkehrs 
beruhenden Spekulation in Wechseln. Eine (lediglich) quali- 
tative Aenderung von Angebot und Nachfrage findet statt, wenn 
die Valuta des Inlands oder die Valuta des Auslands, deren Wert- 
verhältnis (oder besser Preisverhältnis) im Wechselkurse zum Aus- 
druck kommt, direkt höher oder niedriger bewertet wird. 


132 Otto Heyn, 


Von der Valuta- bezw. Wechselspekulation können wir ab- 
sehen; denn diese zieht ihre Kraft aus den Verhältnissen des realen 
Verkehrs und vermag deren Wirkung wohl zu eskomptieren und 
zeitweilig zu verstärken oder abzuschwächen, aber nicht dauernd zu 
verändern. Auf die Dauer und abgesehen von vorübergehenden 
Schwankungen können nur die Verhältnisse des realen Verkehrs 
entscheiden. Sehen wir von der Spekulation ab, so kann eine Wieder- 
herstellung des Parikurses und damit die Beseitigung eines bestehen- 
den Agios nur dann stattfinden: 

1) wenn die Zahlungsbilanz des Inlands eine Veränderung 
erfährt, und zwar sich verbessert; 

2) wenn ohne solche Aenderung (oder verbunden mit der- 
selben) die Valuta des Inlands im Auslande höher bewertet wird. 

Vermag nun die Verminderung der Menge des Papiergeldes 
derartige Konsequenzen herbeizuführen ? 

Wer behauptet, daß eine Verminderung der Menge des Papier- 
geldes den Wechselkurs ohne Verbesserung der Zahlungs- 
bilanz des Inlands auf Pari zu haben vermag — und das tut 
eigentlich jeder, der den Einfluß einer solchen Maßregel auf die 
Zahlungsbilanz gar nicht weiter in Betracht zieht — der muß be- 
haupten, daß dieselbe, der zweiten Alternative entsprechend, ohne 
weiteres eine höhere Bewertung der inländischen Wechsel seitens 
des Auslands veranlasse. 

Eine derartige Auffassung liegt tatsächlich der herrschenden An- 
sicht zu Grunde. Man meint, durch die Verminderung der Menge 
des Papiergeldes („Kontraktion“) müsse der Wert des Papiergeldes, 
zunächst der „Binnenwert“ desselben gehoben werden, und schließt 
dann weiter, daß infolge dieser Werterhöhung des Papiergeldes im In- 
lande auch sein Wertverhältnis gegenüber den ausländischen 
Valuten gebessert werde, so daß nun das Agio sinke und schließlich 
verschwinde. Auf welche Weise das bewirkt werden soll, stellt man 
sich in der Regel gar nicht näher vor. Die Verbesserung des Wert- 
verhältnisses der inländischen zur ausländischen Valuta, wenn 
der Wert der ersteren gehoben wird, scheint ja schon logisch not- 
wendig zu sein. Es herrscht aber auch darüber in der Regel keine 
Klarheit, wie die Werterhöhung des Papiergeldes im Inlande sich 
vollziehen soll. Ausgehend von der Quantitätstheorie, nehmen einzelne 
einfach an, daß der Wert des Papiergeldes wie der Wert einer Ware 
steigen müsse, wenn seine Menge abnimmt, so daß es „seltener“ 
wird und „der Verkehr sich gezwungen sieht, die gleichen Umsätze 
wie früher mit einer geringeren Geldmenge zu bewirken“. Soweit 
man näher in die Sache eindringt, wird angenommen, daß durch die 
Verringerung der Menge des Papiergeldes ein Sinken der Waren- 
preise in der Weise herbeigeführt werde, daß das verfügbare Kapital, 
speziell der Kapitalfonds der Banken, vermindert und daß dadurch 
eine Kreditkrise herbeigeführt werde, welche ihrerseits durch die 
Veranlassung von Liquidationen und Konkursen einen Preissturz der 
Waren hervorrufe. 


Kritische Erörterung des Projekts der Beseitigung des Goldagios in Spanien. 733 


Die letztere Vorstellung ist, wenn wir von der Ausdehnung des 
Preisfalles absehen, richtig. Ob das Preisniveau dauernd niedrig bleibt, 
obwohl durch die Kreditkrise die Produktion zur Einschränkung ge- 
zwungen und verteuert wird, können wir hier dahingestellt sein lassen. 
Jedenfalls ist nicht zu leugnen, daß mit dem Preissturz der Waren, 
mag er auch nicht allgemein sein, eine Werterhöhung des Papier- 
geldes im Inlande eintritt. Es hebt sich der Wert desselben wenig- 
stens gegenüber den im Preise gefallenen Waren und damit steigt 
zugleich sein Durchschnittswert. Wird aber deshalb auch das Wert- 
verhältnis gegenüber der ausländischen Valuta ein besseres 
werden? Das muß scheinbar die Konsequenz sein. Wenn der 
Binnenwert des inländischen Papiergeldes von, sagen wir, 2 auf 
3 steigt und der Wert des ausländischen Geldes gleich bleibt, so 
muß scheinbar das Wertverhältnis des inländischen Papiergeldes 
zu dem ausländischen Gelde sich ebenfalls um 50 Proz. bessern. 
Diese Annahme beruht aber auf einem Irrtum. Man vergißt ganz, 
daß eine Aenderung dieses Wertverhältnisses sich nicht mechanisch 
vollzieht, sondern daß sie nur dann eintritt, wenn die Menschen, 
welche durch ihr Angebot und durch ihre Nachfrage nach Wechseln 
deren Preis und damit dieses Wertverhältnis bestimmen, sich ver- 
anlaßt sehen, für den inländischen Wechsel einen höheren Preis 
zu bezahlen. 

Wird aber der Ausländer in einem solchen Falle für den in- 
ländischen Wechsel einen höheren Preis anbieten? Keineswegs! 
Hierzu würde nur dann eine Veranlassung (vielleicht aber nicht ein- 
mal ein Zwang!) vorliegen, wenn bei einem durch die Verminde- 
rung der Papiergeldmenge veranlaßten Preissturz im Inlande auch 
die Exportartikel im Preise fielen, ohne daß gleich- 
zeitig der Preis derselben im Auslande entsprechend 
zurückginge. In diesem Falle würde der Ausländer im stande 
sein, für den gleichen Betrag inländischen Papiergeldes eine größere 
Menge Exportartikel zu kaufen, ohne dieselben billiger als früher, 
oder wenigstens, ohne sie entsprechend billiger im Auslande ver- 
kaufen zu müssen. Dann würde der Erwerb eines inländischen 
Wechsels für ihn vorteilhafter werden und dann, aber auch nur dann 
würde er — falls es nicht anders möglich wäre — sich dazu herbei- 
lassen, einen höheren Preis in ausländischem Gelde für denselben 
zu bezahlen. Diese Bedingung trifft aber nicht zu. Auch 
von dem größten Preissturz im Inlande, den eine Kredit- 
krise hervorruft, werden gerade die Exportartikel nicht 
ergriffen. Solange die Preise im Auslande gleich bleiben und 
der Wechselkurs sich nicht ändert — das ist ja in unserem Falle 
Voraussetzung — bleiben die Preise der Exportartikel im Inlande, 
von ganz geringen Einbußen abgesehen, ebenso hoch wiebisher. 
Die Besitzer solcher Artikel sind ja nicht wie die Besitzer anderer 
Waren gezwungen, dieselben im Inlande auf den Markt zu werfen, 
sondern können dieselben exportieren, und dann erlösen sie bei 
gleichen Auslandspreisen und gleichem Wechselkurse den gleichen 


754 Otto Heyn, 


Betrag inländischen Geldes wie bisher. Unter solchen 
Umständen werden sie aber natürlich auch im Inlande nicht billiger 
verkaufen und dann müssen die inländischen Preise gleich hoch 
bleiben. Nun wird freilich in einem solchen Falle wahrscheinlich mehr 
exportiert werden und müssen, wenn infolge der dadurch bewirkten 
Vergrößerung des Angebots im Auslande die ausländischen Preise 
sinken, auch die inländischen Preise zurückgehen. Hierdurch wird 
aber die Situation für den ausländischen Wechselkäufer nicht ver- 
ändert. Denn wenn auch in diesem Falle der Wert des inländischen 
Papiergeldes gegenüber den Exportartikeln steigt. so wird doch da- 
durch der Besitz eines inländischen Wechsels für den Ausländer 
nicht wertvoller, weil er die nun im Inlande für die gleiche Geld- 
summe zu erwerbende größere Menge Exportartikel im Auslande ent- 
sprechend billiger verkaufen muß. Auch in diesem Falle liegt daher 
für ihn kein Grund vor, für den inländischen Wechsel einen höheren 
Preis zu zahlen. Wenn endlich durch die Vergrößerung des Exports 
(infolge der dadurch bewirkten Verbesserung der Zahlungsbilanz) 
der Kurs der inländischen Wechsel gehoben wird und infolgedessen 
der Preis der Exportartikel im Inlande noch weiter sinkt, so wird 
nun freilich der Ausländer es möglicherweise vorteilhaft finden, und 
jedenfalls ist er, wenn er einen inländischen Wechsel erwirbt, ge- 
zwungen, für denselben einen höheren Preis zu bezahlen. Dieser 
Fall kommt aber hier nicht in Betracht, weil dann der Grund für 
die höhere Bewertung der inländischen Wechsel in der Verbesserung 
der Zahlungsbilanz und der dadurch herbeigeführten quantitativen 
Veränderung von Angebot und Nachfrage nach inländischen Wechseln 
liegt, während wir hier nur die Möglichkeit einer Kurssteigerung 
ohne solche quantitative Veränderung, ohne Verbesserung der 
Zahlungsbilanz ins Auge fassen. 

Es ergibt sich also, daß durch eine einfache Verminderung der 
Papiergeldmenge (und der Geldmenge im Inlande überhaupt) ohne 
eine Verbesserung der Zahlungsbilanz der Kurs der inländischen 
Wechsel im Auslande nicht gehoben, der Wert der inländischen 
Valuta im Verhältnis, zur ausländischen nicht gesteigert, das Agio 
nicht gemindert werden kann. Auch gegenüber dem Golde 
direkt kann eine solche Wertsteigerung nicht stattfinden; denn das 
Gold ist der beste Exportartikel; es wird am ehesten exportiert, kann 
ohne Preisdruck in jeder Menge im Auslande verwertet werden und 
deshalb wird sein Preis bei einer Verminderung der Papiergeldmenge 
am allerwenigsten sinken. 

Hiernach ist ein Sinken und eventuell ein Verschwinden des 
Agios nur möglich durch eine quantitative Veränderung von 
Angebot und Nachfrage nach Wechseln und daher (wenn wir von 
dem nur vorübergehenden Einflusse der Spekulation absehen) nur 
durch eine Verbesserung der Zahlungsbilanz. Eine Ver- 
besserung der Zahlungsbilanz muß aber auch mit Notwendigkeit 
diese Konsequenz haben, ganz einerlei, wie sich die Preise im In- 
lande gestalten und ob der Wert des Papiergeldes im Inlande steigt 


Kritische Erörterung des Projekts der Beseitigung des Goldagios in Spanien. 735 


oder nicht. Mit der Verbesserung der Zahlungsbilanz vermindert 
sich ja das Angebot oder vergrößert sich die Nachfrage nach in- 
ländischen, bezw. vergrößert sich das Angebot und vermindert sich 
die Nachfrage nach ausländischen Wechseln. Dann muß aber der 
Kurs der ausländischen Wechsel im Inlande sinken und damit geht 
zugleich das Goldagio zurück. Auf die Größe der Nachfrage nach 
Gold im Inlande kommt es dabei nicht an. Diese Nachfrage wird 
eventuell (durch Import befriedigt, ebenso wie die Nachfrage nach jedem 
anderen Artikel, der im Auslande erhältlich ist. 

Ist aber die Verminderung der Papiergeldmenge im stande, eine 
Verbesserung der Zahlungsbilanz herbeizuführen ? 


2. Einfluß der Verminderung der Papiergeldmenge 
auf die Zahlungsbilanz. 


Eine Verbesserung der Zahlungsbilanz kann erfolgen (wenn 
wir von Möglichkeiten, die für Spanien nicht wesentlich in Betracht 
kommen, absehen): 

1) durch die Verbesserung der Handels bilanz ; 

2) durch eine günstige Veränderung des Kapitalverkehrs mit 
dem Auslande (Eintreten eines Zuflusses oder Aufhören eines Ab- 
flusses von Kapital, eventuell unter entsprechender Veränderung des 
Effektenverkehrs). 

Sie muß erfolgen, wenn nicht eine Verbesserung in der einen 
Richtung durch eine Verschlechterung in der anderen Richtung 
kompensiert wird. 


a) Die Möglichkeit einer Verbesserungder Handels- 
bilanz. Bei einer Verminderung der Menge des Papiergeldes kann, 
wenn wir zunächst die dadurch veranlaßte Kapitalbewegung und 
deren Folgen außer acht lassen, ein Doppeltes geschehen. Entweder 
wird die Menge des aus dem Verkehr gezogenen Papiergeldes durch 
Metallgeld, das die Regierung in den Verkehr bringt, z. B. durch 
unterwertiges Silbergeld, dessen Prägung der Regierung ja so großen 
Gewinn bringt, oder durch Geldsurrogate bezw. durch die Aus- 
dehnung des Abrechnungsverkehrs oder, wenn die Ausführung des 
Projektes der Verminderung der Papiergeldmenge das zuläßt (z. B. 
wenn bei staatlich emittiertem Papiergelde von einer Zentralbank 
Noten ausgegeben werden dürfen) durch Banknoten ersetzt. Ge- 
schieht das, dann bleibt —- im großen und ganzen — alles wie zuvor 
und hat die Verminderung der Papiergeldmenge überhaupt keine 
Wirkung. Wie in diesem Falle ein Einfluß auf den Handelsverkehr 
und infolgedessen auf die Handelsbilanz ausgeübt werden sollte, 
ist nicht einzusehen. Aber auch sonst kann eine günstige Wirkung 
nicht eintreten. Niemandem wird es unter solchen Umständen ein- 
fallen, für das Papiergeld deshalb, weil es nun „seltener‘‘ geworden 
ist, höhere Preise zu bezahlen oder das Agio, welches er für Gold 
fordert, deshalb herabzusetzen. Es müßte schon sein, daß eine Ein- 
lösung des Restes der Papiergeldmenge al pari in Aussicht stände, 


736 Otto Heyn, 


welche Spekulanten veranlaßte, das Papiergeld aufzukaufen. Eine 
dadurch bewirkte Wertsteigerung des Papiergeldes wäre dann aber 
nicht mehr eine Wirkung der Verminderung seiner Menge, sondern 
die Folge der Erwartung, für das nicht eingezogene Papiergeld Gold 
zu erhalten. Tatsächlich wird aber auch in der Regel eine solche 
Aussicht nicht bestehen oder sie wird doch an die recht unsichere 
Bedingung des Gelingens der versuchten Beseitigung des Agios ge- 
knüpft sein und dann schon deshalb eine irgend erhebliche Wirkung 
nicht ausüben. 

Die zweite Alternative besteht darin, daß das eingezogene 
Papiergeld nicht ersetzt wird, so daß eine effektive „Kontraktion“ 
des Geldumlaufs entsteht, wie es ja in der Regel auch im Pro- 
gramm liegt. In diesem Falle mindern sich die Geldbestände der 
Banken — denn der Umlaufsbedarf muß in erster Linie gedeckt 
werden — und die Banken werden gezwungen, die von ihnen er- 
teilten Kredite zu beschränken, ihre ausstehenden Forderungen, 
wenigstens teilweise, einzuziehen und neuen Kredit nur noch in ge- 
ringerem Umfange zu erteilen. Man muß sich nur vorstellen, wie 
eine Verminderung der Papiergeldmenge vor sich geht. Das ge- 
schieht, indem der Staat im Inlande eine Anleihe aufnimmt. Diese 
Anleihe muß von den Zeichnern effektiv bezahlt werden. Das dazu 
erforderliche Geld müssen sie ihrem Kassenvorrat, insbesondere den 
Bankdepots, entnehmen. Infolgedessen mindern sich die Geldvorräte 
der Banken. Diese Geldvorräte werden aber auch nicht etwa in 
anderer Weise wieder ergänzt. Das vom Staate für seine Anleihe 
vereinnahmte Papiergeld wird ja programmmäßig, um die Menge zu 
vermindern, vernichtet und eine Ersetzung desselben durch anderes 
Geld tritt, wie wir vorausgesetzt haben, nicht ein. Diejenigen, welche 
dieses Geld unter dessen Entnahme aus den Bankdepots hergegeben 
haben, können an Stelle desselben jetzt nur noch die erhaltenen 
Stücke der neuen Anleihe in Depot geben. Der Depotbesitz dieser 
Anleihestücke setzt aber die Banken nicht in den Stand, Kredite zu 
erteilen, weil dazu, wenn der Abrechnungsverkehr nicht ausgedehnt 
wird, wie ebenfalls vorausgesetzt ist, effektives Geld gehört. Wegen 
Mangels an effektivem Gelde tritt ja auch in Goldwährungsländern, 
wenn hier grofte Einzahlungen auf eine Anleihe gemacht werden, 
regelmäßig eine Versteifung des Geldmarktes ein, bis das vereinnahmte 
Geld von der Regierung wieder in den Verkehr gebracht wird. Das 
Gleiche, nur nicht vorübergehend, sondern dauernd und in verstärktem 
Maße, würde in unserem Falle geschehen. 

Die Beschrünkung des Bankkredits, welche natürlich von einer 
Erhöhung des Diskonts begleitet ist, drückt nun zunächst, besonders 
dann, wenn mit der Verminderung der Papiergeldmenge rasch vor- 
gegangen wird, auf die Preise. Die Spekulanten an der Börse 
müssen realisieren, die Produzenten vorzeitig verkaufen, um fällige 
Schulden zu bezahlen. Soweit infolgedessen Exportartikel zum An- 
gebot kommen, vergrößert sich in der Regel der Export. Soweit 
Importartikel zum Angebot kommen, die nun unter stärkerem Preis- 


Kritische Erörterung des Projekts der Beseitigung des Goldagios in Spanien. 737 


druck realisiert werden, wird der Import gehemmt. In letzterer 
Richtung wirkt außerdem noch die mit den Konkursen und Liqui- 
dationen, sowie infolge der Kreditbeschränkung an sich eintretende 
Verschlechterung der allgemeinen wirtschaftlichen Lage, da infolge- 
dessen die Nachfrage zurückgeht. Mit dieser Zunahme des Exports 
und der Abnahme des Imports verbessert sich jetzt in der Tat die 
Handelsbilanz. Infolgedessen bessert sich regelmäßig wohl auch 
die Zahlungsbilanz und dann muß das Agio sinken. 

Daß die Zahlungsbilanz sich bessert, ist jedoch nicht sicher. Die 
Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage des Inlandes kann näm- 
lich nunmehr das Ausland veranlassen, inländische Effekten zurück- 
zusenden. Dadurch wird dann eine ungünstige Kapitalbewegung 
hervorgerufen, welche die Verbesserung der Handelsbilanz möglicher- 
weise vollständig kompensiert, ja übersteigt und so eine günstigere 
Gestaltung des Kurses hindert, vielleicht sogar noch eine weitere 
Verschlechterung herbeiführt. 

Nehmen wir aber auch an, daß letzteres nicht geschieht; daß also 
zunächst wirklich eine Verbesserung der Zahlungsbilanz und infolge- 
dessen eine Verbesserung des Kurses und ein Sinken des Agios ein- 
tritt, so kann das doch nur vorübergehend geschehen. Sind die 
Liquidationen und Konkurse, welche die Kreditbeschränkung zur Folge 
hatte, vorüber und ist die hierbei auf den Markt geworfene Ware 
im Inlande oder vom Auslande aufgenommen, dann hört die günstigere 
Gestaltung des Warenhandels wieder auf. Vor allem geht dann der 
Export wieder zurück. In erster Linie muß natürlich die durch 
die Kreditbeschränkung hervorgerufene abnormale Vergrößerung des- 
selben wieder fortfallen. Außerdem aber wird in der Regel noch ein 
weiterer Rückgang eintreten. Das ergibt sich, wenn man beachtet, 
daß einerseits durch das Sinken des Agios der Export erschwert, 
andererseits durch die eingetretene Kreditbeschränkung und das 
Steigen desZinsfußes die Produktion verteuert wird und daß beide 
Umstände die Konkurrenzfähigkeit des Inlandes im Auslande schwächen. 
Diesem Rückgange des Exports gegenüber wird der Import wieder 
zunehmen. Der Import wird ja durch das Sinken des Agios er- 
leichtert und es kommt noch hinzu, daß den inländischen Pro- 
duzenten, mit denen die Importeure konkurrieren, durch das Steigen 
des Zinsfußes ebenso wie den Exportproduzenten die Produktion ver- 
teuert wird. Infolge der allgemeinen Verschlechterung der wirtschaft- 
lichen Lage des Inlandes wird der Import allerdings nicht in dem 
Maße zunehmen, wie es unter übrigens gleichen Umständen sonst 
geschehen wäre, aber eine Vergrößerung im Vergleich mit der zu- 
nächst eingetretenen Einschränkung wird sich zweifellos ergeben. In- 
folgedessen geht nun nicht nur die frühere Verbesserung der Handels- 
bilanz wieder verloren, sondern es tritt möglicherweise sogar noch 
eine Verschlechterung gegenüber dem status quo an deren Stelle. 
Dann muß aber das Agio wieder steigen, so lange, bis durch dieses 
Steigen selbst eine hinreichende Zunahme des nun wieder erleichterten 
Exports und eine hinreichende Abnahme des nun wieder erschwerten 

Dritte Folge Bd. XXV (LXXX). 47 


738 Otto Heyn, 


Imports hervorgerufen ist, um zu gestatten, daß Angebot und Nach- 
frage auf dem Wechselmarkte wieder zum Ausgleich kommen. Im 
besten Falle wird hierdurch — wenn nicht inzwischen andere Fak- 
toren sich geändert haben, so z. B. die Konjunktur im Auslande 
günstiger geworden ist — der status quo wiederhergestellt 
werden. Es kann aber auch — infolge der Erschwerung des Exports 
durch die Verteuerung der Exportproduktion wegen der Kredit- 
beschränkung und der Erhöhung des Zinsfußes — eine Verschlech- 
terung sich ergeben und daraufhin das Agio einen noch höheren 
als den früheren Stand erreichen. In beiden Fällen kann also wenig- 
stens keine dauernde Besserung eintreten. 

b) Die Herbeiführung einer günstigen Kapital- 
bewegung. Der zweite Modus einer Verbesserung der Zahlungs- 
bilanz mit der Folge des Zurückgehens des Agios war der Eintritt 
einer günstigen Veränderung des Kapitalverkehrs mit dem Aus- 
lande. Eine solche Veränderung wird in der Regel eintreten, und 
zwar aus einem doppelten Grunde. Zunächst schon deshalb, weil die 
Verminderung der Papiergeldmenge, oder vielmehr, weil das Projekt 
der Beseitigung des Goldagios auf dem Wege der Verminderung der 
Papiergeldmenge einen Zufluß von Kapital aus dem Aus- 
lande hervorruft. Das erklärt sich folgendermaßen. Da nun ein- 
mal die Verminderung der Papiergeldmenge allgemein als ein Mittel 
zur Beseitigung des Goldagios gilt und da man von der Beseitigung 
des Agios allgemein eine Verbesserung der wirtschaftlichen und der 
finanziellen Lage des Landes erwartet; da ferner die Beseitigung 
und schon das Sinken des Agios für den Ausländer, welcher in- 
ländische Wertpapiere, Eisenbabnobligationen u. dergl. besitzt, einen 
Kursgewinn (oder doch die Möglichkeit, durch Realisierung des 
Besitzes einen solchen Gewinn zu erzielen) und für den Inländer, 
welcher Kapital im Auslande angelegt hat, einen Kursverlust be- 
deutet, so ist es ganz natürlich, daß im Falle einer Verminderung 
der Papiergeldmenge einerseits das ausländische Kapital sich dem 
Inlande zuwendet und andererseits das inländische Kapital, wenn es 
früher ins Ausland geflüchtet war, zurückkehrt. Damit ist aber eine 
günstige Kapitalbewegung geschaffen und unter deren Einfluß müssen 
nun Angebot und Nachfrage auf dem Wechselmarkte sich zu Gunsten 
des Inlandes ändern, der Kurs der inländischen Wechsel steigen. der 
Kurs der ausländischen Wechsel zurückgehen und das Agio sinken 
und im besten Falle verschwinden. 

Diese günstige Kapitalbewegung, die, wie angegeben, lediglich 
deshalb eintritt, weil man unter dem Einflusse der herrschenden 
Theorie von der Verminderung der Papiergeldmenge eine Beseitigung 
oder doch ein Sinken des Agios und überhaupt günstige Folgen er- 
wartet, kann aber nur so lange dauern, als diese Erwartung an- 
hält und immer weitere Kreise ergreift und dadurch immer neues 
Kapital heranzieht. Daß das fort und fort geschieht, ist nicht an- 
zunehmen. Geschicht es aber nicht und hört infolgedessen der 
Kapitalzufluß wieder auf, dann fällt damit ein bisheriges Aktivum 


Kritische Erörterung des Projekts der Beseitigung des Goldagios in Spanien. 739 


der Zahlungsbilanz fort und dann ist das Land wieder im wesent- 
lichen auf seinen Export angewiesen, um seine Verbindlichkeiten 
gegenüber dem Auslande zu erfüllen. Wenn es nun bis dahin nur 
bei dem dem Agio entsprechenden niedrigen Kurse, der ja den 
Export begünstigte und den Import hemmte, möglich war, die Zah- 
lungsbilanz zum Ausgleich zu bringen — wie soll das jetzt ohne 
weiteres bei dem durch den Kapitalzufluß hergestellten höheren 
Kurse, eventuell bei dem Parikurse möglich sein, obwohl dieser, 
indem er den Export erschwert und den Import erleichtert, für die 
Ausgleichung der Zahlungsbilanz ungünstigere Bedingungen schafft? 
Das ist unter übrigens gleichen Umständen völlig ausgeschlossen. Nur 
eine Aenderung der Bedingungen der Produktion, welche die 
Fortsetzung, ja die Ausdehnung des Exports trotz seiner Erschwerung 
gestattet, kann das ermóglichen. Diese Umgestaltung der Bedingungen 
der Produktion soll aber erst noch herbeigeführt werden! 

Nun ist aber noch zu berücksichtigen, daß die Wirkung einer 
günstigen Kapitalbewegung sich nicht darauf beschränkt, daß sie 
durch die günstige Veränderung von Angebot und Nachfrage auf dem 
Wechselmarkte den Kurs der inländischen Wechsel in die Höhe treibt. 
Das dem Inlande zur Verfügung gestellte Kapital muß ja auch nach 
dem Inlande übergeführt, der Preis für die erworbenen inländischen 
Effekten vom Auslande bezahlt werden etc. Letzteres geschieht 
allerdings seitens der Geldgeber schon dadurch, daß inländische 
Wechsel erworben und remittiert werden, oder daß ausländische 
Wechsel überwiesen werden. Dieser Umstand hat aber noch nicht 
zur Folge, daß die Zahlungsbilanz ihren Ausgleich findet. Die 
Kapitalübertragung ist ein effektives Aktivum, welches effektiv 
ausgeglichen werden muß. Dieser Ausgleich kann nun freilich schon 
dadurch beschafft werden, daß der Export des Inlandes zurück- 
geht oder daß Schulden des Inlandes bezahlt werden. Beides ist 
möglich und das erstere liegt durchaus nicht so fern, da ja durch 
das Sinken des Agios der Export erschwert wird. Wenn in Wirk- 
lichkeit der Ausgleich in dieser Weise beschafft wird, dann kann 
natürlich irgend eine günstige Aenderung der Verhältnisse des In- 
landes, welche im stande wäre, eine dauernde Beseitigung des Agios 
herbeizuführen, nicht eintreten. Dann ist die Wirkung der Kapital- 
übertragung mit der Uebertragung selbst vorbei und können sich die 
Verhältnisse nur so, wie bereits dargelegt, gestalten. 

Es ist aber nicht notwendig, daß das geschieht. Das Kapital 
kann vielmehr und wird sogar in der Regel, wenigstens zu einem 
Teile, in der Form von Gütern, also durch effektiven Import, über- 
führt werden. In diesem Falle kommt es darauf an, worin dieser 
Import besteht. Er kann bestehen: entweder in Waren oder in Gold. 
Worin er in Wirklichkeit bestehen wird, hängt davon ab, ob sich in 
dem einen oder in dem anderen Falle für den Importeur die Mög- 
lichkeit einer besseren Verwertung bietet. In dieser Beziehung werden 
sich die Verhältnisse verschieden gestalten, je nachdem bei der Ver- 
minderung der Papiergeldmenge das eingezogene Papiergeld durch 

47* 


740 Otto Heyn, 


anderes Geld oder Geldsurrogate ersetzt ist, oder nicht. Im 
ersteren Falle wird zum mindesten Gold keinen Vorzug ge- 
nießen. Aus der Tatsache des Bestehens des Goldagios an sich folgt 
keineswegs, daß notwendig Gold einströmen muß; denn die übrigen 
Importartikel des Auslandes, also die Waren, müssen an sich ver- 
hältnismäßig gleich hoch im Preise stehen und daher gleich gut ver- 
wertet werden können. Im zweiten Falle, also dann, wenn das ein- 
gezogene Papiergeld nicht ersetzt worden ist, liegt die Sache etwas 
anders. In diesem Falle wird das Gold mehr Nachfrage finden, weil 
die herrschende Geldknappheit eine bessere Verwertung desselben 
als Kapital durch zinsbare Anlage, sei es direkt oder als Notendeckung 
bei den Banken etc., gestattet. In beiden Fällen werden aber zweifel- 
los außer dem Golde auch noch andere Importartikel einströmen. 

Wenn nun Gold einströmt, — wird dann etwa schon dadurch 
das Agio beseitigt? Keineswegs! Wenn das Agio nicht schon mit der 
Verbesserung des Wechselkurses an sich, welche der Kapitalzufluh 
zur Folge hat, verschwindet, so kann es auch durch das Einströmen 
effektiven Goldes nicht beseitigt werden. Der Preis des Goldes im 
Inlande ist ja durch den Kurs der ausländischen Wechsel (soweit 
diese auf Goldwährungsländer lauten) unmittelbar gegeben und kann 
ohne Aenderung desselben, in welcher Weise es auch sei, nicht 
herabgedrückt werden. Nur der Rückexport des Goldes könnte — 
unter neuer Verbesserung der Zahlungsbilanz und des Wechselkurses 
— noch weiter günstig wirken. Es ist aber sehr fraglich, ob ein 
solcher Rückexport vorgenommen werden würde, und selbst wenn 
das geschähe, würde dadurch doch nur vorübergehend geholfen 
werden. In der Regel wird das einströmende Gold lediglich eine 
Vermehrung der Geldmenge hervorrufen, in der Weise, daß es, bei 
den Banken angesammelt, als Unterlage für die Ausgabe von Noten 
oder Checks dient. Dadurch mag dann die schädliche Wirkung, 
welche die Verminderung der Papiergeldmenge ohne Ersatz hervor- 
ruft, nämlich die Kreditbeschränkung, verhütet bezw. wieder be- 
seitigt und im besten Falle der Kredit noch etwas verbilligt werden. 

Wird, wie gewöhnlich, nicht Gold allein, sondern werden auch 
mehr Waren importiert, so wird das eine günstige Wirkung dann 
haben, wenn diese Waren nicht in Konsumartikeln, sondern in Pro- 
duktionsmitteln bestehen und wenn diese letzteren von inländischen 
oder ausländischen Unternehmern zur Hebung der inländischen Pro- 
duktion, vor allem zur Produktion von Exportartikeln und von 
Importartikeln, verwendet werden. Geschieht das wirklich, so muß 
nun in der Tat eine Besserung, und zwar eine dauernde Besse- 
rung eintreten. Vor allem wird, worauf es ja in erster Linie ankommt, 
auf den Export günstig eingewirkt werden. 

Das Gleiche muß geschehen, wenn sich abgesehen von diesem 
Falle, sei es das zufließende ausländische Kapital, sei es inländisches 
Kapital, welches etwa durch den Verkauf von Effekten an das Aus- 
On ret wird, der Produktion von Export- oder Importartikeln zu- 
wendet. 


Kritische Erörterung des Projekts der Beseitigung des Goldagios in Spanien. 741 


Einer derartigen Anlage von Kapital steht aber der Umstand 
entgegen, daß bei dem Sinken des Agios, da dieses den Export er- 
schwert und den Import erleichtert, die Produktion von Export- und 
Importartikeln und folglich auch die Anlage von Kapital in solcher 
Produktion nicht vorteilhaft ist. Die Produktionsbedingungen 
des Inlandes, vor allem die Preise der Produktionsanlagen und des 
Grund und Bodens, sind eben dem Agio angepaßt, so daß sie 
nur bei dem Fortbestehen des Agios einen rentablen Be- 
trieb gestatten. Sinkt das Agio und werden infolgedessen niedrigere 
Preise für Export- und Importartikel erzielt, so bringt der Betrieb 
nicht mehr den erforderlichen Nutzen. Ja, es wird nicht nur kein 
Nutzen erzielt, sondern die Produzenten werden in hohem Maße ge- 
ER Diese Aussicht kann aber natürlich nicht verlockend 
wirken. 

Nehmen wir z. B. einmal an, das spanische Goldagio, welches 
jetzt ca. 35 Proz. beträgt, werde beseitigt, der Kurs der spanischen 
Peseta von ca. ?/, frc. wie jetzt auf 1 frc. gehoben. Dann erhält der 
spanische Exporteur für Waren im Werte von 100 fres., die er im 
Auslande verkauft, nicht mehr wie jetzt 135 Pesetas, sondern nur 
noch 100 Pesetas. Auf der anderen Seite erhält der ausländische 
Importeur, wenn er für 135 Pesetas Waren in Spanien verkauft, 
nicht mehr wie früher nur 100 fres., sondern 135 fres. Er wird daher 
— unter dem Drucke der Konkurrenz — seinen Preis auf 100 Pe- 
setas herabsetzen. Dadurch zwingt er den spanischen Produzenten, 
das Gleiche zu tun. Infolge dessen wird bei der Produktion von 
Export- und Importartikeln in Spanien jetzt allgemein ein um 25 Proz. 
geringerer Erlös erzielt. Die Produktionskosten gehen aber nicht 
in dem gleichen Maße zurück, geschweige denn noch mehr, wie es 
erforderlich wäre, um für den Rückgang des Erlöses Ersatz zu 
bieten. Import- und Exportartikel, die als Rohstoffe oder als Ma- 
schinen etc. bei der Produktion gebraucht werden, sind allerdings 
jetzt um 25 Proz. billiger zu beschaffen. Die Löhne aber gehen 
nicht ohne weiteres zurück und können auch nicht etwa in Anbe- 
tracht der Verbilligung der Export- und Importartikel und der da- 
durch herbeigeführten Verbilligung des Lebensunterhalts der Arbeiter 
entsprechend, d. h. ebenfalls um 25 Proz., herabgesetzt werden; denn 
die Arbeiter konsumieren nicht ausschließlich Export- und Import- 
artikel, sondern außerdem noch viele andere Dinge, deren Preise 
wenig oder garnicht affiziert werden. Zinsen und Steuern endlich 
und wahrscheinlich auch die Mieten bleiben dieselben. 

Bei dieser Sachlage müssen vor allem die land wirtschaftlichen 
Produzenten, soweit sie exportfähige Produkte herstellen oder mit 
den Importeuren konkurrieren, stark geschädigt werden; denn deren 
Produktionskosten bestehen ja in der Hauptsache in Zinsen und 
Steuern und, soweit sie nicht einfache Bauern sind, die ohne fremde 
Hilfe wirtschaften, in Löhnen, die nicht oder doch nicht in gleichem 
Maße wie der Erlös zurückgehen. Es erleiden aber auch die In- 
dustriellen Verluste, da deren Produktionskosten im günstigsten 


742 Otto Heyn, 


Falle nur hinsichtlich der Ausgaben für die etwa verarbeiteten Roh- 
stoffe, für Maschinen und einzelne Hilfsstoffe, nicht aber auch im 
übrigen ebenso stark wie der Erlös, d. h. um 25 Proz., ermäligt 
werden. 

Wenn aber derartige Verluste bei der Produktion von Export- 
und Importartikeln in Aussicht stehen — wie sollte sich dann das 
zufließende ausländische Kapital oder etwa dasjenige inländische 
Kapital, welches durch den Verkauf von Effekten nach dem Auslande 
frei geworden ist, veranlaßt finden, sich dieser Produktion zuzu- 
wenden ? 

Unter diesen Umständen ist auch infolge dessen, daß das dem In- 
lande zufließende Kapital effektiv übertragen werden mul, eine 
wesentliche Aenderung nicht zu erwarten. Dann aber kann die gün- 
stige Kapitalbewegung im wesentlichen nur so lange wirken, als sie 
dauert, und da nicht zu erwarten ist, daß fort und fort neues Kapital 
zufließt, so kann diese Wirkung nur eine vorübergehende sein. 


Wir haben bisher lediglich die direkte Folge einer Verminde- 
rung der Menge des Papiergeldes oder vielmehr eigentlich die Folge 
der Aufstellung und des Versuches der Durchführung des Projekts 
der Beseitigung des Agios unter Anwendung dieses Mittels in Be- 
tracht gezogen. Es ist aber noch Folgendes zu beachten. 

Die Verminderung der Papiergeldinenge führt, wie früher dar- 
gelegt, wenn das eingezogene Papiergeld unersetzt bleibt, zu einer 
Beschränkung des Kredits. Hierdurch wird in der Regel 
ebenfalls eine günstige Kapitalbewegung hervorgerufen. 
Durch die Beschränkung des Kredits wird nämlich die inländische 
Spekulation gezwungen, ihre Operationen einzustellen oder doch 
stark zu reduzieren. Wenn nun bisher eine Spekulation in der 
Weise stattfand, daß dadurch dem Auslande Kapital zugeführt wurde, 
sei es, daß an ausländischen Börsen spekuliert wurde und dort 
Deckung beschafft werden mußte, sei es, daß eine Spekulation im 
Inlande, aber in ausländischen Werten stattfand, sei es, daß nur zur 
Ausnutzung von Diskontdifferenzen ausländische Wechsel oder aus- 
ländische Effekten gehalten wurden (was in Spanien früher möglich 
war und geschah), so muß die Beschränkung des Kredits zur Folge 
haben, daß dieses im Auslande befindliche bezw. dem Auslande zur 
Verfügung gestellte Kapitalzurückfließt. Geschieht das, so müssen 
sich hieraus die gleichen Konsequenzen ergeben wie dann, wenn die 
Verminderung der Papiergeldmenge, bezw. wenn das Projekt der 
Beseitigung des Agios einen Zufluß ausländischen Kapitals veran- 
laßt. Solange der Rückfluß währt, wird hierdurch natürlich die 
Wirkung des Zuflusses ausländischen Kapitals noch verstärkt. Wir 
haben aber bereits gesehen, daß auf diese Weise eine dauernde Be- 
seitigung des Agios nicht möglich ist, wenn nicht die Produktion 
beeinflußt wird, und daß letzteres unter den bestehenden Verhält- 
nissen nicht erwartet werden kann. 

Außer dieser Konsequenz tritt nun aber noch eine andere ein. 


Kritische Erörterung des Projekts der Beseitigung des Goldagios in Spanien. 743 


Die Einstellung der Spekulation hat nicht nur zur Folge, daß das 
spekulativ beschäftigte Kapital zurückfließt, sondern auch, daß 
kein Kapital mehr in dieser Veranlassung abfließt. 
Durch dieses Aufhören des früheren Abflusses von Kapital wird be- 
wirkt, daß die Zahlungsbilanz nicht mehr durch einen solchen Ab- 
fluß belastet, die Nachfrage nach ausländischen Wechseln entsprechend 
vermindert wird. Infolgedessen muß (so lange die Spekulation ein- 
gestellt bleibt!) eine dauernde Besserung eintreten. 

Die Bedeutung dieses Umstandes ist aber nicht zu überschätzen. 
Zunächst liegt die Sache nicht etwa so, daß die Zahlungsbilanz 
dauernd um ebensoviel verbessert, die Nachfrage nach ausländischen 
Wechseln dauernd um ebensoviel vermindert wird, als der Betrag 
der ganzen Summe desjenigen Kapitals ausmacht, welches bisher in 
der angegebenen Weise spekulativ beschäftigt war und nun aufhört, 
in dieser Weise beschäftigt zu sein. Letztere Annahme liegt durchaus 
nicht so fern. Zum wenigsten könnte man meinen, daß eine Ver- 
besserung um diesen ganzen Betrag in dem Falle stattfindet, wenn 
bisher eine Anlage in ausländischen Wechseln stattgefunden hatte. 
In diesem Falle mußte ja der Spekulant früher bei Verfall der 
Wechsel jedesmal von neuem auf dem Wechselmarkte erscheinen, 
um von neuem nach Wechseln Nachfrage zu halten, und das hört 
jetzt, mit der Einstellung der Spekulation, auf. Eine derartige Auf- 
fassung wäre aber unrichtig. Wenn inländisches Kapital in aus- 
lündischen Werten, speziell in ausländischen Wechseln angelegt wird, 
So hat das eine Belastung der Zahlungsbilanz und eine Vermehrung 
der Nachfrage nach auslündischen Wechseln nur in dem Augenblicke 
zur Folge, in welchem diese Anlage zum ersten Male stattfindet. 
Werden bei einer Anlage in Wechseln bei deren Verfall neue 
Wechsel erworben, so wird die dadurch kreierte neue Nachfrage 
durch das Angebot des Betrages der verfallenden Wechsel kom - 
pensiert. Im Resultate wird das Verhältnis zwischen Angebot und 
Nachfrage nach auslündischen Wechseln ebensowenig beeinflufit, wie 
wenn einfach eine Prolongation der zuerst gekauften Wechsel statt- 
findet. Ist das aber der Fall dann hat das Aufhóren dieser 
Spekulation auch nicht zur Folge, daß die Zahlungsbilanz dauernd 
um den ganzen Betrag verbessert, die Nachfrage nach auslündischen 
Wechseln dauernd um den ganzen Betrag vermindert wird, der so 
angelegt war. 

In Wirklichkeit tritt eine Verbesserung nur um denjenigen 
Betrag ein, der in der letzten Zeit, im letzten Jahre, in 
dieser Weise abfloß. Das ergibt sich aus dem Folgenden. Für das 
in jedem Jahre neu abfließende, also neu in Auslandsspekula- 
tionen angelegte Kapital mußte bisher in jedem Jahre ein Aequi- 
valent beschafft werden. Das geschah in der Weise, daß durch das 
Steigen des Kurses der ausländischen, bezw. durch das Sinken des 
Kurses der inländischen Wechsel, welches der Kapitalabfluß mit seiner 
Steigerung der Nachfrage nach ausländischen Wechseln zur Folge 
hatte, eine Zunahme des hierdurch erleichterten Exports und außer- 


744 Otto Heyn, 


dem vielleicht auch eine Abnahme des gleichzeitig erschwerten Im- 
ports herbeigeführt wurde, bis das Aequivalent des Kapitalabflusses 
beschafft war. Bei dieser Sachlage ist der derzeitige Stand des 
Wechselkurses derart, daß er unter den gleichen Verhältnissen wie 
in dem letzten Jahre einen Kapitalabfluß von der Größe des letzt- 
jährigen in jedem Jahre gestattet, d. h. es sind genügend Activa 
vorhanden, um neben den übrigen Passiven einen Kapitalabfluß von 
der Größe des letztjährigen zu decken. Hört nun der Kapitalabfluß 
auf, so wird jetzt die Passivseite entsprechend entlastet. Die Activa 
bleiben aber zunächst gleich, da Export und Import bei gleichem 
Kurse unverändert bleiben. Infolgedessen stellt sich nunmehr die 
Zahlungsbilanz um den Betrag des weggefallenen Kapitalabflusses 
günstiger und wird die Nachfrage nach ausländischen Wechseln bei 
gleichbleibendem Angebot um diesen Betrag verringert. Unter 
solchen Umständen muß nun aber der Kurs der ausländischen 
Wechsel sinken und dementsprechend der Kurs der inländischen 
Wechsel steigen — bis entweder durch den hierdurch veranlaßten 
Rückgang des nunmehr erschwerten Exports oder durch die Zunahme 
des nunmehr erleichterten Imports für den Wegfall des durch den 
Kapitalabfluß des letzten Jahres dargestellten Passivpostens ein 
effektiver Ausgleich beschafft ist. In dieser günstigeren Lage muß 
sich der Kurs unter übrigens gleichen Umständen dauerndhalten, 
so daß das Agio dauernd auf dem erreichten niedrigeren Stande 
verbleibt. 

Wie groß diese Besserung ist, bezw. um wieviel auf diese Weise 
das Agio ermäßigt wird, hängt natürlich davon ab, wie groß der 
spekulative Kapitalabfluß im letzten Jahre war. Das letzte Jahr 
ist maßgebend, weil sich wenigstens der Export in Jahresperioden 
vollzieht und mit der Ernte sich in jedem Jahre erneut. Es kommt 
also darauf an, wieviel inländisches Kapital im letzten Jahre unter 
Benutzung von Kredit in der Auslandsspekulation neu angelegt 
worden ist. Sehr bedeutend wird diese Summe in der Regel nicht 
sein, da es sich nur um den Zuwachs der durch Kreditertei- 
lung ermöglichten Spekulation handelt. Deshalb ist auch eine 
bedeutende dauernde Besserung des Kurses nicht zu erwarten. 

Es kommt nun aber weiter in Betracht, daß die Spekulation in 
der Regel nur vorübergehend eingestellt wird. In der 
Regel wird nämlich die Ursache für diese Einstellung, die Be- 
schränkung des Kredites, nach kürzerer oder längerer Zeit wieder 
wegfallen. Das ergibt sich, wenn man beachtet, daß die zunächst 
eintretende günstige Kapitalbewegung, da das zufließende Kapital 
effektiv übertragen werden muß, in der Regel, wie bereits ausgeführt, 
einen Import von Gold zur Folge hat, dessen monetäre Verwendung 
die Aufhebung der Kreditbeschränkung ermöglicht und herbeiführt. 
Ist aber die Kreditbeschränkung aufgehoben, dann kann und wird 
die Spekulation wieder beginnen. Dann wird der Kapitalabfluß von 
neuem einsetzen; es muß von neuem ein Gegenwert für denselben 
beschafft werden, und um das zu ermöglichen, wird — unter übrigens 
gleichen Umständen — der Kurs der inländischen Wechsel von neuem 


Kritische Erörterung des Projekts der Beseitigung des Goldagios in Spanien. 745 


sinken, das Agio von neuem steigen, weil anderenfalls der Export 
nicht genügend ausgedehnt, der Import nicht genügend eingeschränkt. 
werden würde. 

Bei dieser Sachlage kann auch aus dem Grunde, daß die Kredit- 
beschränkung eine Einstellung der inländischen Spekulation im Aus- 
lande bezw. in ausländischen Werten veranlaßt, eine dauernde, 
für alle Zukunft wirksame Besserung nicht eintreten. 

Ebenso wie die Einstellung einer auf Kredit aufgebauten Spe- 
kulation in ausländischen Werten etc. müßte natürlich auch die Ein- 
stellung einer mit eigenen Mitteln unternommenen Spekulation dieser 
Art wirken. Diese Eventualität brauchen wir aber hier nicht weiter 
ins Auge zu fassen. Zunächst wird es selten vorkommen, daß eine 
derartige Spekulation ohne Inanspruchnahme von Kredit gemacht 
wird. Wenn das aber doch geschehen sein sollte, so fehlt die Ver- 
anlassung zu deren Einstellung, weil der Spekulant mit eigenen 
Mitteln durch die Kreditbeschränkung nicht berührt wird. 


Wie das Aufhören eines Kapitalabflusses wegen Einstellung der 
Spekulation, so muß natürlich auch das Aufhören eines Kapital- 
abflusses aus anderen Gründen wirken. Zunächst das Aufhören einer 
etwaigen Kapitalflucht nach dem Auslande. Dieser Fall wird aber 
nicht eintreten; denn zu einer Zeit, in der die Wiederherstellung des 
Parikurses in Betracht gezogen wird, dürfte eine Kapitalflucht (Fort- 
schaffung inländischen bezw. Zurückziehen ausländischen Kapitals), 
wenn eine solche überhaupt stattgefunden hatte, längst aufgehört 
haben, da dann die Periode des Mißtrauens, welches hierzu Ver- 
anlassung gibt, vorüber ist. Die günstige Wirkung dieses Umstandes 
muß deshalb schon in dem derzeitigen Kurse zum Ausdruck ge- 
kommen sein. Abgesehen von diesem Falle kann noch die Eventualität 
in Betracht kommen, daß ein bis dahin stattgehabter Erwerb in- 
ländischer Effekten aus dem Auslande, die „Repatriierung“ der- 
selben, aufhört. Hierzu liegt aber keine Veranlassung vor. Im 
Gegenteil, wenn das inländische Kapital früher schon einen derartigen 
Erwerb vorgenommen hatte, so wird es jetzt, unter dem Eindrucke 
des Projektes der Beseitigung des Agios, an dessen Durchführung 
ja so große Hoffnungen geknüpft werden, nicht davon ablassen, 
sondern in der Erwartung einer bedeutenden Besserung der in- 
ländischen Verhältnisse, welche ja auch eine erhebliche Steigerung 
des Kurses dieser Effekten zur Folge haben müßte, viel eher seine 
Erwerbungen noch vergrößern. Es könnte nur eine Wiederveräuße- 
rung der bereits im Kurse gestiegenen Effekten nach dem Auslande 
in Frage kommen. In diesem Falle würde aber lediglich ein Zufluß 
von Kapital aus dem Auslande eintreten und dieser Umstand ist 
schon früher berücksichtigt worden. 


3. Die einzige Möglichkeit einer nicht nur vorüber- 
gehenden Beseitigung des Agios. 


Nach den vorausgehenden Erörterungen ist es scheinbar aus- 
geschlossen, daß die Verminderung der Papiergeldmenge zu der 


746 Otto Heyn, 


dauernden Beseitigung eines bestehenden Goldagios führt. Und 
doch kann dieser Fall eintreten. Das geschieht, wenn zunächst durch 
eine günstige Kapitalbewegung, die ja in der Regel entsteht, oder 
aber durch das direkte Eingreifen der Spekulation in Wechseln (oder 
Noten) der Kurs auf Pari gehoben wird und wenn dann im 
Inlande eine Krise ausbricht, welche mit den nun stattfindenden 
Liquidationen und Konkursen durch die Entwertung der 
vorhandenen Produktionsanlagen und des Grund und 
Bodens sowie durch die Beseitigung der auf denselben 
ruhenden Zinslasten auf Kosten der bisherigen Besitzer und 
der — im Konkurse ausfallenden — Hypotheken- und sonstigen 
Gläubiger die Produktionsbedingungen des Inlands dem 
Parikurse anpaßt. Geschieht das, so wird damit das Hindernis 
beseitigt, welches bis dahin der produktiven Anlage ausländischen 
und inländischen Kapitals in der inländischen Produktion, speziell 
in der Produktion von Export- und Importartikeln, entgegenstand, 
und wird es zum wenigsten neuen Unternehmern ermöglicht, unter 
billigem Ankauf der vorhandenen Produktionsanlagen und des für neue 
Betriebe erforderlichen Grund und Bodens trotz der ungünstigeren 
Gestaltung der Bedingungen des Auslandsverkehrs, d. h. trotz der 
Erschwerung des Exports und der Erleichterung des Imports durch 
die Beseitigung des Agios, einen neuen rentablen Betrieb zu be- 
ginnen. Vor allem kann dann der Export trotz seiner Erschwe- 
rung in dem bisherigen Umfange aufrechterhalten und, wie es 
erforderlich ist, noch ausgedehnt werden. Damit sind dann aber die 
Voraussetzungen geschaffen, um den durch die günstige Kapital- 
bewegung bezw. durch die Wechselspekulation zunächst vorüber- 
gehend hergestellten Parikurs dauernd in dieser Höhe zu erhalten, 
auch dann, wenn der Zufluß von Kapital aufhört und damit dieses 
außerordentliche Aktivum der Zahlungsbilanz wegfällt. Während 
der Ucbergangszeit — so lange, bis die erwähnte Anpassung der 
Preise vollendet ist — stockt freilich zunächst die Produktion und der 
Export geht zurück, während der Import vielleicht trotz der ge- 
schwächten Kaufkraft der Bevölkerung noch zunimmt. Damit tritt 
eine Verschlechterung der Zahlungsbilanz ein und wird die Erhaltung 
des eben hergestellten Parikurses gefährdet. Ueber diese Ueber- 
gangszeit muß daher der Kapitalzufluß noch hinweghelfen. Unter 
Umständen mag aber ein gewisser Ausgleich auch dadurch geschaffen 
werden, daß infolge der Krise die Zinsen und Dividenden auf das 
im Inlande produktiv angelegte ausländische Kapital ausfallen 
oder doch zurückgehen. 

Daß alle diese Bedingungen sich leicht erfüllen, kann gewiß nicht 
behauptet werden. 

Zunächst wird es, wenigstens bei hohem Agio, sehr zweifelhaft 
sein, ob eine hinreichend starke Kapitalbewegung entsteht, d. h. ob 
genügend ausländisches Kapital herangezogen wird oder inländisches 
Kapital zurückfließt, oder ob wenigstens die Spekulation in hin- 
reichendem Maße eingreift, um den Kurs auf Pari zu heben. In 


Kritische Erörterung des Projekts der Beseitigung des Goldagios in Spanien. 747 


Zeiten, in denen der Optimismus herrscht, mag das gelingen. Bei 
kritischer Lage aber dürfte, wenn nicht etwa ein besonders starker 
Rückfluß spekulativ beschäftigten inländischen Kapitals durch die 
Kreditbeschränkung erzwungen wird, das Gegenteil wahrscheinlicher 
sein. Die Anlage von Kapital im Inlande ist ja für den Ausländer, 
wenigstens dann, wenn er nicht Goldforderungen erwirbt, zunächst 
noch mit einem bedeutenden Risiko verknüpft, die Anlage in der 
Produktion, solange die Anpassung noch nicht vollzogen ist, sogar 
direkt verlustbringend, und der Erwerb inländischer Wechsel ist in 
dieser Zeit, wenigstens in den späteren Stadien (wenn der Kurs 
schon erheblich gestiegen ist), ebenfalls mit einem großen Risiko 
verbunden. Dieses Risiko muß aber — und ganz besonders bei 
pessimistischer Gesamttendenz — abschreckend wirken. 

Wenn trotzdem die Hebung auf Pari gelingt, so wird es immer 
noch zweifelhaft sein, ob die Anpassung der Produktionsbedingungen 
des Inlands an den Parikurs erfolgt. Zunächst fragt es sich, ob 
genügend Papiergeld eingezogen wird und ob das eingezogene un- 
ersetzt bleibt, um den Eintritt der Anpassungskrise zu ermöglichen. 
Trifft das zu, dann wird allerdings die Anpassung, falls man nur 
den Dingen ihren Lauf läßt, mit Sicherheit eintreten. Denn dann 
muß einerseits infolge der hiermit geschaffenen Geldknappheit, welche 
die Möglichkeit der Krediterteilung beschränkt, anderer- 
seits infolge der Beseitigung des Agios, welche — mit der Authebung 
der Rentabilität aller vom Außenhandel abhängigen Produktions- 
betriebe — die Kreditunterlagen entwertet, eine Krise ent- 
stehen, welche jene Anpassung nach der Methode des Prokustes 
„leicht und sicher“ vollzieht. Das erforderliche Kapital, um die 
Produktionsanlagen wieder in Betrieb zu setzen, wird sich finden; 
denn nach der Anpassung bietet sich ja jetzt hier eine gute Ge- 
legenheit zu vorteilhafter Anlage. Es fragt sich aber, ob man den 
Dingen wirklich ihren Lauf läßt; ob das Land nicht Einspruch er- 
hebt, wenn es sich zeigt, welche Opfer die Ausführung des Projektes 
kostet; ob nicht die Volksstimmung angesichts des Ruins so vieler 
Existenzen, welche die Krise, wenigstens dann, wenn das Agio hoch 
war, jedenfalls herbeiführt, die Regierung zwingt, von ihrem Plane 
abzustehen und mit der Ausgabe neuen Papiergeldes die Anpassungs- 
krise wieder zu beseitigen. Es fragt sich ferner, ob nicht das aus- 
ländische Kapital nach dem Ausbruch der Krise, welche ja die wirt- 
schaftliche Lage des Inlands vorübergehend stark verschlechtert, 
hierdurch abgeschreckt, sich zurückzieht oder wenigstens aufhört, 
zuzufließen. Schon letzteres allein würde ja aber genügen, um die 
Wiederkehr des Agios zu bewirken; denn dann wäre es ausge- 
schlossen, daß das infolge der Stockung der Produktion während der 
Anpassungskrise entstehende Manco der Handelsbilanz anderweitig 
gedeckt würde. 

Bei dieser Sachlage müssen die Aussichten für das Gelingen 
einer nicht lediglich vorübergehenden Wiederherstellung des Pari- 
kurses, wenigstens bei hohem Agio, im allgemeinen als sehr gering 
bezeichnet werden. 


748 Otto Heyn, 


4. Bedingungen fürdiedauerndeErhaltungdes wieder- 
hergestellten Parikurses. 


Die Erhaltung des Parikurses im Falle der Wiederherstellung 
ist nur dann möglich, wenn es gelingt, die Zahlungsbilanz des Inlands 
so zu gestalten, daß Aktiva und Passiva bezw. Forderungen und 
Schulden und dementsprechend Angebot und Nachfrage auf dem 
Wechselmarkte auf der Basis des Parikurses dauernd 
ihren Ausgleich finden. Diese Bedingung muß insbesondere 
auch für den Fall zutreffen, daß die günstige Kapitalbewegung auf- 
hört und das darin bestehende außerordentliche Aktivum der Zah- 
lungsbilanz wegfällt; denn der Kapitalzufluß kann ja nicht ewig 
dauern und jedenfalls darf ein Land sich darauf nicht verlassen. 

Die Erfüllung dieser Bedingung ist, wie schon die früheren Aus- 
führungen ergeben, nur dann möglich, wenn sich der Waren- 
handel mit dem Auslande dem Parikurse anpaßt. 

Einer eigentlichen Verbesserung der Handelsbilanz, 
d. h. einer Verschiebung von Export und Import zu Gunsten des 
ersteren, sei es durch eine Vergrößerung des Exports, sei es durch 
eine Verringerung des Imports im Vergleich mit den Zeiten des 


Agios, bedarf es dazu — wenn wir von der regelmäßigen Zunahme 
des Imports und von einigen speziellen Momenten, die später erörtert 
werden sollen, absehen — nicht. An sich genügt es vollständig, 


wenn Export und Import trotz der eingetretenen Umgestaltung der 
Bedingungen des Außenhandels, d. h. trotz der Erschwerung des 
Exports und trotz der Erleichterung des Imports durch die Beseiti- 
gung des Agios, in ihrer Größe oder doch per Saldo gleich 
bleiben. Eine Verbesserung der Handelsbilanz würde nötig 
gewesen sein, um den Kurs auf Pari zu heben, weil es dazu einer 
Vergrößerung der Nachfrage oder einer Verminderung des Angebots 
inländischer Wechsel bedarf. Ist aber diese Hebung (durch den 
Kapitalzufluß) bereits vollzogen und der Parikurs erreicht, so bedarf 
es, um den Paristand zu erhalten — von den erwähnten spe- 
ziellen Momenten abgesehen — nur dessen, daß die Handelsbilanz 
sich nicht verschlechtert. Das Land ist ja früher, als das 
Agio noch bestand, nichts schuldig geblieben. Wenn nun der Ex- 
port damals ausreichte, um außer dem Import den etwaigen Passiv- 
saldo der sonstigen Verbindlichkeiten zu bezahlen, so muß das — 


unter übrigens gleichen Umständen — auch nach der Herstellung 
des Parikurses noch möglich sein. Unter übrigens gleichen Um- 
stinden darf der Export nur nicht abnehmen — trotz seiner 


Erschwerung durch die Beseitigung des Agios. 

In Wirklichkeit bleiben nun aber die Umstände nicht gleich. 
Zunächst wird in der Regel der Import, der ja durch die Be- 
seitigung der Agios mehr oder weniger bedeutend erleichtert wird, 
zun eh men. Wenn auch die inländischen Produzenten, nachdem ihre 
Produktionsbedingungen durch die Krise dem Parikurse angepaßt 
sind, den Importeuren gegenüber jetzt durchaus konkurrenzfähig sind 


Kritische Erörterung des Projekts der Beseitigung des Goldagios in Spanien. 749 


und daher nicht mehr vom Markte verdrängt werden, so wird doch 
möglicherweise trotzdem der Import zunehmen, weil der billigere 
Preis der Importartikel neue Käufer heranzieht. Sicher ist das 
freilich nicht, weil durch die Krise die Kaufkraft des Inlandes ge- 
schwächt ist, aber mit der Möglichkeit muß gerechnet werden. So- 
dann verlangt das zugeflossene ausländische Kapital Zinsen und Divi- 
denden und fallen, wenn inländisches Kapital aus dem Auslande zu- 
rückgezogen ist, Zinsen- und Dividendenforderungen an das Ausland 
fort. Dem gegenüber werden freilich infolge der ausgebrochenen Krise, 
soweit ausländisches Kapital investiert war, auch Zinsen- und Divi- 
dendenforderungen des Auslandes fortfallen. Es ist aber zu berück- 
sichtigen, daß einzelne Unternehmungen, denen sich ausländisches 
Kapital mit Vorliebe zuwendet, z. B. Eisenbahnunternehmungen, viel- 
leicht jetzt erst in die Lage kommen, mit Nutzen zu arbeiten und 
auf ihre Obligationen und Aktien Zinsen bezw. Dividenden zu be- 
zahlen, während das früher bei dem hohen Agio nicht möglich war. 
Deshalb wird sich per Saldo doch wahrscheinlich ein Passivum er- 
geben. 

Man könnte nun meinen, daß dadurch eine Kompensation ge- 
schaffen würde, daß die Bezahlung der Goldschulden an das 
Ausland nach der Beseitigung des Agios weniger inländisches Geld 
kostet. Das wäre aber ein Irrtum. Inländisches Geld wird ja nicht 
ausgeführt, um Schulden im Auslande zu bezahlen. Letzteres ge- 
schieht vielmehr — wenn wir von dem Dazwischentreten der Wechsel 
absehen — durch die Ausfuhr von Waren. Wieviel Waren aus- 
geführt werden müssen, um eine bestimmte Goldschuld zu bezahlen, 
richtet sich nach den im Auslande geltenden Preisen. Diese Preise 
aber werden durch die Beseitigung des inländischen Agios nicht oder 
doch nur ausnahmsweise berührt!) Im allgemeinen wird daher die 
zur Tilgung der gleichen Goldschuld erforderliche Warenmenge gleich 
bleiben. Im Gegensatz hierzu verlangt aber die Bezahlung von 
Schulden in inländischer Währung an das Ausland (z. B. der 
Zinsen auf spanische Intérieurs, die im Auslande gehalten werden) 
nach der Beseitigung des Agios sogar eine gró Bere Warenausfuhr, 
weil die inländische Valuta jetzt einen größeren Goldwert besitzt und 
daher mehr Gold aufgewendet werden muß, um die gleiche Schuld- 
summe zu bezahlen. 

Bei dieser Sachlage ist es zur Erhaltung des Parikurses er- 
forderlich, daß der inländische Exportnoch zunimmt, und zwar um 
so viel, als nötig ist, um einerseits den etwaigen Mehrimport, anderer- 
seits die Zinsen und Dividenden auf das neu zugeflossene ausländische 
Kapital und die Agiodifferenz auf die Zinsen etc. der im Auslande 
gehaltenen inländischen, auf inländische Währung lautenden Effekten 
zu bezahlen. Das muß wenigstens dann geschehen, wenn der Zufluß 
von Kapital aus dem Auslande aufhört, und von diesem Zeitpunkte 
an beginnend. 


1) Vergl. hierüber unten Abschnitt III. 


750 Otto Heyn, 


Eine derartige Vergrößerung des Exports ist nun, nachdem durch 
die stattgehabte Krise die Produktionsbedingungen des Inlandes dem 
Parikurse angepaßt sind und die ursprüngliche Geldknappheit durch 
den Zufluß von Gold wieder beseitigt ist, mit Hilfe des eingeströmten 
ausländischen Kapitals in der Regel wohl zu erreichen. Allerdings 
wird die landwirtschaftliche Produktion in der Regel sogar noch ein- 
geschränkt werden, da nunmehr der Anbau des schlechtesten Bodens, 
der zur Zeit des Agios zwar keine Rente gab, aber doch die Arbeit 
lohnte, unter übrigens gleichen Umständen eingestellt werden muß. 
Es wird aber in vielen anderen Branchen eine Ausdehnung der Pro- 
duktion stattfinden können. Unter allen Umständen wird eine Ver- 
größerung des Exports dann eintreten, wenn etwa mit dem ein- 
strömenden ausländischen Kapital Eisenbahnen gebaut und dadurch 
neue reiche Produktionsgebiete dem Auslandsverkehr erschlossen 
werden. Wird durch besondere Maßregeln, z. B. durch die Ein- 
führung oder Erhöhung von Zöllen, der Import erschwert, dann 
bedarf es natürlich nur einer geringeren Vergrößerung des Exports. 
Kann der Import trotz seiner Erleichterung durch die Beseitigung 
des Agios auf diese Weise noch gegenüber dem status quo ver- 
mindert werden, so genügt möglicherweise das allein schon, um 
den Ausgleich zu beschaffen, und bedarf es einer Vergrößerung des 
Exports überhaupt nicht. Der letztere Fall wird aber sehr selten 
eintreten. 


5. Ergebnis. Die Erfahrungen Italiens. 


Nach den vorstehenden Ausführungen ist es in der Tat möglich, 
daß die Verminderung der Papiergeldmenge die Beseitigung eines 
bestehenden Agios und die Wiederherstellung des Parikurses nicht 
nur vorübergehend, sondern auf die Dauer herbeiführt.. Das kann 
aber nicht ohne weiteres geschehen und geschieht nicht etwa deshalb, 
weil das Papiergeld im Inlande infolge der Verminderung seiner 
Menge einen höheren Wert erlangt, sondern es geschieht nur dann, 
wenn der Auslandsverkehr, und wenn vor allem die Produktion im 
Inlande entsprechend beeinflußt wird. Eine Kreditkrisis, die not- 
wendigerweise zahlreiche wirtschaftliche Existenzen vernichtet, muß 
die Produktionsbedingungen des Inlandes dem Parikurse anpassen 
und eine Reihe anderer Bedingungen, die wir aufgeführt haben, muß 
erfüllt sein. Daß aber alle diese Bedingungen zutreffen, ist, wenigstens 
bei hohem Agio, aus verschiedenen Gründen, u. a. auch mit Rück- 
sicht auf die Opposition der durch die Krise geschädigten Besitzer- 
klassen, sehr zweifelhaft. 

Wie unsicher es ist, daß die Verminderung der Menge des Papier- 
geldes die dauernde Beseitigung eines bestehenden Agios herbeiführt 
— selbst dann, wenn noch andere Maßnahmen, speziell die direkte 
Heranziehung einer bedeutenden Menge ausländischen Kapitals auf 
dem Wege der Anleihe, hinzukommen — beweisen u. a. die Er- 
fahrungen Italiens nach 1850. In Italien verschwand — offenbar 
infolge einer günstigen Kapitalbewegung — das Agio, oder es ging 


Kritische Erörterung des Projekts der Beseitigung des Goldagios in Spanien. 751 


doch von 13,5 Proz. auf 2,15 Proz. zurück, als im November 1880 
der Gesetzentwurf, betreffend die Wiederaufnahme der Barzahlung, 
eingebracht (!) wurde. In den folgenden Jahren, in denen die An- 
nahme des Gesetzes (7. April 1881) und der Beginn der Durchfüh- 
rung desselben noch günstig auf die Stimmung wirken mußten und 
vor allen Dingen eine große Auslandsanleihe viel Kapital (490 Mill. 
fres.) vom Auslande heranzog, hielt es sich niedrig: 1881 auf 0,35 
bis 3,10, 1882 auf 0,80— 5,90, 1883 auf 0,25—1,65 Proz. Dann aber 
stieg es wieder. Bald nach 1883 betrug es 3—4 Proz. In den 
folgenden Jahren nahm es immer mehr zu, bis es 1893 wieder ebenso 
hoch stand wie früher, nämlich auf 12—14 Proz. wie zu Anfang 1880). 
Die Verminderung der Papiergeldmenge, welche inzwischen durch- 
geführt war, hatte also nichts genützt. Italien hatte — zum Glück 
für die damaligen Besitzer der Produktonsanlagen und des Grund 
und Bodens — nichts erreicht und nur die Vergrößerung seiner 
Zinsschuld an das Ausland um 30 Mill. fres. pro Jahr erinnerte noch 
an diesen mißglückten Versuch einer Wiederherstellung des Pari- 
kurses auf operativem Wege. Nachdem dann im Jahre 1894 der 
Zwangskurs offiziell wiedereingeführt und 260 Mill. Lire Staats- 
noten neu ausgegeben waren, ging das Agio — infolge der 
Verbesserung der wirtschaftlichen Lage des Landes und seines Ex- 
ports — allmählich zurück, trotz der Vermehrung der Menge 
des Papiergeldes, und jetzt ist es ganz verschwunden, ohne 
daß die Menge des Papiergeldes vermindert worden 
wäre! 


IIl. Ist es möglich und liegt es im Interesse Spaniens, 
das Goldagio zu beseitigen? 


1. Die Frage der Möglichkeit. 


Die Beseitigung eines bestehenden Agios unter Wiederherstellung 
des Parikurses der Valuta wird seltsamerweise immer nur als eine 
Frage des Wollens, nicht des Könnens betrachtet. Man fragt 
gar nicht danach, ob die wirtschaftlichen Verhältnisse des Landes, 
insbesondere seine Beziehungen zum Auslande, die Wiederherstellung 
des Parikurses überhaupt gestatten, sondern nimmt an, daß es 
lediglich von dem Willen der Regierung bezw. des Volkes abhänge, 
das Agio zu beseitigen. Ob es unter den obwaltenden Umständen 
überhaupt möglich ist, den Kurs auf Pari zu heben, und vor 
allem, ob es möglich ist, ihn auf Pari zu halten, — diese Fragen 
werden gar nicht einmal aufgeworfen. Früher, als noch kein Papier- 
geld ausgegeben bezw. als die ausgegebene Menge noch nicht so groß 
war, bestand das Agio nicht. Weshalb sollte es jetzt nicht wieder 
verschwinden, wenn man nur hinsichtlich der Menge des Papiergeldes 
den status quo wiederherstellt?! Ob das Land bei dem Parikurse 
überhaupt im stande sein würde, seine Verpflichtungen gegenüber 


1) Lexis im Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Artikel Papiergeld. 


752 2 Otto Heyn, 


dem Auslande zu erfüllen, seinen Import und seine Schulden zu be- 
zahlen, wird gar nicht untersucht, zumeist auch wohl gar nicht bedacht. 
Früher war das möglich. Es war aber vielleicht nur deshalb mög- 
lich, weil damals die Schulden an Zinsen noch geringer waren; weil 
in Anbetracht eines hohen Preisstandes im Auslande und geringerer 
Nachfrage im Inlande weniger importiert, und weil ein Fehlbetrag 
des Exports an Waren durch den Export von Gold gedeckt wurde. 
Wie ist es aber jetzt, nachdem die Verhältnisse sich geändert haben, 
das Gold, wie das Agio beweist, verschwunden ist und ein un- 
günstiges Geschick, das auch zur Papiergeldausgabe führte, die Lasten 
des Landes vermehrt hat? Es könnte doch wenigstens anders 
sein! Das alles muß doch zum mindesten untersucht werden! Diese 
Untersuchung wird aber nicht geführt, die Möglichkeit vielmehr ein- 
fach vorausgesetzt und nur die Opportunitäts- und die Rechtsfrage 
erörtert. 

Bei der Erörterung der Opportunitätsfrage denkt man, wenig- 
stens in neuerer Zeit, immer in erster Linie an den Fiskus und 
dessen Ersparnisse bei der Bezahlung von Zinsen für seine Gold- 
schulden und bei der Bestreitung anderer Goldausgaben. Man denkt 
aber wenig an die inländischen Produzenten, die durch die 
herbeigeführte Schwächung ihrer Konkurrenzfähigkeit stark geschädigt 
werden, und berücksichtigt überdies nicht, daß infolge der ein- 
tretenden Schädigung der Produzenten auch der Fiskus — durch 
den Rückgang der Einnahmen — geschädigt werden könnte. Im 
übrigen geht man von der irrtümlichen Auffassung aus, daß in der 
Beseitigung des Agios für das Land auch deshalb ein Vorteil liege, 
weil der Export nun nicht mehr „teilweise verschenkt“ werde. Dabeı 
wird dann ganz oder zum Teil übersehen, daß die Bedingungen des 
Austausches des Exports gegen den Import von den Preisen im 
Auslande abhängen; daß diese Preise durch das Agio oder viel- 
mehr durch die Konsequenzen des Agios zumeist nur wenig be- 
einflußt werden; daß ein Land ebenso wie der Einzelproduzent viel- 
fach einen größeren Gewinn macht, wenn es zu niedrigeren 
Preisen eine größere Menge, als wenn es zu höheren Preisen 
eine geringere Menge absetzt; daß eine Besserung der Preise, 
wenn überhaupt, so gewöhnlich nur dann möglich ist, wenn der Ex- 
port des Inlands sich vermindert, daßaber eine Verminde- 
rung des inländischen Exports gar nicht eintreten 
darf, um nicht die Wiederherstellung bezw. die Erhaltung des Pari- 
kurses zu gefährden. Aus dem letzteren Grunde müßte das Land 
unter allen Umständen fortfahren, seinen Export „teilweise zu 
verschenken“, und würde sich im Falle der Wiederherstellung des 
Parikurses lediglich der Nachteil ergeben, daß diejenigen, welche 
diesen Export beschaffen, die Exportproduzenten, für ihre Arbeit 
schlechter bezahlt werden, da sie weniger inländisches Geld erlangen, 
während ihre Lasten gleich bleiben. 

Wenden wir uns nach diesen allgemeinen Vorbemerkungen zu 
unserem Thema, so wird es nach den früheren Ausführungen keiner 


Kritische Erörterung des Projekts der Beseitigung des Goldagios in Spanien. 753 


weiteren Darlegung bedürfen, daß die (dauernde) Beseitigung des 
spanischen Goldagios nur dann möglich ist, 

1) wenn es auf irgend eine Weise gelingt, den Kurs der 
spanischen Wechsel auf Pari zu heben; 

2) wenn Spanien im stande ist, bei dem Parikurse dauernd 
seine Verpflichtungen gegenüber dem Auslande zu erfüllen, d. h. 
den dann zu erwartenden Import und die dann bestehenden Schulden 
von Zinsen etc. zu bezahlen. 

Beide Bedingungen sind schwer zu erfüllen, um so schwerer, 
als durch die Beseitigung des Agios der Import erleichtert und der 
Export erschwert wird; als Spanien zur Erfüllung seiner Ver- 
pflichtungen andere Mittet als sein Export, wenigstens andere Mittel 
von Bedeutung, nicht zur Verfügung stehen, und als das Agio, 
welches beseitigt werden soll, nicht weniger als 35 Proz. beträgt. 

Daß Spanien unter den jetzigen Verhältnissen nicht im stande 
ist, seinen Verpflichtungen anders als bei dem bestehenden Agio 
nachzukommen, und daß es unter den jetzigen Verhältnissen nicht 
im stande sein würde, nach der Beseitigung des Agios trotz der 
dann eintretenden Erschwerung des Exports und trotz der Erleichte- 
rung und wahrscheinlichen Vergrößerung des Imports seine Zahlungs- 
bilanz auf der Basis des Parikurses zum Ausgleich zu bringen, be- 
weist die Tatsache des Bestehens des Agios selbst. Schon daraus 
ergibt sich, daß die jetzigen Verhältnisse geändert, daß für die Er- 
schwerung des Exports und die Erleichterung des Imports Kompen- 
sationen geschaffen werden oder daß doch wenigstens die Bedingungen 
des Exports sich so umgestalten müßten, daß die Exportproduzenten 
sich veranlaßt sähen, ihren Export trotz dessen Erschwerung in dem 
bisherigen Umfange fortzusetzen und ihn noch zu vergrößern. Außer- 
dem muß ja zunächst einmal der Kurs der spanischen Wechsel von 
135 Pesetas für 100 fres. auf 100 Pesetas für 100 fres., also um 
volle 25 Proz., gehoben werden! 

Ist nun zu erwarten, daß in Spanien eine solche Veränderung 
der Verhältnisse eintritt? 

Prüfen wir, was geschehen soll, um das Agio zu beseitigen. In 
erster Linie soll die Notenmenge vermindert werden. Daß diese 
Maßregel unter Umständen im stande ist, die dauernde Beseitigung 
des Agios herbeizuführen, haben wir im vorigen Abschnitt gesehen. 
Daß die dortigen allgemeinen Ausführungen auch für Spanien zu- 
treffen, obwohl die Noten der Bank von Spanien, welche hier den 
Gelddienst versehen, kein eigentliches Papiergeld, sondern eben Bank- 
noten sind, wird einer näheren Darlegung nicht mehr bedürfen. 

Unter den in Spanien herrschenden Verhältnissen ist es aber 
besonders schwer, daß sich die im vorigen Abschnitt erörterten Be- 
dingungen erfüllen. 

Zunächst ist es fraglich, ob die einzuziehenden Noten unersetzt 
bleiben, also ob es überhaupt gelingen würde, eine beträchtliche 
Verminderung der Notenmenge herbeizuführen. Wenn der Staat 
seine Kolonialschuld von 900 Mill. Pesetas an die Bank zurückzahlt, 

Dritte Folge Bd. XXV (LXXX). 48 


754 : Otto Heyn, 


so verschwinden damit allerdings die hierzu verwendeten Noten aus 
dem Verkehr. Dieselben können aber von der Bank wiederaus- 
gegeben werden. Ob das geschieht, oder nicht, hängt lediglich einer- 
seits von dem Bedarf, andererseits von dem Willen der Bank bezw. 
von deren geschäftlichem Interesse ab. Die verschärften Deckungs- 
vorschriften stehen nicht entgegen. Diesen Vorschriften, die überdies 
erst nach voller Rückzahlung der Kolonialschuld in Kraft treten, ent- 
spricht ihre Reserve, wie wir früher (S. 727) gesehen haben, bis 
auf ein Geringes schon jetzt. Zur Aufrechterhaltung des jetzigen 
Notenumlaufs wäre lediglich erforderlich, für einen Teil der 204 Mill. 
betragenden Ueberdeckung in Silber (oder für Noten!) 121/, Mill. 
Pesetas Gold zu kaufen, und das ist leicht geschehen. Der Bedarf 
aber ist unvermindert. Unter den jetzigen Verhältuissen kann der 
Verkehr keinen irgendwie erheblichen Teil der jetzigen Notenmenge 
entbehren. Eine hinreichende Nachfrage wird daher zweifellos an 
die Bank: herantreten. Ihr geschäftliches Interesse aber liegt nicht 
in der Richtung, die Abgabe von Noten zu verweigern. Die Er- 
fahrungen der letzten Zeit haben das bereits gezeigt. Tatsächlich 
ist nämlich ein Teil der Kolonialschuld — nach der Abnalıme des 
Portefeuilles zu urteilen, 200 Mill. Pesetas — schon zurückgezahlt 
worden, aber der Notenumlauf ist noch ebenso groß wie früher. 
Nehmen wir aber an, daß es trotzdem gelingt, die Notenmenge 
zu vermindern, etwa deshalb, weil die Bank von Spanien, irrtümlich 
oder nicht, ihren Vorteil darin sieht, die Durchführung des Reform- 
projektes zu unterstützen, so erheben sich andere Schwierigkeiten, 
die um so größer sind, als das Agio so besonders hoch ist. Vor 
allem wird es kaum möglich sein, so viel Kapital vom Aus- 
lande heranzuziehen, als zufließen muß, um zunächst einmal 
— unter Beihilfe der Spekulation — den Kurs auf Pari zu heben 
und ihn während der ersten Zeit, bis die Verhältnisse sich konsoli- 
diert haben, auf Pari zu halten. Das ist um so weniger wahr- 
scheinlich, als eine Auslandsanleihe, welche den Zufluß von Kapital 
erleichtern würde, nicht in Aussicht genommen ist. Sollte es trotz- 
dem gelingen, so ist es immer noch fraglich, ob die erforderliche 
Anpassung der Produktionsbedingungen des Inlands 
an den Parikurs stattfindet, durch die es allein ermöglicht werden 
würde, den Kurs dauernd auf Pari zu halten. Wird die Noten- 
menge hinreichend beschränkt und der Kurs erstmalig auf Pari ge- 
hoben, so muß allerdings sogar mit Notwendigkeit jene „heilsame“ 
Krise eintreten, welche diese Anpassung vollzieht. Wird das aber 
zugelassen werden, obwohl durch die Krise weite Kreise der Be- 
völkerung im äußersten Maße geschädigt werden und obwohl speziell 
die Interessen der mächtigen Grundbesitzerklassen, vor allem des 
Adels und der Klöster, die ja am meisten zu leiden haben, entgegen- 
stehen? Wird ein Ministerium, welches rücksichtslos und konsequent 
genug ist, um diese Politik durchzuführen, lange am Ruder bleiben? 
Werden nicht auch die Arbeiter, welche wenigstens vorübergehend 
geschädigt werden, eine Aenderung der Politik erzwingen ? Werden 


Kritische Erörterung des Projekts der Beseitigung des Goldagios in Spanien. 755 


nicht die Karlisten wieder ihr Haupt erheben und neue politische 
Unruhen, für welche der Boden dann wie geschaffen ist, hervor- 
rufen? Und wird dadurch nicht allein die politische, sondern auch 
die wirtschaftliche Möglichkeit der Durchführung des Projekts in 
Frage gestellt werden, weil das ausländische Kapital, welches ohne- 
hin durch die Krise abgeschreckt werden muß, sich zum Rückzuge 
wendet oder auch nur, was ja in der ersten Zeit — bis zur Voll- 
endung der Anpassung — allein schon genügt, aufhört zuzufließen ? 

Alle diese Fragen sind eher mit Nein als mit Ja zu beant- 
worten! 

Was aber nach dem neuen Projekte außer der Verminderung 
der Notenmenge noch geschehen soll, ist nicht geeignet, eine wesent- 
liche Aenderung herbeizuführen. Die Verbesserung des Status der 
Bank von Spanien, welche die Rückzahlung der Schuld des Staates 
an die Bank bewirken würde, könnte nur in der Weise nützen, daß 
sie durch die Befestigung des Vertrauens den Kapitalzufluß vom 
Auslande noch verstärkte. Ob infolge dieser Verstärkung genügend 
Kapital herangezogen werden würde, um den Kurs auf Pari zu heben 
und ihn auf Pari zu halten, bis nach vollendeter Anpassung der Pro- 
duktionsbedingungen der Export (der ja noch zunehmen muß!) allein 
hierzu im stande ist, dürfte immer noch sehr zweifelhaft sein. Was 
aber die beabsichtigte Unterstützung von Landwirtschaft und In- 
dustrie durch die Gewährung billigen Bankkredits anlangt, so ist 
einerseits zu beachten, daß der Bank von Spanien die Erfüllung 
dieser ihr gestellten Aufgabe durch die Verminderung der Noten- 
menge direkt erschwert wird, und andererseits, daß gerade diese Er- 
leichterung des Kredits den Eintritt der Krise verhindern oder 
wenigstens sehr erschweren würde, welche notwendig ist, um die 
.Produktionsbedingungen des Inlands dem Parikurse anzupassen und 
dadurch die Erhaltung des Parikurses zu ermóglichen. 

Abgesehen von diesen Maßregeln mag man noch anführen, daß 
durch die Vorschrift der Bezahlung gewisser Zólle und Steuern in 
Gold!) und durch die Bildung eines Syndikats zur Beschaffung von 
Golddevisen dafür Vorsorge getroffen ist, daß die Regierung bezw. 
daß die sonstigen Interessenten leichter in den Besitz des Goldes 
gelangen, dessen sie zur Erfüllung ihrer Goldverpflichtungen be- 
dürfen. Hierdurch kann jedoch nur bewirkt werden, daß Regierung 
und private Interessenten aus den Händen der Spekulation befreit 
werden, die ihnen den Erwerb des benótigten Goldes zur Bedarfs- 
zeit zu verteuern pflegt. Mehr ist davon nicht zu erwarten. Aller- 
dings wird durch die in dem Goldaufschlag liegende materielle Er- 
hóhung der Zölle der Import erschwert, und ein dadurch veranlaßter 
Rückgang des Imports würde wegen der Entlastung der Zahlungs- 
bilanz natürlich günstig wirken. Da aber die Zölle schon seit No- 
vember 1901 in Gold erhoben werden, so müßte diese günstige 
Wirkung schon jetzt eingetreten sein. Eine Minderung des jetzigen 


1) Conrads Volkswirtschaftliche Chronik 1901, S. 477, 156. 
48* 


756 Otto Heyn, 


Agios kann daher aus dieser Veranlassung nicht eintreten. Im übrigen 
aber wird die Sachlage überhaupt nicht verändert. Die Nachfrage 
nach Gold bezw. nach ausländischen Wechseln in ihrem ganzen Um- 
fange bleibt ja gleich groß. Durch die Erhebung der Zölle und 
Steuern in Gold wird nur bewirkt, daß nicht mehr der Staat, sondern 
daß die zur Zoll- bezw. Steuerzahlung verpflichteten Personen diese 
Nachfrage halten, denn das Ausland wird das Goldagio auf die Zölle 
nicht bezahlen. Die Bildung des Goldsyndikats aber kann nur zur 
Folge haben, daß die Nachfrage auf die einzelnen Tage und Monate 
des Jahres besser verteilt wird. Letzteres kann dahin führen, die 
Schwankungen des Agios zu beschränken, nicht aber dahin, das 
Agio in seiner durchschnittlichen Höhe herabzumindern. 

Was könnte etwa sonst noch geschehen ? 

Spanien könnte durch die Aufnahme einer Anleihe im Auslande 
den Zufluß ausländischen Kapitals noch mehr verstärken und durch 
die weitere Erhöhung seiner Zölle den Import einschränken. Ob das 
zum Ziele führen würde, ist aber ebenfalls zweifelhaft. Italien ist 
es im Jahre 1881 trotz der Aufnahme einer Auslandsanleihe von 
nicht weniger als 644 Millionen Francs nicht gelungen, sein Agio, 
das nur 14 Prozent betrug, anders als nur vorübergehend und auch 
insoweit nicht einmal ganz zu beseitigen. Würde es Spanien mit 
seinem 3b-prozentigen Agio und bei weniger konsolidierten Ver- 
hültnissen besser ergehen? Die Erhöhung der Importzólle würde 
zweifellos nützen, da der Import eingeschrünkt und dadurch die 
Verpflichtungen an das Ausland vermindert würden. Aber selbst 
dann, wenn die bestehenden Handelsvertráge und das Interesse 
Spaniens an der Erneuerung derselben das zuließen, würden die 
Zölle doch kaum so stark erhöht werden können, um die Wirkung 
der Beseitigung eines 35-prozentigen Agios für den Import zu kom-, 
pensieren. Sollte das dennoch geschehen, so würde damit immer 
noch kein hinreichender Erfolg erzielt werden, denn auch in diesem 
Falle würde der Import bei beseitigtem Agio noch ebenso groß 
bleiben wie jetzt, wührend für den Export, der ja durch die 
Beseitigung des Agios erschwert wird, der jetzige Status nur da- 
durch hergestellt werden könnte, daß den Exporteuren zum Aus- 
gleich des Wegfalles der jetzigen Kursgewinne 35-prozentige Export- 
prämien bezahlt würden. 

Hiernach muß es im äußersten Maße zweifelhaft erscheinen, ob 
es Spanien gelingen würde, das Agio zu beseitigen. Die Wahr- 
scheinlichkeit spricht dafür, daß zwar zunächst, infolge des Zuflusses 
von Kapital aus dem Auslande (und der spekulativen Küufe von 
Wechseln), welche das Projekt der Wiederherstellung des Pari- 
kurses und der Beginn seiner Ausführung wegen der daran ge- 
knüpften Erwartungen hervorrufen, das Agio zurückgeht, ohne 
selbst im besten Falle ganz zu verschwinden; daß es aber dann 
wieder steigt und im wesentlichen die jetzige Hóhe wieder erreicht, 
ebenso wie es seiner Zeit in Italien geschehen ist. Eine andere 
Gestaltung der Dinge ist zwar möglich, kann aber nur dann ein- 


Kritische Erörterung des Projekts der Beseitigung des Goldagios in Spanien. 757' 


treten, wenn vorher durch eine schwere Krise die Produktions- 
bedingungen Spaniens dem Parikurse angepaßt sind, und daß die 
Durchführung einer derartigen Prokrustesoperation gelingen würde, 
ist nicht zu erwarten. 


2. Die Opportunitätsfrage. 


Nehmen wir nun aber einmal an, das Agio würde wirklich 
(dauernd) beseitigt, der Kurs der spanischen Valuta wirklich auf 
Pari gehoben und in dieser Höhe erhalten — was wäre damit ge- 
wonnen? Welcher Nutzen würde Spanien daraus erwachsen ? 

Was erwartet man von einer Beseitigung des Agios? 

1) Ersparnisse an Ausgaben für den Staat, da der Aufwand an 
Pesetas zur Verzinsung der Goldschuld und zur Bestreitung von 
sonstigen Ausgaben im Auslande zurückgehen würde. 

Das würde, erreicht werden, aber schon die Mehrkosten der 
neuen Anleihen, deren Aufnahme die Durchführung des Reform- 
projekts erforderlich macht, würden diesen Vorteil annähernd auf- 
wiegen. Die entstehenden Mehrkosten an Zinsen betragen ja, wie 
früher (S. 728) berechnet, ca. 18 Mill. Pesetas. Dagegen würden an 
Agio bei der Bezahlung der Goldzinsen 17!/, Mill. Pesetas gespart 
werden, wührend die Ersparnisse an anderen Ausgaben nicht sehr 
bedeutend sein können. Ueberdies würden infolge der Krise und 
der Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage der produzierenden 
Klassen im allgemeinen Ausfälle an den Einnahmen ent- 
stehen, welche den erwarteten Vorteil, wenigstens zunächst — in 
Nachteil verwandeln würden 11. 

2) Eine Verbesserung des Staatskredits mit der Konsequenz der 
Erlangung günstigerer Bedingungen bei der Begebung neuer Anleihen 
und der Erzielung von Ersparnissen durch die Konversion der be- 
stehenden Anleihen. 

Auch das würde erreicht werden. Schon der Versuch der Be- 
seitigung des Agios muß den Kurs der spanischen Anleihen, die 
jetzt noch verhältnismäßig niedrig stehen, in die Höhe treiben, und 
wenn erst die Anpassungskrise glücklich überwunden wäre und die 
Verhältnisse sich konsolidiert hätten, würde sich der Kurs zweifellos 
auch dauernd auf ein bedeutend höheres Niveau stellen. Dann wäre 
jedenfalls die Begebung neuer Anleihen zu wesentlich günstigeren Be- 
dingungen möglich, aber eine solche Vermehrung der Schulden würde 
doch an sich ein Uebel bleiben und die Zahlungsbilanz des Landes 
verschlechtern. Außerdem würden sich in der Tat, wie erwartet, 
auf dem Wege der Konversion direkt oder indirekt Ersparnisse er- 
zielen lassen, und das würde bei den jetzigen Budgetverhältnissen 
Spaniens stark ins Gewicht fallen. Die Erzielung dieses Vorteils 
kommt aber deshalb weniger in Betracht, weil es, wie wir später 
sehen werden, noch ein anderes, weniger kostspieliges und zugleich 
sicheres Mittel gibt, um dasselbe zu erreichen. 


1) Vergl. darüber unten S. 760. 


758 Otto Heyn, 


3) Die Beseitigung der mit der jetzigen Unsicherheit im Ver- 
kehr, dem Schwanken des Kurses und dem Schwanken der Preise 
für Export- und Importartikel, wenigstens der Großhandelspreise, 
verbundenen Uebelstände. 

Diese Uebelstände sind zweifellos sehr bedeutend, da die Schwan- 
kungen des Agios, wie unsere Tabelle auf S. 724 beweist, sehr groß 
sind — wenn sie auch letzthin abgenommen haben. Diese Schwan- 
kungen lähmen den Außenhandel und wirken dadurch auch ungünstig 
auf die Produktion für den Export. Ferner schädigen sie den 
Staatskredit, wenigstens soweit die Begebung innerer Anleihen im 
Auslande in Frage kommt, und verteuern, zumal da die Auffassung 
besteht, es schwanke, dem Agio entsprechend, der Wert des inlän- 
dischen Geldes nicht nur dem Golde gegenüber, sondern allgemein, 
den privaten Kredit, wenigstens den langfristigen Hypothekar- 
kredit. Endlich verleiten sie zu Valutaspekulationen und verleihen 
dem ganzen Handel einen Spielcharakter, der ihm sonst nicht inne- 
wohnt. Das sind schwere Uebelstände, und wenn diese beseitigt 
werden könnten, so wäre das ein großer Gewinn. Es ist aber 
ein Irrtum anzunehmen, daß mit der Hebung des 
Kurses auf Pari ohne weiteres auch dieSchwankungen 
aufhören würden. Diese Schwankungen sind die natürliche 
Folge der im Wesen des Auslandsverkehrs begründeten steten Ver- 
ünderung von Angebot und Nachfrage nach Wechseln, welche durch 
die Operationen der Valutaspekulation verstärkt wird. Sie sind je 
nach den Verhältnissen des einzelnen Landes und der Macht der 
Spekulation verschieden groß, um so geringer, je breiter die Basis, 
je größer und je stetiger der Auslandsverkehr ist. Sie verschwinden 
aber nur dann bezw. werden nur dann auf ein unschädliches Maß 
reduziert, wenn, wie zwischen zwei Ländern mit offener Goldwährung, 
sobald der Kurs der ausländischen Wechsel bis zu dem oberen 
Goldpunkte über Pari gestiegen oder bis zu dem unteren Gold- 
punkte unter Pari herabgesunken ist, Gold exportiert bezw. im- 
portiert werden kann und dadurch Angebot und Nachfrage 
nach den Wechseln auf der Basis der diesen Goldpunkten ent- 
sprechenden Kurse zum Ausgleich gebracht werden. Dazu ist er- 
forderlich, daß in beiden in Betracht kommenden Ländern Gold in 
jeder gewünschten Menge al pari in Landesgeld umgesetzt bezw. 
gegen Landesgeld (wenn dieses nicht schon selbst aus Gold besteht) 
eingetauscht werden kann. Diese Bedingung würde aber auf seiten 
Spaniens mit der Hebung des Kurses auf pari noch nicht erfüllt 
sein. Allerdings würde bei der Prägungsfreiheit Gold in jeder 
Menge in Landesgeld umgesetzt werden können, aber die entgegen- 
gesetzte Operation würde nicht möglich sein. Hierzu wäre erforder- 
lich, daß in Spanien eine effektive Goldwährung mit reichlichem 
Goldumlauf hergestellt oder die Noten in Gold einlösbar gemacht 
oder daß sonst Maßnahmen getroffen würden, um dem Verkehr jede 
gewünschte Menge Goldes al pari zur Verfügung zu stellen. Die 
Hebung des Kurses auf Pari allein würde hierzu nicht ausreichen. 


Kritische Erörterung des Projekts der Beseitigung des Goldagios in Spanien. 759 


Wenn nichts weiter geschähe, würden also die Schwankungen des 
Kurses und mit ihnen ihre nachteiligen Konsequenzen fortdauern. 

4) Eine bessere Aufschließung des Landes durch vermehrte 
produktive Anlage ausländischen Kapitals. 

Daß diese Erwartung sich erfüllen würde, ist nicht sicher. Aus- 
ländisches Kapital würde allerdings in bedeutender Menge einströmen, 
denn nur unter dieser Bedingung ist die hier vorausgesetzte Wieder- 
herstellung des Parikurses überhaupt möglich. Ob aber dieses aus- 
ländische Kapital sich der Produktion zuwenden würde, ist zweifel- 
haft. Jedenfalls würde es nicht, wie erwartet, neben dem schon 
angelegten inländischen Kapital zur Ausdehnung der Produktion 
verwendet werden, sondern nur für das inländische Kapital an die 
Stelle treten, wenn dieses in den durch die Krisis herbeigeführten 
Konkursen und Liquidationen den Platz räumt. Abgesehen hiervon 
kommt in Betracht, daß es, wie wir später sehen werden, ein anderes 
Mittel gibt, um ohne den Ruin der inländischen Produzenten das 
erstrebte Ziel wirklich zu erreichen. 

5) Eine Verbesserung der Rentabilität der Betriebe für die 
vorhandenen Eisenbahngesellschaften. 

Das würde erreicht werden. Diese Eisenbahngesellschaften sind 
jetzt ja einer prekären Lage. Da die Eisenbahnen fast ganz mit 
aus!Z4dischem (französischen) Kapital erbaut sind, und da diese Ge- 
sellschaften deshalb Zinsen und Dividenden in Gold zu bezahlen haben; 
da ferner ein grofier Teil ihrer Betriebskosten in Gold bestritten 
werden muß, vermochten sie natürlich bei dem steigenden Agio Zinsen 
und Dividenden nur dann zu verdienen, wenn sie ihre Fahrpreise 
und Frachtraten heraufsetzten. Das wurde ihnen aber nicht gestattet 
und infolgedessen haben sie ihre Rentabilitit mehr oder weniger ein- 
gebüßt!). Die Beseitigung des Agios würde ihnen große Ersparnisse 
ermöglichen und ihre Rentabilität wiederherstellen. Ihre Interessen 
würden also bedeutend gefördert werden. Die Eisenbahngesellschaften 
sind aber, wie schon gesagt, in der Hauptsache ausländische Ge- 
sellschaften und deren Interessen können für Spanien nicht wesent- 
lich in Betracht kommen. Für Spanien hat nur Bedeutung, daß 
neues Kapital hereinkommt, und das hängt nicht davon ab, ob den 
schon bestehenden ausländischen Gesellschaften durch die Beseitigung 
des Agios ermöglicht wird, wieder Dividenden bezw. höhere Divi- 
denden zu bezahlen. Nur in steuerlicher Beziehung könnte ein Inter- 
esse bestehen. 

6) Eine Verbilligung des Bezuges von ausländischem Rohmaterial 
für die inländische Industrie, insbesondere von Baumwolle für die 
Spinnereien. 


1) Der durch das Agio veranlaßte Mehraufwand zur Bezahlung der laufenden Zinsen 
betrug für die Gesellschaft Nord d’Espagne 
1892 1893 1894 
7,1 8,862 9,2 Mill. Pesetas. 
Wenigstens teilweise infolge der entsprechenden Verminderung des Gewinnes gingen 
die Aktien dieser Gesellschaft von 350 fres. im Jahre 1891 bis auf 95 fres. im Jahre 1894 
zurück! Jetzt stehen sie auf 204. 


760 Otto Heyn, 


Auch diese Erwartung würde sich erfüllen. Hieraus könnte aber 
den bestehenden Fabriken kein Vorteil erwachsen. In demselben 
Maße wie das ausländische Rohmaterial würden ja auch die aus- 
ländischen Fabrikate verbilligt werden. Da nun aber die Roh- 
materialkosten selbst in der Spinnerei nur etwa zwei Drittel des 
Preises der Fabrikate, hier des Garnpreises, ausmachen und da die 
übrigen Kosten nur zum Teil entsprechend zurückgehen, so würde 
durch die Beseitigung des Agios die ausländische Konkurrenz 
mehr begünstigt werden und den Inländern gegenüber einen 
Vorteil erlangen. Da ferner bei der Größe und der Macht der aus- 
ländischen Konkurrenz der Garnpreis zweifellos um den ganzen Be- 
trag des beseitigten Agios herabgedrückt werden müßte, so würden 
die inländischen Fabrikanten im Resultate, anstatt zu gewinnen, einen 
Nachteil erleiden. Wenn sie aber meinen, infolge der Herabsetzung des 
Preises ihren Absatz ausdehnen und dadurch eine Gewinnsteige- 
rung erzielen zu können, so steht zunächst auch hier wieder die aus- 
ländische Konkurrenz im Wege. Außerdem aber wäre die Ausdeh- 
nung des Absatzes keineswegs mit Sicherheit zu erwarten, weil die 
Kaufkraft der Bevölkerung nicht nur nicht gesteigert, sondern infolge 
der wirtschaftlichen ,Heilkrise*^ sogar geschwächt werden würde. 

Was bleibt hiernach von den „Vorteilen“ der Wiederherstellung 
des Parikurses noch übrig? 

Diesen mehr oder wenigen imaginären „Vorteilen“ stehen nun 
aber auch noch große Nachteile gegenüber. Vor allem der Ruin 
der derzeitigeninländischen Produzenten, wenigstens der 
Produzenten von Export- und Importartikeln, welchen in Verbindung 
mit der Beseitigung des Agios die Kreditkrise herbeiführen würde, 
ohne deren Eintritt die dauernde Wiederherstellung des Parikurses 
unmöglich ist. Gewiß würden nicht alle diese Produzenten ruiniert 
werden — die Kreditkrise würde nur die schwächeren und die stark 
mit Schulden belasteten zu Fall bringen — aber geschädigt und zum 
Teil stark geschädigt würden alle. Das wird nach den früheren Aus- 
führungen (S. 741 ff.) einer näheren Darlegung nicht mehr bedürfen. 
Es mag nur noch speziell darauf hingewiesen werden, daß die 
Schädigung sich nicht auf die Produzenten von Export- und Import- 
artikeln beschränkt, sondern weitere Kreise zieht, nicht nur deshalb, 
weil der Preisfall der Export- und Importartikel auf die Preise anderer 
Artikel zurückwirkt, sondern auch, weil das Sinken der Rentabilität 
der Produktion, besonders in den landwirtschaftlichen Betrieben, 
den Preis der Produktionsanlagen und des Grund und Bodens herab- 
drückt und weil durch den Rückgang des Bodenpreises die Eigen- 
tümer — in Spanien besonders der Adel und die Klöster — und in 
vielen Fällen außerdem die Hypothekengläubiger benachteiligt werden. 

Ein weiterer Nachteil besteht darin, daß infolge der starken 
Schädigung einer großen Anzahl von Produzenten, Grundbesitzern, 
Hypothekengläubigern natürlich auch Ausfälle an Einnahmen 
für den Staat entstehen würden, Ausfälle an Grund- und Ertrags- 
steuern und Ausfälle an Einkommensteuer. Alle Steuern, die nach 


Kritische Erörterung des Projekts der Beseitigung des Goldagios in Spanien. 761 


dem Ertrage, d. h. nach dem Bruttoertrage, bemessen sind, müßten 
sogar, wenigstens soweit Export- und Importartikel auf den steuer- 
pflichtigen Realien produziert werden, dauernd und um volle 
25 Proz. zurückgehen, weil der Bruttoertrag, so lange der Parikurs 
besteht, um 25 Proz. geringer sein würde. Die Einkommensteuer 
würde sich allerdings nach Ablauf der Uebergangszeit, wenn das ein- 
strömende ausländische Kapital den Betrieb wiederaufgenommen hat, 
wieder bessern, wenn auch diejenigen, welche in den Konkursen und 
Liquidationen der Uebergangszeit ihr Vermögen verloren haben, 
dauernd entsprechend weniger Steuern zahlen werden. Ein teilweiser 
Ausgleich würde sich überdies wahrscheinlich daraus ergeben, daß die 
Eisenbahngesellschaften infolge der Verminderung ihrer Lasten in die 
Lage kommen würden, höhere Steuern zu bezahlen. Im ganzen 
würde aber doch wohl, wenigstens für lange Zeit, eine Minderung der 
Einnahme resultieren. 

Daß unter solchen Umständen zunächst auch der Staatskredit 
on müßte — trotz der Beseitigung des Agios — liegt auf der 

and. 

Bei dieser Sachlage würde die Beseitigung des spanischen Gold- 
agios, wenn sie gelänge, nicht nur die an sie geknüpften Erwartungen 
einer Besserung der bestehenden Verhältnisse zum größten Teil 
nicht erfüllen, sondern auch noch großes Unglück über das Land 
bringen. 

Und um das zu erreichen, will man noch Kosten aufwenden und 
das Risiko auf sich nehmen, daß das Opfer der Vermehrung der 
Lasten des Staates um 18 Mill. Pesetas jährliche Zinsen, welche der 
Versuch der Beseitigung des Agios kostet, vergeblich gebracht wird? 
Ein solcher Verlust würde ja entstehen, wenn die Beseitigung des 
Agios nicht gelingt! Das wäre freilich immer noch das Minus im 
Vergleich mit dem Schaden, der im Falle des Gelingens entstehen 
würde — das Minus wenigstens dann, wenn der Versuch schon in 
den ersten Stadien scheiterte und die sonst unvermeidliche Krise ver- 
mieden würde. Weshalb aber nicht lieber den status quo erhalten, 
wenn sowohl das Gelingen als das Mifllingen der Operation Schaden 
bringen müßte? 

Würde aber die Beseitigung des Agios, wenn sie gelänge, 
wenigstens denjenigen Vorteil bringen, die durch die Entstehung und 
das Steigen des Agios ohne ihr Zutun geschädigt worden sind und 
mit deren Interesse so vielfach die Forderung der Wiederherstellung 
des Parikurses begründet wird? 

Zu diesen Personen gehören alle diejenigen, welche vor der Ent- 
stehung des Agios feste Geldforderungen besaßen: Hypothengläubiger, 
Besitzer von Staatspapieren etc., und ferner alle diejenigen, welche 
bei niedrigerem Agio solche Forderungen erworben haben, ohne dabei 
mit Vorbedacht das Risiko einer Vergrößerung des Agios auf sich 
zu nehmen und etwa durch die Ausbedingung höherer Zinsen oder 
einer besonderen Risikoprämie sich dafür bezahlen zu lassen. Außer- 
dem gehören dahin die Arbeiter und die Beamten, soweit deren Geld- 


762 Otto Heyn, 


lohn bezw. Gehalt nicht erhöht worden ist, obwohl mit dem Steigen 
der Preise vor allem der Export- und Importartikel die Kaufkraft 
des Geldes abgenommen hat. Würde die Beseitigung des Agios 
wenigstens diesen Personen Vorteil bringen? Würde ihnen, wenn 
auch nicht der bisher erlittene Schaden ersetzt, so doch künftiger 
Schaden erspart werden ? 

Auch diese Frage kann nicht oder doch nur bedingungsweise 
bejaht werden. Das Geld, welches diese Personen erhalten, würde 
nach der Beseitigung des Agios allerdings seine frühere Kaufkraft 
wiedererlangen, und das würde natürlich ein großer Vorteil sein. 
Es fragt sich aber, ob sie nun nicht etwa weniger erhalten oder 
in anderer Weise Schaden erleiden. Letzteres ist in der Tat in 
großem Umfang der Fall. Die Hypothekengläubiger würden bei dem 
Ruin der Produzenten und bei der allgemeinen Entwertung des 
Grund und Bodens, welche die Anpassungskrise herbeiführte, zum 
großen Teil mit ihren Hypotheken ausfallen und ihre Forderungen 
gänzlich verlieren. Die Besitzer von Staatspapieren und die Beamten 
kommen wenigstens in die Gefahr, Verluste zu erleiden; denn wenn 
der Versuch der Wiederherstellung des Parikurses mißlingt, dann 
könnte der Staat -- dessen ohnehin übermäßig große Zinslasten 
durch den Mehraufwand für die neuen Valutaanleihe noch gesteigert 
werden — wenn nun auch noch seine Einnahmen unter dem Drucke 
der Verschlechterung der allgemeinen wirtschaftlichen Lage zurück- 
gehen, Bankerott machen oder doch eine Reduktion der Zinsen und 
Gehaltszahlungen vornehmen. Was endlich die Arbeiter anlangt, so 
würden diese auch im besten Falle kaum etwas gewinnen, weil ihre 
Löhne während der Uebergangskrise dem gestiegenen Geldwerte 
mehr oder weniger angepaßt werden. Während der Krise aber würden 
sie leiden, weil mit der Verschlechterung der Lage der inländischen 
Produzenten und der — wenigstens vorübergehenden — Einschrän- 
kung der Produktion die Arbeitsgelegenheit geringer werden und 
der Lohn noch stärker reduziert werden würde. Die Arbeiter können 
im allgemeinen nur gewinnen, wenn die Konjunktur sich ver- 
bessert, nicht, wenn sie schlechter wird! 

Also auch für diese Personen, deren gerechte Behandlung an- 
geblich die Wiederherstellung des Parikurses fordert, würde sich nur 
teilweise ein Vorteil, teilweise aber großer Nachteil ergeben. 

Hiernach ist dem Projekte der Wiederherstellung des Parikurses 
der spanischen Valuta gegenüber nicht nur die Frage des Könnens 
mit einem ,Zweifelhaft", ja „Sehr zweifelhaft“ zu beantworten, son- 
dern auch die Opportunitätsfrage direkt zu verneinen. 

Die Erfahrungen Brasiliens und Griechenlands. 
Vielleicht dient es zur Unterstützung der vorstehenden Ausführungen, 
wenn wir noch kurz darauf hinweisen, welche Erfahrungen in neuester 
Zeit Brasilien mit der (teilweisen) Beseitigung seines hohen Agios 
bezw. mit der Hebung seines Wechselkurses und Griechenland mit 
dem Fortbestehen des Agios gemacht haben. 

Brasilien hat seit 1898 seinen Papiergeldumlauf stetig ver- 


Kritische Erörterung des Projekts der Beseitigung des Goldagios in Spanien. 763 


mindert, um den Kurs seiner Valuta zu heben. Es sind von 788 000 
Kontos (& 1000 Milreis) bis August 1902 nicht weniger als 109 000 
Kontos, also circa 14 Proz., eingezogen worden und diese Einziehung 
wird jetzt noch weiter fortgesetzt. Der Wechselkurs ist von 1!/,, d. 
im Jahre 1898 auf 9?*/,, d. im Jahre 1900 und 11?/, d. im Jahre 
1901 gestiegen, während er im Septemher 1902 auf circa 12 d. stand. 
Dieses Steigen des Wechselkurses, für welches die Regierung so 
große Opfer gebracht hat, wird aber geradezu als der „Fluch“ des 
Landes, speziell für die landwirtschaftliche Produktion bezeichnet. 
Nach einem Artikel der Financial Times vom 10. September 1902 
stimmen alle Berichte, sowohl diejenigen der Provinzialregierungen 
als auch diejenigen der englischen Konsuln in den verschiedenen 
Teilen des Landes, ferner Mitteilungen von Kaufleuten und Pflanzern, 
Resolutionen, die in verschiedenen Versammlungen gefaßt sind, dahin 
überein. Der englische Konsul in Pernambuco berichtet im Mai 
1902: ,Die Lage des Handels in diesem und in den benachbarten 
Staaten Ceara, Rio Grande del Norte, Parahyba und Algoa hat sich 
im letzten Jahre stetig verschlimmert, bis jetzt eine Krise aus- 
gebrochen ist, welche sich zweifellos auf Jahre hinaus fühlbar machen 
wird.“ Abgesehen von der Erhöhung der Steuerlast und der Ueber- 
produktion in einzelnen Branchen, sei der Grund in dem Preisrück- 
gange für landwirtschaftliche Produkte, welche das Steigen des 
Wechselkurses hervorgerufen habe, zu suchen. Der Gouverneur 
von Bahia bezeichnet in einer Botschaft vom März 1902 die Lage 
als „äußerst ernst“. Auch von ihm werden die unlohnenden Preise 
für landwirtschaftliche Produkte als Hauptgrund angegeben. Die 
Zucker- und Kaffeepflanzer und ein großer Teil der Kaufleute in 
San Paulo klagen laut über die niedrigen Preise wiederum der land- 
wirtschaftlichen Produkte. Die Financial Times schreiben hierzu: 
„Solch eine Uebereinstimmung der Nachrichten aus fremden und ein- 
heimischen offiziellen Quellen, sowie aus privaten Handels- und 
Pflanzerkreisen, Einzel- und Kollektiväußerungen, beweist deutlich, 
daß die wirkliche Lage des Landes weit davon entfernt ist befriedigend 
zu sein ....“ Die Finanzen des Staates sind einstweilen noch günstig 
(wozu die Minderung der Auslandsausgaben durch das Sinken des 
Agios natürlich erheblich beigetragen hat), aber die Provinzialregie- 
rungen leiden schon jetzt unter den schlechten Verhältnissen, und 
nach dem Schlußsatze des Artikels ist anzunehmen, daß auch die 
finanzielle Position des Staates bedroht ist. 

Zweifellos ist nun an dieser ungünstigen Sachlage nicht allein 
das Steigen des Wechselkurses, sondern außerdem noch die zu starke 
Ausdehnung des Zuckerrohr- und des Kaffeeanbaues schuld. Es 
kann aber ebensowenig einem Zweifel unterliegen, daß das Steigen 
des Kurses einen Anteil, und zwar einen großen Anteil daran hat. 
Bei einem Kurse von eirca 7 d. für das Milreis wie im Jahre 1898 
erlöste der Pflanzer für eine Quantität Kaffee, die er in London um 
100 £ verkaufte, 3429 Milreis. Bei dem jetzigen Kurse von 12 d. 
erhält er nur 2000 Milreis, also 1429 Milreis weniger. Seine Pro- 


764 Otto Heyn, 


duktionskosten, die im wesentlichen in Zinsen, Löhnen und Steuern 
bestehen, sind aber nicht so stark zurückgegangen, daß er mit Rück- 
sicht hierauf im stande wäre, einen solchen Verlust zu tragen. Die 
Kreditverhältnisse sind nicht besser, sondern schlechter geworden. 
Die Ausgaben an Arbeitslohn können schon deshalb nicht erheblich 
geringer geworden sein, weil in dem zitierten Artikel gleichzeitig 
über die hohen Kosten des Lebensunterhalts, die ja auch für den 
Arbeitslohn bestimmend sind, geklagt wird. Die Steuern sind nicht 
geringer geworden, sondern noch gewachsen. Unter diesen Um- 
ständen mußte zweifellos schon das Steigen des Kurses allein einen 
höchst ungünstigen Effekt haben. Nun ist freilich zu berücksichtigen, 
daß bei niedrigerem Wechselkurse wahrscheinlich die Londoner 
Kaffeepreise niedriger sein würden als jetzt, weil bei der herrschen- 
den Ueberproduktion die brasilianischen Pflanzer einander unter- 
bieten würden, bis der Kursgewinn mehr oder weniger eskomptiert 
wäre. Es darf daher nicht angenommen werden, daß die Kaffee- 
pflanzer bei einem Wechselkurse von 7 d. wirklich einen ent- 
sprechenden Betrag, also, wie oben berechnet, 1429 Milreis, mehr 
erlösen würden. Immerhin müßte aber der Erlös bedeutend größer 
sein als jetzt. Außerdem liegen gerade beim Kaffee die Verhältnisse 
ganz besonders ungünstig — deshalb, weil Brasiliens Anteil an der 
Versorgung des Weltmarktes besonders groß ist, so daß sein An- 
gebot den Kaffeepreis bestimmt. Bei den übrigen „landwirtschaft- 
lichen Produkten“, über deren niedrige Preise nicht weniger geklagt 
wird, seien es Export- oder Importartikel, ist die Sachlage in dieser 
Beziehung ganz anders. Bei diesen Artikeln würde der brasilianische 
Produzent in der Tat (annähernd) einen um den berechneten Betrag 
höheren Erlös erzielen. Unter diesen Umständen darf wohl an- 
genommen werden, daß das Steigen des Kurses die gegenwärtige 
Krise zu einem erheblichen Teile mitverursacht hat. 

Im Gegensatz zu Brasilien mit seiner Hebung des Kurses hat 
Griechenland mit dem Fortbestehen des hohen Agios — das 
Agio betrug Ende Mai 1902 61,75 Proz. — sehr gute Erfahrungen 
gemacht. Ein zufällig zu gleicher Zeit (am 9. September 192) 
publizierter Artikel der Financial Times berichtet darüber folgendes: 
„Die Entwertung des Papiergeldes ... hat als ein mächtiger Stimulus 
für die Schaffung einheimischer Industrien gedient. Griechenland 
produziert jetzt nicht allein genug für die inländische Konsumtion, 
sondern exportiert auch gewisse Arten von Waren, die früher aus 
dem Auslande bezogen werden mußten. Es werden große An- 
strengungen gemacht, um den Ackerbau zu heben.... Der Tabak- 
bau mehrt sich von Jahr zu Jahr. Fortschritt zeigt sich überall und 
die Zukunft ist sehr aussichtsvoll.* 


IV. Die richtige Politik. 


Nach den Ausführungen des letzten Kapitels muß es als ver- 
fehlt erscheinen, die Beseitigung des spanischen Goldagios unter 


Kritische Erörterung des Projekts der Beseitigung des Goldagios in Spanien. 765 


Wiederherstellung des Parikurses überhaupt anzustreben. Es ist 
nicht nur wahrscheinlich, daß ein solcher Versuch nicht gelingen 
würde, sondern es würde auch ein Gelingen desselben nicht im 
Interesse des Landes, ja nicht einmal im Interesse aller derjenigen 
liegen, die durch das Entstehen des Agios geschädigt worden sind, 
während ein Mißlingen dem Lande unnötige Opfer auferlegen, zum 
mindesten seine Zinsschuld um 18 Mill. Pesetas pro Jahr erhöhen 
würde. 

Eine Verpflichtung. den Parikurs wiederherzustellen oder 
doch den Versuch einer solchen Wiederherstellung zu machen, be- 
steht aber nicht. Eine solche Verpflichtung würde selbst dann nicht 
bestehen, wenn die spanischen Noten wirkliches Papiergeld wären !). 
Tatsächlich sind sie ja aber nichts weiter als reine Banknoten, die 
von der Bank von Spanien auf Verlangen den Gesetzen entsprechend 
in Silbergeld eingelöst werden. Nun besteht freilich das Agio auch 
gegenüber diesem Silbergelde. Das Silbergeld al pari in Gold ein- 
zulösen, ist aber der Staat ebensowenig verpflichtet. Das Silbergeld 
ist ja durchaus dem Währungsgrundgesetz vom 12. Oktober 1868 ge- 
mäß geprägt worden. Ueberdies ist der größte Teil desselben (949 
von im ganzen 1048 Mill. in 5-Pesetastücken) bei dem sinkenden 
Silberpreise von vornherein unterwertig ausgegeben, und an eine Ein- 
lösung dieses unterwertigen Silbergeldes in Gold ist bei dessen Aus- 
gabe niemals auch nur gedacht worden. 

Besteht aber keine Verpflichtung, den Parikurs wiederherzu- 
stellen oder doch den Versuch dazu zu machen, dann ist der Staat 
völlig frei in seinen Entschließungen, und dann kann über das, was 
geschehen soll, ebenso wie bei anderen Fragen der Staatspolitik, 
nur das Interesse des ganzen Landes entscheiden. Das 
Landesinteresse fordert aber eine ganz andere Politik. Im Interesse 
des Landes liegt nicht sowohl die Wiederherstellung des Parikurses, 
als die Wiederherstellung geordneter Währungsverhält- 
nisse, nicht die Beseitigung des Agios, sondern die Beseitigung 
der Agioschwankungen, nicht die Hebung des Kurses, sondern 
die Stabilisierung desselben in (ungefähr) der jetzigen 
Höhe). 


1. Vorteile der Stabilisierung des jetzigen Kurses. 


Die Stabilisierung des Kurses in der jetzigen Höhe würde 
Spanien nicht nur keinen Nachteil, wie die Wiederherstellung des 
Parikurses, sondern großen Vorteil bringen. Die schlimmen Kon- 
sequenzen der Beseitigung des Agios, dahingehend, daß der Export 
erschwert, der Import erleichtert, der Wert des Grundbesitzes und 


1) Hierüber an anderer Stelle. Im Rahmen dieser Arbeit ist es leider nicht mög- 
lich, das näher auszuführen. 

2) Für die Herstellung geordneter Währungsverhältnisse und gegen die Wieder- 
herstellung des Parikurses spricht sich u. a. auch Helferich aus. Vergl. Tübinger Zeit- 
schrift, Bd. 12 (1856), S. 437. In früherer Zeit hat diese Ansicht überhaupt mehr An- 
hänger gefunden. Vergl. die Citate bei Helferich a. a. O. 


766 Otto Heyn, 


der meisten produktiven Anlagen herabgedrückt und viele Existenzen 
ruiniert werden, würde nicht eintreten. Die jetzige günstige Lage 
der inländischen Produzenten, soweit sie durch die Höhe des Kurses 
bedingt ist, würde erhalten und für alle Zukunft festgelegt werden. 
Außerdem würden aber dem Lande alle diejenigen Vorteile zuge- 
wendet werden, welche ein stabiler Kurs als feste Basis für den 
Auslandsverkehr mit sich bringt. Vor allem würde der Handel mit 
dem Auslande mächtig gefördert werden, weil nun das durch die 
jetzigen Kursschwankungen verursachte besondere Risiko wegfiele. 
Das würde aber wieder günstig auf die Produktion zurückwirken. 
In erster Linie würde dieser Umstand den Exportproduzenten zu 
gute kommen, die nun mehr Abnehmer fänden und einen um den 
Betrag der wegfallenden Risikoprämie erhöhten Preis für ihre Pro- 
dukte erzielten. Für die mit den Importeuren konkurrierenden Pro- 
duzenten würde allerdings der Effekt insofern ungünstig sein, als 
nun die Importeure um den Betrag jener Risikoprämie billiger an- 
bieten und ihnen dadurch den Absatz erschweren könnten; aber 
auch für sie würde sich mit dem Wegfall des störenden Moments 
der Unsicherheit, welche jetzt die Schwankungen des Kurses er- 
zeugen, ein nicht zu unterschätzender Vorteil ergeben. 

Der von der Wiederherstellung des Parikurses erhoffte Zufluß 
ausländischen Kapitals zu produktiven Zwecken, sei es zu direkter 
Anlage in den einzelnen Produktionszweigen des Landes, sei es zum 
Eisenbahnbau, würde sich nun erst recht einstellen; denn die Pro- 
duktionsbedingungen würden ja jetzt viel günstiger, die Konkurrenz 
mit dem Auslande, besonders beim Export, leichter, die Entwickelung 
des Verkehrs größer sein, während gleichzeitig durch das Bestehen 
des stabilen Kurses die Möglichkeit gegeben wäre, das investierte 
Kapital jederzeit ohne Kursverlust zurückzuziehen bezw. die ge- 
zeichneten Aktien und Obligationen ohne Kursverlust (d. h. ohne 
Verlust am Wechselkurse) zu veräußern. 

Das inländische Kapital würde mehr Gelegenheit zu günstiger 
Anlage, die Arbeiter würden mehr Arbeitsgelegenheit und, unter- 
stützt durch die günstige Konjunktur, nach und nach höheren Lohn 
erhalten. 

Unter solchen Umständen würde die Prosperität des Landes, 
die unter dem Einflusse des steigenden Agios jetzt schon erheblich 
zugenommen hat!), noch bedeutend wachsen. 

Infolgedessen würden auch die Einnahmen des Staates, die 
jetzt ebenfalls im Steigen begriffen sind, noch zunehmen, und stark 
zunehmen, anstatt, wie im Falle der Wiederherstellung des Pari- 
kurses, unter den Folgen der dann unvermeidlichen Kreditkrise, 
wenigstens zunächst, zurückzugehen. Demgegenüber würden freilich 
die Lasten, welche das jetzige Agio der Staatskasse auferlegt, be- 
stehen bleiben. Diese Lasten sind ja aber, wie früher berechnet. 
nicht sehr groß und übersteigen im ganzen nur wenig diejenige 


1) Raffalovich, Le marché financier, 1899, 8. 625. 


Kritische Erörterung des Projekts der Beseitigung des Goldagios in Spanien. 767 


Summe, welche — als Mehrbetrag an Zinsen für die Valutaanleihen 
— die Ausführung des Projekts der Beseitigung des Agios dem 
Lande kosten würde. Im Resultate müßte sich zweifellos, und zwar 
auch im Vergleich mit dem Zustande im Falle des Gelingens der 
Beseitigung des Agios, eine Verbesserung der finanziellen Position 
des Staates ergeben. Spanien würde dadurch in die Lage kommen, 
die ihm durch ein widriges Geschick auferlegten schweren Zins- 
lasten um so leichter zu tragen und überdies die so sehr benötigten 
Reformen, zu denen der Staatskasse bisher die Mittel gefehlt haben, 
jetzt wirklich vorzunehmen. 

Es würde ferner der Kredit des Staates wachsen. Der Kredit 
eines Staates hängt ja nicht davon ab, wie hoch seine Valuta im 
Kurse steht, der Kredit Spaniens nicht davon, ob die Pesata einen 
Franc oder nur ?/, Franc gilt, ob sie „pari“ steht, oder nicht. Für 
den ausländischen Kapitalisten ist es, auch wenn er innere Anleihen 
kauft, ganz gleich, wie sich das Geld, auf welches diese Anleihen 
lauten, zu seinem Landesgelde verhält. Der Franzose wird unter 
übrigens gleichen Umständen spanische Interieurs ebenso gern 
kaufen, wenn der Wechselkurs 135 Pesetas für 100 Francs, als wenn 
er 100 Pesetas für 100 Francs beträgt. Für ihn kommt es nur 
darauf an, daß der Kurs der Peseta, nachdem er gekauft hat, 
nicht zurückgeht. Im übrigen ist für ihn — neben den poli- 
tischen Zuständen und der Rechtssicherheit — lediglich bestimmend, 
ob die wirtschaftlichen Verhältnisse des Landes günstig sind oder 
nicht, ob der Staat genügend Einnahmen erzielt, um seine Zinsen 
regelmäßig zu bezahlen, und ob mit einer gewissen Sicherheit auf 
dauernde Prosperität gerechnet werden kann. Die Erfüllung 
dieser Bedingungen ist aber im Falle der Stabilisierung des Kurses 
in der jetzigen Höhe weit eher zu erwarten als im Falle der Wieder- 
herstellung des Parikurses, selbst wenn wir von der in diesem Falle 
unvermeidlichen Uebergangskrise und deren Konsequenzen absehen. 
Eine Verbesserung des Staatskredits aber würde dem Lande große 
Vorteile bringen und speziell bei der Begebung neuer, sowie bei 
der Konversion alter Anleihen die Erlangung aller derjenigen Vor- 
teile ermöglichen, welche man jetzt von der Wiederherstellung des 
Parikurses erwartet. 

Daß diesen großen Vorteilen nicht etwa der Nachteil gegenüber- 
steht, daß Spanien fortfahren würde, seinen Export „teilweise zu 
verschenken“, haben wir schon früher (S. 752) gesehen. Spanien 
ist jetzt weit davon entfernt, das zu tun. Es würde aber auch nicht 
etwa im Falle der Wiederherstellung des Parikurses noch bessere 
Bedingungen, speziell bessere Preise erzielen. Vielleicht würde das 
möglich sein, wenn Spanien sich mit seinen Exportartikeln in der- 
selben Lage befände wie Brasilien mit seinem Kaffee, dessen niedriger 
Preis zur Zeit des niedrigen Kurses ganz wesentlich darauf zurück- 
geführt wurde, daß die brasilianischen Kaffeepflanzer durch ihre 
gegenseitige Unterbietung, welche der niedrige Kurs ermöglichte, 
den Preis auf dem Weltmarkte besonders stark herabdrückten. So 


763 Otto Heyn, 


liegt aber die Sache für Spanien nicht. Spanien beherrscht mit 
seinen Exportartikeln — d. s. Erze, Metalle, Wein, Oel, Orangen, 
Mandeln, Rosinen, Kork, Baumwollfabrikate, lebende Tiere, Häute 
und Schuhe — in keinem einzigen Falle den Markt, und bei keinem 
einzigen dieser Artikel wird der Preis durch die gegenseitige Unter- 
bietung der spanischen Exportproduzenten jetzt besonders niedrig 
gehalten. Spanien würde bei dem jetzigen Umfange seines Ange- 
bots unter keinen Umständen höhere Preise erzielen. Selbst bei 
einer Minderung seines Angebots würden die Preise nicht erheb- 
lich steigen, weil in den meisten Fällen die Produzenten anderer 
Länder den Ausfall decken würden. Eine Minderung des Angebots 
würde ja aber im Falle der Wiederherstellung des Parikurses nicht 
einmal eintreten dürfen: es müßte sogar noch eine Vergröße- 
rung des Angebots stattfinden, um den Kurs auf Pari zu halten !). 


2. Durchführung der Stabilisierung des Kurses. 

a) Erfordernisse im allgemeinen. Eine Stabilisierung 
des Kurses, in der richtigen Weise und mit hinreichenden Mitteln 
unternommen, muß unter allen Umständen gelingen. Das gilt freilich 
nur, wenn wirklich nichts anderes angestrebt wird als lediglich eine 
Stabilisierung des Kurses, d. h. eine Festlegung desselben auf der 
durch die realen Verhültnisse des Auslandsverkehrs bedingten Mittel- 
linie, eine einfache Beseitigung der Schwankungen. Schwierig ist 
es nur, die richtige Mittellinie zu finden. Ein Mißerfolg kann jedoch 
nur dann eintreten, wenn die gewählte Mittellinie höher, nicht 
auch dann, wenn sie niedriger liegt. 

Ist die Mittellinie richtig gewählt, dann ist zu einer Stabili- 
sierung des Kurses nichts weiter nötig, als daß die leitende Bank 
oder eine andere Zentralstelle nach der Beschaffung einer hin- 
reichenden Goldreserve, wenn auch nur eines Goldguthabens im 
Auslande, angewiesen wird, einerseits alle Wechsel auf das Inland, 
die etwa !/,—1 Prozent unter dem der Mittellinie entsprechenden 
Kurse angeboten werden, aufzukaufen bezw. in Gold einzulósen, und 
andererseits inlündische Wechsel in jeder gewünschten Menge zu 
einem !/,—]1 Prozent über der Mittellinie liegenden Kurse gegen 
Gold abzugeben. In diesem Falle kann der Kurs der inländischen 
Wechsel nur innerhalb der Grenzen von !/,—1 Prozent unter und 
!/,—1 Prozent über der Mittellinie schwanken, und damit ist praktisch 
die Stabilitit hergestellt. 

Diese künstliche Stabilisierung des Kurses ist nichts Besonderes. 
Es werden dadurch lediglich auf der Seite des Landes mit Papier- 
währung diejenigen Verhältnisse nachgeahmt, welche im Verkehr 
zwischen zwei Lündern mit offener Goldwührung (oder offener Silber- 
wührung) an sich bestehen. Die Stabilität des Kurses zwischen 
zwei Goldwährungsländern beruht ja auf nichts anderem als darauf, 
dafi in Anbetracht der durch die Vollwertigkeit des Geldes gegebenen 


1) Vgl. oben S. 749. 


— M—I 008 


Kritische Erörterung des Projekts der Beseitigung des Goldagios in Spanien. 769 


Möglichkeit, jedes gewünschte Quantum Gold al pari zu erhalten, 
und der durch die Prägungsfreiheit geschaffenen Möglichkeit, jedes 
Quantum Gold al pari zu verwerten, die Umsetzung der Valuta 
des einen Landes in diejenige des anderen jederzeit und in jeder 
Menge zu einem nur wenig (nämlich um den Betrag der Goldver- 
sendungskosten und der eventuellen Prägegebühr) über bezw. unter 
dem Pari liegenden Kurse vorgenommen werden kann. Letzteres 
kann aber, wenn die hier erwähnten Vorkehrungen getroffen werden, 
auch im Verkehr zwichen einem Goldwährungslande und einem 
Lande mit Papierwährung geschehen !). 

Man kann auch in anderer Weise verfahren, nämlich so, daß im 
Inlande dem Verkehr jede gewünschte Menge ausländischer 
Wechsel zu einem !/,—1 Proz. über der Mittellinie liegenden 
Kurse zur Verfügung gestellt und zu einem !/,—1 Proz. unter 
der Mittellinie liegenden Kurse abgenommen wird. In diesem Falle 
ist die Umsetzung der Valuta des einen Landes in diejenige des 
anderen in derselben Weise möglich und kann der Kurs daher 
ebenfalls nur innerhalb der Grenzen von !/,—1 Proz. über und 
unter der Mittellinie schwanken. Nehmen wir z. B. an, daf die 
Bank von Spanien dem Verkehr Wechsel auf Frankreich in jeder 
Menge einerseits zu 1354-1 == 136 Pesetas für 100 fres. zur Ver- 
fügung stellt und andererseits zu 135 —1 = 134 Pesetas für 100 frcs. 
abkauft, so wird natürlich niemand für einen Wechsel auf Frankreich 
mehr als 136 Pesetas pro 100 fres. bezahlen und niemand einen 
solchen Wechsel um weniger als 134 Pesetas für 100 fres. abgeben. 
Dann kann aber der Kurs nur zwischen 136 und 134 Pesetas für 
100 fres. schwanken, und damit ist praktisch die gewünschte Stabilität 
erreicht ?). In dieser Weise ist es z. B. Rußland vor der Einfüh- 
rung seiner Goldwährung gelungen, den Kurs seines Rubels in der 
Hóhe von 216 M. für 100 Rubel zu stabilisieren und die früheren, 
zum Teil sehr großen Schwankungen zu beseitigen. Die gleiche 
Erfahrung hat Oesterreich gemacht, und durch die Befolgung einer 
ähnlichen Politik hält die Bank von Holland den Kurs des Guldens 
aufrecht’). 


1) Die Stabilisierung des Kurses in der hier beschriebenen Weise ist von mir 
schon im Jahre 1894 in der Schrift: Papierwährung mit Goldreserve für den Auslands- 
verkehr empfohlen worden. Die Idee ist nicht neu. Sie ist früher schon von Ricardo 
und im Jahre 1892 in Veranlassung der indischen Währungsreform von Probyn und 
Lindsay vertreten worden. Ich möchte aber an dieser Stelle mit Rücksicht darauf, daß 
ich im Jahre 1894 die Namen dieser Vorgänger nicht erwähnt habe, bemerken, daß ich 
dieselben damals nicht kannte. Mein derzeitiger Vorschlag war lediglich aus der Er- 
wägung entstanden, daß es bei einer Papierwährung möglich sein müsse, einen festen 
Kurs zu schaffen, wenn man die bezüglichen Verhältnisse der Goldwährungsländer 
nachahme. 

2) Man kann natürlich die Grenzen auch noch enger ziehen und sie auf T/, oder 
1/, oder !/, Peseta über und unter 135 festsetzen. In diesem Falle bedarf es aber 
einer größeren „Goldreserve‘“ und erwachsen größere Kosten.  Uebrigens kann eine 
diesbezügliche Aenderung auch später noch jederzeit vorgenommen werden. 

3) Vergl. über Holland: Kalkmann, Hollands Geldwesen im 19. Jahrhundert in 
Schmollers Jahrbüchern, Bd. 25, Heft 4, S. 59ff., 65, 56. 


Dritte Folge Bd, XXV (LXXX), 49 


770 Otto Heyn, 


Das Gelingen einer solchen Operation hängt lediglich davon 
ab, daß die Macht der Zentralbank ausreicht, für inländische Wechsel 
in jeder Menge Gold bezw. für inländisches Geld ausländische 
Wechsel abzugeben. Das ist nur möglich, wenn die für diese Zwecke 
bestimmte Goldreserve der Bank, bezw. wenn ihr Besitz an aus- 
ländischen Wechseln groß genug ist, um ihr zu ermöglichen, der 
Nachfrage des Verkehrs jederzeit zu entsprechen. Diese Bedin- 
gung läßt sich praktisch nur dann erfüllen, wenn die Mittellinie, 
m. a. W. wenn das Wechselpari oder die Relation richtig oder doch 
nicht zu hoch gewählt ist. Ist die Mittellinie zu hoch gewählt; wäre 
sie z. B. für Spanien, wenn die Relation richtig 135 Pesetas für 
100 fres. lauten müßte, auf 120 Pesetas = 1W fres. festgesetzt, dann 
würden ja bald genug so viel inländische Wechsel zur Einlösung 
präsentiert bezw. so viel ausländische Wechsel begehrt werden, daß 
die Gold- bezw. Wechselreserve erschöpft würde, und nachdem das 
geschehen, müßte der Kurs wieder auf 135 Pesetas = 100 fres. 
sinken. Im Gegensatz hierzu würde die Stabilisierung des Kurses 
nicht in Frage gestellt werden, wenn die Mittellinie zu niedrig, etwa 
auf 150 Pesetas für 100 fres., festgesetzt wäre. In diesem Falle 
würde lediglich Gold oder würden ausländische Wechsel zuströmen 
und müßten mehr inländische Wechsel beschafft bezw. mehr in- 
ländisches Geld abgegeben werden, als es an sich erforderlich sein 
würde. Letzteres macht ja aber keine Schwierigkeiten, da die Zen- 
tralbank in der Lage ist, auf Grund des ihr direkt zuströmenden 
bezw. durch die angekauften ausländischen Wechsel zu ihrer Ver- 
fügung gestellten Goldes Banknoten auszugeben. 

In welcher Höhe die richtige Mittellinie liegt, hängt davon ab, 
wie sich in der Zukunft die Verhältnisse des Verkehrs zwischen 
dem Inlande und dem Auslande gestalten. Dafür sind viele Fak- 
toren maßgebend, und es ist gewiß nicht leicht, die Resultante zu 
finden. Im allgemeinen wird man aber annehmen können, daß 
wenigstens nicht zu hoch gegriffen wird, wenn als Mittellinie ein 
Kurs festgesetzt wird, der sich in den letzten Jahren stets als Durch- 
schnitt ergeben hat, oder wenn der niedrigste Durchschnittskurs 
der letzten Jahre gewählt wird. Spanien speziell würde sicherlich 
nicht in Gefahr sein, die Mittellinie zu hoch zu bemessen, wenn es 
dieselbe etwa in der Höhe des jetzigen Kurses, also etwa in der 
Höhe von 135 Pesatas = 100 fres. festsetzte. Zu hoch kann das 
nicht sein ; denn einerseits ist dieser Kurs an sich sehr niedrig und 
hat derselbe sich seit etwa einem Jahre erhalten, andererseits hat 
ja die Stabilisierung des Kurses, wie früher dargelegt, den Effekt, 
daß die allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnisse sich bessern und 
daß die Zahlungsbilanz des Inlands, zunächst schon infolge eines 
stärkeren Kapitalzuflusses vom Auslande, weiterhin aber auch in- 
folge der Hebung der inländischen Produktion, sich günstiger 
gestaltet. 

Möglich wäre, daß die für Spanien auf 135 Pesetas = 1W fres. 
bemessene Mittellinie zu niedrig bezw. niedriger wäre, als es nach 


Kritische Erörterung des Projekts der Beseitigung des Goldagios in Spanien. 771 


den realen Verhältnissen des künftigen Auslandsverkehrs erforderlich 
sein würde. Dann würde, wie bereits ausgeführt, die Stabilisierung 
des Kurses nicht in Frage gestellt werden. Würde aber etwa sonst 
ein Nachteil entstehen? Keineswegs. Es würde zunächst lediglich 
der Kurs auf dem jetzigen niedrigen Niveau festgelegt und eine 
anderenfalls etwa durch den Verkehr veranlaßte Aufwärtsbewegung 
unmöglich gemacht werden. Das wäre ja aber kein Nachteil, sondern 
eher ein Vorteil, weil jede Aufwärtsbewegung des Kurses die Chancen 
der inländischen Produktion oder wenigstens die Lage der derzeitigen 
inländischen Produzenten ungünstiger gestaltet, ohne in anderer 
Weise eine hinreichende Entschädigung zu bieten. Man könnte aber 
meinen, daß in diesem Falle daraus ein Nachteil entstehen möchte, 
daß zu viel Gold zufließen bezw. daß zu viel ausländische Wechsel 
zum Angebot kommen würden; daß infolgedessen zu viel Noten aus- 
gegeben werden müßten und daß daraus eine ungesunde Inflation 
entstände. Eine starke Vergrößerung der Notenausgabe würde frei- 
lich veranlaßt werden. Wenn aber die damit eintretende Vergröße- 
rung der Geldmenge nicht nötig wäre, um den durch die Reform 
stimulierten Verkehr mit den erforderlichen Umlaufsmitteln und mit 
dem erforderlichen Kapital zu versehen, so würde lediglich die Konse- 
quenz eintreten, daß sich abnorm viel Geld bei den Banken sammelte 
und der Diskont gedrückt würde. Sobald aber der Diskont des In- 
landes unter das normale, dem Diskont des Auslandes entsprechende 
Niveau herabgedrückt wäre, würden die Banken, um ihr Geld ge- 
winnbringender zu beschäftigen, dasselbe in das Ausland bringen und 
dazu unter Einreichung inländischer Wechsel Gold bezw. für in- 
ländisches Geld ausländische Wechsel begehren. Infolgedessen würde 
(eventuell bei Verfall der eingereichten inländischen Wechsel) eine 
entsprechende Menge Noten zurückströmen und dadurch die in- 
ländische Geldmenge wieder auf das normale, einerseits den wirt- 
schaftlichen Verhältnissen im Inlande, andererseits dem Diskont und 
der Geldmenge im Auslande angepaßte Maß reduziert werden. Die 
Entwickelung würde genau so vor sich gehen, wie wenn eine effek- 
tive Goldwährung bestände. 

Andere Maßregeln als die Festsetzung der Mittellinie und die 
Beschaffung einer hinreichenden Goldreserve sind zur Stabilisierung 
des Kurses nicht erforderlich. Insbesondere bedarf es nicht etwa 
noch einer Verminderung der Notenmenge, wie sie vielfach auch im 
Falle einer „Devalvation“ des Geldes (die im Grunde ja auch hier 
eintreten würde) für erforderlich gehalten wird. Weshalb sollte sie 
erforderlich sein? Eine Beschränkung der Geldmenge im ganzen 
könnte, zumal bei der zu erwartenden Ausdehnung des Verkehrs, 
nur schaden. Was sollte aber eine Beschränkung speziell der Noten- 
menge an Nutzen bringen? Die Noten würden ihren Dienst als Geld, 
da sie das Vertrauen des Verkehrs besitzen und da dieses Vertrauen 
durch die Herstellung eines stabilen Wechselkurses, sowie überhaupt 
durch die Reformpolitik der Regierung noch gestärkt wird, ebenso 
gut versehen wie Metallgeld. Das ist um so eher zu erwarten, als 

49* 


712 Otto Heyn, 


mit der allmählichen Vergrößerung des Goldschatzes der Zentralbank, 
die mit dem Import von Gold infolge des Zuflusses von Kapital aus 
dem Auslande eintritt, die Noten noch an innerem Werte gewinnen. 
Wenn die Einlösung eines Teiles der Noten in Gold erfolgen kann 
und in Wirklickeit stattfindet, so ist das natürlich um so besser. 
Es ist aber nicht notwendig und die dazu erforderlichen Millionen 
können gespart werden. Das ist aber von großer Wichtigkeit, da in 
der Regel nur beschränkte Mittel zur Verfügung stehen. 

b) Die Größe der Gold- bezw. Wechselreserve. Be- 
rücksichtigen wir zunächst lediglich die Verhältnisse des realen Ver- 
kehrs — indem wir von den Operationen der Valutaspekulanten ab- 
sehen —, so liegt es auf der Hand, daß die Gold- bezw. Wechsel- 
reserve unter allen Umständen mindestens so groß sein muß, daß 
sie auch bei ungünstiger Gestaltung des Verkehrs, z. B. bei einer 
außergewöhnlichen Steigerung des Imports infolge von Mißernten 
wie im Jahre 1899, genügt, um den Anforderungen in Betreff der 
Umsetzung inländischen Geldes in ausländisches Geld zu !/,—1 Proz. 
unter dem festgesetzten Mittelkurse, hier, um der Nachfrage nach 
ausländischen Wechseln zu einem Kurse von 134 Pesetas für 100 fres. 
in ihrem ganzen Umfange zu entsprechen. Ein so bemessener Be- 
stand würde aber noch nicht ausreichen. Es ist weiter erforderlich, 
daß die Reserve bei ihrer bestimmungsmäßigen Verwendung niemals 
völlig erschöpft wird, sondern daß auch bei starken Anforderungen 
des Verkehrs immer noch ein beachtenswerter Bestand bleibt. Im 
anderen Falle würde leicht eine Panik entstehen, welche die Zurück- 
ziehung ausländischen Kapitals aus Furcht vor einem bevorstehenden 
Zusammenbruche des Systems mit der Folge des Sinkens des Kurses 
veranlaßten, und dann würden so viel inländische Wechsel zur Ein- 
lösung kommen bezw. so viel ausländische Wechsel begehrt werden, 
daß es nun zur Unmöglichkeit würde, den festgesetzten Kurs auf- 
rechtzuerhalten. 

Diese Bedingungen sind nun leichter zu erfüllen, als es scheint. 
Für Spanien würde dazu wahrscheinlich eine Reserve von etwa 
300 Mill. Pesetas ausreichen. Beachtet man, wie wenig Gold z. B. 
im Verkehr zwischen Deutschland und England hin- und herfielt 
und genügt, um den Wechselkurs innerhalb der Goldpunkte zu halten, 
so erscheint sogar ein solcher Betrag recht hoch. Die Verhältnisse 
dieser Länder sind nun freilich nicht maßgebend. Es ist aber Tat- 
sache, daß Rußland, dessen Verhältnisse eher mit denen Spaniens 
verglichen werden können, trotz seines bedeutend größeren Auslands- 
verkehrs in der ganzen Zeit von Februar 1893 bis März 1895, also 
in 2 Jahren, nicht mehr als 71 Mill. Rubel (ca. 256 Mill. Pesetas) 
zum Ankauf ausländischer Wechsel verwendet und für 73 Mill. Rubel 
ausländische Wechsel abgegeben hat, um sein Ziel, die Stabilisierung 
des Rubelkurses in der Höhe von 216 M. für 100 Rubel, zu erreichen '). 
Nach diesem Vorgange ist anzunehmen, daß für Spanien eine Reserve 
von 300 Mill. Pesetas vollauf genügen würde. 


1) Engl. „Bimetallist‘“, 1900, S. 87 (nach einem Bericht von Raffalovich). 


Kritische Erörterung des Projekts der Beseitigung des Goldagios in Spanien. 773 


Bei dieser Annahme ist freilich vorausgesetzt, daß die politischen 
Zustände in Spanien gesund bleiben, und daß weder auswärtige 
Kriege noch innere Unruhen die wirtschaftliche Entwickelung des 
Landes stören; daß ferner seitens der Regierung alles dasjenige ver- 
mieden wird, was zu neuem Mißtrauen Veranlassung geben könnte; 
daß vor allem — wozu dann auch keine Veranlassung mehr vor- 
liegt und was jetzt schon gesetzlich verboten ist — die Vermehrung 
der Notenmenge zu finanziellen Zwecken des Staates, die immer in 
besonderem Maße Mißtrauen erweckt, unterbleibt. Außerdem müßte 
die Bank von Spanien ihre jetzige selbständige Diskontpolitik auf- 
geben und darauf bedacht sein, durch die Regulierung ihres Dis- 
konts nach der Lage des internationalen Kapitalmarktes auf die 
Kapitalbewegung zwischen Spanien und dem Auslande einen maß- 
gebenden Einfluß auszuüben, wie auch die übrigen Zentralbanken, 
abgesehen von der Bank von Frankreich, es tun. Bisher hat die 
Bank von Spanien, wenigstens in den letzten Jahren, ihren Diskont 
sehr niedrig, nämlich auf 3!/,—4 Proz., gehalten, ohne sich darum 
zu kümmern, daß die Zentralbanken Deutschlands und Englands 
ihren Diskont auf 4- 6 Proz. erhöhten. Das dürfte in Zukunft nicht 
mehr geschehen. Die Bank von Spanien müßte vielmehr ihre Dis- 
kontpolitik derjenigen der übrigen großen Zentralbanken anpassen 
und durch rechtzeitige Erhöhung des Diskonts einerseits die zeit- 
weilige Anlage inländischen Kapitals in ausländischen Wechseln ver- 
hüten, andererseits ausländisches Kapital zu kurzfristiger Anlage 
heranziehen, um dadurch einer vorzeitigen Erschöpfung ihrer Gold- 
reserve infolge von Kapitalbewegungen vorzubeugen. 

Absolut notwendig ist allerdings eine derartige Aenderung der 
Diskontpolitik (die natürlich den Nachteil einer gewissen Verteuerung 
des inländischen Kredits mit sich bringt) nicht. Eine zu starke In- 
anspruchnahme der Gold- bezw. Wechselreserve könnte nämlich auch 
dadurch verhütet werden, daß nach ihrer teilweisen Erschöpfung, 
etwa nach Verwendung von einem Drittel oder der Hälfte ihres Be- 
standes, für die Abgabe weiteren Goldes bezw. weiterer Auslands- 
wechsel Prämien erhoben würden, wie die Bank von Frankreich es 
tut. Ob das aber empfehlenswert sein würde, ist zum mindesten 
zweifelhaft. Zunächst würde es nur auf Kosten der Stabilität des 
Kurses geschehen können; denn der Kurs müßte bei der Erhebung 
einer solchen Prämie, die ja nichts anderes wäre als ein neues Gold- 
agio, sinken. Sodann würde es auf diese Weise lediglich möglich 
sein, den Abfluß von Kapital zuhindern, nicht aber ausländisches 
Kapital heranzuziehen, und das möchte, ganz besonders bei Spanien, 
nicht immer genügen. Vor allem aber würde ein solches Verfahren 
ehe zu Mißtrauen Veranlassung geben, so daß die Gefahr näher 
läge, daß eine Panik entstände, der nach völliger Erschöpfung der Gold- 
reserve ein Kurssturz folgen müßte, welcher das ganze Werk der 
Stabilisierung des Kurses vernichtete. Vorsichtiger wäre es jeden- 
falls, die Goldreserve durch die Anpassung der Diskontpolitik zu 
schützen. 


774 Otto Heyn, 


Die Verhältnisse des realen Verkehrs, die wir bisher ins Auge 
gefaßt haben, kommen nun freilich nicht allein in Betracht. Es sind 
vielmehr außerdem noch die Operationen der Baissespekulanten 
zu berücksichtigen, welche z. B. Rußland seinerzeit so viel zu schaffen 
gemacht haben. Die Baissespekulation, welche natürlich hauptsächlich 
dann eingreift, wenn die Verhältnisse schon an sich ungünstig liegen, 
kann nämlich durch ihre Blankoabgaben den Kurs so stark drücken, 
daß infolgedessen viel mehr Wechsel aus dem realen Verkehr zur 
Einlösung kommen bezw. viel mehr ausländische Wechsel begehrt 
werden, als es sonst geschehen wäre. Und die Baissespekulanten 
operieren mit Millionen! Indessen, die Macht der Baissespekulanten 
ist doch auch nicht zu überschätzen. Mit ihren Blankoabgaben 
können sie die realen Verhältnisse nicht auf den Kopf stellen. Wird 
der Einlösungskurs bezw. die Mittellinie richtig oder doch nicht zu 
hoch gewählt, so können sie nur dann hoffen, einen Erfolg zu er- 
zielen, wenn es ihnen gelingt, unter den Besitzern spanischer Anleihe 
eine Panik hervorzurufen, welche diese veranlaßt, ihre Papiere nach 
Spanien zurückzuverkaufen, und so eine ungünstige Kapitalbewegung 
von bedeutendem Umfange herbeizuführen. Gelingt das nicht, so 
müssen die realen Verhältnisse, speziell die spanischen Exporte, sehr 
bald wieder zu einer solchen Nachfrage nach spanischen Wechseln 
bezw. zu einem solchen Angebot ausländischer Wechsel führen, daß 
der Kurs der Peseta wieder steigt und der Begehr von Gold- bezw. 
von ausländischen Wechseln aus dem Bestande der Goldreserve auf- 
hört. Dann werden die Baissiers zur Deckung gezwungen und dann 
müssen gerade diese Deckungsoperationen noch in besonderem Male 
dazu beitragen, den Kurs wieder zu heben und infolge des Ankaufs 
inländischer Wechsel die Gold- bezw. Wechselreserve wieder zu füllen. 
Die Gefahr einer Diskreditierung der spanischen Anleihen im Aus- 
lande ist nun aber, sobald einmal die Stabilisierung des Kurses 
unternommen ist, keineswegs besonders groß, weil die wirtschaftlichen 
Verhältnisse Spaniens sich in diesem Falle bessern müssen. Der 
Verbreitung unrichtiger Nachrichten aber kann durch eine gute 
Statistik vorgebeugt werden. In dieser Beziehung ist also nicht viel 
zu fürchten. Außerdem kommt in Betracht, daß eine Spekulation 
in Wechseln viel weniger leicht möglich ist als eine Spekulation 
in Noten, wie sie seinerzeit in russischen Noten in Berlin statt- 
fand. Freilich könnte sich neben dem Wechselmarkte ein Noten- 
markt etablieren, und eine Baisse der spanischen Noten würde natür- 
lich auch den Kurs der spanischen Wechsel beeinflussen. Indessen, 
für einen Notenmarkt neben dem Wechselmarkte wäre nach der 
Stabilisierung des Kurses kein Bedürfnis vorhanden, weil kein reales 
Interesse mehr bestände, Terminoperationen zur Deckung von Kurs- 
risiken vorzunehmen. Deshalb würde er wahrscheinlich überhaupt 
nicht entstehen. Wenn er aber entstände, so könnte man der daraus 
resultierenden Gefahr durch Verbot oder durch Versagung der börsen- 
mäßigen Abwickelung der Geschäfte (die im Auslande eventuell durch 
Staatsvertrag erwirkt werden müßte) die Spitze abbrechen. Unter 


Kritische Erörterung des Projekts der Beseitigung des Goldagios in Spanien. 775 


allen Umständen müßte es Spanien ebenso gelingen, die von dieser 
Seite drohenden Gefahren zu überwinden, wie es Rußland in der 
Zeit vor der Einführung seiner Goldwährung, und zwar, wie wir ge- 
sehen haben, ohne Aufwendung besonders großer Geldmittel, ge- 
lungen ist. i 

Trotz alledem würde es die Vorsicht gebieten, um auch gegen 
Baisseangriffe gewappnet zu sein, die Gold- bezw. Wechselreserve 
noch etwas höher als auf 300 Mill. Pesetas zu bemessen. Ein Be- 
trag von 400 Mill. Pesetas sollte jedoch unter allen Umständen ge- 
nügen. Rußland ist ja im stande gewesen, mit der oben erwähnten 
Verwendung von 71 bezw. 73 Mill. Rubel in zwei Jahren auch der 
Baissespekulation, die überdies in Berlin besonders mächtig war, die 
Spitze zu bieten. Wenn Rußland im Jahre 1862 bei Aufwendung 
des viel größeren Betrages von 15 Mill. £ — 500 Mill. Pesetas ein 
Fiasko erlitten hat, so kann das hier nicht geltend gemacht werden. 
Rußland wollte nämlich damals nicht lediglich den Rubelkurs in der 
damaligen Höhe stabilisieren, sondern wollte den Kurs auf 
Pari heben?), und das mußte mißlingen, weil die bestehenden wirt- 
schaftlichen Verhältnisse den Parikurs nicht rechtfertigten. Würde 
Rußland schon damals nichts anderes angestrebt haben, als die 
Schwankungen zu beseitigen und den Kurs in einer der realen Ge- 
staltung des Verkehrs entsprechenden Höhe festzulegen, wie es das 
1893 tat, dann würde es seinen Zweck ohne Zweifel schon damals 
erreicht haben, ebenso wie das im Jahre 1893 und in der Folgezeit 
gelungen ist. 

c) Kosten der Stabilisierung desKurses. Die Kosten 
der hier vorgeschlagenen Stabilisierung des Kurses sind keines- 
wegs bedeutend. 400 Mill. Pesetas würden, auf dem Anleihe- 
wege beschafft, zumal wenn sie, wie es möglich wäre, erst nach 
und nach angeliehen würden, nachdem das neue Projekt schon seinen 
Einfluß auf den Kurs der spanischen Anleihen geäußert hätte, 
wahrscheinlich nicht mehr als 4 Proz. Zinsen kosten. Diese Zins- 
ausgabe würde aber noch zum größten Teil durch Aktivzinsen und 
Kursgewinn wieder hereingebracht werden. Die zu beschaffende 
Reserve würde nämlich, in Wechseln auf Goldwährungsländer an- 
gelegt, vielleicht 2—3 Proz. Zinsen eintragen. Außerdem müßte 
sich aber im normalen Laufe der Dinge daraus ein Gewinn ergeben, 
daß die spanischen Wechsel unter Pari angekauft bezw. eingelöst 
und über Pari wieder abgegeben würden bezw. daß die entsprechende 
Operation mit ausländischen Wechseln vorgenommen würde. Dann 
bliebe außer den Verwaltungskosten nur eine geringe Ausgabe als 
Differenz zwischen dem Passivzinse und dem Aktivzinse nebst 
Gewinn übrig. Vielleicht würde sich die ganze Summe der Kosten 
per Saldo auf 1— 1?/, Proz., also auf 4 Mill. Pesetas per Jahr, stellen. 
Diese Kosten sind aber minimal im Vergleich mit den Vorteilen der 


1) Wagner, Russische Papierwährung, S. 132/133. v. Schulze-Gaevernitz, Volks- 
wirtschaftliche Studien aus Rußland (1899), S. 528. 


776 Otto Heyn, 


Herstellung eines stabilen Kurses! Zugleich sind sie bedeutend, 
nämlich um 14 bezw. 12 Mill. Pesetas per Jahr, geringer als die 
Kosten, welche jetzt aufgewendet werden sollen, um den Versuch 
der Wiederherstellung des Parikurses zu machen. 

d) Die Gefahr des Mißlingens. Wenn aber der Versuch 
der Stabilisierung des Kurses mißlingen sollte — was dann? In 
diesem Falle könnten sich die Zustände im allgemeinen nicht un- 
günstiger gestalten, als sie jetzt sind, oder vielmehr: als sie sich 
gestalten würden, wenn jeder Versuch einer Stabilisierung des 
Kurses oder einer Wiederherstellung des Parikurses unterbliebe. 
Insofern würde also ein Schaden nicht entstehen. Der Aufwand des 
Staates für die Gold- bezw. Wechselreserve wäre allerdings zunächst 
vergeblich gewesen. Es wäre aber nicht etwa das aufgewandte 
Kapital von 400 Mill. Pesetas verloren. Der Verlust würde viel- 
mehr nur wenige Prozent betragen. Der Staat hätte ja dann in dem 
Bestande seiner Goldreserve an Stelle des Goldes bezw. der aus- 
ländischen Wechsel spanische Wechsel oder spanisches Geld und 
diese würden lediglich um den Betrag der Zunahme des Goldagios 
(minus 1 Proz.) weniger wert sein, als das dafür abgegebene Gold 
oder die verkauften ausländischen Wechsel. Nehmen wir an, die 
festgesetzte Mittellinie von 135 Pesetas per 100 Francs sei zu hoch 
gewählt und der Kurs ginge nach der Erschöpfung der Gold- bezw. 
Wechselreserve auf durchschnittlich 143 Pesetas für 100 Francs 
zurück, oder es stiege das Agio von 35 auf 43 Proz., so würde der 
Verlust, da das Gold ca. zu 136 Pesetas für 100 Francs (1 Proz. 
über der Mittellinie) weggegeben wäre, 7 Pesetas für je 136 Pesetas, 
also ca. 5 Proz. betragen. Bei einer Goldreserve von 400 Mill. 
Pesetas wäre das ein einmaliger Verlust von 20 Mill. Pesetas — 
während ein Mißlingen des Versuchs der Wiederherstellung des 
Parikurses beinahe ebensoviel, nämlich 18 Mill. Pesetas, jährlich 
kosten würde. 

Ein Mißlingen könnte, wenn wir von den Fällen eines Krieges 
oder innerer Unruhen (die einen starken Kapitalabfluß hervorrufen 
würden) absehen, einen doppelten Grund haben. Zunächst könnte 
der Grund lediglich in Baisseoperationen der Spekulation liegen. 
Dann wäre der Beweis erbracht, daß die Goldreserve zu niedrig 
bemessen ist, um diesen Angriffen zu trotzen, nichts weiter. Dann 
würde es lediglich erforderlich sein, die Goldreserve zu verstärken. 
Mit Rücksicht hierauf sollte der Regierung von vornherein die Er- 
mächtigung erteilt werden, im Notfalle weitere Anleihen aufzu- 
nehmen, um die Goldreserve, noch ehe sie vollständig erschöpft 
wäre, wieder aufzufülen. Es könnte aber der Grund auch in den 
realen Verhältnissen des Verkehrs liegen. In diesem Falle würde 
sich gezeigt haben, daß Spanien nach dem Stande seines Auslands- 
verkehrs nicht einmal in der Lage ist, auf der Basis das dem 
jetzigen Goldagio entsprechenden niedrigen Kurses mit seinem Ex- 
port und den sonstigen Leistungen seinen Import und seine Zins- 
Schulden an das Ausland zu bezahlen. Es würde sich gezeigt 


Kritische Erörterung des Projekts der Beseitigung des Goldagios in Spanien. 777 


haben, daß der „natürliche“, durch die Verhältnisse des realen Ver- 
kehrs bedingte Kurs seiner Valuta noch tiefer liegt. Daraus würde 
sich die Konsequenz ergeben, daß der Versuch der Stabilisierung 
des Kurses auf niedrigem Niveau wiederholt werden müßte. 
Schließlich müßte derselbe gelingen und dann würden sich, ohne 
daß zugleich besondere Nachteile entständen, doch noch alle die- 
jenigen Vorteile ergeben, welche für den Fall des Gelingens der 
Stabilisierung des Kurses in seiner jetzigen Höhe oben näher dar- 
gelegt sind. Es wäre ganz falsch, in einem solchen Falle den 
Versuch überhaupt aufzugeben und die derzeitigen unsicheren Zu- 
stände fortbestehen zu lassen. Dieser Fehler, der z. B. in Italien 
gemacht ist, müßte unbedingt vermieden werden. Dann würde 
eine Besserung der Verhältnisse im Vergleich mit der jetzigen Lage 
unter allen Umstünden die Folge sein. 


V. Sehluß. 


Nach den Ergebnissen der vorstehenden Untersuchung muß es 
im Interesse Spaniens dringend geboten erscheinen, das beschlossene 
Reformprojekt noch jetzt zu ändern und statt der beabsichtigten 
Beseitigung des bestehenden Agios und der Wiederherstellung des 
Parikurses lediglich die Stabilisierung des jetzigen Kurses an- 
zustreben. Zwingende Gründe, den Versuch der Wiederherstellung 
des Parikurses zu unternehmen, liegen nicht vor. Eine dahin- 
gehende Verpflichtung des Staates besteht nicht. Das Gelingen ist 
aber höchst zweifelhaft. Die Kosten würden also wahrscheinlich 
vergeblich aufgewendet werden. Vor allem aber würde selbst im 
Falle des Gelingens nicht nur kein Vorteil, sondern Nachteil, und 
zwar großer Nachteil entstehen. Die Konkurrenzfähigkeit der 
spanischen Produzenten würde, wenigstens zunächst, geschwächt, 
der Grund und Boden entwertet, die Grundbesitzer und viele Hypo- 
thekengläubiger geschädigt, die derzeitigen Produzenten, wenigstens 
teilweise, ruiniert werden. Der Staat würde auf der einen Seite 
mit der Minderung des Aufwands für die Auslandsausgaben nur 
wenig mehr ersparen als den Mehrbetrag von Zinsen, zu deren 
Zahlung die neu aufzunehmenden Anleihen ihn verpflichteten, und 
er würde auf der anderen Seite, wenigstens für lange Zeit — so 
lange bis die Krisis überwunden wäre — und soweit Ertragssteuern 
in Betracht kommen, dauernd einen Ausfall an Einnahmen 
erleiden. Vor allem aber wäre mit der Herstellung des Parikurses 
das Hauptübel jeder Papierwährung: das Schwanken des Wechsel- 
kurses, nicht beseitigt. 

Im Gegensatz hierzu würden durch die Stabilisierung des 
Kurses in der jetzigen Höhe sofort günstige Verhältnisse geschaffen 
werden. Die Bedingungen des Außenhandels, die für die spanischen 
Produzenten, besonders die Exportproduzenten, jetzt so günstig sind, 
würden nicht nur aufrechterhalten, sondern durch die Beseitigung 
der Kursschwankungen und die Herstellung einer festen Basis für 


778 Otto Heyn, Erörterung des Projekts der Beseitigung des Goldagios in Spanien. 


den Auslandsverkehr, sowie durch den mit Sicherheit zu erwartenden 
Zufluß ausländischen Kapitals noch verbessert werden. Die Ein- 
nahmen des Staates würden erhöht, der Staatskredit mächtig 
gehoben werden. Eine Krise würde nicht eintreten und die Pro- 
sperität der Bevölkerung stetig zunehmen. An Stelle einer Ver- 
mehrung der Zinsenlast um 18 Mill. Pesetas, welche den Versuch 
der Wiederherstellung des Parikurses zur Folge hat, würden die 
Kosten nur 4—6 Mill. Pesetas per Jahr betragen. Dagegen würde 
allerdings der jetzige Mehraufwand für die Bestreitung aller Aus- 
landsausgaben, welchen das Goldagio verursacht, bestehen bleiben. 
Dieser Mehraufwand würde aber mindestens zur Hälfte schon 
durch die Kostenersparnis gedeckt werden und für den Rest würde 
die Steigerung der Einnahmen Ersatz bringen. 

Man mag nun auch gegenüber dem Projekte einer Stabilisierung 
des jetzigen Kurses noch Bedenken hegen und mag behaupten, daß 
sich mit Rücksicht auf die verhältnismäßig große Verschuldung 
Spaniens an das Ausland ein fester Kurs überhaupt nicht aufrecht 
erhalten lasse. Es ist auch zuzugeben, daß unter sehr ungünstigen 
Umständen, z. B. in Kriegszeiten, die Aufrechterhaltung des Kurses 
wahrscheinlich unmöglich sein würde. Jedenfalls wird aber nicht 
geleugnet werden können, daß Spanien in Anbetracht des Einflusses 
der Höhe des Kurses auf die Produktion und die Handelsbilanz 
vieleher im stande ist, den Kurs in der jetzigen Höhe 
zu stabilisieren, als ihn auf Pari zu heben und ihn auf dem 
Paristande, 25 Proz. höher als jetzt, zu halten. Wenn es schon 
zweifelhaft wäre, ob die Stabilisierung des Kurses in der jetzigen 
Höhe gelingen würde (was jedoch in Wirklichkeit, wenn nicht ganz 
außerordentliche Verhältnisse eintreten, nicht zutrifft), so kann die 
Wiederherstellung des Parikurses noch viel weniger gelingen. 
Schon die Vorsicht muß daher gebieten, einstweilen nur das mindere 
Ziel zu verfolgen. Damit wäre auch nichts vergeben; denn wenn es 
gelungen ist, den Kurs in der jetzigen Höhe zu stabilisieren, so 
kann später die Hebung desselben auf Pari, wenn eine solche dann 
noch wünschenswert erscheinen sollte, immer noch versucht werden. 


Nationalökonomische Gesetzgebung. 7179 


Nachdruck verboten. 


Nationalökonomische Gesetzgebung. 


IL. 


Die wirtschaftliche Gesetzgebung Oesterreich-Ungarns 
im Jahre 1901. 


Von Dr. phil. Felix Wissowa (Berlin). 


I. Die für die Gesamtmonarchie geltenden Gesetze und Ver- 
ordnungen. 


Verordnung vom 13. März, betr. die Zollbehandlung von Ma- 
schinen, Apparaten, Instrumenten und sonstigen Vorrichtungen 
für elektrische Zwecke (R.G.B. 13. Stück No. 31 8.142). 


1) Der Verzollung als Maschinen, bezw. Apparate unterliegen Dynamoma- 
schinen und Elektromotoren samt den darauf anmontiert eingehenden Regulatoren 
und Anlassern, ferner Transformatoren (mit Ausnahme jener für Meßzwecke) und 
Spannungsteiler. Von den beiden letzteren sind die Gleichstromtransformatoren 
wie Dynamomaschinen und zwar bei Vorhandensein der vorgeschriebenen Bedin- 
gungen im vertragsmäßigen Verkehre zum Zollsatze von 5 fl. per 100 kg zu ver- 
zollen, während Wechselstromtransformatoren und Spannungsteiler nach T. No. 287 
zum Zollsatze von 8 fl. 50 kr. (vertragsmäßig mit 7 fl. 50 kr.) per 100 kg., bezw. 
wenn aus mehr als 50 Proz. unedler Metalle bestehend, nach T. No. 256 zum Zoll- 
satze von 15 fl. (vertragsmäßig 12 fl.) per 100 kg abzufertigen sind, sofern alle 
diese ein Einzelngewicht von 20 kg oder mehr aufweisen. 

2) und 8) zählt die nach Beschaffenheit des Materials bezw. als Instrumente der nach 
T. No. 299b zu verzollenden Dynamomaschinen u. 8. w. im Einzelngewichte von weniger 
als 20 kg, sowie die einzelnen Bestandteile von elektrischen Anlagen auf. 


Verordnung vom 28. März, betr. die Nachweisung des Ur- 
sprunges von serbischem Getreide bei der Einfuhr in das 
ósterreichisch-ungarische Zollgebiet (R.G.B. 15. Stück No. 33 S. 145). 

Das serbische zur Einfuhr bestimmte Getreide wird zu den im Handelsvertrag 
vom 9. August 1892 festgesetzten Begünstigungszollsätzen nur abgefertigt, wenn die 
Sendung mit der ämtlichen Plombe des k., k. Konsularorganes verschlossen ist, welches 
das Ursprungszeugnis ausgestellt hat. 

Verordnung vom 13. Juni, wegen Abänderung einiger Bestim- 
mungen über die abgabefreie Verwendung von Branntwein 
und Zucker zur Herstellung von Liqueur für die Ausfuhr über die 
Zolllinie (R.G.B. 31. Stück No. 67 S. 219—228). 

Verordnung vom 10. August, betr. de gänzliche Einlösung 
der gemeinsamen schwebenden Schuld in Staatsnoten und 
die Ausgabe von Banknoten zu 10 K. durch die Oesterreichisch- 
Ungarische Bank (R.G.B. 53. Stück No. 123 S. 331—333). 


Auf Grund der Verordnung vom 21. September 1899 betr. die günzliche Ein- 
lósung der gemeinsamen schwebenden Schuld in Staatsnoten, wird über mit dem 


780 Nationalökonomische Gesetzgebung. 


ungarischen Finanzministerium getroffenes Einverständnis und im Einvernehmen 
mit dem k. u. k. Reichsfinanzministerium die Einberufung und Einlösung der 
Staatsnoten zu 5 fl. österreichische Währung . .. mit dem Datum vom 1. Jänner 
1881 und der Staatsnoten zu 50 fl. österreichischer Währung . . . mit dem Datum 
vom 1. Jänner 1884 . . . angeordnet. 

Die allgemeine Verpflichtung zur Annahme dieser Staatsnoten erlischt am 28, Fe 
bruar 1903; die Annahme derselben bei den Staatskassen wird bis zum $1. August 
1908 erstreckt, worauf bis zum 81. August 1907 die Einlösung nur noch durch die 
Oesterreichisch-Ungarische Bank und deren Filialen, sowie durch das k. E Landes- 
zahlamt in Zara erfolgt; nach dem 31. August 1907 findet eine Einlösung dieser Noten 
überhaupt nicht mehr statt. 

Zum Ersatze der einzulösenden Staatsnoten im Gesamtbetrage von 224 Mill.K. 
in der Zirkulation sind zufolge der Verordnung des k. k. Finanzministeriums vom 
8. März 1900!) Silbermünzen m Kronenwührung zu 5 K. im Betrage von 64 Mill. K. 
verausgabt worden. Zudem wird die Oesterreichisch-Ungarische Bank in Ausfüh- 
rung der von der k. k. und der kgl. ung. Regierung mit derselben auf Grund der 
kaiserlichen Verordnung vom 21. September 1899, betr. die Ausgabe von Bank- 
noten zu 10 K. durch die Oesterreichisch-Ungarische Bank getroffenen Vereinba- 
rungen, Banknoten zu 10 K. bis zum Höchstbetrage von 160 Mill. K. ausgeben. 

Angeschlossen ist eine Kundmachung der Oesterreichisch-Ungarischen Bank rom 
10. August 1901 und esne Beschreibung der Zehnkronenbanknote, welche die Firma 
der Oesterreichisch-Ungarischen Bank und das Datum vom 81. März 1900 trägt. 


Erlaß vom 2. September, betr. die Einziehung der Bank- 
noten zu 10 fl. à. W. (R.G.B. 58. Stück No. 136 S. 350). 


Letzter Einziehungstermin der genannten Banknoten ist der $1. August 1908, 
worauf diese, aber nur noch bis zum 31. August 1909, noch bei den Hauptanstulten 
der Oesterreichisch-Ungarischen Bank in Wien und Budapest im Wege der Verwechs- 
lung angenommen werden. 


Verordnung vom 25. Oktober, betr. die Anwendung der Be- 
stimmungen des Zuckersteuergesetzes auf einige im Handel 
unter der irrigen Bezeichnung „Dextrine“ vorkommenden Waren 
(R.G.B. 76. Stück No. 169 S. 531). 


Im Einvernehmen mit dem kgl. ungarischen Finanzministerium wird erklärt, 
daß die im Handel unter der irreführenden Deklaration als „Dextrine‘ vorkommen- 
den Waren, z. B. Brillantine etc., welche mit Rücksicht auf ihre Zusammensetzung 
keine „Dextrine“, sondern Stärkezucker sind, unter die Bestimmungen des $ 1 
Z. 2 des Zuckersteuergesetzes fallen. 

Als Stärkezucker sind die oben angeführten Waren dann anzusehen, wenn sie 
bei der Prüfung mit Fehlingscher Lösung mehr als 15 Proz. reduzierende Sub- 
stanz ausgedrückt in Dextrose aufweisen. 

Die Prüfung derartiger Waren auf ihren Zuckergehalt hat in der gleichen 
Weise zu geschehen, wie dies mit der gleichzeitig verlautbarten Ministerialverord- 
nung vom 25. Oktober 1901, betr. die Abänderung, bezw. Ergänzung mehrerer 
Bestimmungen des alphabetischen Warenverzeichnisses zum Zolltarife *) vorgeschrie- 
ben ist. 

Erlaß vom 31. Oktober, betr. einige Abänderungen der auf die 
Besteuerung von Zucker bezüglichen Vorschriften (RGB 
80. Stück No. 180 S. 541). 

Betrifft Erleichterungen bei Ueberreichung der im Z 14 des Zuckersteuergesetzes 
vorgeschriebenen Schriftstücke, Zulassung des Kopierverfahrens, Führung mehrerer Ver- 
schleißregister, Vereinfachung der Kontrolle bei Einlagerung unversteuerter Zucker- 
erzeugnisse und Erhöhung des Maximalgewichtes der Zuckermuster. 


1) Vergl. Jahrbücher f. Nutionalökon. u. Statistik 8. F. Bd. 22 (77) S. 854 — 
2) Diese Verordnung (R.G.B. 1901 76. Stück No. 170 S. 531 f.) betrift Brillantine 
und Stárkeqummi und enthält eine Instruktion zur Untersuchung von Dextrinen auf 
den Zuckergehalt. 


—À— 


Nationalökonomische Gesetzgebung. 781 


II. Die für die im Reichsrate vertretenen Kônigreiche und Länder 
geltenden Gesetze und Verordnungen. 


Verordnung vom 16. März, betr. die Schlußeinheiten der an 
den inländischen Börsen (Wien, Prag und Triest) notierten 
Effekten als Grundlage für die Bemessung der Effektenumsatzsteuer 
(R.G.B. 12. Stück No. 28 S. 119—132; 149). 


Enthält in den Anlagen A—C die Geschäftsbedingungen der Wiener, bezw. Prager 
und Triester Börse über den einfachen Schluß der an diesen Börsen notierten Effekten. 


Verordnung vom 20. März, betr. die Einführung eines neuen 
Tarifes für die Gebühren der gerichtsärztlichen Sachver- 
ständigen im Strafverfahren (R.G.B. 16. Stück No. 34 S. 147 — 
149). 

Ersetzt die Ministerialverordnung vom 17. Februar 1855. 

Kundmachung vom 27. März, betr. die Errichtung einer Perma- 
nenzkommission für die Handelswerte der Zwischenver- 
kehrsstatistik im Handelsministerium (R.G.B. 14. Stück No. 32 
S. 148 f£). 


§ 1. Die k. k. Permanenzkommission für die Handelswerte der Zwischen- 
verkehrsstatistik hat die Aufgabe, die Werte jener Verkehrsgegenstände, welche 
den Gegenstand der Statistik des Warenverkehres zwischen den im Reichsrate ver- 
tretenen Kónigreichen und Lündern und den Lündern der ungarischen Krone bilden, 
jährlich zu erheben und festzustellen. 

$ 3. Die Permanenzkommission besteht aus: 

1) dem Präsidenten, 

2) dem Stellvertreter desselben, 

3) je zwei Vertretern der Ministerien des Handels, der Finanzen, des Acker- 
baues und der Eisenbahnen, 

4) zwei Vertretern der statistischen Zentralkommission, 

5) einem Vertreter der Handels- und Gewerbekammer des Erzherzogtums 
Oesterreich unter der Enns, sowie 

6) aus einer nach Bedarf festzustellenden Anzahl anderer Mitglieder aus den 
fachmännischen Kreisen der Industrie und des Handels, insbesondere der Handels- 
und Gewerbekammern, sowie der Land- und Forstwirtschaft. 

$ 4. Präsident der Kommission ist der Vorstand des k. k. Zwischenverkehrs- 
statistischen Amtes im k. k. Handelsministerium. 

Der Stellvertreter desselben wird vom Handelsminister ernannt. 

Die Vertreter der Ministerien werden von den betreffenden Ministerien be- 
rufen, jene der statistischen Zentralkommission und der Vertreter der niederöster- 
reichischen Handels- und Gewerbekammer von diesen selbst bezeichnet. 

Die fachmännischen Mitglieder der Kommission werden vom Handelsminister 
auf die Dauer von 6 Jahren ernannt. 

$ 10. Die Stelle eines Mitgliedes der Permanenzkommission ist ein Ehrenamt 
und wird unentgeltlich ausgeübt. 

Die vom Handelsminister aus fachmännischen Kreisen ernannten Mitglieder 
gc das Recht, während ihrer Funktionsdauer den Titel „k. k. Kommerzialrat“ 
zu führen. 


Verordnung vom 16. April, mit welcher der Punkt 6 der Verord- 
nung des Ministeriums des Innern vom 17. Dezember 1894, betr. Be- 
stimmungen über den Handverkauf in Apotheken, sowie über 
die Herstellung und den Vertrieb der als pharmazeutische Spezialitäten 


sich darstellenden arzeneilichen Erzeugnisse abgeändert wird (R.G.B. 
19. Stück No. 40 S. 157). 


782 Nationalökonomische Gesetzgebung. 


Bezweckt die Ueberwachung der Herstelluny und des Vertriebes pharmazeutischer 
Erzeugnisse, weshalb die Apotheken verpflichtet werden, jedes neu hergestellte oder vom 
Auslande übernommene Erzeugnis der politischen Behörde erster Instanz anzumelden. 


Erlaß vom 14. Mai, betr. das Maß der Sicherstellung für 
die richtige Einzahlung des Bonifikationsrückersatzes 
bei der Zuckerausfuhr in der Betriebsperiode 1901/1902 (R.G.B. 
23. Stück No. 54 S. 177.) 


Auf Grund des $ 3 des V. Teiles der kaiserlichen Verordnung vom 17. Juli 
1899 wird angeordnet, daß die einzelnen Erzeugungsstätten von Zucker der im 
$ 1 Z. 1 des Zuckersteuergesetzes bezeichneten Art als Sicherstellung für die rich- 
tige Einzahlung des allfällig zu leistenden Ausfuhrbonifikationsrückersatzes für 
die Betriebsperiode 1901/1902 jenen Betrag zu leisten haben, welcher von den ein- 
zelnen Zuckererzeugungsstätten als Ausfuhrbonifikationsrückersatz zu leisten wäre, 
wenn die individuelle Verteilung des für die Betriebsperiode 1900/1901 auf die 
Gesamtheit der Zuckererzeugungsstätten in den im Reichsrate vertretenen König- 
reichen und Ländern voraussichtlich entfallenden Rückersatzes unter Zugrunde- 
legung der Betriebsergebnisse der Betriebsperiode 1899/1900 nach Maßgabe der 
Bestimmungen des V. Teiles der obbezogenen Verordnung vorgenommen würde, 
Der in solcher Art ermittelte Sicherstellungsbetrag wird Zeg abgerundet, das 
Beträge unter 50 K. auf 50 K., Beträge über 50 É auf 100 K. erhöht werden. 

en einzelnen Zuckererzeugungsstätten werden die auf sie entfallenden Sicher- 
de is re von den zuständigen Finanzbehörden erster Instanz bekannt gegeben 
werden. 

Für jene Zuckererzeugungsstätten, welche in der Betriebsperiode 1899 190 
nicht im Betriebe waren, wird die fragliche Sicherstellung mit je 45 000 K. festgesetzt. 


Verordnung vom 18. Mai, betr. das Uebereinkommen zwischen 
der k. k. ósterreichischen und der fürstlich Liechtensteinschen 
Regierung zum Zwecke der Vermeidung von Doppelbe- 
steuerungen (R.G.B. 32. Stück No. 68 S. 229 f.)1). 

Gesetz vom 2. Juni, betr. die Ausdehnung der zeitlichen Be- 
freiung von der Hauszinssteuer für Umbauten, welche im Gebiete 
der Stadtgemeinde Jägerndorf ibexw. Neutitschein, bexw. Klagenfurt) aus 
öffentlichen Assanierungs- oder Verkehrsrücksichten vorgenommen werden 
(R.G.B. 24. Stück No. 55 S. 179—186; No. 56 S. 187—190; No. 57 
S. 191—190). 

Drei Gesetze, durch welche die in den genannten Stadtgemeinden aus gesund- 
heitspolizeilichen oder Verkehrsrücksichten innerhalb bestimmter Grenzen neu auj- 
geführten Gebäude auf 18 Jahre von der Hauszinssteuer befreit werden. 

Gesetz vom 3. Juni, betr. die Verwendung von Teilen der 
Gebarungsüberschüsse der gemeinschaftlichen Waisen- 
kassen (R.G.B. 26. Stück No. 62 S. 199). 


$ 1. Die in Böhmen, Mähren, Schlesien, Oesterreich unter der Enns, Oester- 
reich ob der Enns, Salzburg und in Galizien bestehenden gemeinschaftlichen Waisen- 
kassen haben während der Jahre 1901 bis einschließlich 1910 alljährlich von der 
Gesamtsumme iher Gebarungsüberschüsse, die sich bis zum Schlusse des jeweils 
zweitvorausgegangenen Jahres nach den genehmigten Jahresausweisen ergeben, eine 
Prozentualquote an die betr. Länder abzuführen. " 

Der Prozentsatz dieser Quote hat '/, Proz. weniger zu betragen, als der bei 
der Waisenkasse am Schlusse des Ausweisjahres vorschriftsmäßig bestandene Zins- 
fuß. Von den hiernach sich ergebenden Beträgen ist jedoch ein Regiekostenbeitrag 
von 2 Proz. in Abzug zu bringen und als Staatseinnahme zu verrechnen. 


1) Die Bestimmungen des Uebereinkommens entsprechen im wesentlichen denen 
des Staatsvertrages vom 21. ‚Juni 1899 zwischen Oesterreich und Preußen; vergl. Jahr- 
bücher f. Nationalökon. u. Statistik, 3. F. Bd. 22 (77) S. 860. 


Nationalökonomische Gesetzgebung. 183 


. 82. Die gemäß $1 den Ländern überwiesenen Beträge sind zur Pflege und 
Erziehung armer Waisen bis zur Zurücklegung des 18. Lebensjahres, sowie ver- 
wahrloster oder verlassener Kinder zu verwenden, wobei die Waisen von im Kriege 
oder sonst in unmittelbarer Ausübung des Wehrdienstes um das Leben gekom- 
menen Menem vorzugsweise Berücksichtigung zu finden haben . . . 
$ 3. Sollte sich bei einer gemeinschaftlichen Dalscokazd ein durch deren 
Reservefond nicht gedeckter Verlust ergeben, so ist der Fehlbetrag aus den Geba- 
Va ae anderer gemeinschaftlicher Waisenkassen des betr. Landes zu 

ecken 


Verordnung vom 5. Juni, betr. die Abänderung der Vorschriften 
über die Form und den Inhalt der in Gemäßheit des 8 29 des Ge- 
setzes vom 28. Dezember 1887, betr. die Unfallversicherung der Arbeiter, 
zu erstattenden Unfallsanzeigen (R.G.B. 29. Stück No. 65 S. 211 
— 214). 

Umänderung des durch die Verordnung vom 24. Januar 1889 bisher vorgeschrie- 
benen Formulares für die Unfallsanzeige. 

Gesetz vom 11. Juni, betr. den Bau von Wasserstraßen und 
die Durchführung von Flußregulierungen (R.G.B. 30. Stück 
No. 66 S. 215—218). 


$ 1. Der Bau von Wasserstraßen, und zwar: 

a) eines Schiffahrtekanales von der Donau zur Oder, 

b) eines Schiffahrtskanales von der Donau zur Moldau nächst Budweis nebst 

der Kanalisierung der Moldau von Budweis bis Prag, 

c) eines Schiffahrtskanales vom Donau-Oderkanal zur mittleren Elbe nebst 

Kanalisierung der Elbstrecke von Melnik bis Jaromét, 
d) einer schiffbaren Verbindung vom Donau-Oderkanal zum Stromgebiete der 
Weichsel und bis zu einer schiffbaren Strecke des Dniester 
ist vom Staate auszuführen, wenn das Land, in dem einer der unter a bis d ge- 
nannten Kanäle oder Kanalteile hergestellt werden soll, bezw. eine der oben an- 
geführten zu kanalisierenden Flußstrecken sich befindet, sich verpflichtet die Zahlung 
eines jährlichen Betrages zu leisten, der zur Verzinsung und Amortisierung eines 
Achtels jener Obligationen hinreicht, welche zur Herstellung des betr. Kanales oder 
Kanalteiles, bezw. zur Kanalisierung der betr. Flußstrecke (a bis d) emittiert werden. 

Zu diesem Zwecke ist das Land berechtigt, die Interessenten heranzuziehen. 

Die Beiträge der Länder sind nach Maßgabe der den Staat aus diesem An- 
lasse treffenden Zahlungen zu leisten und haben aufzuhören, wenn die Einnahmen 
des betr. Kanales nach Abzug der Erhaltungs- und Betriebskosten den zur Ver- 
zinsung und Amortisierung des Normalanlagekapitales dieses Kanales erforderlichen 
Betrag durch zwei aufeinander folgende Jahre überschritten haben. 

84. Die Verwaltung der nach $ 1 dieses Gesetzes herzustellenden Wasser- 
straßen, sowie die Festsetzung und Einhebung der Abgaben und Gebühren für die 
EIER ie der Wasserstraßen und der dazu gehörigen Anlagen erfolgt durch den 
taat. 

Bei Feststellung dieser Abgaben und Gebühren ist auf den ausgiebigsten Schutz 
der gesamten heimischen Produktion, insbesondere durch entsprechende tarifarische 
Maßregeln, vollste Rücksicht zu nehmen. 

§ 5. Behufs Sicherstellung der Regulierung derjenigen Flüsse in Böhmen, 
Mähren, Schlesien, Galizien, Nieder- Oberösterreich, welche mit den im $ 1 

enannten Kanälen, kanalisierten und in Kanalisierung begriffenen Flüssen ein ein- 
Feitliches Gewässernetz bilden und, sei es wegen der Zufuhr von Wasser, sei es mit 
Rücksicht auf die Geschiebebewegung für die in Betracht kommenden Wasser- 
straßen besondere Bedeutung besitzen, sind die Verhandlungen mit den beteiligten 
Königreichen und Ländern sofort einzuleiten, wobei für die finanziellen Leistungen 
der Königreiche und Länder die bei solchen Maßnahmen bisher üblichen Gesichts- 
punkte Anwendung zu finden haben. Die Regulierung dieser Flüsse muß spätestens 
gleichzeitig mit dem Bau der Kanäle (8 1 Abs. 1) in Angriff genommen werden. 

Für alle übrigen Wasserläufe in den im Reichsrate vertretenen Königreichen 


784 Nationalökonomische Gesetzgebung. 
g darstellt, 


und Ländern, hinsichtlich welcher sich eine Regulierung als notwendi 
orarbeiten 


ist dieselbe tunlichst rasch vorzubereiten und sobald die entsprechenden V 
vorliegen, ehestens in Angriff zu nehmen. 

ie behufs Durchführung solcher Regulierungen erforderliche Erhöhung de 
jährlichen Staatsbeitrages für den Meliorationsfond ist durch ein besonderes Gesetz 
festzustellen. 

Die Einstellung von Dotationen für Wasserbauten in die jeweiligen Staats- 
voranschläge bleibt Tiordusch unberührt. 

8 6. Der Bau der in $ 1 bezeichneten Wasserstraßen, hinsichtlich welcher 
seitens der Vertretungen der betr. Länder zustimmende Beschlüsse im Sinne des 
$ 1 gefaßt worden sind, hat längstens im Jahre 1904 zu beginnen. 

Die erforderlichen Vorarbeiten sind derart rechtzeitig durchzuführen, daß 
dieser Zeitpunkt eingehalten und der Bau längstens binnen 20 Jahren vollendet 
werden kann. 

$ 8. Die Kosten der Herstellung der im $ 1 bezeichneten Wasserstraßen 
und der nach $ 5 Abs. 1 durchzuführenden Flußregulierungen sind erforderlichen- 
falls, soweit diese Kosten nicht durch die Leistungen der Länder oder sonstiger 
Interessenten, bezw. aus dem Meliorationsfonde gedeckt werden, durch eine mit 
höchstens 4 Proz. steuerfrei zu verzinsende, auf Kronenwährung lautende, in 
90 Jahren zu tilgende Anleihe zu beschaffen. 

Die Regierung wird ermächtigt, von dieser Anleihe in der Bauperiode 1904 
bis Ende 1912 einen Maximalbetrag von 250 Mill. K. Nominale auszugeben. Der 
hieraus erzielte Erlös darf nur zur Deckung der Herstellungskosten der im $ 1 
bezeichneten Wasserstraßen und der im $ 5 Abs. 1 vorgesehenen Regulierungen 
verwendet werden. 

Von dem Anlehenserlöse ist ein Betrag im Höchstausmaße von 75 Mill. K. 
für die erwähnten Regulierungen zu widmen ... 

Gesetz vom 18. Juni, betr, Gebüren von Vermógensüber- 
tragungen (R.G.B. 34. Stück No. 74 S. 235—239); dazu: Verord- 
nung vom 21. Juni ebd., 35. Stück No. 75 S. 241—247). 


8 1. Für die Uebertragung des Eigentumes unbeweglicher Sachen sind unbe- 
schadet der vom reinen Werte einer Schenkung oder einer Vermögensübertragung 
von Todes wegen entfallenden Gebühren folgende Gebühren zu entrichten: 


1. Wenn die Uebertragung erfolgt 
von Eltern an eheliche und uncheliche Kinder oder deren Nachkommen und 


umgekehrt ; 3 
von Eltern an die mit ihren Kindern die Ehe eingehenden oder durch dieselbe 
schon verbundenen Personen ; - 


von Stiefeltern an Stiefkinder und von Wahleltern an Wahlkinder; 

zwischen weder geschiedenen noch getrennten Ehegatten ; 

zwischen Brautleuten durch Ehepakte, 
ohne Unterschied, ob es sich um eine Uebertragung von Todes wegen oder durch 
ein entgeltliches oder unentgeltliches Rechtsgeschäft unter Lebenden handelt: 

a) bei einem Werte von nicht mehr als 30 000 K. 1 Proz. 

b) bei einem Werte über 30000 K. V. Proz. von dem Werte; 

2. wenn die Uebertragung an andere als die unter Z. 1 bezeichneten Personen 
von atos wegen oder durch ein unentgeltliches Rechtsgeschäft unter Lebenden 
erfolgt : 
a) bei einem Werte von nicht mehr als 20000 K. 1'/, Proz. 

b) bei einem Werte über 20 000 K. 2 Proz. von dem Werte; 

3. wenn die Uebertragung an andere als die unter Z. 1 bezeichneten Personen 
durch ein entgeltliches Rechtsgeschäft unter Lebenden erfolgt: 

a) bei einem Werte von nicht mehr als 10000 K. 3 Proz. 

b) bei einem Werte über 10000 bis 40000 K. 3'/, Proz. 

€) bei einem Werte über 40000 K. 4 Proz. 
von dem Werte . 

. 82. Bildet der Gegenstand der Uebertragung ein vom Eigentümer ganz oder 

teilweise benütztes Gebäude oder eine der Landwirtschaft gewidmete, vom Eigentümer, 
bezw. dessen Familie selbst, mit oder ohne Beihilfe von Dienstboten oder Taglóhnern 


Nationalökonomische Gesetzgebung. 785 


bearbeitete oder eine solche Liegenschaft, die nur deshalb auf die gedachte Art nicht 
bearbeitet wird, weil dieselbe in Exekution gezogen wurde, oder der Eigentümer 
unter Vormundschaft oder Kuratel steht, so ist in folgenden Füllen . . . zu ent- 
richten: 

s l. Wenn die Uebertragung an eine der im 8 1 Z. 1 bezeichneten Personen 
erfolgt: 

a) bei einem Werte von nicht mehr als 5000 K. keine Immobiliargebühr, 

b) bei einem Werte über 5000 K., jedoch nicht mehr als 10000 K., '/, Proz. 
von dem Werte, ; 

2. Wenn die Uebertragung an andere, als die in 81 Z. 1 bezeichneten Personen 
erfolgt, welche die unbewegliche Sache gleichfalls auf die obengedachte Art be- 
nützen: 

a) bei einem Werte von nicht mehr als 5000 K. die Hälfte, 

b) bei einem Werte über 5000 K., jedoch nicht mehr als 10000 K. ‘/, der im 
$ 1. Z. 2 und 3 festgesetzten Gebührensätze. 


Die 22 8—9 enthalten noch einige nebensächliche Bestimmungen, die 82 11—17 
Bestimmungen über das Verfahren zur Sicherung von Gebühren. 

Gesetz vom 23. Juni, betr. die Forterhebung der Steuern 
und Abgaben, sowie die Bestreitung des Staatsaufwandes in der 
Zeit vom 1. Juli bis Ende Dezember 1901 (R.G.B. 37. Stück No. 78 
S. 251—272). 

Gesetz vom 26. Juni, womit Bestimmungen der Renten- 
steuer abgeändert werden (R.G.B. 30. Stück No. 80 S. 275). 

Art. I. In teilweiser Abänderung des $ 131, lit. d des Gesetzes vom 25. Oktober 
1896, betr. die direkten Personalsteuern, wird bestimmt, daß die Zinsen von Pfand- 
briefen und von den auf Grund von re Darlehen emittierten Obligationen 
der Landeskreditinstitute, einschließlich des Galizischen Bodenkreditvereines, sowie 
der Pfandbriefanstalten der Sparkassen, einschließlich der in Bildung begriffenen 
Zentralbank der deutschen Sparkassen in Prag und einer auf gleichartiger Grundlage 
zu errichtenden Zentralbank der böhmischen Sparkassen in Prag einer Rentensteuer 
von !/, Proz. unterliegen. 

erselben Steuer unterliegen die von dem k. k. privilegierten österreichischen 
Kreditinstitute für Verkehrsunternehmungen und öffentliche Arbeiten emittierten 
Teilschuldverschreibungen. 


Gesetz vom 27. Juni, womit bezüglich der beim Kohlenberg- 
baue in der Grube beschäftigten Arbeiter das Gesetz vom 21. Juni 
1884 über die Beschäftigung von jugendlichen Arbeitern und 
Frauenspersonen, dann über die tägliche Arbeitsdauer und die 
Sonntagsruhe beim Bergbaue, abgeändert wird (R.G.B. 40. Stück 
No. 81 S. 277 f.). 


Art. I. Der § 3 des Gesetzes vom 21. Juni 1884 tritt bezüglich der beim 
Kohlenbergbaue in der Grube beschäftigten Arbeiter in seiner gegenwärtigen Fassung 
außer Kraft und hat zu lauten, wie folgt: 

$ 3. Die Schichtdauer für die beim Kohlenbergbaue in der Grube beschäftigten 
Arbeiter darf 9 Stunden nicht übersteigen. 

Der Beginn der Schicht wird nach der Zeit der Einfahrt, ihre Beendigung 
nach der vollendeten Ausfahrt berechnet. 

Die aus der Natur des Betriebes sich ergebenden, sowie die sonstigen Ruhe- 
pausen sind in die Schichtdauer einzurechnen, ausgenommen, wenn solche über 
Tag zugebracht werden, in welchem Falle auch die zur bezüglichen Aus- und 
Wiedereinfahrt erforderliche Zeit in die Schichtdauer nicht einzurechnen ist. 

Ausnahmsweise kann auch eine längere als die mit diesem Gesetze festgesetzte 
Schichtdauer bis zum Ausmaße von 12 Stunden mit einer 10 Stunden täglich nicht 
übersteigenden wirklichen Arbeitszeit gestattet werden, wenn bei dem betr. Berg- 
bau zur Zeit der Kundmachung dieses Gesetzes eine längere Schichtdauer bereits 
bestanden hat und die Einführung der neunstündigen Schichtdauer oder eine Ab- 

Dritte Folge Bd, XXV (LXXX). 50 


786 Nationalökonomische Gesetzgebung. 


kürzung der bisherigen Schichtdauer überhaupt, im Hinblick auf die obwaltenden 
betriebstechnischen oder wirtschaftlichen Verhältnisse die Aufrechthaltung des Be- 
triebes unmöglich machen oder gefährden würde... 

Ferner kann der Ackerbauminister für hochgelegene Kohlenbergbaue der 
Alpenländer Ausnahmen von der im ersten Absatze bestimmten täglichen Schicht- 
dauer mit der Maßgabe bewilligen, daß die Gesamtdauer der von einem 
anal in einer Woche verfahrenen Schichten nicht über 54 Stunden betragen 
darf... 


Gesetz vom 30. Juni, womit das Gesetz vom 29. Juni 1868, betr. 
die Organisierung der Handels- und Gewerbekammern, 
teilweise abgeändert wird (R.G.B. 45. Stück No. 103 S. 299). 

Gesetz vom 1. Juli, betr. die im Jahre 1901 sicherzustellenden 
Bahnen niederer Ordnung (R.G.B. 42. Stück No. 85 S. 287—286). 

Gesetz vom 3. Juli, betr. die Veräußerung und Belastung 
von Objekten des unbeweglichen Staatseigentumes, 
welche sich in der Benützung der Heeresverwaltung befinden (R.G.B. 
44. Stück No. 96 S. 295.) 

Art. I. Mein Finanzminister wird ermächtigt, in der Benützung der Heeres- 
verwaltung befindliche, für dieselbe entbehrlich werdende Objekte des unbeweglichen 
Staatseigentumes, deren Schätzwert für jedes einzelne Objekt den Betrag von 
50000 K. nicht übersteigt, während der Jahre 1901, 1902 und 1903 bis zum Ge- 
samtwerte von 1000000 K. an veräußern und den Erlös zum Zwecke der Ersatz- 
beschaffung der Heeresverwaltung zur Verfügung zu stellen. J 

Art. II. Ebenso ist Mein Finanzminister ermächtigt, während der Jahre 1901, 
1902 und 1903 die Belastung von Objekten des unbeweglichen Staatseigentumes, 
welche sich in der Benützung der Heeresverwaltung befinden, mit Dienstbarkeiten 
zu gestatten, wenn die Wertverminderung des zu belastenden Objektes oder der 
Wert des einzuräumenden Rechtes in jedem einzelnen Falle den Betrag von 
50000 K. nicht übersteigt. Der Gesamtwert der in den Jahren 1901, 1902 und 
1903 in dieser Weise einzuriumenden Dienstbarkeiten darf den Betrag von 600 000 K. 
nieht übersteigen. 

Gesetz vom 8. Juli, betr. die Erhöhung der Branntwein- 
abgabe und die Zuwendung eines Teiles des Ertrages dieser Abgabe 
an die Landesfonde der im Reichsrate vertretenen Königreiche und 
Länder (R.G.B. 43. Stück No. 86 S. 287—289; dazu Erlaß vom 13. Juli, 
ebd. 46. Stück No. 105 S. 303—310, ferner Erlab vom 16. August, 
betr. das Ausmaß der Branntweinabgabe, welche für die über die Zoll- 
linie eingeführten gebrannten geistigen Flüssigkeiten zu entrichten ist 
(ebd, 54. Stück No. 125 S. 335) und Verordnung vom 16. August, 
betr. die Erhóhung des Zollzuschlages bei der Einfuhr von Artikeln, 
welche einen Zusatz von Alkohol enthalten oder zu deren Herstellung 
Alkohol verwendet wird (ebd. No. 126 S. 335 f), endlich Erlaß vom 
17. August, ebd. N. 127 S. 337.) 


Art. I. Das im $ 2a des Gesetzes über die Branntweinbesteuerung vom 20. Juni 
1888 festgesetzte Ausmaß der Branntweinabgabe wird erhöht und zwar jenes der 
Produktionsabgabe von 70 h auf 90 h, jenes des niedrigeren Satzes der Konsum- 
abgabe von 70 h auf 90 h und jenes des höheren Satzes der Konsumabgabe von 
90 h auf 1 K 10 h für jeden Hektolitergrad (Liter) Alkohol. a 

ee SEH wird die Abgaberückvergütung für den über die Zolllinie 
ausgeführten Branntwein, auf dem die Abgabe nicht haftet, mit 45 h per Liter 
Alkohol geleistet und ist sowohl der Bemessung des Alkoholpauschales im 
Falle der Pauschalierung nach der Leistungsfähigkeit der Brennvorrichtung 
als auch der Strafbemessung der um 20 h erhöhte Abgabesatz zu Grunde zu legen. 

Art. II. Die in den freien Verkehr übergegangenen gebrannten geistigen 


Nationalökonomische Gesetzgebung. 787 


Flüssigkeiten, welehe am 1. September 1901 im Geltungsgebiete des gegenwärtigen 
Gesetzes vorhanden sind, sowie jene, welche in den Ländern der ungarischen Krone 
und in Bosnien und der Herzegowina in der Zeit vor dem 1. September 1901 an 
Empfänger im Geltungsgebiete des he Gesetzes verwendet werden, jedoch 
erst nach dem 1. September in diesem Gebiete einlangen, unterliegen einer 
Nachsteuer von 20 h per Liter Alkohol, auf welche die für die Konsumabgabe 
geltenden Bestimmungen sinngemäße Anwendung finden. 

Befreit von dieser Nachsteuer bleiben: 

1. Gebrannte geistige Flüssigkeiten im Besitze von Gewerbetreibenden, welche 
den Verkehr mit gebrannten geistigen Flüssigkeiten vermitteln (Ausschank, Ver- 
schleiß, Kleinhandel u. s. w.) in Mengen von nicht mehr als 10 1, im Besitze 
von anderen Haushaltungsgegenständen in Mengen von nicht mehr als 51 Alkohol. 

2. Branntwein, welchem schon kraft der bisherigen Bestimmungen die Be- 
freiung von der staatlichen Branntweinabgabe zukommt . , . 

Art. III. In der Zeit vom 1. September bis 31. Dezember 1909 wird den 
Landesfonden der im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder mit dem 
sub B vorgesehenen Vorbehalte aus dem Bruttoertrage der Branntweinabgabe 
(Produktions- und Konsumabgabe) abzüglich der Gefällsrückgaben und Restitutionen 
jene Summe überwiesen, welche auf din Teilbetrag von 20 h der mit Art. I des 
gegenwärtigen Gesetzes festgesetzten Abgabesätze entfällt. 

` Mit demselben Vorbehalte (B) wird den Landesfonden der im Reichsrate ver- 
tretenen Königreiche und Länder der Reinertrag der kraft Art. II des gegen wärtigen 
Gesetzes einzuhebenden Nachsteuer überwiesen . . . 

Die jeweilig ermittelten Ueberweisungsbetrüge werden an die einzelnen Landes- 
tonde zunächst nach folgendem Prozentualschlüssel verteilt : 

Böhmen erhält 18,8078 Proz., Dalmatien 0,5259, Galizien 28,8423, Oesterreich u. 
d. E. 10,7662, Oesterreich ob d. E 0,9152, Salzburg 0,5682, Steiermark 4,6875. 
Kärnten 3,0208, Krain 4,5253, Bukowina 3,1488, Mähren 15,7818, Schlesien 5,3087, 
Tirol 2,2796, Vorarlberg 0,2065, Istrien 0,3217, Görz und Gradiska 0,3238, Triest 
0,4699 Proz. . . . 

B. Der Anspruch auf die im vorstehenden geregelte Anteilnahme an dem 
Ertrage der Branntweinabgabe oder auf die gemäß Art. IV des gegenwärtigen 
Gesetzes eventuell an Stelle dieser Anteilnahme tretende Zuwendung wird auf jene 
Länder beschränkt, in welchen während des im Eingange dieses Artikels bezeichneten 
Zeitraums wie immer benannten Landesauflagen auf gebrannte geistige Flüssig- 
keiten nicht eingehoben werden ... 


Verordnung vom 11. Juli, womit . . . die im Reichsrate vertretenen 
Königreiche und Länder in 24 Aufsichtsbezirke für die Amts- 
handlungen der Gewerbeinspektoren eingeteilt werden (R.G.B. 
45. Stück No. 104 S. 300 f.) 

Statt der bisherigen 21') Aufsichtsbezirke werden 24 gebildet; die 3 neu hinzu- 
gekommenen Sitze der Gewerbeinspektion sind Trient, Pardubitz und ein zweiter 
in Prag. 

Verordnung vom 1. Juli, mit welcher in Vollziehung des Art. X, 
Z. 3 des Gesetzes vom 25. Oktober 1896 für das Jahr 1901 die Höhe 
des Nachlasses an der Grund- und Gebäudesteuer, ferner die 
Erwerbssteuer-Hauptsumme und der Steuerfuß für die der 
öffentlichen Rechnungslegung unterworfenen, im $ 100 
Abs. 1 und 5 des zitierten Gesetzes bezeichneten Unternehmungen 
festgesetzt wird (R.G.B. 47. Stück No. 106 S. 311f.). 

In Ausführung der Art. IV bis X des Gesetzes vom 25. Oktober 1896, betr. 
die direkten Personalsteuern wird für das Jahr 1901 der Nachlaß an der Grund- 


steuer mit 15 Proz. und an der Gebáudesteuer, mit Ausnahme der fünfproz. Steuer 
vom Ertrage zeitlich steuerfreier Gebäude mit 12'/, Proz. festgesetzt. 


d Siehe Jahrbücher f. Nationalók. u. Statistik III F. Bd. 22 (77). S. 861. 
50* 


788 Nationalökonomische Gesetzgebung. 


Die individuelle Aufteilung des Steuernachlasses für das Jahr 1901 erfolgt 
nach den Bestimmungen der Finanzialministerialverordnung vom 15. Dezember 
1897, R.G.Bl. No. 297. 

Der Nachlaß an der allgemeinen Erwerbsteuer wird für das Jahr 1901 mit 25 Proz. 
jenes Betrages festgesetzt, welchen die dieser Steuer unterworfenen Erwerbsgat- 
tungen nach den früheren Steuergesetzen für das Jahr 1898 voraussichtlich zu 
entrichten gehabt hätten; somit wird die im Sinne des $ 11 des Gesetzes vom 
25. Oktober 1596, für die Veranlagungsperiode 1900—1901 mit 35 518832 K. fest- 

esetzte Erwerbsteuerhauptsumme gemäß der Bestimmungen des Art. IX, Z. 3 

fi. a des vorbezogenen Gesetzes für das Jahr 1901 — gleichwie in der hierortigen 
Verordnung vom 18. Juni 1900 für das Jahr 1900 —!) auf den Betrag von 
34 923 952 k. ermäßigt. 

Die Verteilung der den erhöhten Nachlaß der allgemeinen Erwerbsteuer dar- 
stellenden Ermäßigung der Erwerbsteuerhauptsumme für das zweite Jahr der 
Veranlagungsperiode 1900—1901 erfolgt durch proportionelle Verminderung der 
Gesellschaftskontingente aller Steuerklassen. Die hieraus hervorgehenden Kontin- 
gentsüberschreitungen sind bei der nächstjährigen Repartition der allgemeinen 


Erwerbsteuer auszugleichen. 
Der Steuerfuß der im $ 100 Abs. 1 und 5 des zitierten Gesetzes bezeichneten, 


zur Öffentlichen Rechnungslegung verpflichteten Unternehmungen wird für das 
Jahr 1901 mit 10,05 Proz. des steuerpflichtigen Ertrages festgesetzt; soweit die 
Vorschreibung für dieses Jahr noch unter Anwendung des 10'/,-proz. Steuerfußes 
durchgeführt worden ist, erfolgt die Abschreibung des Mehrbetrages von amts- 
wegen. Ueber Wunsch der Parteien ist dieser Nachlaß nach erfolgter Durchtüh- 
rung seitens der Steuerämter auch in den Zahlungsaufträgen nachträglich ersicht- 
lich zu machen. 

Kundmachung vom 3. August, womit nachträgliche Bestimmungen zur 
Aichordnung vom 19. Dezember 1872 veröffentlicht werden (R.G.B. 
60. Stück No. 38 S. 447 f). 

Verordnung vom 21. September, betr. die Erhöhung der An- 
meldegebühr für Patente (R.G.B. 70. Stück No. 158 S. 505). 

Die Anmeldegebühr für Patente wird vom 1. Januar 1902 von 20 K. auf 30 K. 
erhöht. 

Gesetz vom 27. September, mit welchem... die Dienstverhilt- 
nisse der bei der staatlichen Veterinärverwaltung in Verwen- 
dung stehenden Amtstierärzte einer neuen Regelung unterzogen 
werden (R.G.B. 64. Stück No. 148 S. 483—485). 

Die Amtstierärzte der staatlichen Veterinärverwaltung müssen außer dem (dt 
zeugnisse eines Gymnasiums oder einer Realschule die Promotion zum Tierarzte und 
die tierärztliche mit Erfolg bestandene Physikatsprüfung nachweisen ; sie stufen sich ab 
in Veterinärassistenten, Bezirkstierärzte, Bezirksobertierärzte, Veterinärinspektoren, Landrs- 
veterinärreferenten und Ministerial- Veterinärreferenten. 

Verordnung vom 27. September, betr. die Herabsetzung der 
Höhe der Stammeinlage im Anweisungs- (Scheck- und 
Clearing-)Verkehre des Postsparkassenamtes (R.G.B. %2. 
Stück No. 162 S. 511). 

Die Stammeinlage im Anweisungsverkehre des Postsparkassenamtes wird auf 100 K. 

festgesetzt. 
Verordnung vom 11. Oktober, betr. die Errichtung einer k. k. 
Direktion für den Bau der Wasserstraßen und die Bestel- 
lung des Wasserstraßenbeirates (R.G.B. 72. Stück No. 163 
S. 511—513). 


1) S. Jahrbücher f Nationalök. u. Stat. a. a. O. S. 859. 


Nationalökonomische Gesetzgebung. 789 


Für die nach dem Gesetze vom 11. Juni 1901 (s. oben S. 783) auszuführenden 
Wasserstraßen wird im Handelsministerium eine, aus einer technischen und einer ad- 
ministrativen Abteilung bestehende „Direktion für den Bau der Wasserstraßen‘ errichtet, 
sowie durch den Handelsminister ein Wasserstraßenbeirat berufen, welcher sich aus 20 
durch die Landesausschüsse der an dem Baue der Wasserstraßen beteiligten Länder 
ernannten Mitgliedern, ferner aus 20 vom Handelsminister ernannten Mitgliedern und 
den Gewerbeinspektoren zusammengesetzt. Die Funktionen der Mitglieder erfolgen im 
Ehrenamte. 

Erlaß vom 24. Oktober, mit dem IV. Nachtrage zur Vollzugs- 
vorschrift zum II. Hauptstücke des Gesetzes vom 25. Oktober 1896, 
betr. die direkten Personalsteuern (R.G.B. 75. Stück No. 168 
S. 529). 

Enthält Aenderungen der Artikel 16, 18 und 19. 

Kundmachung vom 31. Oktober, betr. die Errichtung einer 
landwirtschaftlich-bakteriologischen und Pflanzen- 
schutzstation in Wien (R.G.B. 80. Stück No. 181 S. 542 f). 

Die neu errichtete Station soll sich das Studium der für die landwirtschaftlichen 
Kulturen. schädlichen Mikroorganismen und deren Bekämpfung zur Aufgabe machen ; 
das Personul wird vom Ackerbauministerium ernannt. 

Verordnung vom 14. November, betr. die Herstellung von 
Calcium-Karbid und Acetylen, sowie den Verkehr mit diesen 
Stoffen (R.G.B. 82. Stück No. 184 S. 549—554). 

Die Bestimmungen bezwecken die Verhütung von Feuersgefahr. 

Gesetz vom 4. Dezember, betr. die Gewährung von Unter- 
stützungen aus Staatsmitteln zur Linderung, bezw. Abwehr 
des Notstandes (R.G.B. 89. Stück No. 202 S. 621). 

Der alljährlich für diese Zwecke ausgeworfene Betrag wird in diesem Jahre auf 
3 Mill. K. festgesetzt, welche teils als nicht zurückzuzahlende Unterstützungen zum 
Ankauf von Lebensmitteln, Saatgut, Viehfutter u. dgl., teils als unverzinsliche, spätestens 
zum 1. Januar 1925 ratenweise zurückzuzahlende Vorschüsse verwendet werden sollen. 

Verordnung vom 7. Dezember, mit welcher... sicherheitspoli- 
zeiliche Bestimmungen, betr. den Detailverkauf der Cellu- 
loidgegenstände, die Aufbewahrung von Celluloid und Celluloid- 
artikeln und den Transport dieser Gegenstände erlassen werden (R.G.B. 
96, Stück No. 217 S. 663). 

Gesetz vom 22. Dezember, betr. die Forterhebung der Steuern 
und Abgaben, sowie die Bestreitung des Staatsaufwandes in der Zeit 
vom 1. Jänner bis Ende März 1902, dann die Verfassung des Zentral- 
rechnungsabschlusses für den Staatshaushalt der im Reichsrate vertre- 
tenen Königreiche und Länder für das Jahr 1901, sowie die Weiter- 
verwendung von der Gebarungsperiode 1901 angehörenden Beträgen 
bis Ende März 1902 (R.G.B. 94. Stück No. 210 S. 634—658). 


III. Die für die Lünder der ungarischen Krone geltenden Gesetze. 


VIII. Gesetzartikel vom Jahre 1901, sanktioniert am 5. Juni 1901, 
über die staatlichen Kinderasyle (Ges.-S. S. 169—172). 


$ 1. Zum Schutze der gefundenen, sowie der behórdlich für verlassen er- 
klürten Kinder unter 7 Jahren werden in der Haupt- und Residenzstadt Budapest 
und Ha verschiedenen Gegenden des Landes staatliche Kinderasyle (Findelanstalten) 
errichtet . .. 

$ 2. Innerhalb der staatlichen Kinderasyle finden nur die kranken, schwach 


790 Nationalökonomische Gesetzgebung. 


entwickelten und die einer besonderen Pflege und ärztlichen Fürsorge bedürftigen 
Kinder Unterkunft; die übrigen Kinder werden in der Regel außerhalb der An- 
stalten zugebracht. 


$3. Betrifft den den Kindern zu erteilenden Volksschulunterricht. 


$ 4. Zur Deckung der Bau- und Instruktionskosten des Budapester staat- 
lichen Kinderasyls dient der aus dem Stefan Sändorschen Legat entstandene und 
unter der Autsicht des Ministers des Innern befindliche „Geburts- und Findel- 
hausfond“. 

Die das Vermögens dieses Fonds event. überschreitenden Kosten, sowie die 
Bau- und Instruktionskosten der staatlichen Kinderasyle in der Provinz aber sind 
mit Benutzung des in der Jahresschlußrechnung pro 1599 ausgewiesenen Vermögens 
des gleichfalls der Aufsicht des Ministers des eeh unterstehenden Verwaltungs-, 
ae und Schubhausfonds“, ferner des Landeskrankenverpflegsfonds“ zu 

ecken . .. 

$ 5. Die Erhaltungskosten der staatlichen Kinderasyle, sowie die Kosten für 
die Obsorge, Verpflegung und Erziehung der in diesen Asylen und der durch 
Vermittelung derselben untergebrachten Kinder werden im Sinne des Punkt d) 
$3 des Ges.-Art. XXI vom Jahre 1599 '), vom Landeskrankenverpflegsfonds gedeckt. 


XIII. Gesetzartikel vom Jahre 1901, sanktioniert am 8. Juli 1901, 
über die Abänderung einzelner Bestimmungen des G.-A. XX 
vom Jahre 1899 über die Besteuerung des Branntweins, sowie des 
G-A. XXIV vom Jahre 1899 über den Spirituszuschlag ?) (Ges.-S. 
S. 228—230). 


$1. Die im $ 1 des G.-A. XX vom Jahre 1899 bestimmten Sätze der Brannt- 
weinsteuer werden erhöht und zwar der Satz der Produktionssteuer von 70 h auf 
90 h, der niedere Satz der Konsunisteuer von 70 h auf 90 h und der höhere Satz 
der Konsumsteuer von 90 h auf 1 K. 10h. per Hektolitergrad (Liter! Alkohol. 

Dementsprechend wird die laut dem vorletzten Absatz des $ 6 des G.-A. XX 
vom Jahre 1809 nach jedem Liter Alkohol bewilligte Steuerrückvergütung von 
35 h auf 45 h erhöht; ferner ist an Stelle des im Punkt c) $ 44 und im letzten 
Absatz des $ 82 des soeben erwähnten G.-A. festgesetzten Betrages von 70 h 90h 
und an Stelle des im ersten Absatz des $ 92 bestimmten Betrages von 90 h der 
Betrag von 1 K. 10 h zu nehmen. 

82. Der in 8 1 des G.-A. XXIV vom Jahre 1809 per Hektolitergrad (Liter) 
Alkohol mit 30 h festgestellte Satz des Spirituszuschlages wird auf 10 h herab- 

esetzt. 

g Dementsprechend wird im Falle der laut § 4 des G.-A. XXIV vom Jahre 
1899 bewilligten Rückvergütung des Spiritussteuerzuschlages der rückzuvergütende 
Betrag in den unter Punkt 1 desselben Paragraphen erwähnten Fällen von 15 h 
auf 5 h und in dem unter Punkt 2 erwähnten Falle von 30 h auf 10 h herab- 
esetzt. 

P 83. Boi den Parteien, die auf Grund des 8 2 des G.-A. XXIV vom Jahre 1509 
eine Konzession haben, laut welcher sie bei der Spiritusbeschaffung vom Spiritus- 
steuerzuschlag bedingungsweise befreit sind, müssen am 1. September 1901, auf 
Grund der über die steuerfrei beschafften Spiritusmengen geführten Rechnungen, 
die Alkoholmengen festgestellt werden, welche noch nicht zum Verbrauch — wo- 
durch die Steuerfreiheit bestimmt wird — gelangt und demzufolge in den Rech- 
nungen bchufs Abschreibung noch nicht ersichtlich gemacht sind; der Konzessionär 
aber hat per Hektolitergrad der also festgestellten Alkoholmengen eine Spiritus- 
konsumzuschlagsteuer von 20 h zu entrichten. 

Eine Zuschlagsteuer von 20 hl per Hektolitergrad ist auch nach jenen, dem 
G.-A.XV vom Jahre 1804, bezw. dem diesen G.-A. abändernden G.-A. XVII vom Jahre 
1899 gemäß zu behandelnden Alkoholmengen zu entrichten, welche aus dem Gebiete 
der im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder, bezw. aus Bosnien und der 
Hercegovina in der Zeit vor dem 1. September 1901 auf das Gebiet der Länder 

1) Vergl. Jahrb. f. Nationalökon. u. Statistik 8. F. Bd. 18 (73) S. 805. 

2) Vergl. oben S. 286 das in einigen wesentlichen Bestimmungen inhaltlich gleiche 
Gesetz vom 8. Juli für die ım Reichsrate vertretenen Künigreiche und Länder. 


Nationalökonomische Gesetzgebung. 791 


der ungarischen Krone versendet werden, jedoch erst nach dem Inslebentreten 
dieses Gesetzes (1. September 1901) auf diesem Gebiete einlangen. 

Bezüglich dieser Zuschlagsteuer finden die Bestimmungen des G.-A. XXIV 
vom Jahre 1899 Anwendung. 


XVIII. G.-A. vom Jahre 1901, sanktioniert am 22. Juli 1901, 
über die Verlängerung der Geltung des G.-A. VI vom Jahre 1899!) 
über die provisorische Regelung jener Einkünfte der unga- 
rischen Städte und Gemeinden, welche den Charakter von 
Konsumsteuern haben (Ges.-S. S. 238 f.). 


$ 1. Die Geltung des G.-A. VI vom Jahre 1899 über die provisorische Rege- 
lung jener Einkünfte der ungarländischen Städte und Gemeinden, welche den 
Charakter von Konsumsteuern haben, wird über den im § 8 dieses G.-A. fest- 
gestellten Termin hinaus bis zum 31. Dezember 1904 verlängert, mit der Abände- 
rung jedoch, daß die als Anteil am Reinerträgnis der Schankgefälle an die einzelnen 
Städte und Gemeinden im Sinne des $ 1 des G.-A. VI vom Jahre 1899 durch das 
Staatsärar in zwei gleichen Teilen mit Ende der Monate Juni und Dezember aus- 
zuzahlenden Pauschalbetrüge vom Jahre 1902 angefangen in einem Betrage und 
zwar im Januar des, dem Geschäftsjahre folgenden Jahres auszufolgen sein werden. 
Wenn eine Stadt, die auf Grund des $ 4 des G.-A. VI vom Jahre 1599 Anspruch 
auf eine Subvention aus der k. ung. Staatskasse hat, aus dem im Sinne des $ 3 
des G.-A. VI vom Jahre 1899 einhebbaren Wein-, Fleisch- und Spirituskonsum- 
steuerzuschlügen in einem Jahre im ganzen ein größeres Einkommen haben sollte, 
als im Jahre 1901: so ist bei der Feststellung des Maximalbetrages der Subvention, 
welche zu Gunsten der betreffenden Stadt auf Grund des $ 4 des G.-A. VI vom 
Jahre 1899 für das in Rede stehende Jahr bewilligt werden kann, das aus den 
Wein-, Fleisch- und Spirituskonsunisteuerzuschlägen stammende Gesamteinkommen 
nur mit dem Betrage, den die im Jahre 1901 unter diesen Titeln erreichten Ein- 
künfte ausmachen, in Rechnung zu nehmen. 

82. Die bezüglich der Bemessung, Einhebung, Kontrolle und Manipulation 
der Konsumsteuerzuschlüge auf Grund des G.-A. VI vom Jahre 1809 von einzelnen 
Städten und Gemeinden geschaffenen und durch die Regierungsbehörde mit der Gel- 
tung bis zum 31. Dezember 1901 genehmigten Statute bleiben, solange das gegenwärtige 
Gesetz in Kraft besteht, ohne jede neuere Genehmigung in Geltung; außer weun 
die betr. Stadt oder Gemeinde die Abänderung des Statuts, oder das Erlöschen 
der Geltung desselben durch rechtskräftigen Beschluß erwirkt. 


XX. G-A. vom Jahre 1901, sanktioniert am 27. Juli 1901, über 
die Vereinfachung des administrativen Verfahrens (Ges.-S. 
S. 241—259). 

XXI. G.-A. vom Jahre 1901, sanktioniert am 30. Juli 1901, die 
Pflegschaft über die auf öffentliche Unterstützung ange- 
wiesenen Kinder über 7 Jahre betr. (Ges.-S. S. 259— 262). 


$ 1. Die in staatliche Kinderasyle aufgenommenen Kinder verbleiben, sofern 
sie bei Vollendung ihres 7. Lebensjahres in einem Munizipal- oder Privatwaisen- 
hause, einer anderen Wohltätigkeitsanstalt oder bei einem Verein nicht unter- 
gebracht werden können, bis zu ihrem 15. Lebensjahr im Verband der staatlichen 
Kinderasyle. 

Jene Kinder, die nach Vollendung ihres 7. Lebensjahres behördlich als ver- 
lassen erklärt werden, können in die staatlichen Kinderasyle gleichfalls aufgenommen 
werden und verbleiben bis zu ihrem 15. Lebensjahr im Verband desselben. 

$2. Die in den Verband der staatlichen Kinderasyle gehörigen 7- bis 15-jäh- 
rigen Kinder werden je nach den Verhältnissen innerhalb der Mauern der Kinderasyle 
gehalten oder aber bei verläßlichen Pflegern, Landwirten und Gewerbetreibenden 
untergebracht. 

Die staatlichen Kinderasyle sind bemüht, die besonders befähigten Kinder, 
welche ihrem Verband angehören oder angehört haben, zum Zwecke ihrer ferneren 


1) Vergl. Jahrbücher f. Nationalükon. u. Statistik 8. F. Bd. 21 (76) S. 496. 


792 Nationalökonomische Gesetzgebung. 


Ausbildung, auf den Freiplätzen der verschiedenen staatlichen Lehranstalten zu 
unterbringen. 

$ 3. Die Kosten, welche aus der Pflegschaft (Versorgung, Erziehung und 
Ausbildung) der im Verband der staatlichen Kinderasyle stehenden 7- bis 15-jährigen 
Kinder erwachsen, fallen den Zuständigkeitsgemeinden zur Last. 

$ 4. Als Pflegschaftskosten für die verlassenen Kinder über 7 Jahre wird 
in das Budget des Ministeriums des Innern, vom Jahre 1902 angefangen, ein Unter- 
stützungsbetrag von höchstens 400000 K. pro Jahr eingestellt. 

Dieser Betrag ist in erster Reihe für die Pflegschaftskosten solcher verlassener 
Kinder zu verwenden, die vermögenslosen Gemeinden angehören. 

Auch können aus höchstens dem 4. Teile des staatlichen Unterstützungs- 
betrages solche erfolgreich tätige Privatvereine und Anstalten unterstützt werden, 
die sich verpflichten, außer den von ihnen auch bisher versorgten Kindern, noch 
eine entsprechende Anzahl 7- bis 15-jähriger verlassener Kinder aufzunehmen. 

8 5. Von den Waisenkassareservefonden, die sich laut der vom Minister des 
Innern genehmigten Jahresbilanz der Waisenkassen ergeben, muß jener Teil des 
Ertrages (eigene Zinsen der Reservefonde, Manipulations- und Aufbewahrungsgebühr 
und Manipulationsüberschuß), der nicht für andere Zwecke gebunden ist, vom 
Geschäftsjahr 1902 angefangen für die Pflegschaftskosten der verlassenen Kinder 
über 7 Jahre der betreffenden Komitate, Städte oder Gemeinden verwendet werden. 

$ 6. Behufs gleichmäßiger Aufteilung jener Gemeindelasten, welche auf Grund 
des $ 3 des Gesetzes erwachsen und mit Anwendung der $$ 4 und 5, sowie mit 
Benutzung der für diesen Zweck verwendbaren Stiftungen und Spenden nicht 

edeckt werden können, kann das Komitat die Assoziierung aller auf seinem Ge- 
jete gelegenen Gemeinden anordnen und zu diesem Zwecke einen besonderen 
Komitatssteuerzuschlag von nicht mehr als 1 Proz. auswerfen. 

Dieser Steuerzuschlag wird nach der Grundsteuer, Einkommensteuer, der 
Steuer der zur öffentlichen Rechnungslegung verpflichteten Unternehmungen und 
Vereine, der Bergwerkssteuer, schließlich der Kapitalzinsen- und Rentensteuer 
(Ges.-Art. XXII vom Jahre 1875) bemessen. 

Bei solchen Städten mit geregeltem Magistrat und solchen Gemeinden, welche 
für die Kosten, die aus der im $ 3 dieses Gesetzes enthaltenen Verpflichtung er- 
wachsen, mit ie ihrer eigenen Fonde oder Stiftungen selbst gehörig 
sorgen, können in einem derartigen Komitatssteuerzuschlag die Zinsen der Fonde 
und Stiftungen eingerechnet werden. 


XXIV. G.-A. vom Jahre 1901, sanktioniert am 1. August 1901, 
über die Inkompatibilität (Ges.-S. S. 264—281). 


Enthält eingehende Bestimmungen, welche Aemter und Stellen ein ungarischer 
KReichstagsabgeordneter nicht einnehmen darf. 


XXVI G.-A. vom Jahre 1901, sanktioniert am 9. September 1901, 
über die Regelung der Konsulargebühren (Ges.-S. S. 318—355). 


8 1. Der einen ergänzenden Teil dieses Gesetzes bildende und demselben 
angeschlossene „Allgemeine Konsulargebührentarif“ ist hinsichtlich der darin an- 
geführten Konsularamtshandlungen bei den k. u. k. Konsularümtern anzuwenden. 
; 8 2. Die Bemessung der Konsulargebühren erfolgt stets durch das Konsu- 
laramt, welches die betr. gebührenpflichtire Amtshandlung vornimmt... 

84. Bezüglich der Sicherstellung, Einhebung sowie gegenüber von Konkurs- 
massen bezüglich der Geltendmachung der Stempel- und unmittelbaren Gebühren 
finden die in den Ländern der ungarischen Krone gültigen Gesetze und Vorschriften 
auch auf die Konsulargebühren entsprechende Anwendung, ebenso auch jene Ge- 
setze und Vorschriften, welche auf die als nachteilige Folge der Umgehung der 
Gebührenbemessung einzuhebenden Strafbetrüge Bezug haben. 

Die Konsulargebühren und die erwähnten Strafbeträge verjähren in 5 Jahren ... 

$6. Wird die Befreiung von der Gebühr oder eine ermäßigte Bemessung 
derselben auf betrügerische Weise erwirkt, so ist die Gebühr im doppelten Betrage 
einzuheben . . . 

Der Anhang (S. 824—855) enthält den „Allgemeinen Konsulargebührentarif“. 


Miszellen. 793 


Nachdruck verboten. 


Miszellen. 


XV. 


Das neue ungarische Auswanderungsgesetz. 
Von Dr. Julius Bunzel. 


Man kann sich denken, daß die Auswanderung aus Ungarn ziemlich 
große Dimensionen angenommen haben muß, wenn man sich selbst dort 
— im Lande des doktrinärsten Individualismus — bemüligt fühlte, das 
Auswanderungswesen durch staatliche Maßregeln zu regeln. Und tat- 
sächlich war die Zahl der Auswanderer über Hamburg und Bremen, die 
in dem Jahrfünft von 1871—75 durchschnittlich jährlich 780 betragen 
hatte, bereits in dem Jahrfünft von 1891—95 auf 30540 gestiegen und 
belief sich die selbst nach den offiziellen Daten im Jahre 1900 
schon auf 35 888 Personen. 

Nach den Angaben des Abg. Hegedus, eines Fachmannes auf dem 
Gebiete des Auswanderungswesens, verließen im Jahre 1901 aber 
70000 Personen!) Ungarn, in welcher Zahl die ganze Szekleraus- 
wanderung, an der nach rumänischen Quellen ungefähr 40000 Personen 
teilgenommen haben sollen, noch nicht einmal enthalten sein soll. Der 
Anteil der Ungarn an der Auswanderung nach Nordamerika war jeden- 
falls — selbst nach den amtlichen Angaben — in den Jahren 1888—97 
(gegenüber den Jahren 1871— 87) auf das Dreifache gestiegen, während 
der Anteil Deutschlands und Großbritanniens abgenommen und auch der 
Anteil Oesterreichs sich kaum auf das Doppelte gehoben hatte. 

Und dabei läßt sich die ungarische Auswanderung durchaus nicht 
als eine „willkommene Ableitung überschüssigen Blutes“ betrachten, 
ebensowenig als etwa von einer Vermehrung der Handelsbeziehungen 
mit den ausländischen Staaten infolge der Auswanderung gesprochen werden 
kann. Denn einerseits ist Ungarn ein ziemlich dünn bevölkertes Land, in 
welchem im Jahre 1900 nur 59,6 Einwohner auf den Quadratkilometer 
entfielen, und andererseits lassen sich durch die gänzlich mittellosen 
ungarischen Auswanderer keine Handelsbeziehungen anknüpfen. Ueber- 
dies träumt die ungarische Regierung noch von der Schaffung einer 
„nationalen“ Industrie, so daß ihr der Verlust so vieler Menschen aus 


1) Darnach wären 3,8 Proz. der Bevölkerung ausgewandert. 


794 Miszellen. 


den produktivsten Altersklassen selbstredend doppelt unangenehm er- 
scheinen muß. Hegten doch sogar schon die Großgrundbesitzer — nament- 
lich in Oberungarn — die Befürchtung, daß ihnen zu den bisher ge- 
zahlten niedrigen Löhnen nicht mehr die genügende Anzahl von Ernte- 
arbeitern zur Verfügung stehen werde. Da ist es denn begreiflich, daß 
die Regelung des Auswanderungswesens auch bei der ungarischen 
Regierung „keinen Aufschub mehr vertrug“ und daß nunmehr endlich 
das bereits in der Thronrede vom 18. Oktober 1901 angekündigte „Gesetz 
betreffend die Regelung der Auswanderung“ zu stande kam. 

Der I. Abschnitt dieses Gesetzes ($$ 1—6) handelt von der Aus- 
wanderung im allgemeinen und bestimmt, daß ein Auswanderer, d. i. 
jeder, der sich zu stándigem Erwerb auf unbestimmte Zeit in das Aus- 
land entfernt (S 1), vor seiner Abreise einen Pal für den Staat, in 
welchen er auszuwandern beabsichtigt, lösen muß (8 3). Die Stellungs- 
und Dienstpflichtigen bedürfen überdies einer besonderen Bewilligung 
der kompetenten Behörde. Verboten ist die Auswanderung jenen 
Personen, die in strafgerichtlicher Untersuchung stehen oder gegen die 
ein Haftbefehl erlassen ist, ferner Eltern, die mittellose Kinder unter 
15 Jahren zurücklassen, Personen, die das zur Erreichung ihres Zieles 
erforderliche Reisegeld nicht besitzen oder den etwa im Auswanderungs- 
lande bestehenden Einwanderungsbestimmungen nicht entsprechen und 
endlich Personen, welche nur durch die von fremden Kolonisatoren in 
Aussicht gestellte Vergütung oder Vorstreckung der Transportkosten 
zum Auswandern veranlaßt worden sind. Minderjährige über 15 Jahre 
bedürfen einer legalisierten Einwilligung des Vaters oder Vormundes; 
Kinder unter 15 Jahren dürfen nur in Begleitung Erwachsener aus- 
wandern (8 2). 

Das Ministerium hat aber auch das Recht, die Auswanderung in 
gewisse Lànder und Staaten bei ausreichenden Gründen zu unter- 
sagen ($ 5) und die Auswanderung auf gewisse Routen zu be- 
beschränken ($ 6). 

Der II. Abschnitt ($ 7—22) enthält die Bestimmungen über die 
Transportunternehmer und Agenten. Die Unternehmer bedürfen einer 
Bewilligung von seiten des Ministers des Innern ($ 7). Diese Be- 
willigung wird erteilt: 

1) an einheimische Unternehmer unter der Bedingung, daß der 
Unternehmer oder die einheimischen Mitglieder seiner Gesellschaft 
ungarische Staatsangehörige sind, 

2) an ausländische Unternehmer unter der Bedingung, daß sie einen 
ungarischen Staatsbürger als verantwortlichen Bevollmächtigten anstellen 
und sich den ungarischen Gesetzen und Gerichten unterwerfen ($ 5). 
Sowohl einheimische als auch ausländische Unternehmer müssen jedoch 
eine Kaution von 100000 K. stellen ($ 9). Auch wird die Konzession 
dem Transportunternehmer nur für bestimmte Gebiete — bei über- 
seeischen Ländern nur für bestimmte Hafenorte — erteilt (S 10). 
Ferner muß der Transporttarif dem Minister des Innern vorgelegt 
werden ($ 12) und endlich sind etwaige an Privatpersonen gerichtete 
Aufforderungen und Bekanntmachungen sowie Reklamen verboten ($ 13). 


Miszellen. 795 


Dagegen dürfen mit Genehmigung des Ministers Stellvertreter und 
Agenten in den einzelnen Munizipien bestellt werden, doch muß jeder 
derselben ungarischer Staatsbürger sein, geschäftlich in gutem Rufe 
stehen und eine Kaution von 10000 K. erlegen ($$ 16 und 17). 

Die den Unternehmern und Agenten erteilten Bewilligungen können 
jedoch wieder entzogen werden: 

a) sobald die Unternehmer den Anforderungen der $$ 8 und 16 
nicht mehr entsprechen, 

b) sobald sich ihre Geschäftsführung als unzuverlässig herausstellt, 

c) sobald ein durch etwaige Abzüge von der Kaution entstandenes 
Manco nicht binnen 15 Tagen gedeckt wird. 

Der III. Abschnitt (88 23—33) regelt das Rechtsverhältnis zwischen 
dem Transportunternehmer nnd dem Auswanderer. 

Der Unternehmer schliebt mit dem zur Auswanderung Berechtigten 
(8$ 23, 24) einen in magyarischer Sprache (S 25) oder in magyarischer 
und der Muttersprache des beteiligten Auswanderers abgefaßten schrift- 
lichen Vertrag, der in 2 Exemplaren auszufertigen ist. Der Vertrag 
muß enthalten: 

Namen, Alter und Wohnort des Auswanderers, Route und Ziel, 
Abfahrtszeit, bezw. Schiff und Tag der Abfahrt; Bestimmung der 
Wagenklasse bezw. des Schiffsraumes; genaue Angaben der Transport- 
gebühren und endlich die Pflichten des Unternehmers sowie die von den 
Beschwerden handelnden Verfügungen. 

Der Unternehmer muß nämlich sowohl für die richtige Ankunft 
der Auswanderer und ihres Gepäcks, als auch für die Verpflegung und 
Unterkunft sowie für etwaige Spitalpflege und Beerdigung der Reisenden 
sorgen. Auch muß das Gepäck gegen Beschädigung und Verlust und 
das Familienoberhaupt gegen Unfall versichert werden, die Ver- 
sicherungsprämie kann jedoch in die Gebühren aufgenommen werden. 

Wenn die Reise ohne nachweisbares Verschulden des Auswanderers 
einen Verzug oder eine Unterbrechung erleidet, hat der Unternehmer 
unentgeltlich für die Verpflegung und möglichst baldige Weiterbeförderung 
zu sorgen. Bei Verzug von mehr als einer Woche ist er zur Rückzahlung 
der Gebühren, bezw. zum Schadenersatz verptlichtet. Der Auswanderer 
darf die volle Rückzahlung der Transportgebühren auch fordern, wenn 
er ohne sein Verschulden, z. B. durch Krankheit, an der Reise ver- 
hindert ist, aber nur die Hälfte der Gebühren, wenn er aus willkürlichen 
Motiven seinen Entschluß rechtzeitig ändert ($ 28). Etwaige den Ver- 
fügungen der $8 12, 26, 27, 28 widersprechenden Vereinbarungen sind 
ungültig. Zur Auswanderung nicht berechtigte, vom Transportunter- 
nehmer ins Ausland beförderte Personen muß der Unternehmer sogar 
unentgeltlich zurückbefördern ($ 30). 

Bei überseeischen Transporten ist das Schiff jedentalls von dem 
verantwortlichen Transportunternehmer und dem betreffenden Schiffs- 
führer auf die an Verpflegung, Reinlichkeit und Sicherheit gestellten 
Anforderungen hin zu untersuchen. Ebenso muß der Gesundheitszustand 
vorher geprüft werden ($ 32). Nähere Ausführungen über Ausstattung 
der Schiffe, ihre behördliche Untersuchung und Kontrolle erfolgen auf 


796 Miszellen. 


dem Verordnungswege durch den Minister des Innern und den Handels- 
minister. | 

Der IV. Abschnitt (88 34—36) befaßt sich mit dem Auswanderungs- 
fonds. Ein Auswanderungsfonds ist zu schaffen: zum Zwecke der Unter- 
stützung der vom Auswanderer in Not zurückgelassenen Familien- 
mitglieder, zur Orientierung und Unterstützung der Auswanderer im 
Auslande und zur Deckung oder teilweisen Vergütung der Reisekosten 
für jene, denen die zur Rückkehr in die Heimat erforderlichen Geld- 
mittel nicht zu Gebote stehen (8 34). Der Fond wird geschaffen: 

a) aus dem jeweils ins Staatsbudget aufgenommenen Betrage (für 
1903: 80000 K., 8 49), 

b) aus dem Reinertrage der amtlichen Paßgebühren, 

c) aus den von den Transportunternehmungen zu leistenden Ge- 
bühren, 

d) aus den Jahresbeiträgen des mit der Verwaltung der Gelder 
und der Heimbeförderung der Auswanderer betrauten Geldinstituts ($ 34). 

Verwaltet wird der Auswanderungsfonds vom Minister des Innern, 
der darüber in den Jahresschlußrechnungen Rechnung legt ($ 35). 
Die Verwaltung und Sicherung der Gelder wird dem Ministerium zuge- 
wiesen ($ 36). 

Der V. Abschnitt ($$ 37—42) handelt von den Behörden. 

Zur Unterstützung des Ministers des Innern und zur fachgemälen 
Erledigung der einschlägigen Fragen wird ein Auswanderungssenat 
organisiert ($ 37), an dessen Spitze als Präsident der Minister des 
Innern und, wenn er verhindert ist, der Staatssekretär steht, und dessen 
Mitglieder sich zusammensetzen aus einem Delegierten des Minister- 
präsidiums, je einem Mitglied der Polizei- und Sanitätsabteilung des 
Ministeriums des Innern, sowie aus je einem Delegierten der Ministerien 
für Finanzen, Justiz, Kultus und Unterricht, Handel, Ackerbau und 
Landesverteidigung. 

Ferner ernennt der Minister des Innern je 10 Mitglieder der 
Handels- und Gewerbekammern, der landwirtschaftlichen Vereine und 
10 Personen, die sich mit Ackerbau, Industrie oder Handel beschäftigen, 
zu Mitgliedern des Auswanderungssenats ($$ 37, 38). Die Organisation 
und Geschäftsordnung dieses Auswanderungssenates wird durch den 
Minister des Innern festgesetzt ($ 39). Die unmittelbare Aufsicht und 
Kontrolle über das ganze Auswanderungswesen erfolgt durch einen 
dem Minister des Innern direkt unterstellten Auswenderungskommissär 
und das erforderliche Hilfspersonal ($ 40). Der Auswanderungskommissär 
kann jederzeit der Untersuchung auf dem Schiffe beiwohnen, selbständig 
Untersuchungen vornehmen, sowie über alle Verhältnisse und die Schiffs- 
route Aufklärung verlangen. 

Ueber etwaige Mängel und Unregelmäfigkeiten erstattet er dem 
Minister des Innern Bericht, eventuell verständigt er die Lokalbehörde 
($ 41). Der Gehalt für den Kommissär und das Hilfspersonal wird in 
das Jahresbudget aufgenommen ($ 42). 

Der VI. Abschnitt enthält die Strafbestimmungen. Jede Nicht- 
einhaltung der Bestimmungen der SS 12, 13, 14, 19, 23, 24, 26, 31 


Miszellen. 797 


durch Unternehmer, Stellvertreter und Schiffsführer wird als Ueber- 
tretung behandelt und mit Arrest bis zu 2 Monaten und Geldstrafe bis 
600 K. bestraft ($ 43). Agenten werden in diesem Falle mit Arrest 
bis zu 1 Monat und Geldstrafe bis zum Betrage von 400 K. belegt ($ 44). 
Jener, der sich unberechtigt mit dem Transport von Auswanderern be- 
faßt, hat eine Strafe bis zu 2 Monaten Arrest und 600 K. sowie 
sofortige Konfiskation der durch ihn verbreiteten Briefe, Bekannt- 
machungen und Schiffskarten zu gewärtigen ($ 45). 2 Monate Arrest 
und Geldstrafe bis zu 600 K. stehen auch auf jede öffentliche An- 
eiferung zur Auswanderung (S 46). 

Wer dergleichen durch die Presse verbreitet, wird mit Geldstrafe 
bis zu 200 K. bedacht (8 47). In den Uebertretungsangelegenheiten 
üben die politischen Behörden die polizeiliche Kriminalgerichts- 
barkeit aus. 

Der VII. Abschnitt enthält Schlußbestimmungen (SS 49—51). 

Wie schon aus dieser möglichst knapp gehaltenen Inhaltsangabe 
hervorgeht, hält sich das ungarische Gesetz im wesentlichen ziemlich 
genau an das Muster des detuschen Gesetzes vom 9. Juni 1897. Es 
entspricht daher auch den Zwecken, welchen das deutsche Gesetz 
dient. Es schützt den Auswanderer einigermaßen vor der Ausbeutung 
durch die Transportunternehmer, lenkt die Auswanderung über den 
heimischen Hafen und sucht in dem Auswanderer das Zugehörigkeits- 
gefühl zum Mutterlande zu erhalten. Dem erstgenannten Zwecke dient 
das ungarische Gesetz allerdings nicht in dem Umfange wie das deutsche, 
da es merkwürdigerweise die Bestimmung nicht enthält, nach welcher 
der Transportvertrag ungültig ist, wenn der Auswanderer verpflichtet 
wurde „den Beförderungspreis oder einen Teil desselben oder ihm ge- 
leistete Vorschüsse nach seiner Ankunft am Bestimmungsorte zu zahlen 
oder zurückzuerstatten oder durch Arbeit abzuverdienen“ 1). Von 
einer Beschränkung des Geschäftsbetriebes der Transportunternehmer 
in der Hinsicht, daß ihnen die Realisierung des Vermögens der Aus- 
wanderer, der Geldwechsel, das Lösen der Fahrkarten überseeischer 
Bahnen u. dgl. untersagt wird, ist natürlich erst recht keine Rede. 
Dagegen hat man aber dafür gesorgt, daß das Auswanderungs- 
wesen möglichst monopolisiert werde, indem man die Kaution auf 
100000 K. (in Deutschland 50000 M.)?) für die Unternehmer und je 
10000 K. (in Deutschland 1500 M.) für einen Agenten festsetzte. Man 
hat hierdurch die Zahl der Agenten sehr beschränkt ohne zu bedenken, 
daß infolgedessen den Winkelagenten, deren Tätigkeit man lahmlegen 
wollte, ein viel größerer Spielraum bleibt. Diese werden nun die 
Auswanderungslustign — wie bisher — zur Auswanderung über 
Hamburg und Bremen zu bewegen suchen, so daß auch der zweite 


1) Das im ungarischen Gesetz enthaltene Verbot der Vergütung oder Vorstrecknng 
der Transportkosten bezieht sich nur auf fremde Staaten oder Private, die kolonisieren 
wollen und auch das Verbot der Auswanderung bei Mangel an notwendigem Reisegeld 
erweist sich hier als unwirksam, da ja eben kein Reisegeld notwendig ist. 

2) In der Schweiz beträgt die Kaution höchstens 40 000 Fres., in Italien höchstens 
5000 Lire. 


798 Miszellen., 


Zweck des Gesetzes: die Auswanderung über Fiume zu leiten, teilweise 
vereitelt werden wird. Und ob in den Auswanderern — soweit sie 
den arbeitenden Klassen angehören oder sofern sie nicht magyarischer 
Nationalität sind — das Heimatsgefühl so mächtig ist, daß es möglich 
wäre, dasselbe auch im Auslande rege zu erhalten, muß immerhin frag- 
lich erscheinen. Die von allen Behörden mit Eifer betriebene Verfolgung 
der Arbeiterorganisationen und die neuerlich — anläßlich der Bestrafung 
deutscher Redakteure — wieder besonders scharf in die Erscheinung 
getretene Nationalitätenpolitik der ungarischen Regierung, wird jeden- 
falls nicht in dieser Richtung wirken. Immerhin wird aber durch die 
Möglichkeit, die gesamte Auswanderung in bestimmte Gegenden zu 
lenken, durch Konsulate, ungarische Seelsorger und ungarische Geld- 
institute in den Auswanderungsländern ein Kontakt mit dem Mutter- 
lande eventuell erhalten und durch den Auswanderungsfond die Rück- 
wanderung Einzelner erleichtert werden können. 

Dagegen wird man sich wohl täuschen, wenn man glaubt, durch 
irgendwelche gesetzliche Maßnahmen die Auswanderung selbst beschränken 
zu können. Die ungarische Auswanderung wurde durch das namenlose 
Elend, das in einem großen Teile der Bevölkerung herrscht, hervor- 
gerufen und wird nur mit diesem beseitigt werden!) Mit einigen 
Notstandsarbeiten und halben „sozialpolitischen“ Maßregeln ist da nicht 
viel getan. In einem noch ganz agrarischen Lande, wie es Ungarn 
ist, muß man, wie ein Abgeordneter anläßlich der Beratung des Ge- 
setzes ganz richtig betonte, vor allem den Großgrundbesitz verringern 
und die arbeitsuchende Bevölkerung am Grundbesitze beteiligen, wenn 
man die Auswanderung beschränken will. Man muß aber auch die 
ganze Verwaltung bessern, eine die ärmeren Volksschichten entlastende 
Steuerreform schaffen und das kulturelle Niveau aller Nationalitäten 
heben?) Durch Auswanderungsgesetze kann man gewisse Uebelstände, 
welche sich im Auswanderungswesen zeigten, mildern, die Auswanderung 
selbst wird sich nur infolge einer gesunden, volksfreundlichen Wirt- 
schaftspolitik in nennenswerter \Veise verringern. 


Graz im Frühling 1903. 


1) Der Einfluß der persönlichen Beziehungen für ausgewanderte Angehürige und 
Volksgenossen macht sich auch nur dann geltend, wenn die wirtschaftliche und soziale 
Lage der arbeitenden Klassen eine unbefriedigende ist. 

2) Vgl. diesbezügl. meine „Studien zur Sozial- und Wirtschaftspolitik Ungarns“ 


Leipzig (Duncker u. Humblot) 1902, insbes. S. 44f. und 153 f. 


Miszellen. 799 


Nachdruck verboten. 


XVI. 


Die Hauptergebnisse der Veranlagung der Einkommen- 
und der Ergänzungssteuer in Preufsen '). 
Von Max v. Heckel. 


I. Die Einkommensteuer 1901 und 1902. 

1) Nichtphysische und physische Personen zusammen. 

In Preußen ist für das Steuerjahr 1901 bei 3762047 (1901: 
3649188) Zensiten der Betrag von 188 837 843 M. (1901: 186 888 684 M.) 
veranlagt worden, so daß sich gegen das Vorjahr ein Mehr an Zensiten 
von 112859 (1901: 269654) und an Steuern von 1949159 M. (1901: 
12503336 M.) ergibt. Dieses Mehr entfällt, abweichend von den fünf 
Vorjahren allein auf die physischen Personen, die bei 3759377 (1901: 
3 646 527) Zensiten — mehr 112 850 (1901: 269 436) — mit 170 194 484 M. 
(1091: 168127100 M.) also mit einem Mehr von 2066384 M. (1901: 
9730328 M.) veranlagt sind, wogegen die Veranlagung der nichtphy- 
sischen Personen bei 2670 (1901: 2661) Zensiten — mehr 9 (1901: 218) 
in diesem Jahre ein Weniger an Steuern von 117225 M. (1901: ein 
Mehr von Weniger an Steuern von 2773008 M.) bei 18644359 M. 
(1901: 18761584 M.) Steuern ergeben hat. 


2. Nichtphysische Personen. 
Die nichtphysischen Personen sind veranlagt: 
Steuerpflichtiges Einkommen Steuer 


Zensiten überhaupt in Preußen 
1) Aktien u. Kommanditgesellschaften M. M. M. 
auf Aktien 1941 596418 809 439982960 1727539 
(1960) (588 616 852) (449425 555) (17 686 066) 
2) Berggewerkschaften 124 27893 309 27 893 309 1 098 138 
(115) (21174630) (21 068 037) (826 795) 
3) Eingetragene Genossenschaften 390 3 485 939 3 174 590 92 552 
(374) (3180435) (2922872) (84 556) 


4) Konsumvereine (8 1, Abs. 5 des 
Einkommensteuergesetzes 215 5 081 434 5 081 434 178 272 
(212) (4827511) (4708019) (164 168) 
Das steuerpflichtige Einkommen der nichtphysischen Personen be- 
trug zusammen überhaupt 632879491 M. (617799428 M.) und davon 
waren im ganzen in Preußen steuerpflichtig 476 131 693 M.) 478 124 483 M.). 
Das eingezahlte Aktienkapital und das Grundkapital und bei den ein- 
getragenen Genossenschaften die Summe der eingezahlten Geschäfts- 


1) Nach der dem preußischen Abgeordnetenhause vorgelegten vergleichende Ueber- 
sicht über die Ergebnisse der Veranlagung der Einkommensteuer für 1901 und 1902 
und der Ergänzungssteuer für 1899/1901 und 1902/04. Berlin, Reichsdruckerei, 1903. 


800 Miszellen. 


anteile der Mitglieder hat sich belaufen: bei den Aktiengesellschaften 
und den Kommanditgesellschaften auf Aktien auf 6599690 367 M. 
(6 332390067 M.) bei den Bergwerksgesellschaften auf 638953 212M. 
(527 565 567 M.), bei den eingetragenen Genossenschaften auf 28 328 847 M. 
(26 094052 M.) und bei den Konsumvereinen auf 4 292 852 M. (4 454 476 M.). 
Der von der Feststellung des steuerpflichtigen Einkommens als steuer- 
frei in Abzug zu bringenden Betrag von 31/, Proz. erreichte 254 467 886 M. 
(241 527565 M.) Die Verhältnisse der nichtphysischen Personen haben 
sich in den 10 Jahren des Bestehens des neuen Einkommensteuergesetzes 
folgendermaßen gestaltet: 

im Steuerjahre deren Zensitenzahl ihr steuerpflichtiges Einkommen ihre Einkommen- 


steuer 
überhaupt durchschnittlich überhaupt durch- 
schnitt- 
lich 
M. M. M. M. 

1892 2028 257 070 865 126 761 10 056 742 4959 
1901 2661 478 124 483 179 678 18761584 7050 
1902 2670 476 131 693 178 326 18 644 359 6983 


3. Physische Personen. 
a) Kopfzahl der einkommensteuerpflichtigen Bevölke- 
rung und Zahl der Zensiten. 

Die Bevölkerungsziffer hat sich nach der Personenstandsaufnahme 
für 1902 auf 34551 274 (34056414 Köpfe) gestellt. Davon sind ein- 
kommensteuerfrei als Exterritoriale u. s. w. 9846 (9176) und Personen 
mit einem Einkommen unter 900 M. 20603403 (20581002) oder zu- 
sammen 20 613 249 (20 590 178), wovon 7 527 590 (7 500 284) auf die Städte 
und 13085659 (13089894) Zensiten auf das Land treffen. Hiervon sind 
Einzelsteuernde und Haushaltungsvorstände in den Städten 3960171 
(8 953 964), auf dem Lande 4 788380 (4 769 695) und zusammen 8 748751 
(8723659) oder in den Städten 52,61 (52,72) Proz. und auf dem Lande 
36,59 (36,44) Proz. und überhaupt 42,46 (42,37) Proz. aller Einkommen- 
steuerfreien. Die einkommensteuerpflichtige Bevölkerung — einschliel- 
lich der Freigestellten und ihrer Angehörigen — betrug: 


in den Städten 7 503 766 ( 7 192 689) Köpfe 
auf dem Lande 6 434 259 (6273547) „ 
zusammen 13 938 025 (13466236) „ 
Darunter Einzelsteuernde und Haushaltungsvorstände: 
in den Städten 2 470 288 (2 371 709) Köpfe 
auf dem Lande 1593 946 (1 561 378) „ 
zusammen 4064 234 (3933087) „ 


Die veranlagten Zensiten ergaben 10,88 (10,71) Proz. der Gesamt- 
bevölkerung; von ihnen entfallen auf 


die Städte 2 325 215 (2 237 875) 
das Land 1434 162 (1 408 652) 
zusammen 3759377 (3 646 527) 
Die veranlagte Bevölkerung betrug 
in den Städten 6 742 333 ( 6467 748) Köpfe 
auf dem Lande 5 485 017 ( 5366 770) „ 


zusammen I2 227 350 (11834518) „ 


Miszellen. 801 


oder auf 1 Zensiten in den Städten 2,90 (2,89), auf dem Lande 3,82 
(3,81) oder überhaupt 3,25 (3,25) Köpfe. Es kamen also durchschnitt- 
lich in den Städten noch 1,90 (1,89) auf dem Lande 2,82 (2,81) und 
überhaupt 2,25) Angehörige auf einen Zensiten. 

Mit einem Einkommen von mehr als 3000 M. sind veranlagt 449 681 
(435 696) Zensiten (physische Personen) und zwar in den Städten 346339 
(334872) — in den Stadtkreisen insbesondere 244738 (235634) — auf 
dem Lande 103342 (100 824); oder mithin in den Städten 2,30 (2,28) Proz. 
der Bevölkerung und 14,89 (14,96) Proz. aller Zensiten; in den Stadt- 
kreisen insbesondere 2,76 (2,74) Proz. der Bevölkerung und 15,18 (15,26) 
Proz. aller Zensiten; auf dem Lande 0,53 (0,52) Proz. der Bevölkerung 
und 7,21 (7,16) Proz. aller Zensiten ; und endlich überhaupt 1,30 (1,28) Proz. 
der Bevölkerung und 11,96 (11,95) Proz. aller Zensiten. 

Nach Einkommenstufen geordnet, beträgt die Zahl der Zensiten 
bei Einkommen von: 


88,04 (88,05) Proz. 


in den Städten 1978876 (1 903 003) 
der Gesamtzahl 


über 900— 3000 M. 4 auf dem Lande 1 330 820 (t 307 828) 
überhaupt 3 309 696 (3 210 831) 
jon den Stüdten 215 965 ( 206 600) 


auf: dem Lando 75376 ( 73339) | 7,15 (7,68) Proz. der 


3000— 6000 , 


| überhaupt 291 341 ( 279 935) Gesamtzahl 
in den Städten 62897 ( 61398) 
» 6000— 9500 „ auf dem Lande 14739 ( 14342) [ET rn der 
| überhaupt 77636 ( 75740) E 
in den Städten 54289 ( 53 466) 
9500—30 500 , "auf dem Lande 10448 ( 10397 | 17? (175) boy der 
| überhaupt 64737 ( 63863) Bann 
in den Städten 10922 ( 11127) 
» 30500—100000 , À auf dem Lande 2283 ( 2257) Lon Ga Gen der 
| überhaupt 13205 ( 13384) en 
in den Städten 2266 ( 2281) 
100 000 „ 4 auf dem Lande 496 ( 943) $ 907 10,008) Broz, der 
überhaupt 2762 ( 2774) K 


Die ganze Bevölkerung verteilt sich nach Gruppen der Veran- 
lagung zusammengefaßt, wie folgt: (Siehe Tabelle auf S. 802.) 

Aus dieser zusammenfassenden Tabelle werden zugleich diejenigen 
Schichten der Bevölkerung ersichtlich, welche nach $$ 18 und 19 des 
Einkommensteuergesetzes, d. h. wegen großer Kinderzahl oder wegen 
besonderer, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit beeinträchtigender 
Umstände, von der Steuer freigestellt sind. Die veranlagte Bevölke- 
rung mit ihren Haushaltungsangehörigen umfaßt in den beiden Jahren 
1902 und 1901 bereits etwas über ein Drittel und auf dem Lande etwas 
mehr als ein Viertel der Gesamtbevölkerung, diejenige mit mehr denn 
3000 M. Einkommen 4,34 Proz. gegen 4,31 Proz. im Vorjahre, in den 
Städten 7,39 Proz. gegen 7,40 Proz. im Vorjahre, auf dem Lande nur 
1,99 Proz. gegen 1,97 Proz. im Vorjahr. Die einkommensteuer- 
pflichtige Schicht hat sich in Preußen in den Jahren 1901 und 
1902 im Verhältnis von 3475 zu 3539, in den Städten von 4402 zu 
4486 und auf dem Lande von 2772 zu 2810 ausgedehnt. Die ein- 

Dritte Folge Bd. XXV (LXXX). 51 


802 Miszellen. 


Anzahl der Köpfe 


in den Städten | auf dem Lande Insgesamt 


| überhaupt | überhaupt & 


| Proz. der 
j| volkerung 


o 

> D 
überhaupt! x à 

© 

Li 

24 


I. Einkommensteuer- 


frei: 
1) Weil Einkommen unter |1902) 7 527 590| 50,08 ‚13 085 659| 67,04 20613 249, 59.66 
900 M. 1901| 7 500 284| 51,05 |13 089 894| 67,60 |20 590 178, 60,46 


1902| 761433] 5,07| 949242] 4,86| 1710675| 4.95 
1901| 724941| 4,93 906 777 ed RER 4,79 


2) Nach S 18 u. 19 (ein- 
schließlich der Personen, 
deren Veranlagung aus- 
gesetzt ist) 


r 
völkerung 
i Proz. der 
Be- 
vólkerung 


[14034901] 71,90 22 232 924! 64,61 


Zusammen 11902! 8 289 023 14 
v8 13 996 671 72,28 |22 221 896| 65,25 


5 
1901| 8 225 225| 5 


II. Zur Einkommen- | 
steuer veranlagt in | 
den Gruppen: 

bei Einkommen i 

1) von  900— 3000 M.|1902| 5 631 656| 37,47 | 5 096 364 26,11 |10 728 020| 31,05 

1901. 5 380 320| 36,62 | 4 985 663 25,75 |10 365 983. 30,44 
2) , 3000— 6000 „ |1902 693640! 4,61 289298 1,48 982938 2,84 
1901, 672012] 4,57 282043 1,46 954055) 2,80 


3) „ 6o000— 9500 , [1902 200987) 1,34 | 53233 0,27 254 220 0.74 
1901! 198607| 1,35 | 53000 0,27 251 607| 0,74 

4) ,  9500— 30500 ,, [1902 173833] 1,16 36653 0,19] 210486! 0,81 
1901 173 176| 1,18 36700 0,19 209 856, 0,62 

5) „ 30500—100000 „ [1902 35 131| 0,23 | 7841, 0,04 42 972| 0,12 
1901 36 306| 0,25 7705 0,04 44011) 0,3 

6) von über 100 000 M, 1902 7086| 0,05 1628 0,01 8714 0,03 
1901 7327| 0,05| 1659 0,01 8986 0,03 

B. Zusammen [1902 6 742 233! 44,86 | 5485 017 28,10 |12 227 350! 35,3% 

1901; 6467 748, 44,02 | 5 366770 27,72 |11 834 518| 34.15 


34 551 274 100,00 
34 056 414 100,00 


1901 14 692 973.100,00 |19 363 441 100,00 


kommensteuerfreie Schicht ist in den beiden Jahren im Ver- 
hältnis von 6525 zu 6461, in den Städten von 5598 zu 5514 und auf 
dem Lande von 7228 zu 7190 zurückgegangen. Die aus diesen Ziffern 
erkennbare günstige Entwickelung tritt noch schärfer hervor, wenn 
diejenige Schicht der Bevölkerung, die zwar ein Einkommen von mehr 
als 900 M. bezieht, aber aus Gründen der $$ 18 und 19 freigestellt 
ist, mit berücksichtigt wird. Denn gerade diese letztere Schicht stieg 
in den Städten von 4,93 Proz. auf 5,07 Proz., auf dem Lande von 4,68 Proz. 
auf 4,86 Proz. und überhaupt von 4,79 Proz. auf 4,95 Proz. der Bevölke- 
rung. Rechnet man diese Ziffern zu denjenigen der einkommensteuer- 
pflichtigen Bevölkerung hinzu, so ergibt sich eine Schicht mit mehr als 
900 M. Einkommensbezug und zwar in den Städten von 48,95 Proz. 
bezw. 40,92 Proz, auf dem Lande von 32,40 Proz. bezw. 32,96 Proz. 
und überhaupt von 39,54 Proz. bezw. 40,34 Proz. der Bevölkerung. 


A. und B. zusammen E 15 031 356 100,00 19 519 918 100,00 


a 


Miszellen. 803 


Somit stehen gegenwärtig 40 Proz. der gesamten Bevülkerung im Ge- 
nusse eines Einkommens von über 900 M. Dabei ist zu beachten, daß 
zu dem Reste von 59,66 Proz., dessen Einkommen 900 M. nicht über- 
steigt, eine Mehrzahl von Personen zu rechnen ist, die nicht zu den 
unbemittelten Volksklassen zählen, wie Söhne und Töchter wohlhaben- 
der Bauern, die in fremder Haus- oder Landwirtschaft ein eigenes 
900 M. nicht übersteigendes Arbeitseinkommen erwerben oder Kinder 
wohlhabender Familien, welche ein eigenes Zinseinkommen unter 900 M. 
beziehen, das der Verfügung des Familienoberhauptes nicht untersteht. 
Es wäre sehr interessant, gerade über diese Punkte eine ausreichende 
statistische Aufklärung zu erhalten. 


b) Veranlagtes Einkommen der Zensiten. 

Das veranlagte Einkommen der physischen Personen beträgt 
8559884832 M. (8376057 778 M.) und ist somit gegen das Vorjahr 
um 2,19 Proz. gestiegen. An dieser Gesamtsumme sind die Städte mit 
6 002 000 100 M. (5856104801 M.) und das Land mit 2557 884732 M. 
(2519952987 M.) beteiligt. Das Durchschnittseinkommen stellt sich 
daher auf einen Zensiten oder ein Steuersubjekt — nicht pro Kopf der 
Bevölkerung! — auf 2581,27 M. (2616,81 M.) in den Städten auf 
1783,54 M. (1788,81 M.) auf dem Lande und überhaupt auf 2276,94 M. 
Vergleicht man dabei die Regierungsbezirke im einzelnen, so weist, wie 
in den Vorjahren, Wiesbaden das höchste Durchschnittseinkommen mit 
3255,51 M. (3510,95 M.) auf. Die niedrigsten Zahlen haben Arnsberg 
mit 1685,88 M. (1692,77 M.), Trier mit 1757,19 M. (1800,20 M.) und 
Stade mit 1792,71 M. (1819,45 M.). Das Durchschnittseinkommen für 
Berlin stellt sich auf 2653,57 M. (2670,58 M.) Scheidet man das 
Durchschnittseinkommen der Zensiten nach Stadt und Land innerhalb 
der Regierungsbezirke, so finden sich die hóchsten Ziffern in den 
Städten der Regierungsbezirke Wiesbaden 3795,38 M. (4215,97 M., 
Aachen 3451,95 M. (3590,92 M.), und Sigmaringen 3065,77 M. (3257,16 M.) ; 
sowle auf dem Lande bei den Regierungsbezirken Breslau 2459,96 M. 
(2487,92 M.), Stralsund 2257,81 M. (2140,34 M.) und Potsdam 2236,21 M. 
(2213,51 M.) Die niedrigen Ziffern haben in den Städten der Regie- 
rungsbezirke Stade 1922,14 M. (1974,13 M.), Arnsberg 1913,84 M. 
(1978,97 M.) und Schleswig 2145,76 M. (2190,98 M.), sowie auf dem 
Lande bei den Regierungsbezirken Arnsberg 1453,83 M. (1462,29 M.), 
Trier 1473,52 M. (1509,92 M.) und Münster 1580,08 M. (1599,21 M.) 
In den Stadtkreisen insbesondere stellt sich das Durchschnittseinkom- 
men eines Zensiten auf 2741,40 M. (2786,47 M.) Am niedrigsten stehen 
dabei Rixdorf mit 1458,42 M. (1458,56 M.), Oberhausen mit 1467,95 M. 
(1489,47 M.), Linden mit 1591,20 M. (1572,40 M), Königshütte in Ober- 
schlesien mit 1630,40 M. (1634,24 M.) sowie Spandau mit 1697,87 M. 
(1706,29 M.) Die hóchsten Stellungen nehmen ein Bonn mit 4756,58 M. 
(4964,91 M.) Wiesbaden mit 4209,88 M. (4390,15 M.), Charlottenburg 
4124,95 M. (4053,83 M.) Frankfurt a. M. mit 4114,74 M. (4790,61 M.) 
und Aachen mit 3750,12 M. (3877,60 M.). 

51* 


Miszellen. 


804 


c) Einkommen und Einkommensquellen der Zensiten 
mit mehr als 3000 M. Einkommen. 


Das veranlagte Einkommen der Zensiten in den Einkommensstufen 
von mehr als 3000 M. beträgt 4099996 632 M. (4038157053 M.). Es 
ist daher gegen das Vorjahr um 1,28 Proz. gewachsen, also etwas schwächer 
als das Einkommen der Zensiten überhaupt. Es sondert sich nach den 
(für diese Zensiten besonders zusammengestellten) Einkommensquellen 
in folgender Weise: 


M. M. 
I. Einkommen aus Kapitalvermögen 1237093711 (1208 059 567) 
I. o » Grundvermögen 996253083  ( 967880570) 
II. T » Handel, Gewerbe und Bergbau 1475083154 (1496 726 722) 
IV. 5 » gewinnbringender Beschäftigung 1084 406 191 (1036 694 129) 


An Schuldzinsen, dauernden Lasten und sonstigen gesetzlichen Ab- 
zügen sind 692839507 M. (661203935 M.) in Abzug gestellt. 


d) Das Sollaufkommen der Einkommensteuer. 


Das Sollaufkommen der Einkommensteuer beträgt 170193484 M. 
(168127 100 M.) Dieses verteilt sich auf die Städte mit 128 238 941 M. 
(126 520247 M.) und auf das Land mit 41954543 M. (41 606853 M.). 
Es ist mithin gestiegen von je 100 überhaupt auf 101,23 (106,14), in 
den Städten auf 101,36 (105,84) auf dem Lande auf 100,84 (107,09). 

Der Steuerbetrag des einzelnen Zensiten stellte sich im Durch- 
schnitt 


1) in den Städten auf 2,14 Proz. (2,16 Proz.) des veranlagten Einkommens 
2) auf dem Lande „ 2,23 „ (2,25 er " D 
3) überhaupt „ 1,99 „ (2,01 e A up D 


Auf den Kopf der Bevölkerung entfallen in den Städten 853 M. 
(8,61 M.), in den Stadtkreisen 11,10 M. (11,27 M.), auf dem Lande 
2,15 M. (215 M.) und überhaupt 4,93 M. (4,94 M.). 

An Einkommensteuer bringen die einzelnen Einkommensgruppen 
der Zensiten auf, und zwar 


die Zensiten mit einem 
Einkommen von: 


in den Städten 


über 900— 3000 M. auf dem Lande 18 449601 „ (18 181 059 ,,),28,82(28,81)Proz. 
überhaupt 49045744 » (47 601342 ,.)] 
in den Städten 19 792 498 ,, (18 999 296 „, 2| 
» 3000— 6000 „„aufdemLande 6583936 , ( 6423272 ,,)/15,50(15,12) „ 
beat 26376434 , (25422568 „, "f 
in den Städten 12 699 170 ,, (12410298 ,,) 
„  6000— 9500 „ bs dem Lande 2941956 ,, ( 2862002 ,, N 9,19( 9,08) » 
überhaupt 15641 126 ,, (15272300 ,,) 
In den Städten 25 216 290 ,, (24 888 270 ,, d 
»  9500— 30500 , sauf dem Lande 4801650 , ( 4811820 ,),17,64(17,67) „ 
überhaupt 30017 940 ,, (29 700090 ., MI 
in den Städten 18648 240 ,, (19 177 900 ,,) 
» 30 500—100000 , ‘auf dem Lande 3996 600 „ (4000500 ,,)/13,31(13,79) „ 
\überhaupt 22644 840 ,, (23 178 400 =, 
in den Städten 21 286 600 ,, (21 624 200 ») 
„ 100000 M. auf dem Lande 5180800 , ( 5 328 200 .,)/15,55{16,08) „ 
lobersupt (26 952 400 „, jl 


30 596 143 M. 


26 467 400 ,, 


(29 420 283 M.) 


Miszellen. 805 


e) Die Befreiungen nach 88 18 und 19 des Einkommen- 
steuergesetzes. 


Auf Grund des $ 18, nach dem bei Zensiten mit einem Einkommen 
bis 3000 M. für jedes Kind unter 14 Jahren der Betrag von 50 M. 
von dem an sich als steuerpflichtig veranlagten Einkommen in Abzug 
zu bringen ist, sind unter 3309696 (3210831) Zensiten, deren Steuer- 
veranlagung sich auf 49045744 M. (47601342 M.) beläuft, 284139 
(269156) freigestellt. Davon entfallen auf die Städte 133 713 (124889) 
und auf das Land 150426 (144267). Gemäß $ 19, wonach die Be- 
rücksichtigung besonderer, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der 
Steuerpflichtigen wesentlich beeinträchtigender, wirtschaftlicher Verhält- 
nisse bei einem steuerpflichtigen Einkommen bis 9500 M. gestattet ist, 
sind von den hierbei in Betracht kommenden 3678673 (5566 506) 
Zensiten, die bei obigem Einkommen zu einer Gesamtsteuer von 
61093304 M. (88296210 M.) veranlagt worden sind, 19252 (16664) 
Zensiten freigestellt. An dieser Zahl sind die Städte mit 9901 (8209) 
und das Land mit 9351 (8455) Zensiten beteiligt. 


II. Die Ergänzungssteuer 1899—1901 und 1902-1904. 
1. Die Veranlagungsperioden. 


Das Ergänzungssteuergesetz vom 14. Juli 1893, das mit dem 1. April 
1895 in Kraft trat, setzt im $ 37 eine Veranlagungsperiode von 3 Jahren 
fest, jedoch mit der Beschränkung, daß die erste Veranlagungsperiode 
nur für das erste Geltungsjahr 1895 und für die folgenden Steuerjahre 
1896—99 die Bestimmung der Veranlagungsperiode durch Königliche 
Verordnung stattfinden soll. Auch die zweite Veranlagung hat nur für 
ein Steuerjahr (1896) Gültigkeit gehabt. Sodann ist durch Königliche 
Verordnung vom 31. August 1896 für die Steuerjahre 1897—98 eine 
besondere Periode festgesetzt. Mit dem Jahre 1899 ist die erste und 
mit dem Jahre 1902 ist die zweite vom Gesetz vorgesehene 3-jährige 
Veranlagungsperiode eingetreten. Die neue Veranlagung hat unter fernerer 
Beibehaltung der durch einen 5-proz. Zuschlag erhöhten Steuersätze ein 
Mehr von 69902 (42021) Zensiten und 2733 466,40 M. (2289 912,60 M.) 
an Steuer ergeben. 


2. Zahl der Zensiten und gesamte Kopfzahl der ergän- 
zungssteuerpflichtigen Bevölkerung. 


Es sind zur Ergänzungssteuer in der Veranlagungsperiode 1902 — 
1904 im ganzen 1 297 485 (1899—1901: 1227583) Zensiten oder 1902 — 
1904: 3,76 (1899—1901: 3,72) Proz. der Gesamtbevölkerung veranlagt. 
Davon treffen auf die Städte 616 917 (569596) Zensiten oder 4,10 
(4,08) Proz, auf die Stadtkreise insbesondere 339 812 (296556) Zen- 
siten oder 3,83 (3,84) Proz. und auf das Land 680568 (657 987) Zensiten 
oder 3,49 (3,46) Proz. Die veranlagte Bevölkerung, einschließlich der 
Angehörigen der Zensiten, beträgt 


806 | Miszellen. 


in den Städten 1951479 (1825 973) Köpfe 
auf dem Lande 2821 336 (2765652) „ 


zusammen 4772815 (4591625) Köpfe 
oder auf einen Zensiten in den Städten 3,16 (3,21), auf dem Lande 
4,15 (4,20) und überhaupt 3,68 (3,74) Köpfe. Sonach gehören durch- 
schnittlich zu einem Zensiten in den Städten 2,16 (2,21) und auf dem 
Lande 3,15 (3,20) Angehörige. 

In den Jahren 1895, 1896, 1897—98, 1899— 1901 hatte die ver- 
anlagte Bevölkerung in den Städten je 13,85; 13,49; 13,29; 13,08 Proz, 
auf dem Lande je 14,33; 14,30; 14,38; 14,55 Proz. und insgesamt 14,14; 
13,97; 13,93; 13,92 Proz. der Gesamtbevölkerung betragen. In den 
Städten wächst also die ergänzungssteuerpflichtige Bevölkerung, ein- 
schließlich der Angehörigen nicht so rasch als die Gesamtbevölkerung; 
auf dem Lande ist sie verhältnismäßig etwas ausgedehnter als in den 
Städten und hat in den beiden Veranlagungsjahren 1897 — 98 und 1899— 
1901 auch dementsprechend zugenommen, während im letzten Veran- 
lagungsjahr 1902 eine kleine Abnahme zu verzeichnen ist. Ohne Zweifel 
haben wir hier die Rückwirkung der auf die Aufschwungsepoche 1899 — 
1900 folgende Depression zu beobachten. 

Zur Ergänzungssteuer sind veranlagt mit einem Einkommen: 

von nicht mehr als 3000 M. 946674 (913 662) Zensiten 
von mehr als 3000 „ 350811 (313 921) e 
Von den letzteren entfallen: 


auf die Städte 264 683 (236 186) Zensiten 
auf die Stadtkreise 183 222 (157 906) » 
auf das Land 86 128 ( 77 735) M 


3. Veranlagtes Vermögen der Zensiten. 
Das gesamte ergänzungssteuerpflichtige Vermögen der Zensiten 
beträgt 75 657476 085 M. (70042198554 M.) Von diesem entfällt 
auf die Städte 47 581 434 248 M. (43 361 440 961 M.) 
auf das Land 28076041837 „ (26680757593 „) 
Das Durchschnittsvermögen eines Zensiten stellt sich daher 
in den Städten auf 77 127,77 M. (76 126,66 M.) 
auf dem Lande „  41253,84 , (40 549,06 ,) 
überhaupt » 58310,87 „ (57057,00 ,) 
In den Stadtkreisen insbesondere beträgt das Durchschnittsvermögen 
102 822,69 M. (104823,49 M.), darunter in Frankfurt a. M. 186 000,89 M. 
(197 306,11 M.) in Charlottenburg 174073,18 M. (161 326,26 M.) in 
Essen 161752,36 M. (173401,38 MI, in Wiesbaden 14911734 M. 
(147918,79 M), in Berlin 145 208,49 M. (148712,95 Mi, in Bonn 
138 184,01 M. (133 681,55 M.), in Düsseldorf 133 041,97 M. (128 926,65 M.) 
und in Aachen 125854,33 M. (138161,29 M.). Das steuerpflichtige 
Vermögen sämtlicher Zensiten ist somit um 5620 Mill. M. oder um 
8,02 Proz. gestiegen. Diese Zunahme beträgt in den Städten 4220 Mill. M. 
oder 9,73 Proz, auf dem Lande 1400 Mill M. oder 5,23 Proz. und 
beim einzelnen Zensiten durchschnittlich 1253,87 M. (1552,01 M.) 
Gruppenweise geordnet, beträgt die Zahl der Zensiten mit einem 
Vermögen von mehr als 


Miszellen. 807 


6000— 20000 M. 634398 (601 265) oder 48,89 (48,98) Proz. der Gesamtzahl 


20000— 32000 ,, 228171 (217433) „ 17,59 (17,71) „ » » 
32000— 52000 ,, 177633 (168896) ,, 13,69 (13,76) „ n n 
52000— 100000 ,, 137 700 (129 382) „ 10,61 (10,54) „ " » 
100 000— 200000 „, 66 844 ( 62226) „ 5,15 ( 5,07) „ n 5 
200 000— 500000 ,, 35947 (32971) „ 2,77 ( 2,69) „ ^" HI 
500 000—I 000 000 „, 10191 ( 9394) » 0,79 ( 0,77) „ i 5 
I 000 000—2 000 000 ,, 4257 ( 3906) „ 0,38 ( 0,32) „ T » 
2 000 000 » 2344 ( 2110) „ uri ede) D » 


Ein Vermögen von mehr als 500000 M. besitzen nur 1,29 (1,26) Prók: 
aller Zensiten. Vorstehende Gruppenbildung zeigt in allen Gruppen eine 
Vermehrung der Zahl der Zensiten an, mit Ausnahme der Gruppen von 
mehr als 6000—52000 M., deren Anteilsziffer der Zensiten sich ver- 
ringert hat. 


4. Vermógen und Vermógensarten der Zensiten mit mehr 
als 3000 M. Einkommen. 
Das veranlagte Vermögen der 350811 (313921) Zensiten mit mehr 
als 3000 M. Einkommen betrügt: 
in den Städten 39 442 630 248 M. (35 709 919 961 M.) 
auf dem Lande 13779436837 , (12649535593 ») - 
zusammen 53222007 085 M. (48 359 455 554 MI 
Es sondert sich nach den einzelnen Vermögensarten folgendermaßen: 
1. Kapitalvermögen 28 788 260 589 M. (25 590 413 165 M.) 
II. Grundbesitz einschließlich d. Betriebskapitals 28 248 372 820 ,, (25 178757 165 ,,) 
III. Anlage- u. Betriebskapital in Handel, Ge- 


werbe und Bergbau 10 469 378442 , ( 9703 239 365 ,) 
IV. Wert der selbständigen Rechte und Ge- 
rechtigkeiten 134470012 „ ( 116591327 ,,) 


In Abzug ist der Kapitalwert der Schulden mit 14418414778 M. 
(12229545470 M.) gebracht. Das Gesamtvermögen aus den vier Ver- 
mögensarten ist um rund 7051 Mill. M., dagegen der Kapitalwert der 
Schulden nur um 2189 Mill. M. gewachsen, so daß das veranlagte Ver- 
mögen um rund 4863 Mill. M. gestiegen ist. 

Unterscheidet man auch hier wieder nach Stadt und Land, so er- 
gibt sich für die Jahre 1902 (1899): 

in den Städten auf dem Lande 


ee, nn 
I. ein Kapitalvermögen 23 235 803 882 M. (20820 212349 M.) 5 552456 707 M. ( 4 700 200 816 


II. ,, Grundvermügen 17312223024 ,, (14 890 117 567 „) 10936 149 796 „ (10 288 639 598 
Ill. , gewerbliches An- 

lage- u. Betriebskapital 9034 151455 „ ( 8371565050 „) 1435 226987 „ ( 1331674315 
IV. ein Wert der selb- 

ständigen Rechte und 


Gerechtigkeiten 67 694854 „ ( 60679 248 „) 66775158 „ ( 55912081 
V. ein Kapitalwert der 
Schulden 10 207 242 967 „ (8432654253 „) 4211171811 „ ( 3 796 891 217 


5. Das Sollaufkommen der Ergänzungssteuer. 


Das Sollaufkommen der Ergänzungssteuer beträgt 36 916 587,80 M. 
(34183 121,40 M.) und verteilt sich 
auf die Städte mit 23874 108,00 M. (21 837 450,60 M.) 
» » Stadtkreise „ — 17739147,80 „ (15 844 437,20 „) 
das Land »  13042479,80 „ (12345 670,80 ,) 


DI 


— 
M.) 


sel 
») 


») 
») 


808 Miszellen. 


Auf den Kopf der Bevölkerung entfallen in den Städten 1,59 M. 
(1,56 M.), in den Stadtkreisen 2,00 M. (2,05 M.), auf dem Lande 0,67 M. 
(0,65 M.) und überhaupt 1,07 M. (1,05 M.). 

An Ergänzungssteuer bringen die einzelnen Vermögensgruppen der 
Zensiten auf, und zwar bei einem Vermögen von mehr als 
6000— 20000M. 3 341 050,40 M. (3 173 770,40 M.) oder 9,05 ( 9,28) Proz. des Gesamtsolls 


20 000— 32000 „ 2425 979,00 , (2317 197,00 „) „ Bail 6,78) „ ,, n 
32 000 — 52 000 DI A 605 576,20 » (3 426 820,60 LL ) » 9,77 (10,02) LL HI n 
52000— 100 000 „ 4820741,00 ,, (4524 690,60 „) „ 13,06 (13,24) » » n 
100 000— 200000 , 4677 497,00 „ (4350429,80 „) » 12,07(12,73) „ » D 
200 000— 500000 ,, 5522 599,40 ,, (5 062 741,60 „ ) » 14,96 (14,81) n DI D 
500 000—I 000 000 „ 3 635 358,00 » (3 346 280,60 » ) n 9,85( 9,79) n DI nm 
I 000 000—2 000 000 » 3 056 965,80 » (2 804 199,40 » ) » 8,28 ( 8,20) LL HI n 
2 000 000 » 5 830 821,00 „(5 176 984,40 ,,) , 15,79 (15,14) „ » n 


Gegen das Vorjahr bleiben demgemäß sämtliche Gruppen der Zen- 
siten mit einem Vermögen bis zu 200000 M. mit ihren Anteilsziffern 
zurück, während die Vermögen von mehr als 200000 M. in stärkerem 
Maße daran beteiligt sind. Die Vermögen über 500000 M. bringen 
33,92 (33,14) Proz, die kleinen von nicht mehr als 32000 M. 15,62 
(16,06) Proz. und die mittleren 50,46 (50,80) Proz, d. h. mehr als die 
Hälfte des gesamten Steuersolls auf. 


b) Ermäßigungen und Freistellungen nach 8 17 und 19 
des Ergänzungssteuergesetzes. 

Nach $ 17 Abs. 1 des Ergänzungssteuergesetzes werden diejenigen 
Personen, deren steuerbares Vermögen den Gesamtwert von 6000 M. 
nicht übersteigt, nicht zur Steuer herangezogen. Infolgedessen sind 
von den einkommensteuerpflichtigen Zensiten 2709435 (2071740) zur 
Ergänzungssteuer nicht veranlagt. Von ihnen entfallen auf die Städte 
1844751 (1414157) und auf das Land 864684 (657583). Nach Abs. 2 
des gleichen $ 17 sind diejenigen Personen steuerfrei zu lassen, deren 
nach Maßgabe des Einkommensteuergesetzes zu berechnendes Einkommen 
900 M. nicht übersteigt, sofern der Gesamtbetrag ihres Vermögens nicht 
mehr als 20000 M. beträgt. Diese Bestimmung ist auf 295 752 (280682) 
Personen angewendet worden, von denen 71229 (63 607) auf die Städte 
und 224253 (217075) auf das Land entfallen. Diese letztere Ver- 
günstigung ist durch Abs. 3 des $ 17 auf weibliche Personen, die 
minderjährige Familienangehörige zu unterhalten haben, sowie auf vater- 
lose, minderjährige Waisen und Erwerbsunfähige mit einem Jahres- 
einkommen bis 1200 M. ausgedehnt. Demgemäß sind noch 1283 (1544) 
Zensiten und zwar in den Städten 457 (516) und auf dem Lande 826 
(1028) freigelassen. 

Der 8 19 des Ergänzungssteuergesetzes bestimmt, daß Personen, 
deren Vermögen 32000 M. nicht übersteigt, wenn sie zur Einkommen- 
steuer nicht veranlagt sind, mit höchstens 3 M. jährlich, wenn sie zu 
den ersten 4 Stufen dieser veranlagt sind, höchstens um einen um 2 M. 
unter der von ihnen zu zahlenden Einkommensteuer verbleibenden Be- 
trage zur Ergänzungssteuer herangezogen werden. Auch kann nach 
Abs. 2 Steuerpflichtigen, deren Einkommensteuer auf Grund des $ 1? 


Miszellen. 809 


des Einkommensteuergesetzes ermäßigt wird, bei Veranlagung eine Er- 
mäßigung der Ergänzungssteuer um höchstens 3 Stufen gewährt werden, 
wenn das steuerpflichtige Vermögen nicht mehr als 52000 M. beträgt. 
Mit Rücksicht auf die erstere Bestimmung sind zu den Ergänzungs- 
steuersätzen von 3, 4, 7, 10 und 14 M. veranlagt 279479 (271199) 
Zensiten) und zwar in den Städten 62426 (59231) und auf dem Lande 
217053 (211968). Auf Grund des $ 19 Abs. 2 sind noch 353 (423) 
Zensiten freigestellt. 


III. Vergleichende Uebersicht über einige Hauptziffern für 1892—1902. 
l. Die Einkommensteuer (1892—1902). 


> Oh vais! $ 

Steuer- ag al Nicht- | Veranls- [Deber- | en 

Se Ee "| physische | gungsoll | haupt | in den |auf dem | Proz. der 
jahre | Zensiten | gungssoll |, ten Städten | Lande | Bevölke- 

Mill. Mill. M. Mill. M. | Mill. | Mill. | Mill. rung 

1892 2,4 124,84 2028 | 10,06 2,44 1,41 1,03 8,15 
1896 2,65 127,08 1929 6,17 2,65 1,57 | 1,08 8,46 
1897 2,17 134,95 2001 | 8,05 2,76 1,65 1,11 8,68 
1898 2,91 146,74 2124 10,33 2,91 1,75 1,16 8,99 
1899 3,09 159,56 2262 12,97 3,09 1,87 1,22 9,40 
1900 3,38 174,39 2443 15,99 3,38 2,07 1,31 10,09 
1901 3,65 186,89 2661 18,76 3,65 2,24 1,41 10,71 
1902 3,76 188,84 2670 18,64 3,76 2,33 1,43 10,88 


Veranlagungssoll der physischen | Das veranlagte Einkommen der physischen 


Zensiten Zensiten 

in den | auf dem " | in den auf dem 

Ueberhaupt | Städten | Lande | Ueberhaupt | Städten Lande 

Mill. M. | Mill. M. | Mill. M. Mill. M. Mill. M. Mill. M. 

1892 114,79 84,32 | 30,47 5724,32 3873,32 1851,01 
1896 120,31 89,77 | 30,54 6086,05 4183,28 1902,77 
1897 126,90 95,18 | 31,72 6374,60 4410,10 1964,15 
1898 136,41 103,04 33,37 6774,94 724,40 2050,54 
1899 146,58 110,75 35,83 7257,81 5072,48 2185,33 
1900 158,40 119,54 38,85 7841,29 5489,32 2351,97 
1901 168,13 126,52 41,61 8376,06 5856,10 2519,95 
1902 170,19 128,24 41,95 8559,88 6002,00 2557,88 


Zahl der physischen Zensiten 


mit mehr als 3000 M. Ein-| Proz. der Bevölkerung Re dieser 


kommen Zensiten 
K Ueber- | in den 'auf dem | Ueber- | in den auf dem 
Ueber- | in den |auf dem | | 


coa Dev Lande haupt | Städten | Lande 


haupt | Städten | Lande | po; | Proz. | Proz. | Mill. M. | Mill. M.| Mill. M. 


1892 | 316 889 | 237 756 79 133 | 1,060 | 2,010 0,438 | 3223,83 2473,92 | 749,91 
1896 | 331 091 | 251 958 79133 | 1,056 | 1,976 0,425 |3371,81|2633,91| 737,91 
1897 | 345 328 | 263 453 81875 | 1,084 | 2,012 0,437 3562,58 | 2792,36 | 770,22 
1898 | 309 384 | 284 477 84 907 | 1,142 | 2,106 0,451 |3836,04 | 3032,09 | 803,95 
1899 | 390 957 | 301 088 89 869 | 1,188 | 2,158 0,474 |4144,86 | 3278,05 | 866,81 
1900 | 413 878 | 313 583 95 295 | 1,237 | 2,222 0,498 | 4444,68 | 3512,83 | 931,85 
1901 | 435 696 | 334872 | 100824 1,219 | 2,279 0,521 |4709,36 | 3716,06 | 993,30 
1902 | 449 681 | 346 399 | 103 342 | 1,301 2,304 0,529 |4792,84 | 3783,65 | 1009,19 


810 Miszellen. 


Einkommen der Zensiten mit mehr als 3000 M. aus: 


III. Handel, Gewerbe und 


I. Kapitalvermögen II. Grundvermögen Bergbau 
Ueber- | in den ` auf dem| Ueber- | in den | auf dem Ueber- | in den |auf dem 
haupt | Städten | Lande | haupt | Städten, Lande | haupt | Städten | Lande 
Mill. M. | Mill. M. | Mill. M. | Mill. M. | Mill. M. | Mill. M. Mill. M. | Mill. M. | Mill. M. 
1892| 891,72 | 716,88 | 174,84 | 755,36 | 388,95 | 366,41 | 982,80 | 867,04 | 115,77 
1896| 912,46 | 736,67 | 175,79 | 755,29 | 426,19 | 329,10 | 1019,22 | 898,68 | 120,54 
1897 | 942,85 ' 760,98 | 181,87 | 784,63 | 448,27 | 336,36 | 1106,02 974,39 | 131,64 
1898 | 995,59 | 810,66 | 184,93 | 815,80 | 470,54 | 345,25 | 1206,18 | 1061,14 | 145,04 
1899 | 1080,86 | 881,88 | 198,98 | 867,43 | 504,53 | 362,89 | 1304,12 | 1141,95 | 162,17 
1900 | 1141,14 | 926,93 | 214,21 | 921,38 | 540,05 | 381,33 | 1418,41 | 1240,22, 178,19 
1901 | 1208,06 | 978,24 | 229,82 | 967,88 | 575,69 | 392,19 | 1496,73 | 1298,81 | 197,98 
1902 | 1237,09 997,87 | 239,22 | 996,25 | 607,07 | 389,18 | 1475,08 | 1280,42 | 194,67 
' I 
d S insen 
IV. Aus gewinnbringender | SE an Sida 
Beschäftigun | ; arunter Se zinsen 

gung | Abzug der Schulden nach 8 9, I, 2 
Ueber- | in den | auf dem, Ueber- | in den |auf dem | Ueber- | in den |auf dem 
haupt Städten | Lande | haupt | Städten | Lande | haupt | Städten | Lande 
Mill. M. Mill. M. Mill. M.) Mill. M. | Mill. M. Mill. M. | Mill. M. | Mill. M. Mill. M. 
1892] 593,54 | 501.05 | 92,89 | 431,48 | 276,21 | 155,28 | 367,83 | 234,29 | 133,54 
1896 | 684,85 | 572,37 | 112,48 482,50 | 325,78 | 156,72 | 410,47 | 276,79 | 133.67 
1897 | 729,08 ! 608,72 ' 120,36 | 506,29 | 344,80 | 161,49 | 429,95 | 293,26 | 136,69 
1898 | 818,47 689,74 | 128,73 | 533,04 | 370,08 | 162,97 | 450,78 | 313,59 | 137,18 
1509 | 892,45 749,68 | 142,76 | 572,50 | 402,74 | 169,76 | 485,49 | 342,10 | 143,09 
1900 | 963,75. 805,63 | 158,13 | 614,58 | 434,89 | 179,69 | 521,21 | 370,66 | 150,55 
1901]|1036,59; 863,32 | 173,38 | 661,20 | 472,29 188,91 | 561,69 | 403,17 158,52 
1902 | 1084,11 898,29 | 186,12 | 692,84 | 498,17 | 194,67 | 590,73 | 427,34 | 163,39 


2. Die Ergànzungssteuer (1895—1904). 


Gesamtzahl der Zensiten | Proz. der Bevölkerung | Gesamtveranlagungssoll 
| Ueber- in den | auf dem 
dem 


, 2313 | haupt | Städten | Lande 
haupt |Städten| Lande |\ wi. M. Mi. X. 


Ueber-| in den jauf dem | Ueber-| in den laut 
haupt | Städten | Lande | 
] 


1895 


1,15 0,52 0,63 418 | 3,74 : 3,44 | 31,05 | 19,21 11,84 

1896 1,17 0,53 0,64 4,14 | 3,72 3,43 31,06 | 19,23 | 11,83 
1897—1898 | 1,18 0,54 0,64 4,11 | 3,70 3,12 31,83 | 19,88 11,95 
1899—1901 | 1,23 0,57 0,66 4,08 | 3,72 | 3,46 34,18 | 21,84 12,35 
1902—1904 | 1,30 0,62 0,68 4,10 | 3,76 3,49 36,92 | 23,87 13,04 


Veranlagtes Vermögen der | Zahl der Zensiten mit mehr Proz. der Bevölkerung 


Zensiten als 3000 M. Einkommen 
J ZS: x | 
Uebers | E deu [auf dem Ueber- | in den ‚auf dem Ueber- | in den |auf dem 
haupt | Stüdten | Lande | haupt | Städte Lande | haupt | Städten | Lande 
MIT ME, MR EE FR RANCE 1 IAURT RE : 


1895 63 917,81 38 350,20 25 567,60 268 883 | 199 991 | 68892 | 0,873 1,606 | 0,975 
1896 64 024,18 38 350,42 25 673,76 274 IOI | 204 440 | 69 664 | 0,875 | 1,603 | 0,355 
1897—1898 |65 676,92 39 790,24 25 886,68 284 744 | 213 129 | 71615 | 0,894 1,827 0,382 
1899—1901 [70 042,20 43 361,44/26 680,76 313 921 | 236 186 | 77 735 | 0,952 1,692 | 0,409 
1902—1904 [75 657,48 47 58149128 076,04 350 811 | 264 683 | 86 128 | 1,015 | rue | 0,441 


Miszellen. 


811 


Gesamtvermógen und Vermógensbestandteile der mit mehr als 


Ueber- 
haupt 
Mill. M. 


52 267,90| 

1896 52 978,94 
1897—1898 [55 069,63 
1899—1901 [60 589,00 


3000 M. veranlagten Zensiten. 


I. Aus Kapitalvermógen 


in den |auf dem| Ueber- | in den 
Stüdten | Lande haupt | Städten 
Mill. M. Mill. M. Mill. M. | Mil. M. 


137 123, ilis 144,76,21 401, 51/17 224,06 
37 833,42 15 145,52 21 765,5617 501,13 
139 580,69 15 488,94 22 974,16 18 546,51 
44 142,57 16 446,43 25 590, 51 20 820,21 


1902—1904 167 640,48 


49 649,87 17 990, 61 28 788,26 23 235,80 


auf dem 
Lande 
Mill. M. 


4177,45 
4264,43 22 486,98 12 793,12| 9 693,86 
4427,65) 
4770,20, 
5552,46 


Aus Grundvermögen und 
Betriebskapital 
Ueber- 
haupt 
Mill. M. 


II. 


auf dem 
Lande 
| Mill. M. 


22 309,15 12 551, 37| 9 758,38 


in den 
Städten 
Mill. M. 


23 148,50 13 302,13| 9 846,36 
25 178,76 14 890,12 10 288,64 
28 248,37|17 312, ‚22|10 936, 15 


III. Anlage- und Betriebs-| IV. Wert selbständiger | 


kapital in Handel, Gewerbe, Rechte und Gerechtig- 


Kapit: wert der abzugs- 
berechtigten Schulden 


und Bergbau keiten 
Ueber- | in den auf dem Ueber- | in den lauf dem Ueber- in den lauf dem 
haupt |Städten | Lande | haupt | Städten! Lande | haupt | Städten | Lande 
Mill. M. ‚Mill. M. „Mill. M. Mill. M. DE M. ‚Mill. M. Mill. M. | Mill. M. Mill. M. 
1895 8 425,88/7291,96 | 1133,92.130,77 | 55,15 75,01 | 9 727,79, 6 314,42 3413,37 
1896 8 612,68 7479,78 | 1132,90 113,72 | 59,38 54,38 |10 317,94) 6 876,07|344 1,87 
1897—1898 | 8 835,99 7667,14 | 1168,85 110,99 | 64,91 46,08 110 778,75 7 219,321 3559,48 
1899—1901 | 9 703,24 8371,57 | 1331,67 116,59 | 60,68 55,91 |12 229,55) 8 432,7513796,89 
1902—1904 [ro 469,38 9034,15 1435,23|134,47 67,69 66,78 |14 418,41 IO 207,24 4211,17 


Das gesamte Veranlagungssoll der Einkommen- und der Er- 
gänzungssteuer beträgt 225 754 430,80 M. (221 071 805,40 M.) oder 
6,53 M. (6,49 M.) pro Kopf der Bevölkerung. 


812 Miszellen. 


Nachdruck verboten. 


XVII. 


Die Methodik der Wirtschaftswissenschaft 
bei Johann Heinrich von Thünen. 
Von F. Lifschitz, Bern. 


In unserem Zeitalter, in welchem ein Gárungsprozef sich wahr- 
nehmen läßt, der dahin auslaufen dürfte, die hohe Synthese zu voll- 
ziehen, mag als zweckmäßig betrachtet werden, die älteren Methodologen 
der Wirtschaftswissenschaft im vollen Lichte erscheinen zu lassen. Dies 
gilt um so mehr für diejenigen Methodologen, deren Methodik in der 
Fachliteratur noch nicht zur Genüge festgestellt worden ist. Zu diesen 
gehórt auch Johann Heinrich von Thünen. 

Die Bedeutung Thünens für unsere Wissenschaft ist noch nicht 
entsprechend gewürdigt worden. Es herrscht in der Fachliteratur zum 
größten Teil die Meinung, als ob man es bei ihm mit einer Lehre 
zu tun hätte. Allein wenn man sich mit dem „isolierten Staat“ ein- 
gehend befaßt, so gewinnt man die Einsicht, daß wir hier einen viel- 
seitigen systematischen Gedankenbau vor uns haben. Es ist weder ein 
„Industriesystem“ schlechthin noch ein „Landwirtschaftssystem“, sondern 
ein System, welches sich auf diesen beiden Zweigen des Wirtschaftslebens 
aufbaut. Dieser leitende Gesichtspunkt verleiht seinem Aufbau die Er- 
habenheit und die Größe. Dadurch ist begreiflich, daß Roscher!) ihn 
als den „größten exakten Volkswirt der Deutschen“, Oncken?) und 
Conrad?) als „Klassiker“ bezeichnet haben. 

Es ist unter den Fachgenossen üblich geworden, wenn von Thünen 
die Rede ist, von einem Gesetz zu sprechen, nämlich von dem „Trans- 
portkostengesetz“. Damit aber wird man Thünen nicht gerecht. Denn 
er hat nicht nur eine Lehre oder ein Gesetz aufgestellt, sondern viel- 
mehr mehrere Gesetze und Lehren zu begründen versucht, wie eine 
Landrententheorie, Wertlehre *), Handels- und Sozialpolitik, Bevölke- 


1) In Georgika, Sammlung von Abhandlungen u. Vortrügen, herausgegeben von 
Birnbaum, Bd. 1, S. 77, Leipzig 1870. 

2) Vgl. dessen: , Was sagt die Nationalókonomie als Wissenschaft über Bedeutung 
hoher und niedriger Getreidepreise ?“, 1901. 

3) Siehe „Grundriß zum Studium der polit. Oek.“, 3. Aufl, S. 345. 

4) Bezüglich der Wertlehre hat Conrad mit Recht Thünen als Vorlüufer der 
„Wiener Schule“ bezeichnet; siehe u. O. A.; vgl. auch Bóhm-Bawerks „Kapital u. 
Kapitalz.“, I. Teil. 


Miszellen. 813 


rungstheorie, Methodologie u.a. Freilich kann es hier nicht am Platze 
sein, alle diese Theorien darzustellen, da es dazu einer umfassenden 
Darlegung bedürfen würde. Es soll hier nur versucht werden, die Methodik 
Thünens darzustellen. 


Die Auffassung der Thünenschen Methode wird in der Fachliteratur 
von Brentano!), Dühring?) Roscher?), Ingram), Oncken®), 
Conrad®), Philippovich?), Grünberg8), Cohn?) u. a. als 
die abstrakt-isolierend-deduktiv-mathematische, von an- 
deren dagegen als die deskriptive bezw. induktive bezeichnet. 
Zur letzteren Auffassung bekennt sich G. Schmoller!°P), an welchen 
sich neuerdings auch R. Passow 11) angeschlossen hat. Wie wir sehen, 
gehen die zwei Auffassungen über die Methode Thünens weit auseinander, 
sie sind geradezu entgegengesetzt. 

Diese entgegengesetzten Auffassungen über die Methode Thünens 
mógen auffallen. Allein sie haben beide ihren Grund in der Form 
und Darstellungsweise des „isolierten Staates“. Die Zahlen und Ziffern, 
welche in der Thünenschen Konstruktion zum Vorschein kommen, 
haben einzig und allein zu den beiden entgegengesetzten Auffassungen 
veranlaft. Denn wenn Thünen mit Zahlen und Ziffern operiert, so 
wurde daraus gefolgert, er verfahre induktiv; Ebenso wurde der 
Schluß gezogen, Thünen verfahre mathematisch, indem er mit den 
Zahlen und Ziffern als mit mathematischen Größen operiert. Zahlen 
und Ziffern an sich sind nun aber weder induktiv noch deduktiv, 
sondern das hängt ausschließlich davon ab, wie man sie ver- und an- 
wendet — das wurde übersehen. Den frappantesten Beweis dafür liefert 
die Statistik, auf deren Gebiete man sowohl induktiv als deduktiv ver- 
fahren kann. Diese ausschließliche Form des „isolierten Staates“, d. h. 
die Zahlen und Ziffern, mit welchen das Thünensche Werk ausgerüstet 
ist, führte einerseits za der Auffassung einer mathematischen, 
andererseits zu der der induktiven Methode Damit ist die Ur- 
sache der entgegengesetzten Auffassung festgestellt und vollständig 
erklärt. 

Die Feststellung der Methode eines Denkers bietet Schwierig- 
keiten verschiedener Art: erstens, wenn der betreffende Denker seine 
Methode nicht selbst bezeichnet hat, oder wenn der Begriff und die 
Charakteristik der methodischen Terminologie derart sich umgestaltet 
hat, daß sie demjenigen Stand der Terminologie, bei welchem der be- 


1) Vgl. dessen: „J. H. von Thünen‘“, 1867. 

2) „Kritische Geschichte der Nationalökonomie“ ete., 2. Aufl., S. 317. 
3) „Geschichte der Nationalökonomik in Deutschland“, S. 896. 

4) „Geschichte der Volkswirtschaftslehre‘, deutsch von Roschlau, S. 255. 
5) „Geschichte der Nationalökonomie“, Einleitung, 1902. 

6) „Grundriß‘ ete. 

7) „Grundriß der polit. Oekonomie“, Bd. 1, 1899, S. 40. 

8) „Handw. d. Staatsw.“, 2. Aufl, Art. „Thünen“, 

9) „System der Nationalökonomie“, Bd. 1, 1585, S. 125—120. 

10) In seinem „Grundriß‘“. 

11) In „Zeitschr. für die gesamte Staatswiss.", 1902, S. 1—38. 


814 Miszellen. 


treffende Denker gedacht und geschrieben hat, nicht mehr entsprechen. 
Hier laufen wir Gefahr, dem Denker unrecht zu tun, indem wir unbe- 
wußt ihm unsere Auffassung unterschieben; zweitens, falls der betreffende 
Denker seine Methode selbst bezeichnet, aber trotzdem dieser Methode 
nicht entsprochen hat, so daß also seine wirkliche Forschungsweise gar 
nicht die ist, welche er angeblich als die seinige betrachtet. Diese 
Schwierigkeiten steigern sich um so mehr, wenn zwischen dem betref- 
fenden Denker und dessen Forscher eine längere historische Periode 
liegt. Denn der Satz „alles fließt“ hat auch im Bereich der Begriffe 
seine Geltung. Man muß sehr vorsichtig sein, falls man der „Moderni- 
sierung“ nicht anheimfallen will, und auf diese Weise den Ansichten 
eines Denkers unsere eigenen Ansichten unter historischem Vorwand 
unterzulegen. 

Wir haben zunächst die Stellung Thünens zu dem deskriptiven und 
induktiven Verfahren zu betrachten. Dieselbe ist am leichtesten aus 
seiner Kritik und Auseinandersetzung mit den älteren Schriftstellern, 
besonders Smith, abzuleiten. 

Es muß hier darauf hingewiesen werden, daß die „klassische National- 
ükonomie* seitens der historischen Schule angegriffen wurde, 
weil sie „dogmatisch“ und nicht historisch-induktiv verfahren hätte. 
Behalten wir diesen Punkt im Auge und lassen wir nun die Thünen- 
sche Kritik über Smith Revue passieren. 

„Adam Smiths Untersuchung über den Kapitalgewinn* — sagt 
Thünen — „enthält zwar schätzbare Notizen über die Größe desselben 
in verschiedenen Ländern und zu verschiedenen Zeiten, aber nur Weniges 
und Unzulängliches über die Gesetze, wodurch die Höhe der Gewinnste 
und der Zinsen bestimmt wird“ !) Wie man sieht, betrachtet Thünen 
Smith als einen historisch-induktiven Nationalókonomen, und eben des- 
halb findet er seine Methode als ungenügend, weil sie „Weniges und 
Unzulàngliches über die Gesetze“ darbietet. Thünen bleibt dabei nicht 
stehen. Er meint von Smith weiter, dal er nur die Erscheinung, das, 
was vor Augen vorgeht, beschreibe ?). Ueber das, was Smith vom 
Marktpreis sagt, meint Thünen: „Diese Erklärung ist aus dem Leben 
genommen, das ist Tatsache. Aber was ist, müssen wir nun fragen, 
damit für die Wissenschaft gewonnen?“®), Er fügt in diesem Zu- 
sammenhang eine Note bei, die für seinen Standpunkt sehr charakte- 

ristisch ist. Sie lautet folgendermaßen: „Dies heißt das Leben ab- 
schreiben, aber Vernunft ist nicht darin, sagte ein Freund, dem ich 
diese Sätze mitteilte“ 4). Thünen sucht diesen Umstand mit folgenden 
Worten zu erklären: „A. Smith begnügte sich damit, die Tatsachen 
und Erscheinungen, die sich ihm darboten, zusammenzustellen und zu 
einer Uebersicht. zu vereinigen — und dies war zu seiner Zeit und bei 
dem damaligen Stand der W issenschaft ein sehr verdienstliches Werk. 


1) Vgl. „den isolierten Staat“, 1875, II. Teil, 1. Abt., 8. 55. 
2) U. O. A., S. 56 und auch S. 71. 

3) Ebenda, S. 60. 

4) Ebenda. 


es amem 


Miszellen. 815 


Den Grund der Erscheinungen zu erforschen, lag in dem vorliegenden 
Fall noch nicht in seiner Aufgabe“ 1), 

Wie wir sehen, haben wir es hier bei Thünen mit einer anderen 
Auffassung der Smithschen Methode zu tun, nach der Smith als Tat- 
sachennationalökonom zu betrachten ist. Auch Thünen, wie die 
historisch-induktive Schule, befriedigt nicht die Methode 
Smiths; beide postulieren eine andere Methode, beide finden sie für un- 
zureichend, aber mit einem großen Unterschied. Während Thünen die 
Smithsche Methode als historisch-induktiv hinstellt, welche von Smith 
allzusehr gepflegt worden sei, so meinte die historische Schule über 
Smith fast das Gegenteil, indem sie Smith als zu dogmatisch hin- 
stellte und zu historisch-induktiven, archivalischen Arbeiten, um „Tat- 
sachen“ festzustellen, aufforderte Hier kommt der schroffste Gegensatz 
zwischen der historisch-induktiven Richtung und Thünen zum eklatanten 
Ausdruck. Dadurch ist auch erklärlich, warum eben über Smiths 
Methode zwei entgegengesetzte Meinungen gefällt worden sind. Diese 
Stellungnahme Thünens zu der Smithschen Methode erklärt uns zur Ge- 
nüge seine eigene Beziehung zu der historisch-induktiven Forschungs- 
weise auf dem Gebiete der Wirtschaftswissenschaft, er will nicht die 
„Tatsachen“, weil das, wie er meint, nichts anderes heile, als „das 
Leben abschreiben“, ohne daß Vernunft darin sei, sondern er strebt zur 
Theorie, zur Dogmatik. Das ist die Aufgabe, welche Thünen sich 
gestellt hat, wie wir bereits kennen gelernt haben. 

In dem bisherigen ist versucht worden, die Stellung Thünens zu 
dem historisch-induktiven Verfahren darzutun. Es hat sich ergeben, 
daß er gegen „das Leben abschreiben“ eingenommen ist. Dafür haben 
uns die oben angeführten Stellen den Beweis geliefert. Es bleibt uns 
nun übrig, uns seiner Forschungsweise selbst zuzuwenden und insbe- 
sondere seinen positiven methodischen Erörterungen. 

Schon der Name seiner Schrift „Der isolierte Staat“, wie auch die 
ganze Konstruktion spricht dafür, daß er auf dem Standpunkt der 
Isolierungsmethode, d.h. der mathematischen, steht. Bedenkt man 
noch, daß er anfänglich für sein Werk die Bezeichnung „idealer Staat“ 
gewählt hat?), weil seine Untersuchung in ein ideales Verhältnis ver- 
setzt?), das in der Wirklichkeit nicht vorhanden ist, und wenn man 
noch hinzufügt, daß Thünen seinen „naturgemäßen Arbeitslohn“ in der 


1) Ebenda, S. 64; es würe noch zu erinnern, wie sich Thünen zu Say in metho- 
discher Beziehung stellt. Auch Say gehört zur „klassischen Dogmatik“. Bekanntlich 
hat Say nicht besonderen historischen Sinn verraten, und er hat sich ungünstig über 
das induktive Verfahren ausgesprochen, indem er meinte: „Die Kenntnis von Tatsachen 
ohne die Kenntnis ihrer Verkettungsringe ist weiter nichts als der unverdaute Notizen- 
kram eines Buchhalters.“ Vgl. Say-Morstadt, „Ausführliche Darstellung der 
Nationalökonomie“ ete., Bd. 1, 1830, S. 12. Thünen sagt von Say in Bezug auf dessen 
Erklärung der Konkurrenz, Say begnüge sich mit der Auffassung der Erschei- 
nung, man müsse aber den Grund zu erforschen suchen. U. O. A., S. 135. 

2) Vergl. H. Schumacher: „J. H. v. Thünen, Ein Forscherleben*, S. 71 und 72, 
Rostock 1868. 

3) Vergl. „Der isol. Staat", II. Teil, II. Abt., S. 1. 


816 Miszellen. 


Formel V/ap ausdrückt, und daß er sich mit der Erforschung dieses Ge- 
setzes 20 Jahre beschäftigte!), so dürfte es schon aus diesen Gründen 
allein erlaubt sein, bezügliche Rückschlüsse zu ziehen. Allein der „iso- 
lierte Staat“ bietet für unser Problem so reichliches Material, daß wir 
nicht gezwungen sind, uns auf die hier angeführten Beweise als auf 
eine Hauptstütze zu berufen. Wir wollen eine ausführliche Angabe der 
im „isol. Staat“ hie und da zerstreuten Stellen, welche sich auf die 
Methode beziehen, hier wiedergeben. 

„Noch bitte ich die Leser“ — sagt Thünen — „die dieser Schrift 
ihre Zeit und Aufmerksamkeit schenken wollen, sich durch die im An- 
fang gemachten, von der Wirklichkeit abweichenden Voraussetzungen 
nicht abschrecken zu lassen, und diese nicht für willkürlich und zweck- 
los zu halten. Diese Voraussetzungen sind vielmehr notwendig, um 
die Einwirkung einer bestimmten Potenz — von der wir in der Wirk- 
lichkeit nur ein unklares Bild erhalten, weil sie daselbst im Konflikt 
mit anderen gleichzeitig wirkenden Potenzen erscheint — für sich dar- 
zustellen und zum Erkennen zu bringen ?).* 

Thünen wird nicht müde, die Methode der isolierenden Ab- 
straktion zu befürworten; er befürwortet sie aus manchen Gründen: 
sie verwirre nicht die Uebersicht 3), denn um den Einfluß verschiedener 
Potenzen zu erforschen, müsse man sie aus dem Konflikt, worin sie in 
der Wirklichkeit mit den übrigen Potenzen stehen, herausreißen, sie gleich- 
sam frei machen, damit das, was jede — unter gegebenen Umständen — 
für sich allein vermöge, sichtbar werdet). Er sagt unter anderem 
ausdrücklich: „Hier zeigt sich die unendliche Wichtigkeit des oben ge- 
gebenen Beweises, daß das, durch die Methode, nur eine Potenz als 
wirkend, die anderen als ruhend oder konstant zu betrachten, erlangte 
Resultat nicht ein unwahres, sondern nur ein unvollständiges, und darum 
letzteres nur so lange ist, bis alle anderen mitwirkenden Potenzen einer 
ähnlichen Untersuchung unterworfen sind — daß also jede Forschung 
über einen noch so kleinen Punkt der Aufgabe ein Baustück zur Auf- 
führung des großen Gebäudes werden kann“ 5). 

Wir können nun vollständig begreifen, wohin Thünen methodisch 
hinausgehen will. Wirtschaftliche Erscheinungen sind sehr kompli- 
ziert, sie bestehen aus verschiedenen Potenzen und Faktoren. Um 
die Gesetze festzustellen, haben wir nach Thünen jede Potenz zu 
isolieren und dann gelangen wir zum richtigen Resultat. Wir haben es 
mit einer mathematischen Wirtschaftswissenschaft bei ihm zu tun, 
mit dem reinen mathematischen Verfahren. Er ist sich auch seiner 
mathematischen Methode bewußt. Denn er meint, daß, solange der 
mathematische Weg nicht betreten werden könne, drängt sich das Be- 
dürfnis nach einer Erklärung auf®). Er sagt auch ausdrücklich, dab das 

1) Schumacher, U. O. A., S. 239. 

2) „Der isol. Staat“, I. Teil, Vorrede, S. XVIII—XIX, 1875. 

3) Vergl. S. 17, I. Teil. 

4) Ebenda, S. 155 und S. 7 des II. Teils, I. Abt. 

5) Ebenda, S. 37. 

6) Ebenda, S. 66, I. Teil. 


Miszellen. 817 


Prinzip, welches dem isolierten Staate seine Gestaltung gebe, auch in 
der Wirklichkeit vorhanden sei, aber die Erscheinungen, die dasselbe 
hier hervorbringe, zeigen sich in veränderten Formen, weil zugleich sehr 
viele andere Verhältnisse und Umstände mitwirken. Aber sowie der 
Geometer mit Punkten ohne Ausdehnung, mit Linien ohne Breite rechnet, 
die doch beide in der Wirklichkeit nicht zu finden sind, so dürfen auch 
wir eine wirkende Kraft von allen Nebenumständen und allem Zutälligen 
entkleiden und nur so können wir erkennen, welchen Anteil sie an den 
Erscheinungen hat, die uns vorliegen!). „Sollte nun das Verfahren“ — 
sagt Thünen — „das wir in der physischen Welt für durchaus richtig 
erkennen, in der Gedankenwelt unstatthaft sein; sollten wir nicht auch 
hier von zwei zusammenwirkenden Potenzen erst die eine als allein 
wirkend betrachten, und dann die andere auf gleiche Weise, als allein 
wirksam der Betrachtung unterziehen dürfen ? — Gewiß läßt sich durch 
Analogien die Richtigkeit dieses Verfahrens bis zur Wahrscheinlichkeit 
erheben; aber schwerlich dürfte es auf diesem Wege gelingen, einen 
strengen Beweis, der keine entgegengesetzten Ansichten zuläßt, dafür zu 
liefern. Aber auf die absolute Richtigkeit kommt hier eben alles an. 
Glücklicherweise finden wir den Beweis dafür in der Wissenschaft, die 
nicht trügt — in der Mathematik“ 2). Er sagt weiter, daß seine Methode 
die mathematische sei?) Und er meint: „Aber die Anwendung der 
Mathematik muß doch da erlaubt werden, wo die Wahrheit ohne sie 
nicht gefunden werden kann 117 

Wir haben hier zur Genüge gesehen, daß die Methode Thünens die 
mathematische ist. Allein es bedarf noch einer Erklärung, damit wir 
ihm vollständig gerecht werden. Denn stellt man sich auf den Stand- 
punkt der mathematischen Methode, so hat man sich über Zeit, Ort, 
Klima, Bodenbeschaffenheit, Kulturzustand, Sitte, Recht, Staat etc, 
kurzum über alle diejenigen Faktoren, welche das Wirtschaftsleben be- 
einflussen, gesetzt, weil mathematische Wahrheiten für ewig und immer 
gelten. Thünen gesteht aber zu, daß alle diese Faktoren die wirtschaft- 
lichen Erscheinungen beeinflussen, also acceptiert auch er den Stand- 
punkt der Relativität. Hier gerät er, wie es auf den ersten Blick 
scheinen mag, in einen unüberbrückbaren Gegensatz ! 

Dennoch ist es nicht so. Wir haben seine Auffassung von den 
wirtschaftlichen Erscheinungen etwas näher ins Auge zu fassen, damit. 
wir über seine Konsequenz ins klare kommen. Wir glauben am besten 
zu tun, wenn wir ihn mit seinen eigenen Worten sprechen lassen: 

„Man kann und wird sagen: die Berechnungen über die Kosten der 
Arbeit, über das Verhältnis des rohen zum reinen Ertrag mögen mit 
noch so großer Genauigkeit aus der Wirklichkeit entnommen sein, so 
sind sie doch nur für den einen Standpunkt, für dies eine Gut gültig. 
Schon auf dem benachbarten Gute ist alles anders: hier ist nicht mehr 
derselbe Boden, hier sind nicht mehr dieselben Arbeiten. Der Boden 


1) Ebenda, S. 274. 
2) Ebenda, S. 12, II. Teil, I. Abt. 
3) Ebenda, 8. 14. 
4) S. 177. 
Dritte Folge Bd, XXV (LXXX). 52 


818 Miszellen. 


kann schwerer oder leichter zu bearbeiten sein, die Arbeiter können 
mehr oder weniger tätig oder kräftig sein; der Boden selbst erfordert 
also eine größere oder geringere Quantität Arbeit, und die Arbeit selbst 
kann nach Verschiedenheit der arbeitenden Kräfte wohlfeiler oder kost- 
barer werden. Die von dem ersten Gute entlehnten Berechnungen 
werden hier also nirgends genau zutreffen, und die Richtigkeit derselben 
ist ganz an den Ort gebunden, von dem sie hervorgegangen sind. Aus 
dem, was nur an einem Orte und sonst nirgends gültig ist, können 
aber auch keine allgemeingültigen Gesetze hervorgehen 1)“. 

Und er beseitigt diese Frage mit folgenden Worten: 

„Ich antworte hierauf: Es ist allerdings wahr, daß diese Berech- 
nungen schon auf dem benachbarten Gute nicht mehr vóllig zutreffen, 
viel weniger also noch auf sehr entfernten Gütern unter einem anderen 
Himmelsstrich, mit Arbeitern von einem anderen Nationalcharakter. Aber 
ich frage: Wird der Landwirt, der lange auf einem Gute gewohnt, und 
der durch die móglichst genaue Beachtung aller gemachten Erfahrungen 
sich eine genaue Kenntnis der Kosten und des Reinertrags des Land- 
baues verschafft hat — wird dieser Landwirt, nach einem anderen Gute 
versetzt, von seinen auf dem ersten Gute erworbenen Kenntnissen nun 
nichts gebrauchen kónnen? Wäre dies der Fall, so würde jeder Landwirt 
mit Ortsveränderung seine Lehrjahre von neuem beginnen müssen, ehe 
er die Wirtschaft zu führen verstünde, so kónnte keiner die Landwirt- 
schaft anders als an dem Orte, wo er künftig wohnen sollte, erlernen. 
Dies kann und wird man nicht zugeben wollen. Also muf auch in den, 
an einem Orte erworbenen Kenntnissen etwas liegen, was allgemein 
gültig und nicht an Zeit und Ort gebunden ist. Und gerade dies All- 
gemeingültige ist es, was wir hier zu erforschen suchen“ 2). 

In dieser Auseinandersetzung ist sein Standpunkt gegeben. Nach 
Thünen haben wir die wirtschaftlichen Erscheinungen in zwei Gruppen 
einzuteilen: in konstante und variable, oder, mit anderen Worten, 
Thünen steht auf dem Boden der wirtschaftlichen Substanz, 
d. h. daß in allen ökonomischen Erscheinungen nach dem Abzug „des 
ewigen Flusses* des Wirtschaftslebens noch ein Teil zurückbleibt, der 
ewig und immer, unwandelbar ist. Und gerade diesen Teil will er 
erforschen. Das Wirtschaftsleben wird eigentlich von Thünen in zwei 
Welten?) eingeteilt, in eine wechselnde und eine beharrende, 
substanzielle. Das Allgemeingfiltige, Ewige, abgelóst von Zeit und Ort, 
sucht er mathematisch zu erforschen. Es kann nicht als Widerspruch 
betrachtet werden, wenn er einerseits mathematisch verfährt und 
andererseits den Einfluß der verschiedenen Faktoren auf das Sozial- 
wirtschaftsleben gelten läßt. Denn worauf es bei Thünen haupt- 
sächlich ankommt, ist gerade das Allgemeingültige. Das All- 
gemeingültige, Generelle, kann nicht durch das bloß aus ‚der Be- 


1) S. 35, I. Teil. 

2) Ebenda, S. 35—36, I. Teil. 

3) Ich bediene mich absichtlich des Ausdruckes „zwei Welten“, weil nach meinem 
Dafürhalten Thünen von Kant vieles übernommen hat. Es sei mir vorbehalten, auf 
„Kant und Thünen‘ in einer besonderen Abhandlung zurückzukommen. 


Miszellen. 819 


obachtung entnommene Wissen ermittelt werden, weil die Beobachtung 
nicht ausreichend für eine solche Arbeit ist!) Es müsse die Notwen- 
digkeit der Erscheinung nachgewiesen werden?) Was wir aber in der 
Erfahrung und Beobachtung anzutreffen vermögen, ist nichts als eine 
Konstatierung einer Tatsache, d. h. das ist, aber nicht daß es so sein 
muß und sein wird. Deswegen will Thünen vermittelst Vernunft- 
gründen das Gesetz nachweisen 3). 

Aus dem bisherigen ergibt sich, daß es ganz irrig und falsch ist, 
die Thünensche Methode als die induktive zu bezeichnen. Damit ist 
unser Problem gelóst. Es bleibt uns nur übrig, uns noch mit einer 
Argumentation auseinanderzusetzen, welche als Beweisführung für die 
Thünensche Induktion eine sehr große Rolle gespielt hat. Sie be- 
steht im folgenden: Thünen legt bekanntlich seinen Forschungen im 
„isolierten Staat“ das Gut T ellow zu Grunde, und von diesem leitet er 
seine Sätze ab; da die Induktion eigentlich nichts anderes ist, als die 
Ableitung des Dogmas vom Einzelfall so haben wir bei Thünen die 
induktive Methode vor uns. Das ist der Kernpunkt der Argumentation, 
die beweisen soll, daß Thünen induktiv verfahren hat. Dieses Argument 
Scheint auf den ersten Blick bestechend zu sein. Allein wenn man ihm 
näher tritt, so muß es als nicht stichhaltig erklärt werden. Es ge- 
schieht hier eine Verwechslung von Einzelfall mit Induktion, was nicht 
zulässig ist, wie sich sofort ergeben wird. 

Gesetzt, wir haben eine wirtschaftliche Erscheinung zu untersuchen 
und verfahren deduktiv, d. h. vom allgemeinen zum einzelnen. Diese 
wirtschaftliche Erscheinung statten wir mit einer bestimmten Größe 
aus, denn sonst, wenn wir sie nicht als eine bestimmte Größe fixieren, 
sind wir überhaupt nicht im stande, sie zu untersuchen. Anderes ver- 
mag auch nicht die Mathematik. Es muß also auch bei dem deduktiven 
Verfahren ein einziger Einzelfall wenigstens gegeben sein. Es ist 
schließlich gleich, ob dieser konkret vorhanden ist oder nicht, denn 
wir können und dürfen vollständig behaupten, er ist vorhanden, obzwar 
er nicht mit einem Namen, z. B. Gut Tellow, ausgestattet ist. Anders 
werden wir mit unserer Untersuchung zu verfahren haben, wenn wir 
induktiv vorgehen wollten. Wir müssen mehrere Einzelfälle sammeln, 
und zwar mehr wie möglich aus verschiedenen Orten und Zeiten 
und dann erst den Charakter der Erscheiuung feststellen. Diesen letzteren 
Weg der Forschungsweise hat Thünen aber nicht eingeschlagen. Er 
hat nicht von Mehreren und Verschiedenen an verschiedenen 
Orten und Zeiten seine Gesetze abgeleitet, sondern von seinem Gute 
Tellow und zwar in dem Sinne der Allgemeingültigkeit. Er hat an 
Stelle einer bestimmten namenlosen Größe, eine Größe mit dem 
Namen Tellow gesetzt, nicht Einzelfälle, sondern einen einzigen 
Einzelfall untersucht, d. h. deduktiv verfahren. Auf diesem einzigen 
Einzelfall hat er sein System aufgebaut, ein Verfahren, gegen welches 


1) U. O. A., S. 17, II. Teil, I. Abt. 
2) Ebenda. 
3) Ebenda, 8, 41. 


820 Miszellen. 


sich die „historisch-induktive Schule“ gesträubt hat und zwar teil- 
weise mit vollem Recht. Wenn aber trotzdem behauptet wird, Thünen 
habe induktiv verfahren, so ist dieser Fehler darauf zurückzuführen, daß 
man sich über das Wesen der Induktion und Deduktion nicht klar ist. 
Geht man so weit wie die Behauptung, Thünen habe induktiv verfahren, 
weil er alles von seinem Gute Tellow ableitet, so könnte man auch 
sagen, es gebe keine deduktive Methode. Und in der Tat findet 
Mill, daß jede Deduktion eine verkappte Induktion enthalte, was als 
talsch betrachtet werden muß. Auch er verwechselt in dieser Beziehung 
den einzigen Einzelfall mit der Induktion. 

Wir sind am Schluß unserer Untersuchung angelangt. Daß die 
Methode Thünens die mathematische ist, liegt nun außer Zweifel. Thünen 
sieht in dieser Methode dasjenige Mittel, vermóge dessen man zur 
richtigen Erkenntnis der wirtschaftlichen Erscheinungen gelangen könne. 
Er unterscheidet nicht in methodischer Beziehung die Geisteswissen- 
schaften von Naturwissenschaften!) Er glaubt Smith ent- 
schuldigen zu sollen, daß er zu historisch-induktiv verfahren habe", 
weil er die neuen, früher nicht geahnten Probleme nicht hàtte zeigen 
können ë). Jetzt aber sei gerade die rechte Zeit, den neuen Weg der 
Forschung zu betreten. Man muß dabei nicht vergessen, daß die erste 
Auflage des „isolirten Staates“ im Jahre 1826 erschien und dal im 
letzten Jahrzehnt seines Lebens das „nationale System“ von List, 
Roschers ,Grundrif^ und Hildebrands „Nationalökonomie“ er- 
schienen, diejenigen Werke, welche für unsere Wissenschaft von eminent 
historischer Bedeutung geworden sind und durch welche für eine andere 
Methode Bahn gebrochen wurde. Es vollzog sich dann ein Gärungs- 
prozeß in methodischer Beziehung auf dem Gebiete der Wirtschafts- 
wissenschaft, welchem Thünen gemäß seiner Methode abhold sein multe. 
Dadurch ist die Vergessenheit erklärlich, in welche Thünen verfallen 
ist, und zwar derjenige Thünen, welcher einen Wendepunkt in der deut- 
schen Volkswirtschaftslehre hätte bilden sollen, denn mit ihm beginnt 
die deutsche Wirtschaftswissenschaft als selbständige deutsche 
Wissenschaft zu existieren. Ebenso ist das wiederaufwachende Interesse 
an Thünen in der gegenwärtigen Literatur erklärlich, weil man jetzt 
für Dogmen von Tag zu Tag günstiger gestimmt wird. Denn alles 
ist historisch bedingt. 

1) Vgl. oben. 


2) Vel. oben. 
3) „D. isol. Staat“, 8, 3, II. Teil, I. Abt. 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 821 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands 
und des Auslandes. 


1. Geschichte der Wissenschaft. Encyklopädisches. Lehrbücher. Spezielle 
= theoretische Untersuchungen. 

Handwörterbuch der Schweizerischen Volkswirt- 
schaft, Sozialpolitik und Verwaltung. Herausgegeben von 
N. Reichesberg, Professor an der Universität Bern. Bern (Verlag Ency- 
klopädie) 1902. 

Von diesem neuen Nachschlagebuch liegt die erste Hälfte des 
ersten Bandes vor, umfassend die Artikel „Ablösung der Reallasten — 
Beamtenvereine“. Das ganze Werk ist auf drei starke Bände berechnet 
und soll nach Umfang und Preis etwa die Mitte halten zwischen unserem 
„Wörterbuch der Volkswirtschaft“ und dem „Handwörterbuch der Staats- 
wissenschaften“. Es ist natürlich nicht möglich, jetzt schon ein Urteil 
über das Werk abzugeben. Nur auf einige Punkte sei hingewiesen 
Wie schon der Titel angibt, sollen nur die Verhältnisse der Schweiz. 
besprochen werden. Es fehlen somit alle prinzipiellen Erörterungen 
und fast ausnahmslos die Hinweise auf das Ausland. Aber auch die 
Angaben über die Schweiz selbst erscheinen nicht immer völlig aus- 
reichend. So fehlen über das Bäckereigewerbe alle statistischen Nach- 
weise, Der Schutz der Bauhandwerker ist nur andeutungsweise behan- 
delt. In dem Artikel „Außereheliches Kindesverhältnis“ dürfte die 
Kindesanerkennung nicht bloß mittelbar erwähnt werden, wie es S. 370 
No. 5 i. f. geschieht. Auch kleine Flüchtigkeitsfehler fehlen nicht. So 
heißt es im Artikel , Arbeiterwohnungen“ S. 195 Carl Bücher, dagegen 
ist S. 211 der Vorname richtig als Karl angegeben. 

Auf der anderen Seite sei aber beispielsweise die Darstellung der 
Bauernbefreiung in der Schweiz hervorgehoben, die in unseren Nach- 
schlagebüchern nicht berücksichtigt ist. Auch sonst wird man sich 
vielfach in interessanter Weise orientieren können. Eine große Bedeu- 
tung wird aber das Reichesbergsche Werk für uns kaum erlangen können, 
da es sich eben zu sehr auf die Verhältnisse der Schweiz beschränkt. 

Wir behalten uns vor, nach Erscheinen der übrigen Bände diese 
Ankündigung zu ergänzen. 


Halle a. S. G. Brodnitz. 


Festschrift zu August Sigmund Sehultzes 70. Geburtstag, gewidmet von der 
rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät der Kaiser-Wilhelms-Universitüt in Straß- 
burg. Leipzig, C. L. Hirschfeld, 1903. gr. 8. V—249 SS. M. 7,20. 


822 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Lamprecht, Karl, Zur jüngsten deutschen Vergangenheit. Bd. II, 1. Hälfte: 
Wirtschaftsleben. Soziale Entwickelung. Freiburg i. B., Herm. Heyfelder, 1903. gr. 8. 
XVIII—520 SS. M. 7,— (A. u. d. T.: Deutsche Geschichte, II. Ergänzungsband, 
1. Hälfte.) 

Marx, Karl, Zur Kritik der politischen Oekonomie. Herausgeg. von Karl Kautsky. 
2, Aufl. Stuttgart, J. H. W. Dietz Nachf., 1903. 8. XIV—203 SS. M. 3,50. 

Menger, Anton, Neue Staatslehre. Jena, G. Fischer, 1903. gr. 8. XII—335 SS. 
M. 5,—. (Inhalt: I. Buch. Staat und Recht im allgemeinen. — II. Buch. Die Ordnung 
des wirtschaftlichen Lebens und die Fortpflanzung im volkstümlichen Arbeitsstaat. — 
III. Buch. Organisation des volkstümlichen Arbeitsstaates, — IV. Buch. Der Uebergang 
zum volkstümlichen Arbeitsstaat.) 

Roscher, Wilhelm, System der Volkswirtschaft. Bd. II: Nationalökonomik des 
Ackerbaues und der verwandten Urproduktionen. Ein Hand- und Lesebuch für Staats- 
und Landwirte. 13. vermehrte Aufl. bearbeitet von Heinrich Dade. Stuttgart und Berlin, 
J. G. Cotta Nachf., 1903. gr. 8. XIV—864 SS. mit 1 graphischen Darstellung: Ver- 
erbungsweise des bäuerlichen Grundbesitzes im Deutschen Reiche. M. 13,—. 

Schmidt, Richard (Prof, Univers. Freiburg i. Bi Allgemeine Staatslehre. 
Bd. II, Teil II. Die verschiedenen Formen der Staatsbildung, Abteilung II: Die Ent- 
stehung der modernen Staatenwelt. Leipzig, C. L. Hirschfeld, 1903. gr. 8. SS. V—VIII 
u. 399—886. M. 14,50. (Schluß des Werkes.) "A. u. d. T.: Hand- und Lehrbuch der 
Staatswissenschaften in selbständigen Bänden. Begründet von Kuno Frankenstein, fortges. 
von Max v. Heckel, Abteil. III. Staats- und Verwaltungslehre, Bd. II, Teil II.) 

Wagner, Ad. (GehRegR., Prof.), Das ethische und soziale Moment in Finanzen 
und Steuern (enthalten in Soziale Praxis. Zentralblatt für Sozialpolitik, Jahrg. XII, 
v^ 35, Berlin, 28. V. 1903.) 


Comte. — Correspondance inédite d'Auguste Comte. 1* série. Cháteaudun, impr. 
de la Société typographique, 1903. 8. 351 pag. fr. 7,50. 
Condorcet, — Tableau historique des progrès de l'esprit humain. Versailles, 


impr. Aubert, Paris, Steinheil, 1903. 8. VIII—470 pag. fr. 5,—. (Bibliotheque posi- 
tiviste. Sommaire: Tableau historique etc. Jr partie: Prospectus d'un tableau historique; 
re: partie: Fragments d'un tableau historique.) 

Destrée, Jules, et E. Vandervelde, Le socialisme en Belgique. Avec un ap- 
pendice contenant le programme et les statuts du parti ouvrier et une bibliographie du 
socialisme belge. 2° édition. Paris, V. Giard & E. Brière, 1903. 8. 498 pag. (Table 
des matières: Les institutions économiques. —  L'effort politique: 1. L'année 1856; 2. 
Les premieres années du parti ouvrier; 3. L'agitation revisionniste; 4. La revision; 5. 
La première consultation du suffrage universel; 6. Les socialistes au Parlement: 7. A la 
conquéte du pouvoir communal; 8. De 1896 à 1899; 9. La représentation proportionnelle; 


10. La crise de 1902. — L'évolution industrielle: 1. Propriété collective et propriété 
capitaliste; 2. Les profits des capitalistes; 3. Les objections; 4. Le collectivisme: Lettre 
au „Courrier de Bruxelles“ 1895. — La question agraire. La question féministe: 


1. Le socialisme et les femmes; 2. Dans le parti ouvrier. — Préoccupations intellectuelles, 
esthétiques et morales, — Annexes.) 

Kostyleff, N., Le problème de la vie en rapport avec les origines de la socio- 
logie. Paris, V. Giard & Briere, 1903. 8. fr. 1,—. 

Pareto, Vilfredo, Les systemes socialistes, Cours professé à l'Université de 
Lausanne. 2 vols. Paris, Giard & Brière, 1902—03. gr. in-8. 406 et 492 pag. fr. 14,—. 
(Table des matières: Principes généraux de l'organisation sociale. — Les systèmes socia- 
listes en général. — Systèmes réels. — Les systèmes religieux. — Les systèmes théo- 
riques. — Les systèmes mótaphysiques- communistes: Platon; Le socialisme populaire 
contemporain de Platon; Les lois de Platon; Critique, ete. — Les systèmes méta- 
physiques-éthiques. — Les systèmes mixtes, — Les systèmes scientifiques: More; Fourier; 
Proudhon. — Les systèmes scientifiques: L'Etat isolé (Thünen); La terre libre; La 
nationalisation du sol; Le socialisme municipal. — Les systèmes scientifiques: L'économie 
Marxiste. — La théorie matérialiste de l’histoire et la lutte des classes.) 

Polier, Léon, L'idée du juste salaire. Essai d'histoire dogmatique et critique. 
Paris, Giard & Brière, 1903. gr. in-8. fr. 8,—. 

Vandevelde, Em., Vive la commune. Bruxelles, impr. veuve D. Brismée, 1903 
12. 24 pag. av. portr. fr. 0,50. (Bibliotheque de propagande socialiste.) 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 823 


Annual Register, the. A review of publie events at home and abroad for the 
year 1902. New series. London, Longmans, Green & C°, 1903. gr. 8. 476 and 167 pp., 
cloth. 18/.—. (Contents: English history. — Foreign and colonial history. — Chronicle 
of events in 1902. — Finance and trade, by F. Harcourt Kitchin. — Obituary of eminent 
persons deceased in 1902.) 

Ward, Lester F., Pure sociology. A treatise on the origin and spontaneous 
development of society. London, Macmillan, 1903. 8. XII—607 pp. 17/.—. 

Giovannini, A., Lezioni di economia politica. Parma, L. Battei, 8. 199 pp. 

Levy, J. A. De kleinhandel. Eene anti-Marxistische repliek. ’s Gravenhage, 
Gebr. Belinfante, 1903. gr. 8. 6 en 104 blz. fl. 1,95. 

Treub, M. W.F., Het wijsgeerig-economisch stelsel van Karl Marx. Eene critische 
studie. Deel I. Amsterdam, Scheltema & Holkema, 1903. gr. 8. 12 en 443 blz. 
2. 11,—. 


2. Geschichte und Darstellung der wirtschaftlichen Kultur. 

Moltke, O. Graf (Mitglied des Hauses der Abgeordneten), Nord- 
amerika. Beiträge zum Verständnis seiner Wirtschaft und Politik. Berlin 
(E. S. Mittler und Sohn) 1903. 8°. VI, 53 SS. 

Wer immer die Zeit zu einer größeren Studienreise über See findet, 
wird als Ergebnis eine erhebliche Erweiterung seines Anschauungs- 
kreises auch über heimische Verhältnisse mit nach Hause bringen. Und 
es ist außerordentlich erfreulich, daß außer den Praktikern, die ihre 
wirtschaftlichen Zwecke verfolgen, von Jahr zu Jahr eine größere Zahl 
von Männern der Wissenschaft und Politikern sich zu derartigen Ex- 
kursionen entschließt. Doppelt erfreulich ist es, wenn sie das, was sie 
mit verständnisvollen Augen gesehen, hinterher durch Veröffentlichung 
weiteren Kreisen zu gute kommen lassen. In früherer Zeit finden wir 
eine große und anregende Literatur aus der Feder fein beobachtender 
Reisender; nicht nur die sogenannten empfindsamen Reisen, sondern 
die merkantilistische bezw. kameralistische Schule regte auch speziell zur 
wirtschaftlichen und sozialen Beobachtung an. Ich erinnere nur an die 
Länderbeschreibungen von Arthur Young, La Rochefoucauld und andere 
mehr. Dann kam diese Art des Schreibens längere Zeit wieder außer 
Mode. Erst neuerdings haben die Neomerkantilisten auch die wirt- 
schaftsgeographischen Zweige wieder aufgenommen und für die Praxis 
auszunutzen gesucht. 

Es wäre zu wünschen, daß wir von vielen Reisenden und über 
viele Länder solche kurze Eindruckszusammenstellungen mit der Bei- 
fügung des nötigen allgemeinen Materials an Zahlen und Daten er- 
hielten, wie sie das Moltkesche Heftlein, das nebenbei gar angenehm 
lesbar ist, bietet. Es gibt zunächst eine Uebersicht über den enormen 
Aufschwung der Vereinigten Staaten gerade in der jüngsten Zeit und 
knüpft daran die Erörterung einer Anzahl für unsere heimischen Ver- 
hältnisse wichtiger Probleme, deren Ergebnisse mit meinen eignen An- 
sichten meist übereinstimmen. So wünscht er, daß die wirtschaftliche 
Prosperität in Amerika möglichst lange anhalten möge, weil nur dann 
der innere Markt Amerikas genügend aufnahmefähig ist, um nicht seine 
Industrien zu ruinösem Mitbewerb auf dem Weltmarkt zu zwingen. 
Unter den Gründen, die den amerikanischen Wettbewerb außerordentlich 
wirksam machen, hebt er die Verkehrsprobleme mit Recht hervor, die 
Leistungsfähigkeit der Eisenbahnen, die gute Organisation innerhalb 


824 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


der Betriebe, die großen mechanischen Transportvorrichtungen in allen 
Stadien der (wirtschaftlichen) Produktion und neben der technischen 
Leistungsfähigkeit der Eisenbahnen die noch billigeren Wasserwege. 
Dies macht er zum Grund der Befürwortung einer energischen Kanal- 
politik in Deutschland. Er wünscht in Deutschland, wo angängig, 
amerikanische Methoden eingeführt zu sehen und fürchtet dann an- 
gesichts der  wissenschaftlichen und geschäftlichen Tüchtigkeit der 
Deutschen auch in Zukunft keine ruinöse Konkurrenz, sofern wir nur 
unsere eignen Kräfte energisch und einheitlich zusammenfassen. Er 
hat das Land zweifellos mit richtigem Verständnis gesehen. Einige 
der im ersten Abschnitte beklagten Schattenseiten der Eigenart des 
modernen Amerikanertums würde er bei längerem Aufenthalte vielleicht 
etwas abgemildert finden. 

Einzelne kleine sachliche Irrtümer sind zu bemerken. Ein Terri- 
torium „Columbia“ gibt es nicht (S. 11). Nicht alle amerikanischen Eisen- 
bahnen sind ursprünglich reine Privatunternehmungen gewesen, sondern 
namentlich im Süden einzelne von den Einzelstaaten erbaut und mit- 
verwaltet (S. 14). Eisenbahnwagen von 50 000 und 60 000 kg Tragfähig- 
keit gibt es meines Wissens nicht. Die größten dürfen 100 000 englische 
Did — 45 000 kg Fracht tragen (S. 18). „Factories“ kann man wohl 
nicht ins Deutsche mit ,Faktoreien* übersetzen (S. 20). Die Verquickung 
der Großfinanz und -industrie scheint mir bei uns ebenso stark entwickelt 
wie in Amerika, z. B. in der elektrischen Industrie (S. 21). Die Steel 
Corporation ist eine Vereinigung einer Anzahl von Riesenunternehmungen 
und Trusts, nicht Assoziationen. Ihr Kapital reicht heute schon an 
11/, Milliarden Dollars heran (S. 21), da inzwischen eine Anzahl der 
auf S. 22 genannten Konkurrenten aufgekauft sind. 


Berlin. Ernst von Halle. 


Speck, E., Handelsgeschichte des Altertums. Zweiter Band: Die 
Griechen. Leipzig 1901. 

Eine fleißige und mühevolle Arbeit, die aber doch leider das Be- 
dürfnis einer Handelsgeschichte des Altertums nicht völlig zu befriedigen 
vermag. Erst auf Seite 305 wendet sich der Verfasser der Handels- 
geschichte zu, während er in den voraufgehenden sechs Abschnitten 
Land und Volk, politische und soziale Entwickelung, die Kolonien, die 
geistige und äußere Kultur der Griechen behandelt. Von Selbständigkeit 
der Studien, eindringendem Verständnis und Durchdringung des Stoffes 
ist dabei ebensowenig wie von einer Ausnutzung der Quellen selber 
die Rede. Ueberall ist aus Quellen zweiter und dritter Hand ge- 
schöpft, und wer den dritten, vierten und fünften Band von Eduard 
Meyers monumentaler Geschichte des Altertums kennt, wird kaum zu 
dem Buche von Speck greifen, um sein Wissen über die Kultur der 
Griechen zu erweitern und zu bereichern. Die sechs Abschnitte über 
die Handelsgeschichte selber haben mich mehr angesprochen, und doch 
vermisse ich auch hier eine eigentliche genetische und allgemeingeschicht- 
liche wie wirtschaftsgeschichtliche Behandlung. Gewiß ist mehr neues 
und exaktes Material verarbeitet, als es noch des verdienstvollen Beers Ge- 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 825 


schichte des Welthandels zu Grunde liegt. Aber auch hier werden Auffas- 
sungen verschiedener Forscher kritiklos nebeneinander gestellt, und eine 
wirklich organische Auffassung des Wirtschaftslebens der Griechenwelt, die 
Erkenntnis, wie im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Arbeitsteilung 
der Handel erwachsen und wie mit der Wandlung der Grundeigentums- 
verhältnisse und der Ausbildung neuer Wirtschaftsformen auch der Handel 
sich qualitativ und quantitativ geändert hat, welche Stellung er als Glied 
in der Kette der einzelnen wirtschaftlichen Tätigkeiten einnahm, wie er 
die Preisgestaltung beeinflußt hat, wie weit er Bedarfs- und wie weit 
er Spekulationshandel war, alles das vermissen wir schmerzlich, mit 
einem Wort: es fehlt eine Untersuchung über die Stellung des Handels 
in der griechischen Volkswirtschaft. Da diese aber fehlt, so bleibt 
das Buch, obwohl es seinem Titel nach den großen geschichtlichen 
Zusammenhängen gewidmet ist, doch eine echte und rechte Detailarbeit, 
eine Anhäufung von Zahlen- und Tatsachen, ohne jedes Streben hin 
nach der Einheit wirtschaftsgeschichtlicher Einzeltatsachen. 


Halle a. S. Theo Sommerlad. 


v. Detten, G. (LandgerR., Paderborn), Westfälisches Wirtschaftsleben im Mittel- 
alter. Aus seinen Grundlagen und Quellen heraus entwickelt und dargestellt. Pader- 
born, Junfermannsche Buchhdl., 1903. gr. 8. 186 SS. M. 2,50. 

Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte. In Verbindung 
mit Fr. Holtze, G. Schmoller und A. Stölzel herausgegeben. XVI. Bd., 1. Hälfte. 
Leipzig, Duncker & Humblot, 1903. gr. 8 344 SS. M. 6,—. (Aus dem Inhalt: 
Städtisches und territoriales Wirtschaftsleben im märkischen Odergebiet bis zum Ende 
des XIV. Jahrhunderts, von P. van Nießen (S. 1—162). — Die Besiedlung des Oder- 
bruches durch Friedrich den Großen, von Albert Detto (S. 163—205). 

Garbe, Richard, Beiträge zur indischen Kulturgeschichte. Berlin, Gebr. Paetel, 
1903. 8. VII—268 SS. M. 6,—-. 

Geering, Traug. (HandelskSekret.) und (GymnasLehrer) Rud. Hotz, Wirtschafts- 
kunde der Sehweiz. Mit einem geologischen Querprofil und 1 Eisenbahnkarte der Schweiz. 
2. Aufl. Zürich, SchultheB & C°, 1903. gr. 8. geb. M. 2,40. 

Großstadt, die. Vorträge und Aufsätze zur Städteausstellung. Gehestiftung zu 
Dresden, Winter 1902—1903. Dresden, v. Zahn & Jaensch, 1903. 8. 282 SS. (A. u. d. 
T.: Jahrbuch der Gehe-Stiftung zu Dresden, Bd. IX. Inhalt: Die Großstädte in Gegen- 
wart und Vergangenheit, von Karl Bücher (Leipzig). — Die geographische Lage der 
großen Städte, von Fr. Ratzel (Leipzig). — Die Bevölkerung der Großstädte, von Georg 
v. Mayr (München). — Die wirtschaftliche Bedeutung der Großstädte, von H. Waentig 
(Münster i. W.). — Die Großstädte und das Geistesleben, von G. Simmel (Berlin). — 
Die geistige Bedeutung der Großstädte, von Th. Petermann. — Die politische und mili- 
tärische Bedeutung der Großstädte, von D. Schäfer (Heidelberg). 

Jahrbuch der Gesellschaft für lothringische Geschichte und Altertumskunde. 
XIV. Jahrg.: 1902. Metz, G. Seriba, 1903. kl. 4. 592 SS. mit 22 Tafeln u. anderen 
figürl. Anlagen. M. 15,—. (Aus dem Inhalt: Keltische Numismatik der Rhein- und 
Donaulande, von R. Forrer (Straßburg i. E.). [I. Forts.] — Das große römische Amphi- 
theater zu Metz, von (Major) E. Schramm, (Archivdir.) Wolfram und (Museumsdir.) 
Keune [Metz]. — Zur deutschen Siedlungsgeschichte und zur Entwicklung ihrer Kritik 
in den letzten Jahren, von (OLandesGerR.) Ad. Schiber (Kolmar i. E.). — Zur lothrin- 
gischen Territorialgeschichte im Oberelsaß, von Theob. Walter (Rufach). 

Knüll, Bodo, Historische Geographie Deutschlands im Mittelalter. Breslau, Ferd. 
Hirt, 1903. gr. 8. VIII—240 SS. M. 4,—. 

Markovié, Milan, Die serbische Hauskommission (Zadrüga) und ihre Bedeutung 
in der Vergangenheit und Gegenwart. Leipzig, Duncker & Humblot, 1903. gr. 8. XI 
—87 SS. M. 2,40. 

Morgenroth, W. (Bibliothekar der Handelshochschule, Köln), Das Wirtschafts- 
gebiet der rheinisch-westfälischen Großindustrie. Geographisch-statistische Skizze. Köln, 
Druck von M. Du Mont-Schauberg, 1903. gr. 8. 53 SS. 


826 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Popeseu, S. D., Wirtschaftsgeographische Studien aus Groß-Britannien. Leipzig, 
O. Schmidt, 1903. 8. 178 pp ` 

Schippel, Max, Zuckerproduktion und Zuckerprämien bis zur Brüsseler Kon- 
vention 1902. Eine wirtschaftsgeschichtliche und handelspolitische Darstellung. Stutt- 
gart, J. H. W. Dietz Nachf., 1903. gr. 8. VIII—419 SS. M. 6,—. 

Schultz, Alwin (Prof.), Das häusliche Leben der europäischen Kulturvölker vom 
Mittelalter bis zur II. Hälfte des XVIII. Jahrhunderts. München, R. Oldenbourg, 1903, 
gr. 8. VIII—432 SS. mit Abbildgn. M. 9.—. (A. u. d. T.: Handbuch der mittelalter- 
lichen u. neueren Geschichte. Hrsg. von (Proff. G. v. Below und F. Meinecke. Ab. 
teilung IV. Hilfswissenschaften u. Altertümer.) 

Suchsland, E.(OLehrer, Prof.), Los von den Konsumvereinen und Warenhäusem! 
Eine Mahnung und eine Bitte an alle Vaterlandsfreunde zur Erhaltung des gewerblichen 
Mittelstandes in Stadt und Land, als des Fundamentes unseres Staatswesens und unserer 
Kultur. Halle, Buchhandlung des Waisenhauses, 1903. gr. 8. 32 SS. M. 0,50. 

Wegener, Leo, Der wirtschaftliche Kampf der Deutschen mit den Polen um 
die Provinz Posen. Posen, Jos. Jolowiez, 1903. gr. 8. 208 SS. nebst 100 Seiten 
statistischer Tabellen. M. 6.—. 

Zernial, Hugo (SanitR.), Aus der alten Stadt. Neuhaldensleber Erinnerung- 
blätter aus den dreißiger, vierziger und fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Neu- 
haldensleben, C. A. Eyraud, 1902. VI—100 SS. 8. M. 1,20. 


Bradley-Birt, F. B. (Fellow of the Royal Geographical Society, Indian Civil 
Service), Chota Nagpore: a little known province. London, Smith, Elder & C°, 1903. 
8. With a map and 40 full-page illustrations. 12/.6. (History of a distriet of India, 
at the meeting place of the older and newer populations of Hindustan.) 

Whigham, H. J., The Persian problem. An examination of the rival positions 
of Russia and Great Britain in Persia. With some account of the Persian Gulf and the 
Bagdad railway. London, Isbister, 1903. 8. 440 pp. with maps and illustr. 12/.6. 


S. Bevólkerungslehre und Bevólkerungspolitik. Auswanderung 

und Kolonisation. 

Bolletino dell' Emigrazione, herausgegeben vom Ministero 
degli Affari Esteri (R. Commissariato dell Emigrazione). Anno 1902. 

Die andauernd grofe Auswanderung hat die italienische Regierung 
genótigt, durch das Gesetz vom 31. Januar 1901 besondere Fürsorge- 
einrichtungen für die Auswanderer zu treffen, zu deren Durchführung 
das vorliegende Journal herausgegeben wird. Es wendet sich im 
allgemeinen nicht, wie die entsprechenden englischen Publikationen, 
unmittelbar an die Auswanderer, obgleich einzelne Hefte diesen auch 
so sehr dienlich sein kónnen. Hauptzweck ist vielmehr, die italienischen 
Behörden des In- und Auslandes fortdauernd über alle einschlägigen 
Fragen auf dem Laufenden zu erhalten und ihnen die sachgemülle Unter- 
stützung der Auswanderer zu erleichtern. Wir finden einen Aufsatz 
Luigi Bodios, der über die ganze Auswanderungsfrage und ihre Be- 
deutung für Italien orientiert, sodann Nachrichten über die Aussichten 
italienischer Arbeiter in Deutschland, Frankreich, Afrika, und vornehm- 
lich natürlich in Amerika. Daran schließen sich Berichte über die Lage 
der Ausgewanderten in den Hauptorten, denen sie sich zuzuwenden 
pflegen, und Ratschläge für die Ueberfahrt und die Wahl zwischen den 
großen Verkehrslinien. 

Das Vorgehen Italiens ist für uns um so beachtenswerter, als wir 
ja auch neuerdings eine besondere Auskunftsstelle für Auswanderer 
eingerichtet haben, die nach den letzten Nachrichten dezentralisiert 
werden soll. Es dürfte sich empfehlen, alsdann zur Erleichterung des 


Vebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 897 


Verkehrs zwischen den einzelnen Stellen eine ähnliche Nachrichten- 
sammlung einzuführen. 


Halle a. S. G. Brodnitz. 


Zimmermann, Alfred, Die Kolonialpolitik der Niederländer. Berlin, E. S. 
Mittler, 1903. gr. 8. XIV—304 SS. mit 1 Karte in Farbendruck. M. 6,50. (A. u. d. 
T.: Die europäischen Kolonien. Bd. V.) 


Annuaire de l’Etat indépendant du Congo. Colonial, administratif, commercial, 
industriel et agricole. Publié avec l'autorisation de l'Etat indépendant du Congo. Ir 
année, 1900. Bruxelles, imprim. L. G. Laurent, 1903. 8. 352— XII pag. toile. 
fr. 2,50. 

Berjont, J., De l’envahissement des étrangers en France. La Provence italienne. 
Marseille, impr. spéciale de la Ligue, 1903. 8. 65 pag. (Extrait de matières: Naturali- 
sations, — Criminalité. — Protection du travail national.) 

Descamps, E. (prof. de droit des gens à l’Université de Louvain), L'Afrique 
nouvelle. Essai sur l'état eivilisateur dans les pays neufs et sur la fondation, l'organi- 
sation et le gouvernement de l'Etat indépendant du Congo. Bruxelles, J. Lebègue & C", 
1903. 8. XVI—626 pag. fr. 7,50. 

Lagrosilliére, J., La question de la Martinique. Paris, Mouvement socialiste, 
1903. 8. 93 pag. 

Régime minier, le, aux colonies. Documents officiels précédés de notices histo- 
riques. Tome II: Madagascar. — Nouvelle-Calédonie. — Annam. — Tonkin. — Algérie. 
— Tunisie. — Afrique continentale francaise. — Guyane française. — Côte d'Ivoire. — 
— Côte d'or. — Rodhésie, — The British South Africa. Paris, Aug. Challamel, 1903. 
8. fr. 20.—. (Publication de l’Institut colonial international de Bruxelles, VI* série.) 

Annual summary of births, deaths, and causes of death in London and other 
large towns, 1902. London, printed by Darling & Son, 1903. 8. LXXVII pp. 
(Published by the authority of the Registrar-General of births, deaths and marriages in 
England.) 1/.6. 

Filomusi-Guelfi, G., Questioni di vitalità. Pavia, tip. succ. Bizzoni, 1903. 
8. 35 pp. 

Finot, G., La filosofia della longevità. Prima traduzione italiana aumentata sull 
ultima originale di Vittorio M. Ovazza. Torino, fratelli Bocca, 1903. 8. 243 pp. 


l. 3,50. (Contiene: I misteri della longevita. — Il corpo immortale. — Un essere 
vivente resta sempre vivente. — Il terrore supremo della nostra vita. — La procreazione 
artificiale. — Per gli innamorati della vita.) 


Lenzi, Orazio, Crescete ed espandetevi: studio e conseguenze della teorica della 
popolazione. Siena, tip. E. Torrini, 1903. 8. 74 pp. 

van Houten, S, Herdrukken betreffende neo-malthusianisme en vrouwenrecht. 
Haarlem, H. D. Tjeenk Willink & Zoon, 1903: gr. 8. 12 en 248 blz. fl. 1,90. 


4. Bergbau. Land- und Forstwirtschaft. Fischereiwesen. 

Acta Borussica. Denkmäler der preußischen Staats- 
verwaltung im 18. Jahrhundert, herausgegeben von der 
königlichen Akademie der Wissenschaften. Getreide- 
handelspolitik. Zweiter Band: Die Getreidehandelspolitik und 
Kriegsmagazinverwaltung Brandenburg-Preußens bis 1740. Darstellung 
und statistische Beilagen von W. Naudé. Akten bearbeitet von G. Schmoller 
und W. Naude. Berlin 1901. 

Der von Friedrich dem Großen hochgeschätzte Abbe Fernando 
Galiani, den Schmoller in seinem geistreichen Aufsatz über Roscher mit 
Recht zu den praktischen Staatsmännern zählt, hat einmal gesagt, das 
beste System in Bezug auf den Getreidehandel bestehe darin, über- 
haupt keines zu besitzen. An diesen Ausspruch mußte ich denken, als 
ich das hier anzuzeigende Buch studierte. Denn dieses entrollt uns 


828 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes, 


zumal von der Getreidehandelspolitik König Friedrich Wilhelms des 
Ersten ein Bild, aus dem wir einen Praktiker im Sinne Galianis er- 
kennen, der, zunächst den Bedürfnissen des Augenblicks zugewandt und 
ohne weitausschauende Berechnung, eine Agrarpolitik trieb, die durch 
seine gesamte innere Politik bedingt war und aus der wirtschaftlichen 
Lage seiner Lande mit Notwendigkeit hervorging. 

Daß sich aber dieses Bild mit festen Strichen und hellen Konturen 
uns bietet, ist das Verdienst der Darstellung, die W. Naudé aus einer 
12-jährigen unermüdlichen Sammlerarbeit hervorgehen ließ und der die 
Bestände von 22 Archiven zu Grunde gelegt worden sind. Einen solchen 
Mitarbeiter und einen solchen Darsteller, der nicht bloß Wirtschafts- 
historiker, sondern ein echter rechter Historiker ist, gewonnen zu haben 
ist das denkenswerte Verdienst des Mitherausgebers des Monumental- 
werkes der Acta Borussica, der auch mit die Akten des vorliegenden 
Bandes bearbeitet hat, Gustav Schmollers. 

Die gesamte Arbeit ist nach dem Wortlaut der Vorrede nur in 
wissenschaftlichem Interesse unternommen worden und darf doch tür 
die Gegenwart aktuelles Interesse beanspruchen, da sie zur Klärung 
der vorhandenen wirtschaftspolitischen Gegensätze beitragen wird. Be- 
trachten wir deshalb ausführlicher als das wohl sonst bei einer Anzeige 
zu geschehen pflegt, den Inhalt des Buches und die Hauptgedanken 
der Darstellung. 

Ein erstes Buch „städtische und territoriale Ge- 
treidehandelspolitik im deutschen Nordosten“ charakte- 
risiert die Getreidehandelspolitik des ausgehenden deutschen Mittelalters, 
die auf städtischer Grundlage ruhte. Jede Stadt kämpfte gegen die andere 
und das platte Land mit ähnlichen Mitteln, wie heute ein Staat gegen 
andere mit Schutzzöllen. Daneben geht das Bestreben, jeden Zwischen- 
handel zu unterdrücken. Ihr Gepräge erhält die städtische Getreide- 
handelspolitik durch eine Vermittelungspolitik des Rates, die dahin 
zielt, das Interesse des exportierenden Kaufmannes mit dem Interesse 
der billiges Brot verlangenden gewerblichen Bürgerschaft zu verein- 
baren. Gegenüber der städtischen Politik beginnt vom 15. bis 18. Jahr- 
hundert eine territoriale Politik zu erstarken. Während die alten Kämpfe 
im Gefolge der Stadtwirtschaftspolitik fortdauern, beginnt ein Kampf 
des platten Landes mit den Städten um die freie Kornausfuhr, der dem 
Territorialfürstentum Gelegenheit zu Eingriffen und eine Steigerung seiner 
Macht bringt. In Brandenburg-Preußen haben erst Friedrich Wilhelm ]. 
und Friedrich der Große ein allen Klassen der Gesellschaft gerecht 
werdendes System der Getreidehandelspolitik ins Leben gerufen. Die 
Zeiten bis dahin sind von dem unausgeglichenen Gegensatz zwischen 
Stadt und Land, Gewerbe und Landwirtschaft, Getreidekonsument und 
Getreideproduzent erfüllt. Der märkische Adel, der sich im 16. Jahr- 
hundert von dem Fehdeleben weg und der Landwirtsehaft zugewandt 
hatte, war auf gesetzlichem und ungesetzlichem Wege die ausschlag- 
gebende Macht des platten Landes geworden; er bekannte sich zu frei- 
händlerischen Grundsätzen, um die Monopolpreise des einheimischen 
Kaufmannes zu durchbrechen. Den Fürsten jener Tage fehlte freilich 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 899 


oft die Macht, um in den Streit der Stände um die Handelspolitik ein- 
zugreifen, namentlich die Wirtschaftspolitik Joachims II. ist eine durch- 
aus schwankende, sie tut der Partei ihren Willen, die ihm seine Schulden 
bezahlt. Will man ein Urteil über Brandenburgs Getreidehandelspolitik 
im 16. Jahrhundert gewinnen, so wird man zu verschiedenem Eindruck 
kommen, je nachdem man sie mit der Politik Philipps II. von Spanien 
und der italienischen Fürsten jener Zeit, oder mit der Frankreichs, 
Englands, der Päpste und Sachsens vergleicht. Die zweite Vergleichung 
zeigt, wie unvollkommen Brandenburgs Politik war und daß sie von 
der Partei getrieben wurde, die auf den Landtagen am stärksten lärmte: 
sie war nur Teuerungs- und Augenblickspolitik, sie hat die wohlfeilen 
Jahre nicht benutzt, um Vorrat für teuere Zeiten zu sammeln. Nur 
ein Verdienst hat sie: die Einfuhr des neuen Kornzolls in der Mark, 
die Anbahnung eines territorialen Zollsystems, und der neue Zoll der 
Jahre 1569 und 1571 erscheint finanziell als sehr einträglich und tech- 
nisch als einfach und vollkommen. 

Das zweite Buch behandelt die Getreidehandelspolitik 
unter dem Großen Kurfürsten. Der Kurfürst übernahm das 
Streitobjekt zwischen Adel und Städten, die Kornausfuhr des Adels. 
Die Versuche der Jahre von 1641 bis 1648, dauernd einen Getreide- 
preis zu fixieren und einen Minimaltaxpreis für Getreide festzustellen, 
mißglückten, es folgten dann in den 60er und 70er Jahren des 17. Jahr- 
hunderts zahlreiche Sperrmaßregeln, die hin und wieder durch die Er- 
teilung von Ausfuhrpässen unterbrochen wurden. Das zweite Kapitel 
des zweiten Buches, das Organisation und Umfang der Ausfuhr be- 
trachtet, gibt zu interessanten Bemerkungen über den Handelsverkehr 
des 17. Jahrhunderts Veranlassung. Die Regierung des Großen Kur- 
fürsten bezeichnet den tiefsten Stand des Königsberger Handels vom 
16. bis zum 19. Jahrhundert, aber die Schuld trägt nicht der Kurfürst, 
sondern die durch den 30-jährigen Krieg völlig gebrochene Kaufmann- 
schaft der Stadt selber. Auch Pommerns Handel über See blieb unbe- 
deutend, da drei Hemmnisse auf ihn drückten: der Mangel einer guten 
Wasserstraße, die städtische Gildeverfassung und die hohen Schweden- 
zölle, die seit 1630 auf den Ostseehäfen lagen und 4!/, Proz. des 
Wertes aller Aus-, Ein- und Durchfuhr, oft aber noch mehr betrugen. 
Der Elbexport war nach wie vor durch die Elbzölle geschädigt. Die 
Festungsmagazine erlangten damals noch keine über die militärischen 
Zwecke hinausgreifende volkswirtschaftliche Bedeutung für die gesamte 
Agrarpolitik. Der agrarische Charakter der brandenburgischen Lande,. 
der seit dem 30-jährigen Krieg wieder feststand, wurde erst im letzten 
Jahrzehnt der Regierung Friedrich Wilhelms durch Neugründung von 
Industrien etwas modifiziert, und wenn die Regierung diesen Wirtschafts- 
verhältnissen Rechnung trug, so wurde sie im Getreideverkehr mehr 
von dem Prinzip der Ausfuhrfreiheit als dem der Sperre geleitet, ob- 
wohl auch entsprechend ihrer vermittelnden Stellung die Städte nicht 
leer ausgingen. Zu Gunsten der städtischen Märkte wurden Getreide- 
aufkauf, Niederlassung von Handwerkern und Hausieren auf dem platten 
Lande verboten, freilich wieder auch die Bauern vor einer städtischen 


830 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Ausbeutung geschützt. Und doch hat der Kurfürst inmitten der Inter- 
essenkämpfe eine festere Stellung behauptet als Joachim II. und nament- 
lich mit den Anfängen einer Magazinpolitik das nachgeholt, was andere 
Territorialherren des 16. Jahrhunderts, vor allem August I. von Sachsen, 
früher bereits geleistet hatten. Vergleicht man die Getreidepolitik des 
17. Jahrhunderts in Brandenburg mit der der westeuropäischen Staaten, 
so erscheint sie in einfacheren, schwerfälligen Formen, der Kurfürst 
individualisiert nicht die einzelnen Landesteile, er urteilt nach allgemeinen 
Eindrücken. Aber die politische und wirtschaftliche Entwickelung war 
eben hier eine andere wie dort und die Bedingungen für eine eigent- 
liche agrarische Schutzzollpolitik waren noch nicht vorhanden. Klagte die 
Ritterschaft über niedrige Getreidepreise, so maß sie die Schuld den 
inländischen Städten bei, und die gegen Ende der Regierung des Kur- 
fürsten gelegentlich auftauchende Empfindung von der Schädlichkeit 
der polnischen Konkurrenz verdichtete sich nicht zu irgendwelchen 
praktischen Vorschlägen. 

Das dritte Buch zeigt, wie die brandenburgisch-preußische 
Getreidehandelspolitik von 1688 bis 1713 in vier Phasen 
verläuft. Bis zum Jahre 1697 herrscht mit einer 2-jährigen Ausnahme 
Ausfuhrfreiheit, ausschlaggebend in der Politik ist nicht Friedrich III, 
sondern die beiden Danckelmans und Dodo vor Knyphausen. Die Mib- 
wachsjahre von 1698 bis 1700 drängen die Staatsleitung unter dem 
Einfluß des Feldmarschalls Barfus zum völligen Verbot der Kornaus- 
fuhr. Als dann von 1701 bis 1707 die Ernten reich, die Getreidepreise 
niedrig wurden, und doch zugleich der Absatz nach den ausländischen 
Märkten stockte, da erstehen vielfach Projekte, die Ernteüberschüsse 
zu magazinieren; sie sind freilich gescheitert, weil sie Magazine mit 
genossenschaftlicher Grundlage und mit einem Fonds, den die einzelnen 
Provinzen aus eigenen Mitteln aufbringen sollten, im Auge hatten. Nur 
wenn der Staat als solcher die Errichtung öffentlicher Magazine in die 
Hand genommen hätte, wäre der Erfolg erreicht worden, der später 
einem Friedrich Wilhelm I. und Friedrich dem Großen zu teil geworden 
ist. Als dann in den Jahren 1708 und 1709 in Pommern, der Neu- 
mark und Ostpreußen eine furchtbare Notstandskrisis beginnt, vermag 
die Regierung nicht den wirtschaftlichen Rückgang der östlichen Pro- 
vinzen aufzuhalten, weil sie durch Parteiungen aller Art zerrissen ist. 
Ein Vergleich der brandenburgischen Getreidehandelspolitik von 1688 
bis 1713 mit der der westeuropäischen Staaten weist Aehnlichkeiten 
mit der jedes dieser Staaten auf: mit England die Tendenz auf Freiheit 
der Ausfuhr, mit Holland die auf Errichtung von Magazinen, mit Frank- 
reich die Berücksichtigung der industriereichen Hauptstadt. 

Das vierte Buch, das mir als das wichtigste und wertvollste 
der gesamten Darstellung erscheint, ist der Getreidehandelspolitik 
und Kriegsmagazinverwaltung Friedrich Wilhelms I. 
von Preußen gewidmet. 

An die beiden Aufgaben, die das politische Testament des Kónigs 
von 1722 als die wichtigsten seiner Regierung bezeichnet, knüpft seine 
Getreidehandelspolitik an: an die Wiederherstellung des Domünenwesens 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 831 


die agrarische Schutzzollpolitik, an die Neuordnung der Armee die Kriegs- 
magazinverwaltung, und die Anlage der Getreidemagazine. Unermüdlich 
arbeitete der König an der Vergrößerung des Areals der Domänen, der 
Verbesserung des Wirtschaftsbetriebes und der Steigerung der staat- 
lichen Einnahmen aus den Aemtern. Da die Kammertaxe, mit deren 
Hilfe die Höhe der Pachtungen bemessen wurde, konstant blieb, mußten 
die Domänenpächter einen möglichst konstanten  Getreidepreis sich 
wünschen. Ein harter Kampf (wie heute der deutschen Landwirtschaft 
von seiten der transozeanischen Gebiete und Rußlands) drohte damals 
der preußischen Landwirtschaft von seiten Polens, dessen Korn auf 
dem Getreideweltmarkt Amsterdam besser bezahlt wurde und das, da 
die polnische Landwirtschaft unter günstigeren Produktionsbedingungen 
wirtschaftete, auch wohlfeiler zu haben war als das preußische. Dieser Druck 
wurde gerade seit der Domänenreform Friedrich Wilhelms I. besonders 
empfunden, eine Herabdrückung des Getreidepreises unter die Kammer- 
taxe war mit einem Rückgang der Domänenwirtschaft gleichbedeutend. 
Als dann reiche Erntejahre dazu kamen, trat im Jahre 1721 in den 
mittleren Provinzen, 1722 auch in Ostpreußen die agrarische Schutzzoll- 
politik ins Leben. Das zweite Kapitel des vierten Buches behandelt 
eingehend diese Politik in dem Zeitraum von 1721 bis 1740, die Ein- 
fuhrverbote für polnisches Getreide, die Einrichtung von Speichermärkten 
in den preußischen Städten, das Verbot des Konsums polnischen Getreides 
in den mittleren Provinzen und der Einfuhr sächsischen, schwedisch- 
vorpommerschen und mecklenburgischen Getreides zum Konsum im 
Inlande und die mancherlei Gegensätze, die dem König dabei seitens 
seiner Minister, der preußischen Kammer und der Königsberger Kauf- 
leute erwuchsen. Hier wird auch der Unterstützung gedacht, die der 
König durch den Fürsten Leopold von Anhalt-Dessau, einen der tüch- 
tigsten Volkswirte der Zeit, erfuhr; wenn auch Einzelheiten aus der 
Denkschrift dieses Fürsten vom 16. November 1722 sich auf die Dauer 
nicht halten ließen (Bonitierung und Klassifizierung des Getreides, Preis- 
fixierung, Markttaxen, Marktstunden, Pallisadierung des Speichermarktes), 
so blieb doch ihr Grundgedanke bestehen: Die Unterdrückung der fremden 
Konkurrenz und die Freihaltung des inneren Marktes für die heimische 
Produktion. Eine Sperre von Provinz zu Provinz, wie sie in Frank- 
reich, Spanien und Italien des 18. Jahrhunderts vorkamen, hat der 
König nie geduldet. Selbst in Teuerungszeiten blieb der freie Getreide- 
verkehr im Innern seiner Lande ausdrücklich bestehen. Wenn die 
agrarische Prohibitivpolitik für die vielen wohlfeilen Jahre jener Zeiten 
paßte, in Teuerungszeiten gewannen andere Tendenzen beim König die 
Oberhand. Da schritt er gegen alles ein, was einer Getreidespekulation 
nahe kam, und hier sind Zwangsverkäufe, Fixierung der Verkaufspreise, 
Kornvisitationen und vor allem die Ausfuhrverbote und Ausfuhrzölle zu 
verfolgen, die freilich nur im Notfall eingriffen und frei von jeder 
fiskalischen Ausnutzung waren. Die Förderung der freien Ausfuhr lag 
ebenso fest im Interesse der Domänenpächter und der Landwirtschaft 
wie in dem der Seestädte und des Exporthandels, sie entsprach dem 
wirtschaftlichen Zustand des Landes überhaupt, das noch wesentlich 


832 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Agrarstaat war und dessen Hauptausfuhr in Getreide bestand. Freie 
Ausfuhr und Fernhaltung fremder Konkurrenz durch Schutzzölle und 
Einfuhrverbote sicherten dem Landwirt Produktenabsatz in gewöhnlichen 
Zeiten. Gab es aber außergewöhnliche Zeiten (übervolle Erntejahre 
mit allzu wohlfeilen und Mißwachsjahre mit allzu teueren Getreidepreisen), 
so griff der König durch seine Magazine unmittelbar in die Preisgestal- 
tung ein. Die Kapitel 5—7 schildern des Königs Magazinpolitik, die 
Verwaltung, Behördenorganisation und Größe der Magazine, Einkäufe 
und Verkäufe, für die nicht kaufmännische und fiskalische, sondern 
wirtschaftspolitische Gesichtspunkte malgebend waren: ein Balancieren 
des inländischen Getreidepreises, Hebung in allzu wohlfeilen, Herab- 
drückung in allzu teueren Jahren. Der König hat das Programm aller- 
dings nie völlig ausgeführt, erst der große König hob die Magazinpolitik 
auf ihren Höhepunkt. Was man von beiden Herrschern und ihrer Stellung 
zur Armee sagen kann, gilt nach Naudé auch von ihrer Magazinpolitik: 
„Friedrich Wilhelm I. hat die Armee gerüstet, sein Nachfolger hat mit 
ihr Siege errungen; er hat die Kriegsmagazine geschaffen, Friedrich 
hat mit ihnen die Getreidepreise beherrscht.“ 

Der Darstellung folgen in einem fünften Buch Akten und Urkunden 
zur Geschichte der Getreidehandelspolitik Friedrich Wilhelms I. Das 
sechste Buch mit statistischem Inhalt teilt unter kritischer Beleuchtung 
und statistischer Wertung im ganzen 26 bisher unbekannte Getreide- 
preistabellen der brandenburgisch-preufischen Lande aus den Jahren 
1624 bis 1740 mit. Dabei erscheint mir besonders wichtig, daß (wie 
der Verfasser durch seine Ausführungen auf S. 504 ff. gegenüber der 
mangelhaften Kenntnis, die Dieterici von dem brandenburgisch-preui- 
schen Münzwesen des 17. und 18. Jahrhunderts hatte, bekundet) der 
Wert einer richtigen Geldreduktion für preisgeschichtliche 
Untersuchungen wiederum gebührend betont worden ist. Denn bei einer 
fehlerhaften Reduktion der Preise wird selbst ein ausgiebiges statistisches 
Material nicht genügen, um darauf Schlüsse über die Preisentwicke- 
lung zu bauen. 

So scharf aber auch Naudés Kritik eindringt, so weit ab liegt ihm 
gleichwohl jede Hyperkritik. Nirgends in seiner Arbeit ist mir das 
bezeichnender entgegengetreten als bei seinem Versuch auf S. 43—55, 
die märkische Getreideausfuhr im 16. und 17. Jahrhundert zu berechnen. 
Er verkennt keineswegs alle die Schwierigkeiten, die einer Berechnung 
der Ansfuhr aus den bekannten Erträgen des Kornzolles während 13 Jahren 
von 22 Jahren (1608—1640) entgegenstehen. Allein es erscheint ihm 
doch möglich, auf Grund dieser Ueberlieferung, wenn auch nicht zu 
gewissen Resultaten, so doch zu Vorstellungen über den Umfang der 
Ausfuhr zu gelangen: bei unserer Unkenntnis über die Menge der 
jährlich durch die Mark laufenden Durchfuhr und des unverzollt aus 
der Mark gehenden Getreides bleibt nichts übrig als beides gegeneinander 
zu balancieren. 

Soll ich weiter noch einige allgemein geschichtlich bedeutsame Züge 
der Darstellung herausgreifen, so gehórt meines Erachtens dahin vor 
allem die richtige Wertung der politischen Faktoren inner- 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 833 


halb der Wirtschaftsgeschichte. Während auf S. 26 ein politischer 
Faktor, die Schwäche der Staatsgewalt als die Hauptursache eines wirt- 
schaftlich-sozialen Prozesses, der ausschlaggebenden Machtstellung des 
märkischen Adels in der zweiten Hälfte des 16. und zu Beginn des 
17. Jahrhunderts, erscheint, betont S. 77 ff. im Gegensatz zu seitherigen 
geschichtlichen Darstellungen, daß nicht die Erwerbung der Souveränität 
über das Herzogtum Preußen und die Steigerung der politischen Be- 
deutung der brandenburgischen Lande den Königsberger Handel erweitert 
haben. Dieser hat vom 16. bis 19. Jahrhundert nie tiefer gestanden als 
in den Tagen des großen Kurfürsten, und doch trägt nicht er die Schuld, 
sondern das Zeitalter des 30-jährigen Krieges, das den Wagemut der 
Königsberger Kaufmannschaft gebrochen hat. Gewiß ein beachtenswerter 
Beitrag zu jener durch Erdmannsdörffer begründeten Anschauung, der 
sich auch Schmoller (Preußische Jahrbücher 25, 579) angeschlossen hat 
und die die traurigen sittlichen Folgen des 30-jährigen Krieges höher 
veranschlagt als die wirtschaftlichen. Zu jener richtigen Wertung der 
politischen Faktoren innerhalb der Wirtschaftsgeschichte zähle ich end- 
lich die Ausführungen auf S. 100—104, wo die verschiedene Stufe poli- 
tischer Entwickelung, auf der sich Brandenburg und die großen national 
geeinten westeuropäischen Staaten des 17. Jahrhunderts befanden, zur 
Erklärung der weniger mannigfaltigen und vorgeschrittenen Getreide- 
politik des ersteren herangezogen wird. 

Damit berühre ich bereits einen zweiten charakteristischen und 
allgemeingeschichtlich wertvollen Zug der Darstellung: überall ist die 
vergleichende Methode angewandt, um ein allgemeines Urteil 
über die Getreidehandelspolitik Brandenburg-Preußens zu gewinnen. Da 
wird die städtische mit der fürstlich-territorialen Getreidehandelspolitik 
des 16. Jahrhunderts auf S. 19—21, die Politik der europäischen Staaten 
mit der Brandenburgs in der gleichen Zeit auf S. 48—52 verglichen, 
die Politik Colberts, Cromwells und Jan de Witts auf S. 100—104 neben 
die des großen Kurfürsten gestellt, auf S. 189— 192 begegnen die Aehn- 
lichkeiten der Getreidepolitik Brandenburgs von 1688—1713 mit der 
Englands, Hollands und Frankreichs. Und überall sind diese Ver- 
gleichungen höchst wertvoll, denn sie bieten dem Verfasser die Mög- 
lichkeit, gerecht und unparteiisch zu urteilen und manche Einseitigkeiten 
der bisherigen geschichtlichen Auffassung zu modifizieren. Namentlich 
wird auch die hergebrachte und leider auch heute noch oft übliche 
irrige Annahme, als habe die merkantilistische Staatspraxis 
sich nur der Industrie, nicht auch der Landwirtschaft angenommen, 
durch diesen Band der Acta Borussica endgültig beseitigt: Das Schutz- 
zollsystem, das Friedrich Wilbelm I. für Preußen begründet hat, kam 
nicht lediglich der Industrie, sondern auch der Landwirtschaft zu gute. 


Halle a. S. Theo Sommerlad. 


Aninger, Richard, Hofgüll in der Wetterau. Hundert Jahre der Entwickelung 
eines intensiven Betriebes. Auf Grund von Originalaufzeichnungen bearbeitet. Berlin, 
Parey, 1903. gr. 8. IV—205 SS. u. 1 Bodenkarte. M. 3.—. 

Archiv des Deutschen Landwirtschaftsrats, XXVII. Jahrg. Inhalt: Bericht über 
die Verhandlungen der XXXI. Plenarversammlung des Deutschen Landwirtschaftsrats 


Dritte Folge Bd. XXV (LXXX). 53 


834 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


vom 3. bis 6. II. 1903. Im Auftrage des Vorstandes herausgeg. vom Generalsekretär 
Dade. Berlin, P. Parey, 1903. gr. 8. III—024 SS. 

v. der Goltz (GRegR. u. Prof)  Landwirtschaftliche Taxationslehre. 3. Aufl 
Berlin, Parey, 1903. gr. 8. XII—670 SS. M. 15.—. 

Havenstein, P. (KammergerR.) Das Fischereirecht der Mark Brandenburg. 
Festschrift zum 25jährigen Bestehen des Fischereivereins für die Provinz Brandenburg. 
Berlin, Frz. Vahlen, 1903. gr. 8. 130 SS. M. 2,50. 

Hoffmann, Peter (DomünenDir.) Die statistischen Konstruktionen des groüh. 
badischen RegAss. D' Mor. Hecht zu Gunsten des modernen Industriestaates in seiner 
von der Universität Freiburg i. B. gekrónten Preisschrift: Die badische Landwirtschaft 
am Anfange des XX. Jahrh. Eine Kritik. Berlin, W. Issleib, 1903. gr. 8. 79 $8. 

Jahrbuch des Vereins der Spiritusfabrikanten in Deutschland und des Verein: 
der Stürkeinteressenten in Deutschland. Jahrg. III: 1903. Berlin, Parey, 1903. gr. 8. 
XVI—471 SS. (Ergünzungsband zur „Zeitschrift für Spiritusindustrie‘.) 

Lehmann, Bodo (kais. Konsul z. D., Eberswalde), Bodenkredit und Hypotheken- 
banken. Berlin, Puttkammer & Mühlbrecht, 1903. gr. 8. 121 SS. M. 2,80. 

Skalweit, B., Die ökonomischen Grenzen der Intensivierung der Landwirtschaft. 
Betriebswissenschaftliche Untersuchungen auf Grund der Buchführung von 35 vorzüglich 
geleiteten Betrieben in Mittel- und Nordwest-Deutschland. Berlin, P. Parey, 1903. gr. 8. 
72 SS. M. 3.—. 


Lecomte-Denis, M. (ingénieur civil des mines) La prospection des mines et 
leur mise en valeur. Paris, Schleicher frères & C^, 1903. gr. in-8. Av. fig. fr. 20.—. 

Sarrauste de Menthière, E. Les accidents des ouvriers agricoles. Paris, 
A. Rousseau, 1903. 8. 276 pag. 

Biennial report, XIII", of the Kansas State Board of Agriculture, 1901—1902, 
Vol. XVIII. Topeka, Kansas Department of Agriculture, 1903. 8. 1127 pp 

Gallichan, Walter M., Fishing in Wales. London, F. E. Robinson, 1903. 8. 
212 pp. 3/.6. 

Hall, A. D., The soil. An introduction to the scientific study of the growth of 
erops. London, J. Murray, 1903. 8. XV—286 pp. 3/.6. 

Marr, J. E., Agricultural geology. London, Methuen, 1903. 8. 330 pp. with a 
eoloured geological map and 104 diagrams. 8/.—. 

Ohly, J., Analysis, detection and commercial value of the rare metals. Denver 
(Colorado), Industrial printing & publishing C°, 1903. 12. 219 pp. cloth. $ 3.—. 

Conigliano, Carlo, A., Saggi di economia politica e di scienza delle finanze, 
con prefazione del (prof.) Augusto Graziani. Torino, fratelli Bocca, 1903. 8. III—174 pp. 
1. 8.—. 

Cavazza, Domizio (prof) e Luigi Zerbini, Corso scientifico popolare di con- 
ferenze agrarie per i maestri e gli agricoltori: Agricoltura generale. Bologna, tip. L. Pon- 
getti, 1903. 8. 300 pp. 

Ghinetti, Guglielmo, L'alimentazione del bestiame rurale: trattato elementare 
e conforme le moderne dottrine, con speciale riflesso agli animali bovini. Vol. I. 
Milano, F. Vallardi, 1903. 8. XVI—201 pp. 1. 3.—. 


5. Gewerbe und Industrie. 

Die Schiffbauindustrie in Deutschland und im Aus- 
lande. Tjard Schwarz und Ernst von Halle. Bd. 1 u. 2, je 285 Seiten 
umfassend. Berlin (Mittler und Sohn) 1902. 

Auf Veranlassung des Staatssekretärs des Reichsmarineamtes ist, 
als es sich um die Aufstellung des großen Planes um Erweiterung der 
Flotte handelte, eine umfassende Untersuchung der Leistungsfähigkeit 
des deutschen Schiffsbaues veranlaßt, an der sich eine große Zahl 
Marineoffiziere und -beamte beteiligten. Hieraus sind die beiliegenden 
umfangreichen Bände hervorgegangen, welche ein überaus reiches Material 
zur Beurteilung der bedeutsamen Industrie des In- und Auslandes bieten. 
Die Bearbeitung des Ganzen ist von Herrn Marineoberbaurat Schwarz 


———— um ee — MÀ —— mmm, REIR 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 835 


und Professor von Halle in vortrefflicher Weise durchgeführt. Nicht 
nur der Fachmann, sondern auch der Nationalökonom und Laie ver- 
mögen aus dem übersichtlich vorgelegten Stoff reiche Belehrung zu 
gewinnen. 

In dem ersten Teile ist eine historische Uebersicht über die Ent- 
wickelung des Schiffsbaues, besonders in dem 19. Jahrhundert gegeben, 
der sich die Darstellung der Weltflotte und des Weltschiffsbaues im 
letzten Menschenalter anschließt. Es folgen die beiden größeren Ab- 
schnitte über die Einrichtungen der Hauptwerftbetriebe im Auslande 
und der Anstalten zur Förderung des Schiffsbaues. Der zweite Teil 
ist dem deutschen Schiffsbau speziell gewidmet, wobei die Unterneh- 
mungsformen, die Einrichtung der Werften und besonders eingehend 
die Personalverhältnisse behandelt sind. Namentlich der Abschnitt 
über die Arbeiterverhältnisse ist für den Nationalökonomen von großem 
Interesse. Das sechste Buch betrifft das Schiffsbaumaterial, das siebente 
die Hilfsgewerbe, das achte und letzte den Geschäftsbetrieb. Es ist 
nur zu wünschen, daß das hier Gebotene eine allgemeine Benutzung 
findet, da der in Rede stehende Gewerbszweig in Deutschland in kurzer 
Zeit eine außerordentliche Bedeutung gewonnen hat und in Zukunft 
noch mehr gewinnen wird. J. C. 


Ab-Yberg, Die Strikes und ihre Rechtsfolgen. Zürich, SchultheB & C°, 1903. 
8. fr. 3.—. 

Bericht der Bremischen Gewerbekammer über ihre Tätigkeit in der Zeit von 
Anfang Mai 1902 bis dahin 1903 erstattet an den Gewerbekonvent am 28. V. 1903. 
Bremen, Druck von A. Guthe, 1903. 8. 111 SS. 

Dammer, Otto, Handbuch der Arbeiterwohlfahrt. Bearbeitet von genannten 
Autoren, herausgeg. von Otto Dammer. Bd. II. Stuttgart, Ferdin. Enke, 1903. gr. 8. 
490 SS. mit 23 Textfigur. M. 12,40. 

Duimchen, Th., Die Trusts und die Zukunft der Kulturmenschheit. Berlin, 
Joh. Räde, 1903. 8. 234 SS. geb. M. 3.—. 

Fleischner, Lud w. (Lehrer an d. öff. dtsch. Kommunalhandelsschule, Budweis), 
Gewerbepolitik. Ein Hand- u. Hilfsbuch für Gewerbetreibende, Genossenschaften und 
Innungen. Leipzig, H. Klasing, 1903. gr. 8. VII—94 SS. geb. M. 2,40. 

Jahresbericht des Gewerbeaufsichtsbeamten des Fürstentums Reuß ä. L. für 
1902. Berlin, gedruckt in der Reichsdruckerei, 1903. gr. 8. 21 SS. M. 1,25. 

Jahresberichte der k. preußischen Regierungs- und Gewerberäte und Berg- 
behórden für 1902. Berlin, R. v. Deckers Verlag, 1903. gr. 8. LV—688 SS. mit 
Tabellen und Abbildungen. Amtliche Ausgabe. 

Veründerungen im Stande der Gewerbe wührend der beiden Perioden 1898/99 
und 1899/1900. Auf Grund der von den Handels- und Gewerbekammern gelieferten 
Gewerbekatasterausweise. Bearbeitet vom k. k. Arbeitsstatistischen Amte im Handels- 
ministerium. Wien, k. k. Hof- und Staatsdruckerei, 1903. Roy-4. LXVI—386 SS. 

Verhandlungen, kontradiktorisehe, über deutsche Kartelle. Die von der 
deutschen Regierung angestellten Erhebungen über das inländische Kartellwesen in 
Protokollen und stenographisehen Berichten. Heft 1. Berlin, Frz. Siemenroth, 1903. 
gr. 8. 315 SS. M. 4,50. (Inhalt: Einleitende Sitzung vom 14. XI. 1902. — Sitzung 
vom 26./27. II.: Das Rheinisch-Westfälische Kohlensyndikat.) 

Verzeichnis der von dem kaiserl. Patentamt im Jahre 1902 erteilten Patente. 
Herausgegeben vom kaiserl. Patentamt. Berlin, C. Heymanns Verlag, 1903. Lex.-8. 
716 SS. M. 31.—. (A. u. d. T.: Register zu den Auszügen aus den Patentschriften, 
Jahrg. 1902.) 


Charmeil, A., Les associations professionnelles ouvrières en France, de 1789 à 
nos jours. Paris, Giard & Briere, 1903. 8. 169 pag. 


53* 


836 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Dullin, Albert (membre de l'Office social de Lyon), L'hygiene et la séeurité 
des travailleurs dans la législation francaise. Paris, A. Rousseau, 1903. 8. XI—350 pag. 
It Ze 

Fagnot, F., Le syndicalisme anglais. (Résumé historique. 1799—1902.) Paris, 
Bellais, 1903. 8. 115 pag. 

Guyot, Yves, Le trust du pétrole aux Etats-Unis. Paris, Guillaumin & C*, 1903. 
8. fr. 1.—. 

de Leener, Georges (assistant à l'Institut de Sociologie Solvay, ingén. civil des 
mines), Les syndicats industriels en Belgique. Bruxelles, Misch & Thron, 1903. gr. in-8, 
XXVIII—335 pag. Fr. 7,50. (Table des matieres: La théorie des syndicats industriels: 
1. Organisation de l'industrie; 2. Progres industriel; 3. Evolution industrielle; 4. Le 
monopole; 5. Le développement des monopoles modernes; 6. Les syndicats industriels. 
— Les syndieats industriels en Belgique: 1. Les chambres de commerce: 2. Les bourses 
aux marchandises; 3. Les ententes; 4. Les pools; 5. Les cartels; 6. Les trusts; 7. Le 
développement des syndicats industriels en Belgique; 8. Les facteurs du développement 
des syndicats; 9. L'Utilité des syndicats industriels; 10. La nécessité des syndicats in- 
dustriels vis-à-vis de la coneurrence américaine; 11. Le danger des syndicats industriels; 
12. La crise de 1901 et les syndicats industriels belges; 13. Le rôle de l'Etat dans le 
développement des syndicats industriels; 14. Conclusions. — Résultats de l'enquéte sur 
les syndicats industriels en Belgique: 1. Industrie houillere; 2. Industrie metallurgique; 
3. Industrie des carrières; 4. Industrie textile; 5. Industrie verrière; 6. Industrie céra- 
mique; 7. Industries chimiques; 8. Industries alimentaires; 9. Industries du bátiment; 
10. Industries diverses. — Annexes.) 

Lawson, W. R. (author of „Spain of to-day), American industrial problems. 
Edinburgh, W. Blackwood & Sons, 1903. 8. 394 pp., cloth. Oz, (Contents: A preli- 
minary survey: 1. American resources; 2. American energies; 3. Limitations. — Phy- 
sical factors: 1. Soil and climate; 2. Ports and harbours. — Personal factors: 1. The 
workman; 2. „The loss“; The organiser; 4, The financier. — Corporate factors: 1. The 
bancs; 2. The trusts. — 3. The railways. — 4. Controlling or „securities companies; 5. Wall 
street; 6. „The grain-pit". — National factors: Congress. — International factors: 
1. The tariff; 2. Exports and imports; 3. America's best markets. — Typical industries: 
1. Farming; 2. Mining; 3. Manufacturing; 4. Shipbuilding; 5. Shipping; 6. Iron and 
steel. — Problems of the future.) , 

Meade, E. Sherwood, Trust finance: a study of the genesis, organization, and 
management of industrial eombinations. New York, Appleton, 1903. 393 pp., cloth. 


$ 1,50. (Contents: Régime of competition. — The regulation of competition from the 
pool to the holding company. — The function of the promoter in modern industry. — 
The promotion of the trust. — The sale of the stock. — The accumulation of samples 
out of profits. — The reserve poliey of the industrial trusts. — The genesis of the 
United States Steel Corporation. — The provision of new capital. — The conditions 
of bond issue. — The funding poliey of the trusts. — The bonds of manufacturing 
companies as investments. — The capitalization of the trusts. — etc.) 


Procter, R. (Prof. of leather industries at the Yorkshire College, Leeds), The 
principles of leather manufacture. London, E. & F. N. Spon, 1903. 8. 528 pp. cloth. 
18/.—. 

l Yynne, Nora, and Helen Blackburn, Women under the Factory Act. With 
the assistance of H. W. Allason (solicitor) on certain technical points of law. London, 
Williams & Norgate, 1903. 8. 214 pp. 1/.—. 

Verga, E., Le corporazioni delle industrie tessili in Milano. Milano, tip. Go- 
gliati, 1903. 8. 64 pp. 

Volta (Dalla), Ricardo, I problemi dell’ organizzazione del lavoro, Firenze, 
F. Lumachi, 1903. 12. IX—173 pp. 1. 2.—. 


6. Handel und Verkehr. 


Bericht über die Errichtung neuer Lagerhausgebäude in Leipzig. Leipzig, Druck 
von Frankenstein & Wagner, Mai 1903. 80 SS. (Herausgeg. von der Handelskammer 
Leipzig.) 

Breymann W., Bildung und Aufgaben des Großkaufmanns. Hamburg, H. 
Seippel, 1903. 8. 36 SS. M. 1.—. 

Greve, Wilhelm, Seeschiffahrtssubventionen der Gegenwart. Hamburg, L. 

Friederichsen & C°, 1903. gr. 8 123 SS. M. 3.—. 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 837 


Hamburgs Handel und Verkehr. Illustriertes Exporthandbuch der Börsenhalle 
1901/03. 2 Bde. Hamburg, Verlag der A.-G. „Neue Börsenhalle“, gr. 8. 591; 366; 
724 u. 403 SS. Mit Abbildgn. u. 2 Karten, geb. M. 10.—. (Aus dem Inhalt: Ham- 
burgs Handel und Verkehr im 19. Jahrh., von E. Basch (Bibliothekar der Kommerz- 
bibliothek). — Handel und Schiffahrt in Hamburg an der Jahrhundertwende, von W. 
Zimmermann. — Hamburgs Reederei und überseeische Schiffsverbindungen. — Ham- 
burgs Warenhandel, von Gütschow (I. Sekret. d. Hamburger Handelskammer.) — Das 
Hamburger Assekuranzgeschäft, von E. Knittel und E. Gerson. — Die Hamburger 
Fondsbörse 1895—1900, von G. Nordquist. — Das Hamburger Weingeschäft, von Max 
Meyer. — Die neuere Entwickelung der Hamburger Brauindustrie, von Max Meyer. — 
Das Tabakgeschäft in Hamburg, von V. Stender. — Hamburgs Großindustrie und 
Kunstgewerbe, von E. Glinzer u. Ad. Hirschfeld. — Das Hamburger Kunstgewerbe, von 
O. Schwindrazheim. — ete.) 

Handel, Industrie und Schiffahrt im Bezirke der Korporation der Kaufmann- 
schaft zu Königsberg in Preußen (Stadt Königsberg, Kreise Königsberg [Land] und 
Fischhausen) im Jahre 1902. Bericht des Vorsteheramtes der Kaufmannschaft zu 
Königsberg i. Pr. Königsberg, Hartungsche Buchdruckerei, 1903. gr. 8. VIII—178 SS. 

Jahresbericht der Handelskammer für das Herzogtum Anhalt zu Dessau für 
1902. I. Teil. Dessau, Hofbuchdruckerei C. Dünnhaupt, 1903. gr. 8. 87 SS. 

Jahresbericht der Handelskammer zu Gera für 1902. Gera, Druck der Geraer 
Verlagsanst. u. Druckerei, 1903. gr. 8. 102 SS. 

Jahresbericht der Handels- und Gewerbekammer für Mittelfranken 1902. 
Nürnberg, Hofbuchdruckerei Bieling-Dietz, 1903. gr. 8. 391 SS. 

Jahresbericht der Handelskammer zu Nordhausen für das Jahr 1902. Nord- 
hausen, Druck von Eberhardt, 1903. gr. 8. 114 SS. 

Jahresbericht der Handels- und Gewerbekammer für Oberfranken pro 1902. 
Bayreuth, Druck von Lorenz Ellwanger, 1903. gr. 8. 208 SS. 

Jahresbericht der Handels- und Gewerbekammer für Schwaben und Neuburg 
1902. Augsburg, Druck von Ph. J. Pfeiffer, 1903. gr. 8. VIII— 186 SS. 

Nautischer Verein, deutscher. Verhandlungen des 34. Vereinstages, Berlin, den 
23. und 24. II. 1903. Kiel, Druck der „Nord-Ostsee-Zeitung‘“, 1903. gr. 8. 213; 
XXIV—32 $8. 

Protokoll über die Verhandlungen des zweiten österreichischen Eisenbahner- 
kongresses, abgehalten zu Wien am 7., 8. u. 9. XII. 1902 im Festsaale des „Arbeiter- 
heims“. Wien, Redaktion des ,;Eisenbahner‘*, 1903. 8. 155 SS. 

Reinshagen, Otto, Die Konkurrenzklausel der Handlungsgehilfen. Leipzig, 
C. L. Hirschfeld, 1903. gr. 8. IV—48 SS. M. 1,40. 

Schriften der Zentralstelle für Vorbereitung von Handelsverträgen. Heft 22. 
Berlin, J. Guttentag, 1903. gr. 8. 58 SS. (Inhalt: Zollrückvergütung. Grundsätz- 
liche Erörterungen von Etienne und Vosberg-Rekow. 


Huisman, Michel (agrégé à l’Université libre de Bruxelles), L'évolution du 
commerce en Belgique. Bruxelles, imprim. J. H. Moreau, 1903. 8. 35 pag. fr. 
0,75. 

Pierrot, J. A., et J. Melotte (ingénieurs des ponts et chaussées), Les ports 
principaux du nord et de l'ouest de la France. Les ports d'écluse. Bruxelles, J. 
Goemaere, 1903. 8. 66 pag. av. 4 planches hors texte. fr. 2,50. 

Rapport de la Société nationale des chemins de fer vicinaux présenté par le 
conseil d'administration. XVIII" exercice social, année 1902. Bruxelles, impr. J. B. 
Schaumans, 1903. in-4. 155 pag. Av. diagraınme et une carte hors texte. 

Annual statement of the trade in United Kingdom with foreign countries and 
British possessions. 1902. Compared with the four preceding years. Compiled at the 
Custom House from documents collected by that Department. Volume I: Abstracts and 
detailed tables of imports and exports. London, printed by Wyman & Sons, 1903. gr. 
Folio. X—858 pp. 6/.11. 

Chittenden, Hiram Martin, History of early steamboat navigation on the 
Missouri river. 2, vols. Cleveland (Ohio), Burrows brothers, 1903. 8. illustr., maps. 
cloth. $ 6.—. 

Dockham, C. A., American report and directory of the textile manufacture and 
dry goods trade, United States, Canada, Mexico 1903. 19* ed. Boston, Dockham & C’, 
1903. 8., cloth. $ 6.—. 


838 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


English timber and its economical conversion. A handbook for timber merchants, 
manufacturers, grovers, and others, by „Acorn“. London, Rider, 1903. 8. 216 pp. 3/.6. 

Root, J. W. (author of „Tariff and trade“, „Studies in British national finance“, 
etc.), The trade relations of the British Empire. Liverpool, J. W. Root, Commerce 
Chambers, 1903. gr. 8. XVI—431 pp., cloth. 10/.6. (Contents: The basis of customs 
union. — The working of the Canadian Preverential Tariff. — The foreign commerce 
of Australia and New Zealand. — South Africa before and after the war. — The 
foreign trade of India. — Crown colonies. — Miscellaneous possessions and protectorates, 
— The colonial trade of the United Kingdom. — The foreign trade of the United 
Kingdom. — General eonelusions. — Statistical appendix.) 

Shoemaker, Michael Myers, The great Siberian railway from St. Petersburgh 
to Pekin. London, Putnam's Sons, 1903. 8. VIII—243 pp. 9/.—. 

Carnegie, Andrew, Het rijk van handel en nijverheid. Uit het Eng. vert. 
door B. Hes. Groningen, Scholtens & Zoon, 1903. gr. 8. 360 blz. fl. 3,60. 


7. Finanzwesen. 

Lebensmittelzólle, die, und die indirekten Steuern. Wer sie zahlt und wem 
sie nützen. Berlin, Expedition der Buchhandlung Vorwärts, 1903. 8. 16 SS. M. 1.—. 

Stammhammer, Josef (Bibliothekar des juridisch-politischen Lesevereins, Wien), 
Bibliographie der Finanzwissenschaft. Jena, Gustav Fischer, 1903. Lexicon-8. VI—415 
S8. M. 12.—. 

Voigtel, G. (Heidelberg), Die direkten Staats- und Gemeindesteuern im Groß- 
herzogtum Baden, eine Darstellung ihrer Entwickelung und Ergebnisse von 1886 bis 
1901. Jena, G. Fischer, 1903. gr. 8. 118 SS. M. 2,50. 

Zolltarifsystem, das russische. Vergleichende Gegenüberstellung des neuen 
allgemeinen Zolltarifs und des alten allgemeinen Zolltarifs bezw. des Konventionstarifs 
mit vergleichendem alphabetischen Warenverzeichnis. Ihren Geschäftsfreunden und 
Gönnern gewidmet von der Firma Gerhard & Hey, Leipzig, Berlin, Hamburg, Mai 1903. 
Leipzig, Druck von Friedr. Grüber. Lex.-8. VII—93 SS. (Nicht im Handel.) 


Henry, J., L’impöt sur les revenus professionnels, Alsace-Lorraine. Paris, Larose 
& Louvain, 1903. 8. 103 pag. 

East India (financial statement) 1903—1904, and proceedings of the legislative 
council of the Governor-General thereon. London (& Calcutta), Eyre & Spottiswoode, 
1903. Folio. 2/.—. (Parl. pap.) 

Annuario dei ministeri delle finanze et del tesoro del regno d'Italia. Anno 
XLI, 1902/03. Roma, tip. Elzeviriana, 1902. 8. LXVII—803 pp. 

Garelli, A., Le imposte nello Stato moderno. Vol. I: L'imposizione personale. 
Milano, U. Hoepli, 1903. 8. 478 pp. l. 8.—. 


8. Geld-, Bank-, Kredit- und Versicherungswesen. 


Die Diskontogesellschaft 1851 bis 1901. Berlin 1901. 
260 SS. 

Der vorliegende Prachtband enthält eine Denkschrift der Gesell- 
schaft zu ihrem 50-jàhrigen Jubiläum. In der Vorbemerkung ist aus- 
drücklich gesagt, daß sie nicht eine Geschichte der Diskontogesellschaft 
zu geben beansprucht, sondern sich darauf beschrünke, die Entstehung 
des Institutes und die hauptsächlichsten Momente seiner 5O-jährigen 
Wirksamkeit zu schildern, wobei in einzelnen Abschnitten die verschie- 
denen Tätigkeiten der Bank in ihrer Entwickelung selbständig zur Dar- 
stellung gelangten. Es ist einleuchtend, dab der Entwickelungsgang des 
bedeutsamsten Finanzinstitutes Deutschlands, wenn man von der Reichs- 
bank und im gegenwärtigen Momente von der Deutschen Bank ab- 
sieht, das größte allgemeine Interesse für sich in Anspruch nehmen 
‚kann. Die staunenswerte Steigerung der Geschäftstätigkeit, die sich 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 839 


jetzt auf alle Weltteile erstreckt, ist aus den Geschäftsberichten über- 
sichtlich zusammengestellt, wobei den leitenden Persönlichkeiten ent- 
sprechende Berücksichtigung zu teil geworden ist. J. C. 


Bericht über die Verwaltung der Seidenberufsgenossenschaft für das Jahr 1902. 
Krefeld, Druck von Kramer & Baum, 1903. gr. Folio. 28 SS. 

Bericht des eidgenössischen Versicherungsamts über die privaten Versicherungs- 
unternehmungen in der Schweiz im Jahre 1901. Veröffentlicht auf Beschluß des schwei- 
zerischen Bundesrates vom 22. V. 1903. Bern, Schmid & Francke, 1903. gr. 4. LXXIX 
—136 SS. 

Derblich, Leo, Das österreichische Versicherungsrecht. Berlin, J. Guttentag, 
1903. gr. 8. XI—107 SS. M. 4.—. 

Hirsehberg, E.(Prof.), Arbeitslosenversicherung und Armenpflege. Ein Vortrag. 
Berlin, L. Simion, 1903. gr. 8. 34 SS. M. 1.—-— (Volkswirtschaftliche Zeitfragen. 
Heft 197.) 

Jahresbericht der Papierverarbeitungs-Berufsgenossenschaft für das Jahr 1902. 
Berlin, Holzmarkisr. 67, 1903. gr. Folio. 38 SS. 

Knappe, Otto, Die Bilanzen der Aktiengesellschaften vom Standpunkte der 
Buchhaltung, Rechtswissenschaft und der Steuergesetze. Für die gerichtliche und ge- 
schäftliche Praxis bearbeitet. Hannover, C. Meyer, 1903. gr. 8. 122 SS. M. 3,50. 

Lass, Ludw. (Prof.) und Gerh. Klehmet (kais. RegRäte im ReichsversAmt), 
Grundriß der deutschen Arbeiterversicherung. Stuttgart, Ferd. Enke, 1903. gr. 8. 
IV—163 SS. M. 4.—. 

Ortskrankenkasse, vereinigte, der Handwerker. Köln. Geschäftsbericht über 
das VII. Geschäftsjahr 1902. Köln, Druck von M. DuMont Schauberg, 1903. gr. 4. 
15 SS. mit 8 Tabellen u. 1 graphischen Uebersicht. 

Plenge, Joh., Gründung und Geschichte des „Credit Mobilier“. Zwei Kapitel 
aus Anlagebanken, eine Einleitung in die Theorie des Anlagebankgeschüftes. Tübingen, 
H. Laupp, 1903. gr. 8. XI—156 SS. M. 4.—. 

Zentralgenossenschaftskasse, preußische, Bericht über das VIII. Geschäfts- 
jahr vom 1. IV. 1902 bis 31. III. 1903. Berlin, Druck von Reinh. Pauli, 1903. 8. 82 SS. 


van der Beken, La monnaie de Bruxelles en 1902. Bruxelles, J. Goemaere, 1903. 
8. 19 pag. fr. 1.—. 

Réveillaud, J. (avocat à la Cour d'appel) Le droit des héritiers de l'assuré en 
matière d'assurance sur la vie (rapport-réduction). Paris, Arth. Rousseau, 1903. 8. 
223 pag. 

Rollin Conquerque, L. M., La monnaie du roi Antoine de Portugal à Gorinchem 
(Goreum), 1583—1591. Amsterdam, Joh. Müller, 1903. gr. 8. 4; 161 en 80 blz. met 
2 pltn. fl. 4,50. 

Yercamer, Em., Etude historique et critique sur les jeux de bourse et marchés 
A terme. Paris, Marescq, 1903. 8. 378 pag. 

Annual report of the Comptroller of the currency to the second session of the 
LVII* Congress of the United States, 1902. Washington, Government Printing Office, 
1903. 8. 1075 pp. 

Annual report (XXIX'*) of the Director of the Mint for the fiscal year ended 
June 30, 1902. Washington, Government Printing Office, 1902. gr. 8. IV—370 pp. 
with numerous plates. 

Walsh, C. M., The fundamental problem in monetary science. London, Mac- 
millan, 1903. 8. 7/.6. 

Margini, Silvio, La cassa di risparmio modello all'esposizione di Milano. 
Verona, R. Cabianca, 1903. 12. 46 pp. l. 1.—. 

Jaarboek van het mijnwezen in Nederlandsch Oost-Indié. 31° jaarg.: 1902. 
Batavia, Landsdrukkerij 1903. gr. 8. 167 blz, met 1 tab. en 4 krtn. fl. 3.—. 


9. Soziale Frage. 

Morgenstern, Hugo, Gesindewesen und Gesinderecht in Oester- 
reich. I. Teil. Geschichtlicher Ueberblick. Statistik und wirtschaft- 
liche Lage des Gesindes. (Mitteilungen des k. k. arbeitsstatistischen 
Amtes im Handelsministerium. 3. Heft.) Wien (Hölder) 1902. 215 SS. 


840 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Der Verfasser, dem wir schon die in der Manzschen Gesetzausgabe 
herausgekommene Zusammenstellung der in Oesterreich geltenden 24 
Dienstbotenordnungen verdanken, will in seiner weitangelegten Arbeit 
— augenscheinlich sehr viel eingehender, als ich dies 1896 für Deutsch- 
land getan habe — den Zustand des Gesinderechts und die Be- 
strebungen zu seiner Reform in Oesterreich wissenschaftlich unter- 
suchen. Um die Grundlagen zu einer sachgemäßen Kritik zu ge- 
winnen, stellt er in dem vorliegenden I. Heft zunächst die geschichtliche 
Entwickelung des Gesinderechts bis zum Jahr 1810 dar und gibt dann 
auf statistischer Grundlage einen Ueberblick über die wirtschaftlichen 
Verhältnisse des Gesindes in der Gegenwart. Obwohl es immer mißlich 
ist, eine Arbeit, welche noch nicht abgeschlossen vorliegt, zu besprechen, 
so möchte ich doch schon heute auf den Inhalt des vorliegenden ersten 
Teils aufmerksam machen, da er interessantes Tatsachenmaterial in Fülle 
zusammenträgt. 

Aehnlich den deutschen Verhältnissen, verläuft die Entwickelung 
des Gesinderechts im Mittelalter in Oesterreich auf rein lokaler Grund- 
lage. Mit dem Beginn des 16. Jahrhunderts hebt die polizeiliche Rege- 
lung teils auf Grund der Reichspolizeiordnungen, teils auf Grund lokaler 
Bestimmungen an, welche eine starke Einschränkung des Gesindes im 
Interesse der Herrschaften bedingt, aber — wie der Verfasser zu- 
treffend hervorhebt — wohl nie voll ausgeführt worden ist. Von be- 
sonderer Bedeutung ist hier die Scheidung des städtischen (häuslichen) 
und landwirtschaftlichen Gesindes, für welch letzteres im Gesinde- 
zwangsdienst eine völlig selbständige Rechtsregelung geschaffen wird, 
die im Zusammenhang der Entwickelung der gutsherrlich-bäuerlichen 
Verhältnisse zur Darstellung gelangt. Die Ablösung dieser Gesinde- 
zwangsdienste und die Neuordnung des Gesinderechts im allgemeinen 
erfolgt in der Josefinischen Gesetzgebung. Diese scheidet auch für die 
rechtliche Regelung Stadt- und Landgesinde. Für das Stadtgesinde 
wird eine einheitliche Regelung im wesentlichen auf der Grundlage der 
Vertragsfreiheit eingeführt; für das Landgesinde dagegen bleiben den 
lokalen Verhältnissen angepaßt Sonderregelungen bestehen, die zwar 
formell den Zwangsdienst aufheben, tatsächlich aber immer noch einen 
starken Druck auf die Landkinder zur Uebernahme von Gesindediensten 
auf polizeilichem Wege kennen. Die Darstellung der Ueberleitung dieses 
Rechtszustandes in den noch heut bestehenden wird im vorliegenden 
Heft nicht gegeben, sondern steht erst im nächsten in Aussicht. 

Im zweiten Teil sucht der Verfasser die tatsächlichen Zustände des 
Gesindewesens an der Hand der Statistik zu schildern. Die Ausbeute 
aus dem vorhandenen statistischen Rohmaterial ist eine sehr ver- 
schiedene für das häusliche und das landwirtschaftliche Gesinde; hin- 
sichtlich des ersteren fließen die Quellen in neuester Zeit in Oesterreich 
reichlich, jedenfalls reichlicher als in Deutschland; für das landwirt- 
schaftliche Gesinde dagegen steht das österreichische Material an Reich- 
haltigkeit und Zuverlässigkeit hinter dem reichsdeutschen wesentlich 
zurück, obwohl Oesterreich mit einer landwirtschaftlichen Lohnstatistik 
offiziellen Ursprungs aufwarten kann. 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 841 


Was die Statistik des häuslichen Gesindes anlangt, so zeigt 
sich zunächst, und zwar in noch stärkerem Grade, als ich dies hin- 
sichtlich der partikularen deutschen Statistik feststellen mußte, daß die 
Ergebnisse der letzten größeren Statistik mangels Uebereinstimmung der 
Begriffsbestimmungen mit den Ergebnissen früherer Zählungen nicht 
vergleichbar sind. Und so baut sich denn die Untersuchung des Ver- 
fassers im wesentlichen nur auf die zugleich als Berufszählung aus- 
gestaltete Volkszählung von 1890 auf. Aus dem Vergleich mit früheren 
Zählungsergebnissen macht der Verfasser wahrscheinlich, daß auch in 
Oesterreich die Gesindehaltung abnimmt. Im übrigen trägt er mit Sorg- 
falt die Einzelheiten der statistischen Erhebung für das Gesinde zu- 
sammen und man wird ihm in seinen vorsichtig gezogenen Schlußfolge- 
rungen zumeist zustimmen können. Interessant ist unter vielen anderen 
Beobachtungen die Feststellung, daß in den polnischen Landesteilen, 
speziell in Krakau und Lemberg, eine weit überdurchschnittliche Dienst- 
botenhaltung üblich ist. Mit Recht schiebt der Verfasser dies auf 
nationale Sitten, die aber doch nicht nur in dem Bedürfnis der Wohl- 
habenden nach stärkerer Gesindehaltung sich ausprägen, sondern auch 
ein Korrelat in der besonderen Neigung der unteren Volksschichten zur 
Uebernahme von Gesindediensten ihren Ausdruck finden. — Zu den 
Punkten, in denen die österreichische Gesindestatistik reichhaltiger als 
die deutsche ist, gehören in erster Linie die Daten über die Gebürtig- 
keit und die Wanderbewegung des Gesindes, über seinen Anteil am 
Immobiliarbesitz, über die uneheliche Geburtenfrequenz. Ob aber bei 
letzterer und vielleicht noch mehr bei der Kriminalität des Gesindes 
volle Festigkeit der grundlegenden Begriffsabgrenzung herrscht; ob da 
nicht häusliches und landwirtschaftliches Gesinde durcheinander ge- 
worfen und insbesondere ob nicht überhaupt eine gewisse Willkürlich- 
keit in der Feststellung der Berufszugehörigkeit herrscht, möchte ich 
doch dahingestellt sein lassen. 

Hinsichtlich des landwirtschaftlichen Gesindes versagt die 
Volkszählung von 1890, soweit sie Berufszählung ist, fast vollständig, 
indem bei der großen Masse der landwirtschaftlichen Arbeiter nur zwei 
Gruppen: Hilfsarbeiter und Tagelöhner unterschieden werden. Nur aus 
den Angaben der Haushaltungsstatistik läßt sich das landwirtschaftliche 
Gesinde feststellen, aber entsprechend dieser Eingliederung nur in ganz 
wenigen Kombinationen. Aus der Erhebung des Ackerbauministeriums 
über die landwirtschaftlichen Lohnverhältnisse von 1894 kann zwar 
manches interessante Material beigebracht werden; aber diese ganze 
Erhebung ist nach Anlage und Durchführung mehr eine Enquete, als 
eine statistische Aufnahme, und daher doch nur in beschränktem Um- 
fang verwendbar. Immerhin ist es dem Verfasser auch mit diesem 
Material gelungen, ein klares Bild von der Lage des landwirtschaftlichen 
Gesindes zu geben und die Voraussetzungen seiner Haltung in scharf- 
sinniger Weise zu ermitteln. 

Als Ergebnis dieser seiner Ausführungen stellt der Verfasser hin- 
sichtlich des häuslichen Gesindes den Satz auf: „Die Gestaltung der 
Dienstbotenhauswirtschaft geht langsam, aber unvermeidlich einer starken 


842 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Einschränkung im Sinne einer größeren Arbeitsteilung, einer Unter- 
nehmerwirtschaft entgegen.“ Und für das landwirtschaftliche Gesinde 
schließt er, „daß das Gesindewesen in seiner alten Weise als patri- 
archalisches Verhältnis zum Dienstgeber, bei welcher das Gesinde 
wie ein Familienglied behandelt wurde, im Absterben begriffen ist, 
und langsam aber sicher einer freieren, kapitalistischeren Arbeits- 
verfassung weichen muß“. Meiner Ansicht nach hat er diese Sätze 
in ihrer Allgemeinheit nicht bewiesen; er selbst ist sich bewußt, daß 
er bei aller Sorgfalt in der Ausnutzung des vorhandenen statistischen 
Materials auf eigene und fremde, mehr oder minder subjektive Be- 
obachtungen zur Ausfüllung der Lücken eben des statistischen Materials 
angewiesen war. Aber ob die von ihm S. 169 ff. gegebenen Schilde- 
rungen des städtischen Dienstbotenverhältuisses, bei denen ihm eben 
statistisches Material, also Massenbeobachtungen fehlen, den Anspruch 
mit Recht erheben dürfen, als typische anerkannt zu werden, er- 
scheint mir sehr zweifelhaft. Aber dabei kommt eben wieder das mil- 
liche Moment in Betracht, daß wir es mit einer nicht abgeschlossenen 
Publikation zu tun haben, und ich halte es nicht für ausgeschlossen, 
daß der Verfasser den hier im ersten Heft schuldig gebliebenen Beweis 
dieser Ansichten im zweiten noch nachzubringen versuchen wird. Jeden- 
falls würde ich in die eingehende Auseinandersetzung meiner abweichen- 
den Ansicht erst eintreten, wenn mir der zweite Teil seiner Arbeit vor- 
liegt. Im ganzen berechtigt uns das erste Heft, die Fortführung der 
Arbeit mit lebhafter Anteilnahme zu erwarten. 
Aachen. W. Kähler. 


Soudek, Richard, Die deutschen Arbeitersekretariate. Volks- 
wirtschaftliche und wirtschaftsgeschichtliche Abhandlungen, herausgegeben 
von Prof. Dr. W. Stieda. 7. Heft. Leipzig (Jäh & Schunke) 1902. 

Die Wirksamkeit der deutschen Arbeitersekretariate ist noch wenig 
bekannt, und deshalb hat sich der Verf. ein Verdienst dadurch erworben, 
daß er sie zum Gegenstand einer Abhandlung gemacht hat. Das erste 
Arbeitersekretariat wurde in Nürnberg im Jahre 1894 errichtet. Es 
wurde jederzeit vorzüglich geleitet und diente mit Recht bei Neu- 
gründungen als Vorbild. Soudek macht einige interessante Angaben 
über seine Entstehungsgeschichte, sowie über die des Frankfurter Se- 
kretariats. Dürftig ist aber der Abschnitt, in dem ähnliche Veranstaltungen 
in Deutschland und im Auslande besprochen werden. Die katholischen 
Auskunftsstellen, die „Volksbureaus“ der Hirsch-Dunkerschen Gewerk- 
vereine und die städtischen Auskunftsstellen werden nur erwähnt. Von 
Einrichtungen des Auslandes sind die schweizerischen Arbeitersekretariate 
angeführt, obwohl sie auf ganz anderer Grundlage beruhen, wie die in 
Frage stehenden deutschen Einrichtungen. Daran schließt sich eine 
Bemerkung über den durch eine Vereinigung von Studenten gegründeten 
Rechtsschutzverein in Kopenhagen und zum Schluß wird das deutsche 
Arbeitsamt in Eger erwähnt. ` Gerade diese ausländischen Einrichtungen 
sind zum Vergleich wenig geeignet. 

Der Schwerpunkt der Tätigkeit der deutschen Sekretariate liegt in 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 843 


der juristischen Auskunfterteilung. Sie wollen den Arbeiter vor aus- 
sichtslosen und kostenreichen Prozessen warnen und ihn daran gewöhnen, 
erst zum Sekretariat zu gehen und dann zum Rechtsanwalt, wenn es 
nötig ist. Die Auskunft soll kostenlos an jedermann erteilt werden; 
erst seit einem Jahre macht das Arbeitersekretariat in Halle eine Aus- 
nahme und berücksichtigt nur noch organisierte Arbeiter und solche, 
die sich nicht organisieren können. Die Zahl derer, die, ohne Arbeiter 
zu sein, bereitwilligst Auskunft auf ihre Fragen erhalten haben, ist nach 
Angabe der Berichte nicht klein. Zweifellos haben die Sekretariate der 
Arbeiterschaft besonders in Fragen, die die Versicherungsgesetze be- 
trafen, große Dienste geleistet. 

Nicht ohne Vorsicht sind die arbeitsstatistischen Leistungen der 
Sekretariate zu betrachten und zwar schon aus dem Grunde, weil viel- 
fach von ihnen Erhebungen veranstaltet werden, denen kleine Sekretariate 
in der Regel nicht gewachsen sind; wenn es sich z. B. um Feststellung 
der Lohnhöhe oder der Arbeitslosigkeit durch Umfrage handelt. Auch 
bei gutem Willen werden keine einwandfreien Resultate zu liefern sein. 
Alle Anerkennung verdienen meines Erachtens die sozialstatistischen 
Leistungen des Nürnberger Sekretariats; besonders erwähnt seien darunter 
die „Haushaltungsrechnungen Nürnberger Arbeiter“. 

Die Beziehungen der Sekretariate zu den Behörden haben sich 
außerhalb Preußens leidlich gut gestaltet. In Süddeutschland ist ihre 
Tätigkeit mehrfach anerkannt worden, besonders durch die Gewerbe- 
inspektoren. Den preußischen Behörden sind die deutschen Arbeiter- 
sekretariate wohl schon aus dem Grunde nicht sehr sympathisch, weil 
sie sozialdemokratische Einrichtungen sind. 

Der „Vorwärts“ äußerte sich über die Arbeitersekretariate im ver- 
gangenen Jahre (31. August 1902), wie folgt: „Eine der bedeutendsten 
Einrichtungen, welche die organisierte Arbeiterklasse auf sozialpolitischem 
Gebiete in den letzten Jahren geschaffen hat, sind die Arbeitersekretariate. 
Zunächst bloß als Auskunftsstellen für die gewerblichen Streitigkeiten 
der Arbeiter, für Arbeiterschutz und Arbeiterrecht gedacht, sind sie 
heute bereits wichtige Faktoren der Sozialpolitik geworden. Sie sind 
die Vorläufer der reichsgesetzlichen Organisation der Arbeit unter einem 
Reichsarbeitsamt und haben als solche noch eine wichtige Rolle in den 
Kämpfen der nächsten Zukunft.“ Dochow. 


Drucksachen des Beirats für Arbeiterstatistik. Ver- 
handlungen Nr. 1: Protokolle über Verhandlungen des Beirats für 
Arbeiterstatistik vom 22. Oktober 1902. Berlin (C. Heymann) 1903. 

Am 13. März 1902 hatte die Kommission für Arbeiterstatistik ihre 
letzte Sitzung abgehalten. Laut Bestimmungen vom 30. April desselben 
Jahres trat an ihre Stelle ein Beirat für Arbeiterstatistik, der am 
22. Oktober seine erste Sitzung abhielt, über die ein Protokoll im 
Druck vorliegt. i 

Der Beirat besteht aus 1 Vorsitzenden und 14 Mitgliedern, von 
denen 7 der Bundesrat und 7 der Reichstag wählt. Im wesentlichen 
fallen ihm dieselben Aufgaben zu, wie der aufgelösten Kommission; 


844 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


nach $ 2 der erwähnten Bestimmungen hat er das kaiserliche statistische 
Amt bei Erfüllung der ihm auf dem Gebiete der Arbeiterstatistik zu- 
gewiesenen Aufgaben zu unterstützen. 

Nach dem Bericht des Vorsitzenden, Präsidenten des kaiserlichen 
statistischen Amtes, Dr. Wilhelmi, bestand die Tätigkeit der neu er- 
richteten Abteilung für Arbeiterstatistik (Erlaß vom 24. März 1902) 
darin, die von der Kommission unvollendet übernommenen Arbeiten 
weiter zu führen. Die Erhebung über die Arbeitszeit der Gehilfen und 
Lehrlinge in solchen Kontoren des Handelsgewerbes und kaufmännischen 
Betrieben, die nicht mit offenen Verkaufsstellen verbunden sind, liegt 
im ersten Stadium beendet vor. Die Erhebung über die Arbeitszeit der 
Gehilfen und Lehrlinge im Fleischergewerbe und über Arbeitszeit in 
Fuhrwerksbetrieben ist so weit gefördert, daß sie voraussichtlich bis 
Anfang 1903 abgeschlossen werden kann. Mit Beginn der Schiffahrt 
im Frühjahr soll die Erhebung über die Dauer der im Binnenschiffahrts- 
gewerbe üblichen Arbeitszeiten ihren Anfang nehmen. 

Die Abteilung für Arbeiterstatistik hat die weitere Aufgabe, arbeits- 
statistische Daten und sonstige für die Arbeitsverhältnisse bedeutsame 
Mitteilungen zu sammeln, zusammenzustellen und periodisch zu ver- 
öffentlichen. Zu diesem Zweck soll eine monatlich erscheinende Zeit- 
schrift herausgegeben werden. Die verbündeten Regierungen haben 
weitgehendes Entgegenkommen zugesagt. Die Beschaffung des aus- 
ländischen Materials soll auch auf jede Weise erleichtert werden. Be- 
sonderer Wert soll auf die Statistik des Arbeitsmarktes im Reich 
gelegt werden. Deshalb sind bereits mit dem Verbande deutscher 
Arbeitsnachweise Verhandlungen zur Vorbereitung einer nach einheit- 
lichen Grundsätzen abzufassenden Arbeitsnachweisstatistik eingeleitet. 
Ferner sollen die Arbeitsnachweise der Fachverbände, die Krankenkassen, 
die städtischen statistischen Aemter und andere zur Unterstützung 
herangezogen werden. Der Vorsitzende konnte mitteilen, daß er all- 
seitig Bereitwilligkeit zur Mitarbeit gefunden habe, sein vorläufig ent- 
worfener Plan für die Zeitschrift wurde einem Ausschuß des Beirats 
zur Durchberatung überwiesen. 

Der württembergische Präsident von Schicker bezeichnete in seinem 
Referat die Ergebnisse der schon erwähnten Erhebung über die Arbeits- 
zeit in kaufmännischen Kontoren als so günstig, wie es bisher noch 
bei keiner Erhebung der Fall gewesen. Mit Bezug auf die Angriffe 
des deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verbandes gegen die Grund- 
lagen dieser Untersuchung bemerkte er, daß es sich lediglich um Fest- 
stellung der Arbeitszeit handle und nicht darum, festzustellen, was 
für irgend eine Klasse von Personen wünschens- und erstrebenswert 
sei, sondern ob die Arbeitslast der Bediensteten in einer gewissen 
Art von Betrieben eine derartige sei, daß dadurch deren Gesundheit 
gefährdet werde und der Staat eine Veranlassung habe, einzugreifen. 
Und das sei nach seiner Ansicht auf Grund der bisher gewonnenen 
Resultate nicht der Fall. Der Referent stellte den Antrag auf Ver- 
vollständigung der Erhebung, der auch angenommen wurde. Von einer 
materiellen Diskussion wurde abgesehen. 


nn gn 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 845 


Nachdem die Wahl der Ausschüsse des Beirats vorgenommen, 
wurde die Sitzung geschlossen. 


Seebach. Dochow. 


Reporton Railway Laborinthe United States. Prepared 
under the Direction of the Industrial Commission by Samuel Mc Cune 
Lindsay. 

Der Bericht bildet einen Teil der gegenwärtigen umfangreichen 
Erhebungen über die wirtschaftlichen Verhältnisse Nordamerikas. Er 
schildert die Lage der Eisenbahner mit größter Ausführlichkeit. Aus- 
gehend von der Vorbildung, die verlangt wird, prüft er die Tätigkeit 
der einzelnen Beamtenklassen; Arbeitszeit und Löhne der verschiedenen 
Gesellschaften werden hierbei verglichen. Den wesentlichsten Teil der 
weiteren Ausführungen bilden sozialpolitische Erörterungen über die 
Vereine und Organisationen der Arbeiter und über die Fürsorge- 
einrichtungen der Eisenbahnunternehmer: Versicherung, Haftpflicht, 
Pensionseinrichtungen. Zum Vergleich sind überall die ausländischen 
Verhältnisse herangezogen, allerdings nicht immer ganz korrekt. So 
ist auf S. 960 No. 9 die Form der Beitragsleistung zu unserer Alters- 
und Invaliditätsversicherung unrichtig dargestellt. 

Die eingehendere Benutzung der interessanten Arbeit wird leider 
durch den überaus schlechten Druck übermäßig erschwert, der sich 
sonst kaum in den Publikationen englisch sprechender Länder zu finden 
pflegt. 

Halle a. S. G. Brodnitz. 


Schriften des deutschen Vereins für Armenpflege 
und Wohltätigkeit. 60. Heft: Die Erweiterung des Handarbeits- 
unterrichts für nicht vollsinnige und verkrüppelte Personen, von 
T. Chr. Hansen. 

Im Auftrage der Provinzialverwaltung von Schleswig-Holstein hat 
Verf. 1901 die Taubstummen- und Idiotenanstalten in Finland und 
Schweden besucht, um Ermittelungen über den dort üblichen Hand- 
arbeitsunterricht, insbesondere im Weben, anzustellen. Der ausführliche 
Bericht über die besuchten Anstalten spricht sich sehr günstig aus. 
Man hat in jenen Ländern teilweise hervorragende Erfolge erzielt. Wohl 
das leuchtendste Beispiel einer aufopfernden Fürsorge gibt das Schulheim 
für blinde Taubstumme und blinde Schwachsinnige in Wenersborg (S. 18). 
16 blinde Taubstumme und 12 blinde Schwachsinnige hat man dort im 
Laufe der Jahre erzogen, und man hat es so weit gebracht, daß einzelne 
völlig der drei Sinne Beraubte Kunstwebereien anzufertigen verstanden 
und fähig waren, Farben und Muster auseinanderzuhalten. In einem 
Falle vermochte einer der Unglücklichen einen erheblichen Teil seines 
Unterhalts selbst zu verdienen. 

Gegen einen entsprechenden Handfertigkeitsunterricht in unseren 
Anstalten haben die Leiter derselben erhebliche Bedenken geltend ge- 
macht, die Verf. ebenfalls mitteilt. Gesundheitliche, erzieherische und 
verwaltungstechnische Gründe werden für dieselben herangezogen, neben 


846 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


denen erst die pekuniäre Frage (Kosten der Webstühle etc.) und die 
schwierige Absatzfähigkeit hervorgehoben werden. Diese Einwendungen 
sind sicherlich durchaus beachtenswert. Auf der anderen Seite machen 
aber die Ausführungen des Verf. einen so günstigen Eindruck, daß 
man immerhin wünschen möchte, es könnte ihnen in der einen oder 
anderen Weise näher getreten werden. 


Halle a. S. G. Brodnitz. 


Bericht über das Diakonissenhaus Bethanien zu Berlin für das Jahr 1902. 
Berlin 1903. 8. 99 S8. (Als Manuskript gedruckt.) ^ 

Kohn, Albert, Unsere Wohnungsenquete im Jahre 1902. Im Auftrage des Vor- 
standes der Ortskrankenkasse für den Gewerbebetrieb der Kaufleute, Handelsleute und 
Apotheker. Berlin, Verlag der Ortskrankenkasse, 1903. gr. 8. 35 SS. 

Ostwald, Hans, Die Bekümpfung der Landstreicherei. Darstellung und Kritik 
der Wege, die zur Beseitigung der Wanderbettelei führen. Stuttgart, Rob. Lutz, 1903. 
8. 278 SS. M. 5.—. 

Peabody, Francis, G. (Prof), Jesus Christus und die soziale Frage. Ueber- 
setzt von E. Müllenhoff. Gießen, J. Rieker, 1903. gr. 8. V—328 SS. M. 5.—. 

Wagner (OBürgermstr.), Die Tätigkeit der Stadt Ulm a. D. auf dem Gebiete der 
Wohnungsfürsorge für Arbeiter und Bedienstete (Häuser zum Eigenerwerb). Ulm, 
J. Ebner, 1903. gr. 8. VII—124 SS. mit 20 Taf., kart. M. 2,50. 


Labbé, P., Un bagne russe (Ile de Sakhaline). Paris, Hachette & C^, 1903. 8. 
272 pag. 

Burdett's Hospitals and charities, 1963: Year-book of philanthropy and hospital 
annual. London, Scientific Press, 1903. 8. 5/.—. 

Coronna, Nunzio (prof), Matrimonio e divorzio. Napoli, tip. N. Jovene & C., 
1903. 8. 150 pp. 1. 1.—. 

W oord, een ernstig, tot het Nederlandsche volk of het sociale vraagstuk, uit een 
christelijk en maatschappelijk oogpunt besehouwd. Utrecht, Kemink & Zoon, 1903. 8. 
52 blz. 


10. Gesetzgebung. 

Agahd, K., Gesetz betr. Kinderarbeit in gewerblichen Betrieben, vom 30. HL 
1903. Ausführliche Erläuterungen zum Gesetz und Vorschläge zu seiner Durchführung. 
Jena, G. Fischer, 1903. 8. 143 SS. M. 0,90. (Schriften der Gesellschaft f. soziale 
Reform. Heft 10.) 

Entwurf, vorläufiger, eines Gesetzes über Familienfideikommisse nebst Begrün- 
dung. Im amtlichen Auftrage veröffentlicht. Berlin, Druck und Verlag der „Post“ 
1903. gr. 4. 212 SS. M. 6.—. 

Entwurf eines Gesetzes über den Versicherungsvertrag nebst den Entwürfen 
eines zugehörigen Einführungsgesetzes und eines Gesetzes, betreffend Abänderung der 
Vorschriften des Handelsgesetzbuchs über die Seeversicherung. Anfgestellt im Reichs- 
justizumte. Amtliche Ausgabe. Berlin, J. Guttentag, 1903. gr. 8. 207 SS. M. 3.—. 

v. Mayr, Rob. (Privdoz.), Der Bereicherungsanspruch des deutschen bürgerlichen 
Rechtes. Leipzig, Duncker & Humblot, 1903, gr. 5. IX—750 SS. M. 17.—. 

Nodnagel, L. (GOSchulR.), Das höhere Schulwesen im Großherzogtum Hessen. 
Gesetze, Verordnungen und Verfügungen, Gießen, Emil Roth, 1903. gr. 8. VII- 
328 SS. M. 6.—. 

Pinner, Albert (JustR., Rechtsanw., Berlin), Das Reichsgesetz zur Bekämpfung 
des unlauteren Wettbewerbs vom 27. V. 1896 nebst den ergänzenden Bestimmungen des 


Bürgerlichen Gesetzbuchs. Kommentar. Berlin, J. Guttentag, 1903. gr. 8. 153 SS. ` 


M. 5.—. 

Pollak, Rud. (Privdoz.), System des österreichischen Zivilprozeßrechtes mit Ein- 
schluß des Exekutionsrechtes. I. Teil. Wien, Manz, 1903. gr. 8. XXIV—468 SS. 
M. 8.—. 

Riedinger, Paul (Refer), Der Besitz an gepfündeten Sachen. Zugleich ein 
Beitrag zur Lehre von der rechtlichen Stellung des Gerichtsvollziehers. Breslau, 
W. Koebner, 1903. gr. 8. III—103 SS. M. 2.—. 


——— ——— MM Á— dm NME 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 847 


Thiele, M. (OLandesGerR., Königsberg), Die neuen Reichszivilgesetze nebst den 
preußischen Ausführungsgesetzen und Verordnungen in ihrem gegenseitigen Zusammen- 
hange. 2. Aufl. Leipzig, C. L. Hirschfeld, 1903. Lex.-8. VIII—1568 SS. M. 10.—. 

Turnau, W. und K. Förster (Reichsgerichtsräte), Das Liegenschaftsrecht nach 
den deutschen Reichsgesetzen und den preußischen Austührungsbestimmungen. 2. Aufl. 
2 Bde. Paderborn, F. Schöningh, 1902—1903. Lex.-8. Hfzb. (Inhalt: Bd. I. Das 
Sachenrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches. M. 19; Bd. II. Die Grundbuchordnung. 
M. 16,50.) 


Auquier, Camille (greffier du conseil de prud'hommes de Charleroi) Recueil 
de jurisprudence des conseils de prud'hommes de la Belgique, à l'usage des chefs d'in- 
dustrie, fabrieants, entrepreneurs, exploitants, etc. Charleroi, impr. F. Henry-Quinet, 
1903. 8. 140 pag. fr. 5.—. 

Bezancon, Hector (avocat à la Cour d'appel), La protection légale des employés 
de commerce. Paris, A. Rousseau, 1903. 8. 284 pag. fr. 6.—. 

Scemanna, Jacques (avoeat du barreau de Tunis), Les hypotheques en Tunisie. 
Droit musulman et loi foncière. Tunis et Paris, L. Larose, 1902. gr. in-8. fr. 7,50. 

Holdsworth, W. S., A history of English law. Vol. I. London, Methuen, 
1903. 8. 504 pp. 10/.6. 

Public Health (Seotland) Act, 1897. Instructions, forms, and recommendations 
to local authorities issued by the Local Government Board for Scotland. London, Eyre 
& Spottiswoode, 1903. 8. 1/.5. (Parl. paper.) 

Rothera, Ch. L., A practical guide to the Licensing Act, 1902, with notes and 
comments and references to previous licensing and other Acts. London, Jordan & Sons, 
1903. gr. 8. XX—157 pp. cloth. 3/.6. 

Franceschini, Gaetano (prof.), Il patrocinio gratuito nel diritto giudiziario 
civile. Torino, fratelli Bocca, 1903. 8. 910 pp. l. 18.—. 

Rebera, Guido, Diritto ferroviario. Vol. I. Milano, tip. Civelli, 1902. 8. 
XXIV—758 pp. 1. 10.—. 

Arbeidswet, de nieuwe. Voor-ontwerp. (Entwurf) Wageningen, drukkerij 
„Vada“, 1903. gr. 8. 96 blz. fl. 0,45. 


11. Staats- und Verwaltungsrecht. 


Brandt (Bürgermstr., kgl. Amtsanwalt, Amtsvorsteher, ete.) Der preußische Ge- 
meindevorsteher, Amts- und Gutsvorsteher. Eine systematisehe Darstellung der bei der 
Amtsführung dieser Beamten in Anwendung kommenden Reichs- und Landesgesetze, 
Verordnungen, Erlasse ete. Ursprünglich hrsg. von (StadtR.) Otte. 9. Aufl. Leipzig, 
C. E. M. Pfeffer, 1903. gr. 8. XVI—465 SS. u. Geschäftskalender. 32 SS. M. 5.—. 

Breslau. -— Verwaltungsbericht des Magistrats der kgl. Haupt- und Residenz- 
stadt Breslau für die drei Rechnungsjahre vom 1. IV. 1898 bis 31. III. 1901. 2 Teile. 
Breslau, Druck von GraB, Barth & C°, 1903. Lex.-8. XV—768 u. 316 SS. 

Charité-Annalen, Herausgeg. von der Direktion des kgl. Charité-Kranken- 
hauses zu Berlin. Redigiert von (GenerArzt, GOMedR.) Schaper, (GRegR.) Müller. 
Jahrg. XXVII. Berlin, Hirschwald, 1903. gr. 8. V-—714 SS. mit 3 Portr. u. 
1 Tafel etc. 

Dortmund. — Haushaltspläne der städtischen Verwaltung zu Dortmund für das 
Rechnungsjahr 1903 (1. IV. 1903—1904). Dortmund, Druck von Fr. W. Ruhfus, 1903. 
4. 393 SS. 

Gemeindeverwaltung und Gemeindestatistik der Landeshauptstadt Brünn. 
Bericht des (Bürgermeisters) August (Ritter) v. Wieser für das Jahr 1901. Brünn, 
C. Winiker, 1903. gr. 5. XI-—452; III—174 u. III—233 SS. mit 11 Tabellen, geb. 
M. 4,50. 

Gemeindeverwaltung, die, der k. k. Reiehshaupt- und Residenzstadt Wien 
im Jahre 1900. Bericht des Bürgermeisters Karl Lueger. Wien, Wilh. Braumüller, 
1903. gr. 8. XXIX—474 SS. mit 21 Abbildgn. 

Hof- und Staatshandbuch des Großherzogtums Oldenburg für 1903. Oldenburg, 
Schulze, 1903. gr. 8. XXVIII—466 SS. 

Rubow, W., Die hinterpommersche Landgemeinde Schwessin, die Lage ihrer 
Landwirte und ihr Interesse an den Getreidezöilen. Berlin, L. Simion, 1903. gr. 8. 
M. 2.—. (A. u. d. T.: Volkswirtschaftliche Zeitfragen, Heft 195/190.) 


848 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes, 


Sanitätswesen, das, des preußischen Staates während der Jahre 1898, 1899 und 
1900. Im Auftrage Sr. Exe. des Ministers der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal- 
angelegenheiten bearbeitet von der Medizinalabteilung des Ministeriums. Berlin, 
R. Schoetz, 1903. gr. 8. XIV—658 u. 199 SS. M. 20.—. 


Annuaire de l’administration de l’enregistrement des domaines et du timbre pour 
1903. (50° année.) Châteauroux, impr. Mellotée, 1903. 8. 232—XXXII pag. fr. 4.—. 

Cocheris, Jules, Situation internationale de l'Egypte et du Soudan (juridique 
et politique). Paris, Plon, Nourrit & C^, 1903. gr. in-8. 616 pag. 

Gollier, Théoph. (ancien attaché à la légation de Belgique à Tokio), Essai sur 
les institutions politiques du Japon. Paris, L. Larose, 1903. 8. fr. 4.—. 

Leguey, M. (rédacteur au ministère des cultes), Les congrégations autorisées. 
Jurisprudence et statistique. Paris, Duerocq, 1903. 8. XIII—231 pag. 

India list and India Office list for 1903. London, Harrison, 1903. 8. 10/.6. 

Mae Donald, Arthur, Hearing on the bill to establish a laboratory for the 
study of the criminal pauper and defective classes. Washington, Government Printing 
Office, 1902. 8. 309 pp. (Publieation of the Committee on the judiciary.) 

Police (Scotland). XLV" Annual report of H. Maj. Inspector of Constabulary for 
Scotland, 1902. London, Eyre & Spottiswoode, 1903. 8. 2/.—. 

Rawles, W. A., Centralization tendencies in the administration of Indiana. New 
York, Macmillan, 1903. 8. 336 pp., eloth. $ 3.—. 

Redlich, Jos. (of the faculty of law and political science in the Univers. of 
Vienna), Local Government in England. Translated with additions by Francis W. 
Hirst (of the Inner Temple, Barrister-at-law). 2 vols. London, Macmillan & C°, 1903. 
8. 21/.—. 

Rowntree, J., and A. Sherwell, Publie control of the liquor traffic: Review 
of Scandinavian experiments in light of recent experience. London, Richards, 1903. 8. 
328 pp. 2/.6. 

Strachéy, J. (Sir), India, its administration and progress. 3" edition revis. and 
enlarged. London, Maemillan, 1903. Roy.-8. 538 pp. 10/.—. 

Ulmann, Alb. (member of American Historieal Association), A landmark history 
of New York. New York, D. Appleton & Cr, 1903. 12., cloth. $ 1,25. (Special 
anniversary edition to commemorate the 250" anniversary of the establishment of burgher 
government.) 

Regolamento d'igiene pubblica e di polizia sanitaria per la città di Napoli. 
Napoli, senza tipogr. 1903. 8. 63 pp. 

Verslag aan de Koningin van de bevindingen en handelingen van het genees- 
kundig staatstoezicht in het jaar 1901.  'sGravenhage, Gebr. Belinfante, 1903. 4. 
348 blz. 


12. Statistik. 
Allgemeines. 
Lippert, Gustav, Ueber die Vergleichbarkeit der Werte von internationalen 


Warenübertragungen. Eine Untersuchung auf dem Gebiete der internationalen Handels- 
statistik. Wien, W. Braumüller, 1903. gr. 8. 189 SS. M. 3,60. 


Deutsches Reich. 

Kollmann, Paul, Statistische Beschreibung der Gemeinden des 
Fürstentums Lübeck. Oldenburg 1901. 360 SS. 

Im Jahre 1897 erschien von dem Verfasser die statistische Beschrei- 
bung der Gemeinden des Großherzogtums Oldenburg, welche an dieser Stelle 
seiner Zeit eingehend gewürdigt wurde. Das vorliegende Werk be- 
handelt in der gleichen Weise das zu Oldenburg gehörige Fürstentum 
Lübeck und zeigt dieselben beachtenswerten Vorzüge. Die Haupteigen- 
tümlichkeit der Arbeit besteht darin, daß bis auf die einzelnen Gemeinden, 
die hier allerdings meist mehrere wiederum bis zu einem gewissen Grade 
selbständige Dorfschaften umfassen, zurückgegangen wird, und dadurch 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes, 849 


das Zellenleben des staatlichen Organismus in einer sonst nicht erreichten 
Weise statistisch zur Darstellung gelangt. Dem verdienten Leiter des 
Oldenburgischen Statistischen Bureaus gebührt hierfür der besondere 
Dank der Statistiker und Nationalökonomen. J. C. 


Beiträge zur Armenstatistik. I. Armenstatistik einiger deutscher Städte für das 
Jahr 1896/97.  Herausgeg. nach einer Erhebung der Konferenz deutscher Städte- 
statistiker im Auftrage des Instituts für Gemeinwohl in Frankfurt a. M. von Chr. J. 
Klumker. Jena, G. Fischer, 1902. gr. 8. L—260 u. 41 SS. 

Handbuch der Kirchenstatistik für das Kónigreich Sachsen. Nach dem Stande 
vom 1. I. 1903. Neue Folge. 19. Ausgabe. Nach handschriftlichen Angaben ete. be- 
arbeitet von Arthur Kolbe. Dresden, Ramming, 1903. gr. 8. VIII—412 SS. M. 8,50. 

Jahrbuch für Bremische Statistik. — Herausgeg. vom Bremischen statistischen 
Amt. Jahrg. 1902: Zur Statistik des Schiffs- und Warenverkehrs im Jahre 1902. 
Bremen, G. A. v. Halem, 1903. gr. 8. X—327 SS. 

Kürschners Staats-, Hof- und Kommunalhandbuch des Reichs und der Einzel- 
staaten. Herausgeg. von Hermann Hilscher. Achtzehnte Ausgabe: 1903. Leipzig, G. 
J. Góschen, o. J. (1903.) gr. 8. 1267 SS., geb. M. 6,50. 

Mitteilungen des statistischen Amts der Stadt Magdeburg. Nr. 12. Der Magde- 
burger Wohnungsmarkt Ende Oktober 1902. Im Auftrage des Magistrats der Stadt 
Magdeburg bearbeitet von Heinrich Silbergleit (Direktor des statistischen Amts der 
Stadt Magdeburg). Magdeburg, Druck von R. Zacharias, 1903. Lex.-8. 31 SS. 

PreuBische Statistik. (Amtliches Quellenwerk.) Heft 177. Die endgültigen Er- 
gebnisse der Volkszählung vom 1. XII. 1900 im preußischen Staate sowie in den 
Fürstentümern Waldeck und Pyrmont nebst einem aktenmäßigen Berichte über die 
Ausführung dieser Zühlung. I. Teil. Berlin, Verlag des kgl. statistischen Bureaus, 1903. 
Imp.-4. LXII—431 SS. 

Rückblick, statistischer, auf die königlichen Theater zu Berlin, Hannover, 
Kassel und Wiesbaden für das Jahr 1902. Berlin, Druck von Mittler & Sohn, 1903. 
gr. 8. 42 SS. 

Statistik, die, der Bewegung der Bevölkerung, sowie die medizinische und ge- 
burtshilfliche Statistik des Großherzogtums Baden für das Jahr 1900. (XIX. Jahrg. 
des Sonderabdrucks aus den statistischen Mitteilungen für das Großherzogt. Baden.) 
Karlsruhe, Ch. Fr. Müllersche Hofbuchdruckerei, o. J. (1902.) Lex.-8. 86 SS. 

Statistik der oberschlesischen Berg- und Hüttenwerke für das Jahr 1902. 
Herausgeg. vom Oberschlesischen Berg- und Hüttenmännischen Verein. Zusammen- 
gestellt und bearbeitet von dem Geschäftsführer des Vereins H. Voltz. Kattowitz, 
Selbstverlag des Vereins, 1903. gr. 4. 90 SS. 

Statistik des Unterrichts- und Erziehungswesens im Königreich Württemberg auf 
das Schuljahr 1901/02. Stuttgart, Druck von W. Kohlhammer, 1903. Lex.-8. 63 SS. 

Untersuchung, statistische (des statistischen Amtes in Dresden), über die Ur- 
sachen der ungewöhnlichen Steigerung der Ausgaben für das Dresdener Stadtirren- und 
Siechenhaus. Dresden, Buchdruckerei der Dr. Güntzschen Stiftung, o. J. (1903). Lex.-8. 
73 SS. (Nicht im Handel.) 


Frankreich. 


de Neymarck, A., Une statistique nouvelle sur le morcellement des valeurs 
mobilières (chemins de fer, rentes, banque de France, crédit foncier, etc.). Paris, Guil- 
laumin & Oe, 1903. 8. fr. 1,50. 


England. 

First Report of the Departmental Committee ap- 
pointed to inquire into the Ventilation of Factories and 
Workshops. London (Eyre and Spottiswoode) 1902. 

Nachdem das neue englische Fabrikgesetz von 1901 dem Staats- 
sekretár das Recht gab, besondere Ventilationsvorschriften zu erlassen, 
wurde eine Kommission unter Leitung des Dr. Haldane ernannt, welche 

Dritte Folge Bd, XXV (LXXX). 54 


850 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


die tatsächlichen Ventilations- und Luftverhältnisse in den verschiedenen 
Industriezweigen zu prüfen und auf Grund ihrer Feststellungen Ver- 
besserungsvorschläge zu machen hatte. Der erste Bericht über diese 
Untersuchungen liegt jetzt vor. Die Herren haben sich einen besonderen 
Apparat konstruiert, mit dessen Hilfe Luftproben überall entnommen 
und im Laboratorium untersucht werden können. Konstruktion und An- 
wendung werden durch Zeichnung und Beschreibung erläutert. 264 Proben 
wurden in den verschiedensten Fabriken in ganz England entnommen 
und ihre genaue Analyse wird mitgeteilt. 

Das Urteil der Kommission geht dahin, daß die größeren Unter- 
nehmer ausreichend für ihre Angestellten auch in dieser Beziehung 
sorgen, obgleich sie teilweise mit der Abneigung mancher Arbeiter gegen 
die frische Luft zu kämpfen haben. Das hängt in manchen Fällen wieder 
mit der Mangelhaftigkeit der Heizeinrichtungen zusammen. Es wird 
deshalb eine durchgehende Temperatur von mindestens 600 F (12.44? R) 
verlangt. 

Besonders wird darauf hingewiesen, daß der jedem Arbeiter zur 
Verfügung stehende Luftraum an sich nicht maßgebend ist. Denn die 
ungesündeste Luft fand sich in einer Fabrik mit 10000 Kubikfuß Luft 
pro Person, d. h. dem 40-fachen des vorgeschriebenen Mindestraumes. 
Ausschlaggebend ist vielmehr allein der Inhalt der Luft an Kohlen- 
säure. Deshalb schlägt die Kommission vor, eine Vorschrift zu erlassen, 
dal in keinem Betriebe die Luft auf 10000 Volumina mehr als 12, und 
bei künstlichem Licht mehr als 20 Volumina Kohlensáure enthalten dürfe. 
Alle Fabrikinspektoren sollen mit einem besonderen Luftprüfungsapparat 
ausgerüstet werden. Von den Prüfungsresultaten sind die Betriebsleiter 
zu unterrichten und zwar, bei wiederholt ungünstigen Ergebnissen, unter 
Strafandrohung. 

Die Durchführung dieser Vorschläge wäre eine erfreuliche Erweite- 
rung der Fabrikinspektion, wenn sich ihre strikte Innehaltung wohl 
auch nicht immer wird erzwingen lassen. 


Halle a. S. G. Brodnitz 


Agricultural statisties 1902. Report on the agricultural returns relating to 
acreage and produce of erops and number of live stock in Great Britain with summaries 
for the United Kingdom, British possessions and foreign countries, and particulars of 
prices, imports and exports of agrieultural produce. London, printed by Wyman & 
Sons, 1903. gr. 8. XL—264 pp. with 2 maps. 1/.5. (Publication of the Board of 
Agriculture.) 

Judicial statisties, England and Wales, 1901. Part II: Civil and judicial sta- 
sisties. Edited by John Macdonell (Master of the Supreme Court). London, Eyre & 
Spottiswoode, 1903. Folio. 2/.2. (Parl. pap.) 

London statistics, 1901—2. Vol. XII. London, P. S. King & Son, 1903. Folio. 
CXXVIII—444 pp. (Publication of the London County Council.) 

Twenty years. railway statistics 1853 to 1903. With the addition of 27 pages 
showing the percentage of expenses to receipts, gross and net earnings, ete, year by 
year for past 20 years of prineipal railways. London, Mathieson & Sons, 1903. 12. 
195 pp. 1/.2. 

Oesterreich-Ungarn. 

Genossenschaften, die gewerblichen, Niederösterreichs in den Jahren 1897 bis 

1900. II. Die Genossenschaften Niederösterreichs außerhalb Wiens. Verfaßt vom sta- 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 851 


tistischen Bureau der niederösterr. Handels- und Gewerbekammer. Wien, Verlag der 
Kammer, 1903. 4. VII—329 SS. (A. u. d. T.: Statistische Mitteilungen der nieder- 
österr. Handels- und Gewerbekammer. Heft 6.) 

Jahrbuch, statistisches, des k. k. Ackerbauministeriums für das Jahr 1902. 
Heft 1: Statistik der Ernte des Jahres 1902. Wien, Druck und Verlag der k. k. Hof- 
und Staatsdruckerei, gr. 8. IV—293 SS. mit 5 Diagrammen, 2 Tafeln u. 8 Karten. 

Statistik des auswärtigen Handels des österreichisch-ungarischen Zollgebietes im 
Jahre 1902. Bd. II: Spezialhandel und Bd. III: Vormerkverkehr, Durchfuhr. Wien, 
Druck und Verlag der k. k. Hof- und Staatsdruckerei, 1903. Lex.-8. VIII—845 und 
VI—507 SS. (Verfaßt und herausgeg. vom statistischen Departement im k. k. Handels- 
ministerium.) 


Dänemark. 

Tabelværk til Kobenhavns statistik Nr 13. Tabellarisk Fremstilling as Be- 
folkningens Fordeling efter kon og alder, civilstand og trossamfund (Glaubens- 
bekenntnis) etc. paa Grundlag of Folketaelling en den 1. Febr. 1901 ved Cordt Trap 
(Chef for Staden Kobenhavns statistiske kontor. Kobenhavn, April, 1903. gr. 4. 77 pp. 


Holland. 

Bijdragen tot de statistiek van Nederland. Nieuwe volgreeks, n° XII: Uitkomsten 
der beroepstelling in het Koninkrijk der Nederlanden gehouden op den 31. XII. 1899. 
12 deelen, 'sGravenhage, Gebr. Belinfante, 1902. 4. (Inhoud: Deel I. Provincie Noord- 
brabant ; deel II. Provincie Gelderland ; deel III. Provincie Zuidholland; deel IV. Pro- 
vincie Noordholland; deel V. Provincie Zeeland; deel VI. Provincie Utrecht; deel VII. 
Provincie Friesland ` deel VIII. Provincie Overijssel; deel IX. Provincie Groningen; 
deel X. Provincie Drenthe; deel XI. Provincie Limburg; deel XII, 1* aflevering (Ab- 
teilung): De negen groepen van gemeenten in het Rijk; XII, 2° aflevering: Totaal voor 
het geheele (ganze) Rijk. 


Sch weiz. 


Eisenbahnstatistik, schweizerische, für das Jahr 1901. XXIX. Bd. Bern, 
Buchdruckerei Körber, April 1903. gr. Folio. 235 SS. (Herausgeg. [in deutscher und 
französischer Sprache] vom schweizerischen Eisenbahndepartement.) 


Asien (China). 

China. — Imperial Maritime Customs. I. Statistical series, n° 2: Customs Ga- 
zette. N° CXXXVI, October-December 1902. Shanghai, Kelly & Walsh und London, 
King & Son, 1903. 4. 300 pp. $ 1.—. (Publication of the Inspector General of 
Customs.) 

China. Imperial Maritime Customs. I. Statistical series, n® 3 and 4: Returns of 
trade and trade reports for the year 1902. Part. I. Report on the trade of China 
(44'^ issue); Abstract of statistics (28'^ issue). Shanghai, Kelly & Walsh, and London, 
King & Son, 1903, 4. 33 pp. $ 1.—. (Published by order of the Inspector General 
of Customs.) 


13. Verschiedenes. 


Uebersicht der gesamten staats- und rechtswissen- 
schaftlichen Titeratur des Jahres 1901, zusammengestellt 
von Otto Mühlbrecht. Jahrgang 34. Berlin (Puttkammer u. Mühlbrecht) 
1902. 280 SS. Dasselbe für 1902. Jahrgang 35. 276 SS. 


Die monatlich erscheinenden und jahrweis gesammelten Uebersichten 
Mühlbrechts b.'ngen jährlich etwa 4000 Neuerscheinungen aus dem 
deutschen, frar:ösischen, englischen, italienischen, niederländischen, 
skandinavischer. und spanischen Sprachgebiet. Die beiden letzten Jahr- 
gänge schließen sich ihren Vorgängern gleichartig an und bilden ein 

54* 


852 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


gutes Hilfsmittel zum Nachschlagen, so daß wir auch diese Anzeige 
mit der üblichen Empfehlung schließen können. 


Aachen, W. Kähler. 


Bericht über den VIII. internationalen Kongreß gegen den Alkoholismus, ab- 
gehalten in Wien, 9.—14. IV. 1901. Redigiert von Rud. Wlassak. Leipzig, F. Deuticke, 
1902. gr. 8. 587 SS. M. 5.—. 

Cook, Frederic, A. (Arzt u. Anthropologe der belgischen Südpolarexpedition), 
Die erste Südpolarnacht 1898—1899. Bericht über die Entdeckungsreise der ,Belgica“ 
in der Südpolarregion. Mit einem Anhange: Ueberblick über die wissenschaftlichen 
Ergebnisse. Deutsch von Anton Weber (k. Lycealprof.). Kempten, Jos. Köselsche Buch- 
handlung, 1903. gr. 8 XXIV—415 SS. Mit zahlreichen Vollbildern, schwarzen und 
farbigen Illustrationen. M. 10.—. 

Delitzsch, Fr., Im Lande des einstigen Paradieses. Ein Vortrag. Stuttgart. 
Deutsche Verlagsanstalt, 1903. gr. 8 58 SS. mit 52 Bildern, Karten und Plänen. 
M. 2.—. 

Denkwürdigkeiten und Erinnerungen eines Arbeiters. Herausgeg. und mit 
einem Geleitwort versehen von Paul Góhre. Leipzig, E. Diederichs, 1903. gr. 8. XII 
—391 SS. M. 4,50. (A. u. d. T.: Leben und Wissen, Bd. II.) 

Herzberg, J., Geschichte der Juden in Bromberg. Zugleich ein Beitrag zur 
Geschichte der Juden des Landes Posen. Nach gedruckten und ungedruckten Quellen 
dargestellt. Frankfurt a. M., J. Kauffmann, 1903. gr. 8. 106 SS. mit Illustrationen. 
M. 2,50. 

Kapptein, Theodor, Emil Frommel. Ein biographisches Gedenkbuch. Leipzig. 
H. Seemann Nachf. 1903. gr. 8. 472 SS. mit Portr., geb. M. 4.—. 

Norden, Walter (Privdoz. der mittelalterl. Geschichte, Univ. Berlin), Das 
Papsttum und Byzanz. Die Trennung der beiden Müchte und das Problem ihrer 
Wiedervereinigung bis zum Untergang des byzantinischen Reichs (1453). Berlin, B. Behr, 
1903. gr. 8. XX—704 SS. M. 16.—. 

Radó, S., Das Deutschtum in Ungarn. Berlin, Puttkammer & Mühlbrecht, 1903. 
gr. 8. 95 SS. M. 1,50. 

Simon, Oskar (GORegR.), Das gewerbliche Fortbildungs- und Fachschulwesen 
in Deutschland. Ein Ueberblick über seine Entwickelung und seinen gegenwürtigen 
Stand. Berlin, E. S. Mittler & Sohn, 1903. gr. 8. 60 SS. M. 1,75. 

Sozialpolitik, die, der deutschen Zentrumspartei. Gesammelte sozialpolitische 
Flugblätter des Volksvereins für das katholische Deutschland. M.-Gladbach, Verlag der 
Zentralstelle des Volksvereins, 1903. gr. 8. 124 SS. M. 0,50. 

Uebersicht über das Fortbildungsschulwesen und die gewerblichen Unterrichts- 
anstalten der Stadt Berlin. Jahrg. XX, Februar 1903. Berlin, Druck von Gebr. 
Grunert, 1903. gr. 8. 238 SS. Mit 2 Tabellen in Quer-Folio. 

Weber, Simon (Prof. der Apologetik, Freiburg i. B.), Die katholische Kirche in 
Armenien. Ihre Begründung und Entwickelung vor der Trennung. Ein Beitrag zur 
christlichen Kirchen- und Kulturgeschichte. Freiburg i. B., Herdersche Verlagsbuchhdlg., 
1903. gr. 8. XX—532 SS. M. 9.—. 

Zolger, Ivan, Das kommerzielle Bildungswesen in England. Wien, Alfr. 
Holder, 1903. gr. 8. XVI—215 SS. M. 5,20. (A. u. d. T.: Das kommerzielle Bildungs- 
wesen der europäischen und außereuropäischen Staaten, von Fr. Diabaë und Ivan 
Zolger, I.) 


Aulard, A. (profess. A l'Université de Paris), La Révolution française et les con- 
grégations, Exposé historique et documents. Paris, Ed. Cornély, 1903. 8. 340 pag. 
fr. 3,50. 

Bentzon, Th., Promenades en Russie. Paris, Hachette & C'*, 1903. 8. 339 pag. 
fr. 3,50. (Table des matières, extrait: En Petite-Russie. — Autour de Tolstoi. — Bains 
de mer en Crimée. — Femmes russes. — Docteur et femme de lettres. — Industries 
de village.) 

Hello, E. Philosophie et athéisme. Nouv. édition. Paris, Perrin & C", 1902. 
8. 339 pag. 


Die periodische Presse des Auslandes. 853 


de Lesdain (le comte attaché à la légation de France à Pékin), En Mongolie 
(15 juin — 22 septembre 1902). Paris, A. Challamel, 1903. 8., illustré. Fr. 3,50. 

Oll&-Laprune, L. (membre de l'Institut Le prix de la vie. 10° édition. 
Saint-Cloud, imprim. Belin frères, 1903. 8. XIV—490 pag. 

Suran, Th., Les esprits directeurs de la pensée française du moyen âge à la 
Révolution. Paris, Schleicher frères, 1903. 8. fr. 3.—. 

Paul, Alex., The vaccination problem in 1903 and the impracticability of com- 
pulsion. London, P. S. King, 1903. 8. VII—130 pp. 2/.6. 

De Giulj, Enrico, Commento alla legge sulla igiene e sanità pubblica. 2 voll. 
Milano, Soc. editr. libraria, 1902—1903. 8. X—518 & VIII—468 pp. 1. 21.—. 


Die periodische Presse des Auslandes. 
A. Frankreich. 


Bulletin de statistique et de législation comparée. XXVII""* année, 1903, Avril: 
A. France, colonies: Loi modifiant le tarif des douanes en ce qui concerne les poivres. 
— Loi portant fixation du budget général des dépenses et des recettes de l'exercice 1903. 
— Décret fixant le prix de vente des tabacs dans les zones et subdivisions de zones. — 
Décret fixant les conditions d'application de la taxe de dénaturation des alcools en Corse. 
— Les revenus de l'Etat, situation au 1*' avril 1903. — Le commerce extérieur, mois 
de Mars 1903. — Les octrois en 1901. — B. Pays étrangers: Pays divers: Situation 
des principales banques d'émission à la fin du Le trimestre de 1903; Les émissions 
publiques en 1902. — Allemagne: La dette hypothécaire en Prusse. — Etats-Unis: La 
dette publique de 1800 à 1902; La circulation monétaire de 1860 à 1902. — Portugal: 
Le commerce extérieur de 1898 à 1902. — etc. 

Journal des Economistes. Revue mensuelle, 62* année, 1903, Mai: Le centenaire 
d'Edgar Quinet et les cultivateurs danois, par Ernest Martineau. — A propos d'un 
almanach („Free trade almanac“), par Emile Macquart. — Le mouvement agricole: 
(Paleool et la reproduction de l'énergie musculaire). — Revue des principales publications 
économiques en langue française, par Rouxel. — Les manifestations nouvelles du muni- 
eipalisme. — La viticulture dans le midi, par Paul Bonnaud. — Lettre du Mexique, 
par J. Ch. T. — L’aceroissement du loisir, par Frédér. Passy. — Chez le marchand de 
tablearv par Frédér. Passy. — Fédération libre échangiste internationale, par G. de 
Molina i et Jules Fleury. — Bulletin: Les caisses d'épargne dans l'Etat de New York 
en 190 , rar M. de Malarce. — Société d'économie politique (réunion du 5 mai 1903): 
Communication: La situation économique de la République Argentine; Discussion: Le 
rapport de la Commission d'enquéte anglaise sur les subventions accordées à la marine 
marchande. — Chronique: Une statistique des bénéficiaires de la protection dressée par 
M. Atkinson; La tolérance religieuse en Russie. Le massacre de Kitchinef; [’anti- 
polonisme en Allemagne, ete. — etc. 

Journal de la Société de statistique de Paris. XLIV'® année, N° 5, Mai 1903: 
Procès-verbal de la séance du 15 avril 1903. — L'état sanitaire de l'armée française en 
1900, par (le D") Lowenthal. — Note sur le calcul de la mortalité, par G. Cauderlier 
(art. 1). — Chronique trimestrielle des banques changes et métaux précieux, par Pierre 
des Essars. — etc. 

Revue d'économie politique. XVII* année, no. 4, Avril 1903: L'aleool et son 
cartell en Allemagne, par A. Souchon (Prof. à la faculté de droit de Paris). — Une 


nouvelle loi de la population, par Franz Oppenheimer. — Les coopératives hollandaises, 
par Henry Hayem (suite 1). — Chronique législative. — ete. — N°5, Mai 1903: 
La hausse des salaires, par Ch. Gide. — Banques de dépót et banques de spéculation. 


Comparaison des systèmes de banque anglais et allemand, d’après Adolf Weber, par 
Raphaél Georges Lévy. — La déeadence de l'industrie liniere et la concurrence victorieuse 
de l'industrie cotonniere, par Albert Aftalion. — Chronique législative, par Edmond 
Villey. — Revue des revues américaines, par Paul Reboud. — Revue des revues 
françaises d'économie politique, par Henry Truchy. — etc. 


854 Die periodische Presse des Auslandes. 


Revue internationale de sociologie. XI* année, n° 4, Avril 1903: Paul de Lilien- 
feld, par René Worms. — L'économie sociale à l'Exposition universelle de 1900, par 
Charles Gide. — Société de sociologie de Paris, séance du 11 mars 1903: Les classes 
sociales. Discussion par H. Monin, Massillon Coicou, Hervé Blondel, Gaston Pinet. — 
Mouvement social: La législation ouvrière en Italie, par Filippo Virgilii: 1. L'office du 
travail; 2. Le travail des femmes et des enfants; 3. Caisse nationale de prévoyence pour 
les invalides et les vieillards; 4. Contrats agraires et contrat de travail. — Revue des 
livres. — etc. 


B. England. 


Board of Trade Journal, edited by the Commercial Department of the Board of 
Trade. Vol. XI, n? 323—339, Febr. 5, 1903: British trade abroad: Hayti, Espirito 
Santo. — Openings for the establishment of a portland cement industry in Ireland. — 
Danish carrying trade in 1901. — The metallurgical industry of Russia. — Coal industry 
of the United States in 1901. — Openings for British trade. — The changes in the 
monthly trade aecounts. — Foreign trade of the United Kingdom in January, 1903. — 
Trade of foreign countries and British possessions. — British trade abroad: Egyptian 
Soudan, Italy, Crete, Buenos Ayres. — Trade of Cape colony, ten months. — Import 
trade of the Transvaal, eleven months. — The toy trade of Germany. — Wine production 
in Franee in 1902. — Cotton goods trade of the United States of America. — British 
trade abroad: Switzerland. — Trade of Cape colony, eleven months. — Cotton cultivation 
in Central Asia. — Trade of Natal in 1902. — Oil trade of South Italy. — Commercial 
mission to Siberia. — Foreign trade of the United Kingdom in February, 1903. — 


Annual meeting of the association of Chambers of Commerce. — Import trade of the 
Transvaal in 1902. — Trade of the Argentine Republie in 1902. — Agricultural 
improvements in the Spanish province of Biscay. — Russian trade with China. — Con- 


dition of trade at Vladivostock. — Trade of Bulgaria in 1902. — British trade abroad: 
Adana, Southern Nigeria, Pensacola. — Mineral production of Canada in 1902. — 
Development of the towns of Harbin and Dalny : (Economic changes in the Far East). — 
Trade of Iquitos in 1902. — Rates of import duty leviable on motor vehicles in certain 


foreign countries and British possessions. — Foreign trade of the United Kingdom in 
March, 1903. — Cotton goods trade of the United States of America. — Monazitic sand 
in Brazil. — British trade abroad: Thessaly, Somaliland protectorate. — The Canadian 


furniture industry. — Production of Landolphia rubber in Uganda. — Limes in the 
West Indies. — Trade of Egypt in 1902. — British trade abroad: Constantinople, Mexico. 
— Import trade of the Transvaal in January, 1903. — Trade of Cape colony in 1902. 
— Mining industry of the Primorsky province: Eastern Siberia. — American competition 
in the iron and steel industries. — Tariff changes and eustoms regulations. — Shipping 
and transport. — Minerals, metals, and machinery. —  Yarns and textiles. — Agri- 
eulture. — Miscellaneous. — Statistical tables. — Government publications. — etc. 

Nineteenth Century, the, and after. N° 316. June 1903: Imperial reciprocity, 
1) by (Sir) Herbert Maxwell; 2) by (Sir) Gilbert Parker; 3) by Benjamin Taylor. — 
Home rule without separation, by (Sir) Henry Drummond Wolff. — The bond-hay 
treaty, by P. T. McGrath. — Conquest by bank and railways, by Alfred Stead. — Free 
libraries, by J. Churton Collins. — Marriage with a deceased wife's sister, by (Mıs.) 
Chapman. — An unpopular industry, by (Miss) Catherine Webb. — The increase of 
cancer, by Alfred Wolff. — Industries for the blind in Egypt, by (the countess) of Meath. 
— Lord Kelvin on science and theism. — etc. 

Westminster Review, the. June 1903: A South African Salmagandi, by W. J. 
Corbet. — The Irish University question as affecting women, by F. S. — American 
imperialism to date, by an American. — One possible construction of the socialist pro- 
gramme, by Adams. — Republies versus woman, by Ignota. — The enigma of life, by 
Mabel Jayne. — The education of physically and mentally defective children, by R. J. 
Lloyd. — Last words of Herbert Spencer, by E. B. McCormick. — Mr. Syme on „the 
soul", by Forester. — The suicide of the race, by W. R. Mae Dermott. — etc. 


C. Oesterreich. 

Deutsche Worte. Monatshefte, herausgeg. von Engelbert Pernerstorfer. Jahrg. 
XXIII, 1903, Heft 4, April: Sozialismus und Landwirtschaft. Vortrag des Dr. Ed. David, 
Mitglied des hessischen Landtages, aus Mainz, gehalten in Wien am 16. I. 1903. — ete. 

Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung. Organ der Ge- 


Die periodische Presse des Auslandes. 855 


sellschaft österreichischer Volkswirte. Bd. XII, 1903, Heft 2 und 3: Das Recht der 
öffentlichen Arbeiten, von Th. Bresiewiez. — Zur Ausgestaltung des rechts- und staats- 
wissenschaftlichen Studiums in Oesterreich, von (Prof.) A. v. Halban (I. Art.). — Die 
Reform der österreichischen Hauszinssteuer, von F. (Frh.) v. Myrbach-Rheinfeld. — 
Verhandlungen der Gesellschaft österreichischer Volkswirte. — Die vorgeschlagene Ein- 
führung des Grundbuchsystems in Griechenland von C. D. Carusso. — etc. 


E. Italien. 


Giornale degli Economisti. Maggio 1903: La situazione del mercato monetario. 
— Il movimento dei fittaioli nella bassa Lombardia, per R. Soldi. — Conseguenze econo- 
miche del diboscamento in Italia, per E. Branzoli-Zappi. — La statistica nell" insegna- 
mento universitario, per A. Contento. — Il bilancio della banea d’Inghilterra, per 
G. François. — I contratti agrari ed il contratto di lavoro agricolo in Italia, per 
P. Sitta. — Attorno allo stato di previsione dell’ entrata, per L. Nina. — Cronaca: (per 
Pindipendenza della magistratura, per F. Papafava. — etc. 

Rivista della beneficenza pubblica delle istituzioni di previdenza e de igiene sociale. 
Anno XXXI, n° 4, Aprile 1903: Ancora sui malati cronici nei riguardi della beneficenza 
ospitaliera, per Giovanni Pugliese. — Per gli educatori correzionali, per (avvoc.) Giulio 
Benelli. — L'assistenza materna all' infanzia illegittima, per Tullio Minelli. — Appunti 
sopra una questione interessante i monti di pietà, per Carlo Vitali. — Cronaca: Il monte 
di pietà di Bergamo; La case operaie a Siena; Il sanatorio milanese pei tubercolosi ; 
Società italiana di beneficenza in Vienna; Le scuole per le infermiere in Inghilterra; 
Società di beneficenza nazionale di Buenos Ayres; I spedali riuniti di Pistoia e la 
relazione del commissario Ant. Corrodi; Ospedale italiano Garibaldi in Rosario de Santa 
Fe nell anno 1902; Gli inizi di una nuova istituzione benefica a Milano; Per un nuovo 
ospedale a Ferrara. — etc. 


G. Holland. 


Economist, de, opgericht door J. L. de Bruyn Kops. LIItieste jaarg., 1903. 
Mei: Vóór of tegen gemeentelijk bedrijf, door P. H. van der Kemp (art. I. — De 
coöperative suikerfabriek te Sas van Gent, door Georges de Leener. — Nieuwe uitgaven. 
— De internationale geldmarkt, door C. Rozenraad. — Economische kroniek: Hollän- 
disehe Finanzen; Holländische Einfuhrzölle auf Mehl; Wiederbeanstandung der Auf- 
hebung der Getreidezölle in England. — Economische nalezingen en berigten: Die 
Brüsseler Zuckerkonvention gegenüber der neuen Zuckergesetzgebung in Oesterreich- 
Ungarn. — ete. 

H. Schweiz. 


Monatssehrift für christliche Sozialreform. Begründet von weiland Frh. Karl 
v. Vogelsang. Jahrg. XXV, Kr 5 (Basel 1903): Entwickelungstendenzen im modernen 
Kleinhandel. — Wirtschaftliche Tagesfragen, von Sempronius: Die wirtschaftliche Lage 
von Europa; Italiens wirtschaftliche Entwickelung; Dr Schäffle und die „agrarische 
Gefahr“. — Zeitschriftenschau, von (NationalR.) C. Decurtius (Truns) — Für die 
sozialen Vereine, von Frz. Xav. Schmidt (Freiburg, Sehweiz): Skizze XIII. Stand und 
Ursachen des Alkoholismus; Skizze N. Der Alkoholismus in seinen Folgen. — ctc. 

Schweizerische Blätter für Wirtsehafts- und Sozialpolitik. Jahrg. XI, 1903, 
Heft 9: Die Hagelversicherung in der Schweiz, von A. Bohren (Zollikofen). — Kinder- 
arbeit in Gewerbe und Industrie und Kinderschutz, von Bruno Volger. — Soziale 
Chronik. — Miszellen: Die Schwindsucht in den Mietswohnungen. — etc. 


M. Amerika. 


Yale Review, the. A quarterly journal for the scientific discussion of economie, 
political, and social questions. Vol. XII, no 1, May 1903: Comment: The taxation of 
mortgages; The southern negro; Congress and Anti-trust Legislation; The proposed 
Political Science Association. — The beginnings of an official European code of private 
international law, by Simeon E. Baldwin. — Economie investigation in the United 
States, by Jacob H. Hollander. — Increasing and diminishing costs in international 
law, by Franeis Walker. — The anthracite strike commission’s awards, by Peter Roberts. 
— Suicide in the United States, 1897—1901, by William B. Bailey. — Notes. — 
Book reviews. — etc. 


856 Die periodische Presse Deutschlands. 


Die periodische Presse Deutschlands. 


Arbeiterfreund, der. Zeitschrift für die Arbeiterfrage. Organ des Zentral- 
vereins für das Wohl der arbeitenden Klassen. Hrsg. von (Prof.) V. Bóhmert (Dresden). 
XLI. Jahrg., 1903. 1. Vierteljahrsheft: Einige Hauptlehren und Erfahrungen aus der 
Armen- und Wohlfahrtspflege in den beiden letzten Jahrhunderten, von (Prof.) V. 
Bóhmert. — Der Ausstand der Bergarbeiter in den Anthracitkohlenbergwerken der Ver. 
Staaten im Jahre 1902, von Max Georg v. Loeben. — Einiges über Armen- und Wohl. 
fahrtspflege in Frankreich, von (StadtR. D’ med.) Waldsehmidt (Charlottenburg). — Die 
Spar- und Vorschußkassen für die Bediensteten bei den österreichischen Privatbahnen, 


von W. — Deutsche Arbeitsstätten in ihrer Fürsorge für Angestellte und Arbeiter: 
1. Die Mühlenbauanstalt und Maschinenfabrik vorm. Gebr. Seck in Dresden u. Schmiede- 
berg. — etc. 

$ 


Archiv für Eisenbahnwesen. Herausgeg. vom k. preuß. Ministerium der öffent- 
lichen Arbeiten. Jahrg. 1903, Heft 3, Mai und Juni: Der wirtschaftliche Charakter des 
Extraordinariums der preußischen Staatseisenbahnverwaltung, von Offenberg (GehORegk., 
Berlin). — Die Eisenbahnen der Erde, 1897—1901. — Binnenwasserstraßen und Eisen- 
bahnen zwischen Manchester und Liverpool und der Manchester Seeschiffkanal, von 
Bindewald (Hauptm. a. D., Königsberg i. Pr.). V. Der Manchester Seeschiffkanal. f) Der 
Kanal und seine Wettbewerber von 1897 bis 1901 (Schluß). — Erweiterung und Ver- 
vollständigung des preußischen Staatseisenbahnnetzes im Jahre 1903. — Der Etat der 
preußisch-hessischen Eisenbahnverwaltung für das Etatsjahr 1903, von Schremmer (Geh. 
RechnR. im Minist. d. öff. Arbeiten). — Verkehrsentwickelung des Eisenbahndirektions- 
bezirks Berlin in der Zeit vom 1. IV. 1896 bis zum 31. III. 1901, von (Reg. u. BauR.) 
Platt (Berlin). — Die bayerischen Staatseisenbahnen und Schiffahrtsbetriebe im Jahre 
1901. — Wohlfahrtseinrichtungen der kgl. bayerischen Staatseisenbahnen im Jahre 1901. 
— Die Eisenbahnen der australischen Kolonien Viktoria, Westaustralien und Neuseeland. 
Betriebsjahr 1900/01. — ete. 

Archiv für Post und Telegraphie. Jahrg. 1903, N° 9 u. 10, Mai: Ferntische und 
Meldetische nach den Schaltungen der Aktiengesellschaft Mix & Genest und der Deutschen 
Telephonwerke R. Stock & C°. — Aus der amtlichen Denkschrift über die Entwickelung 
des Kiautschougebiets in der Zeit vom Oktober 1901 bis dahin 1902. — Das Post- 
anweisungsamt. — Weltausstellung in St. Louis 1904. — Entscheidungen des Reichs- 
gerichts, betreffend die Beförderung postzwangspflichtiger Gegenstände durch expresse 
Boten. — Grundsteinlegung des reichseigenen deutschen Posthauses in Shanghai. — 
Geschichtliche Entwickelung der niederländischen Staatstelegraphie. — Der Teltowkanal. 
— Die Erschließung der Tschadseeländer. — etc. 

Archiv für öffentliches Recht. Bd. XVIII, 1903, Heft 1. Aufsichtsbehörden und 
Krankenkassen, von (StadtR.) H. v. Frankenberg (Braunschweig). — Das Aufsichtsamt 
für Privatversicherung, von (Rechtsanw.) Fuld (Mainz). — Zur Annahme öffentlichen 
Rechtes im Bürgerlichen Gesetzbuch, von Glässing (Beigeordneter, Darmstadt). — etc. 

Archiv, allgemeines, statistisches, herausgeg. von Georg v. Mayr. Bd. VI, Er- 
günzungsheft: Die deutsche Städtestatistik am Beginne des Jahres 1903, dargestellt 
nach den Veröffentlichungen der statistischen Aemter deutscher Städte. Tübingen, 
H. Laupp, 1903. 122 SS. [Beitrag des statistischen Amtes der Stadt Dresden für die 
deutsche Städteausstellung in Dresden 1903.) 

Jahrbücher, landwirtschaftliche. XXXII. Bd., 1903, Heft 1: Die Frostbeschä- 
digungen am Getreide und damit in Verbindung stehende Pilzkrankheiten, von (Prof.) 
P. Sorauer (Berlin). — Grundlagen der landwirtschaftlichen Buchhaltung. (Mit Wieder- 
gabe der Buchhaltungsmethoden von Howard, Aereboe und v. Tilly) von Hans Tanger- 
mann. — Einige Bemerkungen über den Zweck und die Durchführung von Feld- 
düngungsversuchen, von F. W. Dafert. — Heft 2: Die Kremper Marsch in ihren 
wirtschaftlichen Verhältnissen, von Jak. Struve. — Bericht über die Saatreinigung-- 
maschinenprüfung der Maschinenprüfungsstation der Landwirtschaftskammer zu Kóniz- 
berg i. Pr., erstattet durch (UnivProf.) Gisevius. — Untersuchungen über die Be- 
stockung des Getreides, von W. Rimpau (AmtsR., Schlanstedt). 

. Masius’ Rundschau. Blätter für Versicherungswissenschaft, Versicherungsrecht etc. 
Neue Folge. Jahrg. XV, 1903, Heft 3, 4/5 und 6: Das Neueste von den Abwehrmal- 


Die periodische Presse Deutschlands. 857 


regeln gegen die Tuberkulose. — Die sogenannte Beleihung von Versicherungsscheinen 
durch Lebensversicherungsanstalten. — Entscheidungen des Privatversicherungsamts. — 
Oesterreichische Versicherungsstatistik. — Die Schadenschätzung in der Hagelversiche- 
rung. — Abtretung, Verpfändung oder Aufrechnung? Die zivilrechtliche Bedeutung der 
Abweichungen von den allgemeinen Versicherungsbedingungen. — Ueber Pfandrechte 
an Lebensversicherungsforderungen. — Die Beitragspflichtigen in der Arbeiterversiche- 
rung. — Die Rückversicherer im Konkurse des Erstversicherers. — Die Feuerrückver- 
sicherung. — Die reichsgesetzliche Regelung der Besteuerung der privaten Versicherungs- 
gesellschaften. — Das Versicherungsgeschäft im Jahre 1902. — Die Neger und die 
Lebensversicherung. — Die Konnossementsklauseln. — Das Sachverständigenverfahren 
der Privatfeuerversicherungsgesellschaften. — Ein neuer Beitrag zur Syphilisfrage. — 
Die Versicherung gegen die Folgen der Arbeitslosigkeit. — Sterblichkeitsverhältnisse 
im Deutschen Reich während des Jahres 1901. — Das Wetterschießen. — etc. 

Neue Zeit, die. Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie. Jahrg. XXI, 
Bd. U, N' 32 u. 33, vom 9.—16. Mai 1903: Potemkinsche Dörfer. — Glossen zum 
Kongreß von Bordeaux, von B. Kritschewsky. — Die Genfer Arbeitskammer. Ein Bei- 
trag zur Frage des Arbeitsnachweises, von Jean Sigg. — Die Wurmkrankheit im Ruhr- 
kohlenbecken, von Otto Hué. — Die Krisis und die Bevölkerungsbewegung in Deutsch- 
land, von Menikophilos. — Wirtschaftliche und politische Wandlungen in der Schweiz, 
von Otto Lang (Zürich) [Art. 1]. — Jena oder Sedan? (Militärischer Roman, von Frz. 
Adam Beyerlein), von Rudolf Krafft, (Referat. — Aus den Anfängen der sozialistischen 
Belletristik, von H. Thurow. 

Politisch-anthropologische Revue. Monatsschrift für das soziale und geistige 
Leben der Völker. Jahrg. II, Nr 3, Juni 1903: Ueber die morphologischen und physio- 
logischen Grundlagen der Vererbungserscheinungen, von V. Herecker. — Zur Vor- 
geschichte Europas, von Moritz Hoernes. — Die Verwandtenehe in ethnologischer Be- 
deutung, von Arthur Ruppin. — Rassenforschung in der Geschichtsschreibung, von 
Albrecht Wirth. — Entwickelungsmoral, von Chr. v. Ehrenfels. — Das Kinderschutz- 
gesetz im deutschen Reichstag, von Arthur Dix. — Ueber den Einfluß der Mittelschule 
auf unseren Volkstypus, von A. Vierkandt. — Politische Anthropologie. (Eine Selbst- 
anzeige), von Ludw. Woltmann. — ete. 

PreuBische Jahrbücher. Hrsg. von Hans Delbrück. Bd. 112, Heft 3, Juni 1903: 
Tolstois sittliche Weltanschauung, von Alma v. Hartmann (Groß-Lichterfelde). — Die 
Männerrechtler, von Outis. — Wien und seine Zukunft, von B, Molden (Wien). — 
Heinrich v. Treitschke und Robert v. Mohl 1859— 1865, von Dietrich Kerler (O.-Biblio- 
thekar, Würzburg). — Die Janitscharen, von Heinrich Schurtz T (Bremen) — Das 
moderne Krankenhaus, von L. Posner (Prof. der Medizin, Berlin). — Der Stahltrust, von 
Hjalmar Schacht (Berlin). — Politische Korrespondenz: Die Wahlbewegung, von D. — etc. 

Rechtsschutz, gewerblicher, und Urheberrecht. Jahrg. VIII, N° 4, April 1903: 
Die Uebereinstimmung bildlicher Warenbezeichnungen, von (RegR.) M. Wille (Berlin). 
— Die Anmeldungen auf falschen Namen, von F. Damme. — Zur Frage der literarischen 
Neuheit der Erfindung, von Julius Ephraim. — Sind die Bestimmungen der $8 823, 
824 und 826 des Bürgerlichen Gesetzbuches auch zur Bekämpfung des unlauteren Wett- 
bewerbes anwendbar, von (Rechtsanw.) Paul Schmid (Berlin) — Das Prioritütsrecht für 
Patente in der Union. Bericht der Kommission des südwestdeutschen Zweigvereins des 
Deutschen Vereins für den Schutz des gewerblichen Eigentums. —- Internationaler Rechts- 
schutz: Patentschutz in den Verein. Staaten. — ete. 

Reiehsarbeitsblatt.  Herausgeg. vom kais. statistischen Amt, Abteilung für 
Arbeiterstatistik: Jahrg. I, 1903, N° 2: Arbeitsmarkt: Der Arbeitsmarkt im Monat 
April 1903 nach Berichten der Industrie; Der Beschäftigungsgrad im April 1903 nach 
den Naehweisungen der Krankenkassen; Die Vermittlungstätigkeit der Arbeitsnachweise 
im April 1903; Der Arbeitsmarkt im Auslande. — Arbeitsvermittlung und Arbeitslosig- 
keit: ErlaB des k. Staatsministeriums des Innern in München, betr. die Tütigkeit der 
gemeindliehen Arbeitsämter 1902; Die Geschäftstätigkeit des städtischen Arbeitsamtes 
in München im Jahre 1902. — Arbeitsbedingungen: Die Arbeits- und Lebensvernält- 
nisse der unverheirateten Fabrikarbeiterinnen in Berlin; Die Arbeitszeit der Fabrik- 
arbeiterinnen im Großherzogt. Baden; die Produktions- und Lohnverhältnisse im Berg- 
baurevier Dortmund. — Arbeiterschutz: Der Jahresbericht der preußischen Gewerbe- 
aufsichtsbeamten für 1902; Erlasse. — Arbeitsstreitigkeiten. — Wohnungswesen: Woh- 
nungsverhältnisse in Preußen und Sachsen, insbesondere Bau von Arbeiterwolinungen ; 


858 Die periodische Presse Deutschlands. 


Grundsätze für die Aufstellung von Entwürfen und die Ausführung von Mietwohnhäusern 
für Arbeiter, untere und mittlere Beamte. — Gesetzgebung. — Die Tätigkeit der Ge- 
werbegerichte: Uebersicht über die Geschäftstätigkeit der Gewerbegerichte im Deutschen 
Reich für 1901: Die Tätigkeit des Gewerbegerichts Berlin als Einigungsamt im April 
1903. — Tabellen zur Arbeitsmarktstatistik: Die Bewegung der Mitgliederzahl der 
Krankenkassen im April 1903 nach Orten und nach Regierungsbezirken; Die Orts- 
krankenkassen nach Regierungsbezirken ; Die Vermittlungstätigkeit der Arbeitsnachweise 
im Monat April, a) nach Arbeitsnachweisen; b) nach Berufsgruppen. — etc. 

Vierteljahrshefte zur Statistik des Deutschen Reiches. Herausgeg. vom kaiserl. 
statistischen Amt. Jahrg. XII, 1903, Heft 2: Auswürtiger Handel des deutschen Zoll. 
gebiets 1902. — Zollfreie Schiffsbaumaterialien 1899—1902. — Die Erzeugnisse der 
Bergwerke, Salinen und Hütten, 1902. Vorläufige Mitteilung. — Zur Statistik der 
Preise: 1. Viehpreise in 10 deutschen Städten 1898—1902 nach Monaten; 2. Viehpreise 
in 10 deutschen Städten im ersten Vierteljahr 1903; 3. Kleinhandelspreise von Schweine- 
fleisch, Speck und Schweineschmalz in 24 preußischen Städten 1883—1902; 4. Groß- 
handelspreise von Getreide in Mannheim 1898—1902 nach Monaten; 5. Roggen- und 
Weizenpreise an deutschen und fremden Bürsenplätzen im ersten Vierteljahr 1903; 
6. Getreidefrachten zwischen überseeischen Ländern und Mannheim 1888—1902. — Be- 
stand der deutschen Kauffahrteischiffe am 1. I. 1902. — Verunglückungen (Verluste) 
deutscher Seeschiffe 1900 und 1901. — Die Schiffsunfälle an der deutschen Küste 1901. 
— Verkehr im Kaiser Wilhelm-Kanal 1902. — Seeverkehr in den deutschen Hafen- 
plätzen 1901. — Seereise deutscher Schiffe 1901. — Krankenversicherung 1901 und 
1896—1901. — Kriminalstatistik: Heer und Marine, 1902. — Nachtrag zur Statistik 
der Reichstagswahlen von 1898: Ersatzwahlen. — Zur Konkursstatistik für das I. Viertel- 
jahr 1903. Vorläufige Mitteilung. — Die Finanzen der deutschen Bundesstaaten. — 
Zur Statistik der Streiks und Aussperrungen (1902 und I. Quartal 1903). 

Zeitschrift des kgl. preußischen statistischen Bureaus. Jahrg. XLIII, 1903. 
II. Abteilung: Die Gebaltsverhültnisse der preußischen Volksschullehrer nach dem 
Lehrerbesoldungsgesetze vom 3. III. 1897. Auf Grund der schulstatistischen Erhebung 
vom 27. VI. 1901 bearbeitet von A. Petersilie (GRegR. u. Prof.). — Die Bewegung 
der Fideikommisse in Preußen im Jahre 1901, von (RegR.) F. Kühnert. 

Zeitschrift für Kleinbahnen. Jahrg. X, Heft 2—4, Februar bis April 1903: 
Die deutschen Kleinbahnen im Jahre 1901. — Aenderung der norwegischen Vorschriften 
für elektrische Anlagen. — Gesetz, schweizerisches, vom 24. VI. 1902, betr. die elek- 
trischen Schwach- und Starkstromanlagen. — Einiges über das Entwerfen elektrischer 
Straßen- und Kleinbahnen, von A. Hecker (Wiesbaden). — Vereinfachte Güterabfertigung 
im Kleinbahnbetriebe, von O. Behrens. — Statistik der deutschen Kleinbahnen für die 
Monate Dezember 1902 und Januar bis Februar 1903. — ete. 

Zeitschrift für Sozialwissenschaft. Herausgeg. von (Prof.) Julius Wolf (Breslau). 
Jahrg. VI, Heft 5, Mai 1903: Aberglaube und Verbrechen, von (OLandesGerR.) A. 
Löwenstimm (Art. II, Schluß). — Ueber räumliche Projektionen sozialer Formen, von 
Georg Simmel (Prof., Berlin. — Kulturgeschichte, von (Prof.) Georg v. Below (Tü- 
bingen). — Internationale Rechtsgemeinschaften, von (Rechtsanw.) Fuld (Mainz). — 
Sozialpolitik: Arbeitsbeschaffung für Arbeitslose statt Arbeitslosenversicherung, nach 
C. A. Schmid (Zürich). — Miszellen: Englische Vorkehrungen gegen die amerikanische 
Umarmung, von Herm. Sacher; Die angebliche Wirkung hoher Kindersterblichkeit im 
Sinne Darwin’scher Auslese, nach Fr. Prinzing. — ete. 


Frommannsche Buchdruckerei (Hermann Pohle) in Jena, 


TION 


32101 067873164